Jennsen saß unmittelbar neben Sebastian; doch obwohl seine vertraute Nähe alles ein wenig leichter machte, hätte sie am liebsten mit ihm allein an einem Lagerfeuer gesessen, Fisch gebraten oder Bohnen gekocht. An der Tafel des Kaisers, ständig umsorgt von irgendwelchen Dienern, fühlte sie sich einsamer als ganz allein in der Stille des Waldes. Wäre Sebastian nicht gewesen, der mit ihr scherzte und sich unterhielt, sie hätte nicht gewußt, wie sie sich hätte verhalten sollen.
Kaiser Jagang beherrschte den Saal mit müheloser Leichtigkeit. Obwohl er seine freundliche, höfliche Art ihr gegenüber niemals ablegte, gab er ihr auf unergründliche Weise das Gefühl, jeder Atemzug, den sie nahm, werde ihr nur aufgrund seines Wohlwollens gewährt. Er spielte aus dem Stegreif auf Themen von größter Tragweite an, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein, so vertraut war ihm die Verantwortung, so überzeugt war er von seiner unerschütterlichen Dominanz. Er glich einem liegenden Berglöwen, der geschmeidig in sich ruhte und sich träge die Lippen leckte.
Dieser Kaiser gab sich nicht damit zufrieden, irgendwo untätig in einem entlegenen Palast herumzusitzen und Berichte entgegenzunehmen, dieser Kaiser führte seine Männer in das dichteste Schlachtgetümmel. Er war ein Kaiser, der seine Hände tief in den blutigen Morast aus Leben und Tod hineintauchte und sich herausnahm, was immer ihm davon begehrlich schien.
Jennsen hatte kaum Appetit. Wählerisch zupfte sie winzige Fleischstreifen von dem saftigen Stück Schweinebraten ab, der vor ihr auf einer mächtigen Scheibe Brot lag, und nagte lustlos daran herum, während sie der Unterhaltung der beiden Männer lauschte. Ihr Gespräch war nichtssagend. Jennsen konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die beiden Männer sich in ihrer Abwesenheit sehr viel mehr zu sagen gehabt hätten. So jedoch sprachen sie über gemeinsame Bekannte und brachten sich gegenseitig über Belanglosigkeiten auf den neuesten Stand, die sich seit Sebastians Abschied aus der Armee im vergangenen Sommer zugetragen hatten.
»Wie steht es um Aydindril?«. erkundigte sich Sebastian und spießte eine Scheibe Fleisch mit seiner Messerspitze auf.
Kaiser Jagang riß einer knusprigen Gans mit einer drehenden Bewegung ein Bein aus. Seine Ellbogen auf die Tischkante gestützt, beugte er sich vor und vollführte mit seinem Beutestück eine vage Geste. »Ich habe keine Ahnung.«
Sebastian ließ sein Messer sinken. »Was wollt Ihr damit sagen? Ich bin mit den örtlichen Gegebenheiten noch immer gut vertraut. Ihr seid nur ein oder zwei Tagesmärsche entfernt.« Sein Tonfall war respektvoll, die Besorgnis darin aber nicht zu überhören. »Wie könnt Ihr einmarschieren, wenn Ihr nicht wißt, was Euch in Aydindril erwartet?«
Jagang riß mit den Zähnen ein großes Stück aus dem dicken Ende der Gänsekeule, deren Knochen über die Finger seiner beiden Hände hinausragte; Fleisch und Finger troffen vor Bratenfett.
»Nun«, meinte er nach einer Weile, mit dem Knochen vage über seine Schulter deutend, bevor er ihn auf einem Teller ablegte, »wir haben Kundschafter und Patrouillen ausgesandt, um uns einen Überblick zu verschaffen, bislang ist jedoch noch keiner zurückgekehrt.«
»Nicht ein Einziger?« Seine Besorgnis verlieh Sebastians Stimme einen scharfen Unterton.
Jagang ergriff ein Messer und schnitt auf einer seitlich stehenden Platte ein dickes Stück Lammbraten ab. »Kein Einziger«, bestätigte er und spießte das Stück mit dem Messer auf.
Sebastian stützte seine Ellbogen auf die Tischkante, legte die Hände aneinander und dachte nach.
»Die Burg der Zauberer befindet sich in Aydindril«, meinte er nach einer Weile mit ruhiger Stimme. »Ich habe sie gesehen, als ich die Stadt vergangenes Jahr auskundschaftete. Sie liegt an einem steilen Berghang, mit Blick über die gesamte Stadt.«
»Euer Bericht ist mir noch gut im Gedächtnis«, antwortete Jagang.
Jennsen hatte gern nachgefragt, was man sich unter einer »Burg der Zauberer« vorzustellen habe, allerdings nicht gern genug, um ihr Schweigen zu brechen, während die beiden Männer sich unterhielten.
Sebastian rieb sich die Hände. »Dürfte ich dann Euren Plan erfahren?«
Der Kaiser schnippte gebieterisch mit den Fingern, woraufhin sich sämtliche Diener augenblicklich entfernten; Jennsen wäre gern mit ihnen gegangen. Draußen polterte Gewitterdonner, und der gelegentlich auffrischende Wind peitschte Regenschauer gegen das Zelt. Die über den Tisch verteilten Kerzen und Lampen beleuchteten die beiden Männer und ihre unmittelbare Umgebung, beließen die weichen Teppiche und Wände jedoch in nahezu vollständiger Dunkelheit.
Kaiser Jagang streifte Jennsen kurz mit einem Blick, bevor er seine dämmrigen Augen abermals Sebastian zuwandte. »Ich habe mich zu einem Überraschungsangriff entschlossen, und zwar nicht mit der gesamten Armee, wie man es vermutlich dort erwartet, sondern mit einer Kavalleriestreitmacht, klein genug, um manövrierfähig zu bleiben, andererseits aber auch stark genug, um die Situation vollständig zu kontrollieren. Selbstverständlich wird uns ein angemessenes Kontingent aus mit der Gabe Gesegneten begleiten.«
Die Dauer dieser knappen Unterredung hatte genügt, um die Stimmung in tödlichen Ernst umschlagen zu lassen. Jennsen spürte, daß sie zur stummen Zeugin der entscheidenden Augenblicke eines Ereignisses von großer Tragweite wurde. Es war beängstigend, sich all die Menschenleben vorzustellen, die aufgrund der Worte dieser beiden Männer auf dem Spiel standen.
Sebastian wägte des Kaisers Worte eine Weile sehr genau ab, bevor er antwortete. »Habt Ihr eine Ahnung, wie Aydindril den Winter überstanden hat?«
Jagang schüttelte den Kopf. Er zog einen mächtigen Brocken Lammfleisch von seiner Messerspitze und fuhr kauend fort.
»Die Mutter Konfessor mag alles Mögliche sein, aber dumm ist sie ganz sicher nicht. Auf Grund unserer Marschroute, unserer Truppenbewegungen, die sie hat beobachten lassen, aufgrund der bereits gefallenen Städte und somit der von uns eingeschlagenen Route, sowie aufgrund der unzähligen Berichte und Informationen, die sie zweifellos zusammengetragen hat, dürfte sie schon seit geraumer Zeit wissen, daß ich mit Beginn des Frühlings gegen Aydindril marschieren will. Ich habe ihnen reichlich Zeit gegeben, im Schweiße ihres Angesichts über ihr Schicksal nachzudenken. Vermutlich zittern sie bereits vor Angst. Ich glaube allerdings nicht, daß sie es tatsächlich übers Herz bringt zu fliehen.«
»Ihr glaubt, die Gemahlin des Lord Rahl ist in der Stadt?«, platzte Jennsen, völlig überrascht, heraus. »Die Mutter Konfessor höchstpersönlich?«
Die beiden Männer unterbrachen ihr Gespräch und sahen sie an; im Zelt war es mucksmäuschenstill.
Jennsen schrumpfte innerlich zusammen. »Verzeiht.«
Der Kaiser feixte. »Warum sollte ich Euch verzeihen? Ihr habt den Nagel auf den Kopf getroffen.« Er wies mit seiner Messerklinge auf Sebastian. »Eine außergewöhnliche Frau, die Ihr da mitgebracht habt. Eine Frau mit einem klugen Köpfchen auf den Schultern.«
Sebastian strich Jennsen über den Rücken. »Und außerdem hübsch.«
Jagang betrachtete sie mit seinen schwarz glänzenden Augen. »Ja, das ist wahr.« Ohne hinzusehen, entnahm er einer neben ihm stehenden Glasschale eine Hand voll Oliven. »Nun, Jennsen Rahl, wie denkt Ihr darüber?«
Da sie sich bereits zu Wort gemeldet hatte, konnte sie ihm jetzt eine Antwort darauf schlecht verweigern. Sie nahm sich zusammen und dachte über die Frage nach.
»Wenn ich mich vor Lord Rahl versteckt hielt, versuchte ich gewöhnlich alles zu vermeiden, was ihm meinen Aufenthaltsort hätte verraten können. Ich tat alles, um ihn gewissermaßen mit Blindheit zu schlagen. Vielleicht machen sie es ganz genauso; sie versuchen Euch mit Blindheit zu schlagen.«
»Auf genau diesen Gedanken war ich auch schon gekommen«, meinte Sebastian. »Angenommen, sie haben entsetzliche Angst; dann könnte es doch durchaus sein, daß sie versuchen, jeden Kundschafter und jede Patrouille auszuschalten, um uns eine nicht vorhandene Stärke vorzugaukeln und etwaige Pläne zu ihrer Verteidigung vor uns geheim zu halten.«
»Und auf diese Weise wenigstens den Vorteil der Überraschung nicht aus den Händen zu geben«, fügte Jennsen hinzu.
»Das war auch meine Überlegung«, sagte Jagang. Er grinste Sebastian an. »Kein Wunder, daß Ihr mir eine solche Frau anschleppt – sie ist Strategin, genau wie Ihr.« Jagang zwinkerte Jennsen zu, dann läutete er eine neben sich stehende Glocke.
In einer Türöffnung erschien eine Frau; es war die mit dem grauen Kleid und dem nach hinten gebundenen grauschwarzen Haar. »Ja, Exzellenz?«
»Bringt der jungen Frau hier Obst und Zuckerwerk.«
Nachdem sie sich mit einer Verbeugung entfernt hatte, wurde der Kaiser wieder ernst. »Aus diesem Grund halte ich es für das Beste, eine wesentlich kleinere Streitmacht einzusetzen, als sie mit Sicherheit erwarten, eine, die im Stande ist, mit schnellen Manövern auf alle Verteidigungsmaßnahmen zu reagieren, mit denen sie uns in die Falle zu locken versuchen. Unsere zahlenmäßig schwachen Patrouillen können sie vielleicht überwältigen, nicht aber eine beträchtliche Streitmacht aus Kavallerie und den mit der Gabe Gesegneten. Falls nötig, können wir die Stadt jederzeit überrennen. Nachdem die Männer den ganzen Winter untätig herumgesessen haben, sind sie wahrscheinlich mehr als froh, endlich losschlagen zu können. Aber es widerstrebt mir, so zu beginnen, wie diese Leute in Aydindril es erwarten.«
Sebastian stocherte mit seinem Messer in einer dicken Scheibe Roastbeef herum, während er überlegte. »Sie könnte sich im Konfessoren-Palast aufhalten.« Er richtete seinen Blick wieder auf Jagang. »Die Mutter Konfessor könnte sich zu guter letzt doch durchgerungen haben, Widerstand zu leisten.«
»Genau das denke ich auch«, pflichtete Kaiser Jagang ihm bei. Draußen hatte das Frühlingsgewitter an Heftigkeit zugenommen; ein eisiger Wind pfiff heulend um die Zelte.
Jennsen konnte sich nicht langer beherrschen. »Glaubt Ihr wirklich, sie ist dort?«, fragte sie die beiden Männer. »Ihr glaubt allen Ernstes, sie würde ausharren, obwohl sie weiß, daß Ihr mit einer riesigen Armee anrückt?«
Jagang zuckte mit den Schultern. »Völlig sicher kann ich natürlich nicht sein, andererseits liefere ich mir schon durch die gesamten Midlands einen harten Kampf mit ihr. In der Vergangenheit stand sie mehrfach vor der Wahl und konnte sich entscheiden, so hart das bisweilen auch gewesen sein mag. Wir haben ihre Armee unmittelbar vor Wintereinbruch nach Aydindril hineingedrängt und anschließend gewissermaßen vor ihrer Haustür abgewartet. Jetzt haben sie und ihre Armee keine Alternativen und wegen der Berge ringsum auf allen Seiten auch keine Fluchtmöglichkeiten mehr. Selbst sie muß wissen, daß irgendwann der Augenblick kommt, da man sich einer Situation stellen muß. Ich denke, der Moment ist gekommen, da sie sich endlich entscheiden wird, Widerstand zu leisten und zu kämpfen.«
Sebastian spießte einen Fleischhappen auf. »Das klingt zu einfach.«
»Natürlich tut es das«, gab Jagang ihm Recht. »Genau aus diesem Grund muß ich die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß sie sich so entschieden hat.«
»Möglicherweise hat sie sich in die Berge zurückgezogen und nur gerade so viele Truppen zurückgelassen, um die Kundschafter und Patrouillen auszuschalten und Euch, wie Jennsen es andeutete, mit Blindheit zu schlagen.«
Jagang zuckte mit den Achseln. »Mag sein. Diese Frau ist vollkommen unberechenbar. Aber allmählich gehen ihr die Rückzugsmöglichkeiten aus, und früher oder später wird sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Das mag vielleicht nicht ihrem Plan entsprechen, andererseits aber vielleicht doch.«
Jennsen war sich gar nicht bewußt gewesen, daß die Alte Welt solche Fortschritte beim Bekämpfen des Feindes gemacht hatte. Und auch Sebastian war sehr lange fort gewesen. Die Dinge standen für die Alte Welt nicht annähernd so aussichtslos, wie sie vermutet hatte. Trotzdem erschien ihr ein Risiko sehr groß, das nur auf vagen Mutmaßungen basierte.
»Und Ihr seid tatsächlich bereit, Eure Männer, in der Hoffnung, daß sie sich tatsächlich dort befindet, in einer solchen Schlacht aufs Spiel zu setzen?«
»Spiel?« Der Gedanke schien Jagang zu erheitern. »Begreift Ihr nicht? In Wahrheit ist es gar kein Spiel. Wir haben in beiden Fällen nicht das Geringste zu verlieren. In beiden Fällen wird uns Aydindril in die Hände fallen, wodurch wir endgültig einen Keil durch die Midlands treiben und damit die gesamte Neue Welt zweiteilen. Teile und herrsche, lautet das Motto des Triumphes.«
Sebastian leckte sein blutiges Messer ab. »Ihr seid mit ihrer Taktik besser vertraut als ich und könnt daher eher vorhersagen, wie ihr nächster Schritt aussehen wird. Aber wie Ihr bereits sagtet, ob sie nun beschließt, an der Seite ihres Volkes zu stehen und Widerstand zu leisten, oder ob sie es seinem Schicksal überläßt – die Stadt Aydindril und damit den Sitz der Macht in den Midlands werden wir in jedem Fall einnehmen.«
Der Kaiser starrte blicklos in die Ferne. »Dieses Weibsstück hat Hunderttausende von meinen Männern umgebracht, stets ist es ihr gelungen, mir einen Schritt voraus zu sein und sich meinem Zugriff zu entziehen, aber dabei ist sie der Wand mit dem Rücken immer näher gekommen – und zwar dieser Wand.« Er blickte auf, erfüllt von kalter Wut. »Gebe der Schöpfer, daß ich sie endlich zu fassen kriege.« Seine Knöchel am Griff des Messers waren weiß, seine Stimme die eines tödlichen Schwurs. »Ich werde sie in meine Gewalt bringen, und dann werde ich die Rechnung begleichen, eigenhändig.«
Sebastian versuchte den Ausdruck in den dämmrigen Augen des Kaisers einzuschätzen. »Dann stehen wir womöglich kurz vor dem endgültigen Sieg – zumindest in den Midlands. Wenn wir die Midlands erst einmal erobert haben, ist das Schicksal D’Haras unabwendbar besiegelt.« Er hielt sein Messer in die Höhe. »Und wenn sich die Mutter Konfessor in der Stadt aufhält, könnte dasselbe auch auf Lord Rahl zutreffen.«
Jennsen, der die wildesten Gedanken durch den Kopf gingen, ließ den Blick von Sebastian zum Kaiser wandern. »Wollt Ihr damit sagen, Ihr glaubt, daß ihr Gemahl, Lord Rahl, ebenfalls dort ist?«
Jagang grinste teuflisch. »Genau so ist es, junge Frau.«
Jennsen spürte, wie es sie beim Anblick des mörderischen Ausdrucks in seinen Augen eiskalt überlief. Sie dankte den Gütigen Seelen, daß sie auf Seiten dieses Mannes stand und nicht auf Seiten seiner Feinde. Trotzdem mußte sie noch die entscheidende Information loswerden, die Tom ihr anvertraut hatte. Sie spürte einen sorgenvollen Stich und wünschte sich, ein anderer als Tom hatte ihr die Bestätigung geliefert, obwohl genau genommen Sebastian ihr zum ersten Mal davon erzählt hatte.
»Lord Rahl kann unmöglich hier in Aydindril sein.« Die beiden Männer sahen sie verdutzt an. »Lord Rahl befindet sich tief unten im Süden.«
Jagang runzelte die Stirn. »Unten im Süden?«
»Er befindet sich in der Alten Welt.«
»Bist du ganz sicher?«, fragte Sebastian.
Jennsen sah ihn verwirrt an. »Das hast du mir doch selbst gesagt, daß er seine Eroberungsarmee in die Alte Welt geführt hat.«
Ein Ausdruck des Erinnerns hellte Sebastians Miene auf. »Ja, natürlich, Jenn, aber das war lange, bevor ich dich kennen gelernt habe – ich hatte noch nicht einmal unsere Truppen verlassen, als mir diese Berichte zu Ohren kamen. Das liegt schon sehr lange zurück.«
»Aber ich weiß, daß er auch danach noch in der Alten Welt war.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, knurrte Jagang mit schnarrender Stimme.
Jennsen räusperte sich ... »Die Bande. Das d’Haranische Volk spürt die Bande, die es mit Lord Rahl verbindet...«
»Und Ihr fühlt diese Bande auch?«, fiel ihr Jagang ins Wort.
»Nun, das nicht; bei mir sind sie nicht stark genug ausgeprägt. Aber während unseres Aufenthalts im Palast des Volkes bin ich Menschen begegnet, die behaupteten, Lord Rahl sei tief unten im Süden, in der Alten Welt.«
Der Kaiser dachte über ihre Worte nach, während er zu einer Frau hinüberschaute, die mit Platten voller Obst, Zuckerwerk und Nüssen eingetreten war. Sie machte sich an einem abseits stehenden Beistelltisch zu schaffen, da sie offenbar nicht näher kommen und den Kaiser und seine Gaste stören wollte.
»Aber Jenn das hast du doch schon letzten Winter gehört, als wir noch im Palast waren. Hat es dir seitdem jemand bestätigt, der diese Bande ebenfalls spürt?«
Jennsen schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Sollte die Mutter Konfessor tatsächlich die Absicht haben, in Aydindril Widerstand zu leisten«, meinte Sebastian nachdenklich, »dann wäre es möglich, denn im letzten Bericht aus dem Süden hieß es, er sei nach Norden gezogen, um der Mutter Konfessor beizustehen.«
Jagang schob seinen Oberkörper tief über das vor ihm liegende, blutige Stück Fleisch. »Das ist typisch für sie, verrucht bis zum bitteren Ende. Ich befasse mich mittlerweile schon sehr lange mit den beiden und weiß aus Erfahrung, daß sie die geringste Gelegenheit auf ein Zusammensein wahrnehmen, sobald sie sich ihnen bietet – und sei es im Tod.«
Die tiefere Bedeutung seiner Worte war geradezu Schwindel erregend. »Das heißt ... wir könnten sie in unsere Gewalt bekommen«, meinte Jennsen leise, fast so, als spräche sie zu sich selbst. »Und Lord Rahl auch. Der Alptraum könnte schon bald ein Ende haben. Es könnte sein, daß wir alle am Vorabend unseres endgültigen Triumphes stehen.«
Jagang trommelte mit den Fingern auf den Tisch, lehnte sich zurück und ließ den Blick vom einen zum anderen wandern. »Es fällt mir zwar äußerst schwer zu glauben, daß Richard Rahl auch in der Stadt sein soll, aber nach allem, was ich über ihn weiß, könnte er sich durchaus entschlossen haben, ihr eher beizustehen und gemeinsam mit ihr in den Tod zu gehen, als zuzusehen, wie ihm alles, Stück für gottverdammtes Stück, entgleitet.«
Die Vorstellung, die beiden könnten Seite an Seite ihr Ende erwarten, versetzte Jennsen völlig unerwartet einen schmerzhaften Stich, denn es entsprach absolut nicht dem Wesen eines Lord Rahl, etwas für eine Frau zu empfinden, und schon gar nicht, ihr im Augenblick ihrer Niederlage im Krieg um ihre Heimat oder gar ihres eigenen Todes beizustehen. Ein Lord Rahl wäre eher um seine eigene Heimat und sein eigenes Leben besorgt.
Dennoch war die Vorstellung, daß er ihr so nah sein könnte, zu verlockend, um sie einfach abzutun; sie ließ ihr Herz schneller schlagen. »Wenn er tatsächlich so nah ist, dann benötige ich die Hilfe der Schwestern des Lichts nicht. Ich brauchte auch keinen Bann. Ich müßte nur ein wenig näher an ihn heran und mich in Eurer Nahe halten, sobald Ihr Euren Sturmangriff auf die Stadt beginnt.«
Jagangs düsteres, humorloses Grinsen war zurückgekehrt. »Ihr reitet mit mir; ich werde Euch am Palast der Konfessoren absetzen.« Wieder hatten sich die Knöchel auf dem Griff seines Messers weiß verfärbt. »Ich will den Tod der beiden. Um die Mutter Konfessor werde ich mich höchstpersönlich kümmern. Ich erteile Euch hiermit die Erlaubnis und das Privileg, Richard Rahl das Messer in den Leib zu stoßen.«
Jennsen durchlebte ein wildes Wechselbad der Gefühle, schwankte zwischen freudiger, fast übermütiger Erregung und nacktem Entsetzen. Einen flüchtigen Augenblick lang kamen ihr Zweifel, ob sie zu einer so entsetzlichen, kaltblütigen Tat überhaupt fähig wäre.
Jennsen.
Aber dann mußte sie wieder an ihre Mutter denken, die, ihren abgetrennten Arm neben sich, auf dem Fußboden ihres Hauses unter den Blicken der Schlächter des Lord Rahl an ihren entsetzlichen Stichverletzungen verblutet war. Jennsen sah noch einmal die Augen ihrer Mutter im Augenblick des Todes vor sich und erinnerte sich nur zu gut an die Hilflosigkeit; mit der sie das qualvolle Ende ihrer Mutter erlebt hatte. Das Grauen war noch genauso frisch wie damals, und ihr Zorn hatte noch nichts von seiner Unbändigkeit verloren. Jennsen verspürte das heftige Verlangen, ihrem Halbbruder ihr Messer ins Herz zu stoßen.
Es war der einzige Wunsch, den sie noch hatte.
Während sie sich in ihrem gerechten Zorn bereits das Messer in Richard Rahls Brust stoßen sah, war sie so unempfänglich für alles andere geworden, daß sie Jagang nur wie aus weiter Ferne sprechen hörte.
»Aber wie kommt Ihr überhaupt dazu, Euren Bruder töten zu wollen? Welche Gründe habt Ihr, was bezweckt Ihr damit?«
»Grushdeva«, zischte sie.
Jennsen hörte hinter sich eine gläserne Vase auf dem Boden zerschellen. Das Geräusch ließ sie auffahren und holte sie in die Gegenwart zurück.
Der Kaiser warf der Frau im Hintergrund einen mißbilligenden Blick zu; deren braune Augen waren starr auf Jennsen gerichtet.
»Ich muß mich für Schwester Perditas Ungeschick entschuldigen«, sagte Jagang mit einem wütenden Seitenblick auf die Frau.
»Vergebt mir, Exzellenz«, meinte die Frau im dunkelgrauen Kleid und verschwand unter unablässigen Verbeugungen rückwärts zwischen den schweren Vorhängen.
Der übellaunige Blick des Kaisers wandte sich wieder Jennsen zu.
»Also, was sagtet Ihr gerade?«
Jennsen hatte nicht die leiseste Ahnung. Sie wußte zwar, daß sie gesprochen hatte, aber was es gewesen war, vermochte sie beim besten Willen nicht mehr zu sagen. Womöglich hatte der Schmerz ihr einen Knoten in die Zunge gemacht, als sie gerade antworten wollte. Ihr Kummer übermannte sie erneut und legte sich wie eine unerträgliche Last auf ihre Schultern.
»Seht Ihr, Exzellenz«, antwortete sie schließlich, »solange ich lebe, hat mein Vater, Darken Rahl, versucht, mich umzubringen, weil ich ein nicht mit der Gabe gesegneter Nachkömmling von ihm bin. Nachdem Richard Rahl ihn getötet hatte, übernahm er die Rolle seines Vaters, mitsamt der Verpflichtung, seine nicht mit der Gabe gesegneten Geschwister zu töten, eine Aufgabe, die er mit noch größerer Grausamkeit versieht als zuvor sein Vater.«
Jennsen sah mit tränennassen Augen hoch. »Kurz nachdem ich Sebastian kennen gelernt hatte, spürten die Männer meines Bruders uns schließlich auf. Wäre Sebastian nicht gewesen, hätten sie mich ebenfalls erwischt. Ich habe mich entschlossen, Richard Rahl zu töten, weil ich sonst niemals frei sein kann. Sebastian hat mir nicht nur das Leben gerettet, sondern mir auch zu dieser Erkenntnis verholfen.
Aber noch wichtiger ist vielleicht, daß ich den Tod meiner Mutter rächen muß, wenn ich jemals meinen Frieden finden will.«
»Unser Ziel ist das Wohlergehen unserer Mitmenschen. Eure Geschichte betrübt mich, denn exakt aus diesem Grund kämpfen wir für die Ausrottung des zerstörerischen Einflusses der Magie.« Schließlich sah er Sebastian an. »Ich bin stolz auf Euch, daß Ihr dieser prächtigen jungen Frau geholfen habt.«
Sebastians Laune hatte sich erkennbar verschlechtert. Sie wußte, wie sehr er Lob als Bürde empfand, und wünschte sich, er könnte auch ein wenig stolz sein auf seine Leistungen, auf seine Bedeutung und seine Stellung bei Kaiser Jagang.
Er legte sein Messer auf dem Teller mit den Essensresten ab. »Ich mache nur meine Arbeit. Exzellenz.«
»Nun«, meinte Jagang mit einem aufmunternden Lächeln, »ich bin jedenfalls froh, daß Ihr rechtzeitig zurückgekommen seid, um den Höhepunkt Eurer Strategie mitzuerleben.«
Sebastian lehnte sich zurück und nippte an seinem Bierkrug. »Wollt Ihr nicht warten, bis Bruder Narev zurück ist? Sollte nicht auch er dabei sein und Zeuge dieses vielleicht entscheidenden Schlags werden?«
Jagang rollte mit seinem fleischigen Finger in kleinen Kreisen eine Olive auf dem Tisch herum. Er ließ sich eine Weile Zeit, bevor er, ohne aufzusehen, sprach.
»Ich habe seit dem Fall Altur’Rangs nichts mehr von Bruder Narev gehört.«
Sebastian schnellte hoch und stieß dabei gegen den Tisch. »Was! Altur’Rang ist gefallen?«
Jennsen wußte, daß Altur’Rang die Heimat des Kaisers war, die Stadt, aus der er stammte. Sebastian hatte ihr erzählt, Bruder Narev und die Bruderschaft der Imperialen Ordnung hätten dort, in dieser großen, leuchtenden Stadt, dem Hoffnungssymbol der Menschheit, ihren Sitz. Ein gewaltiger Palast werde dort errichtet, als Huldigung an den Schöpfer und als Symbol für die Festigung der Einheit der Alten Welt.
»Ich erhielt erst kürzlich Berichte, denen zufolge die Stadt von feindlichen Truppen überrannt wurde. Altur’Rang ist weit von hier und wurde abgeschnitten. Zum Teil ist es auf die winterlichen Verhältnisse zurückzuführen, daß die Berichte so lange brauchten.
In Anbetracht dieser ungünstigen Fügung des Schicksals halte ich es für unklug abzuwarten, bis es Bruder Narev gelingt, sich bis hier oben durchzuschlagen. Er wird mit dem Abwehren der Eroberer alle Hände voll zu tun haben. Sollten sich die Mutter Konfessor und Richard Rahl tatsächlich in Aydindril aufhalten, dürfen wir auf keinen Fall länger warten, sondern müssen schnell und mit vernichtender Wucht zurückschlagen.«
Jennsen legte Sebastian mitfühlend eine Hand auf den Unterarm. »Das muß die Geschichte gewesen sein, von der du mir erzählt hast. Gleich bei unserer ersten Begegnung sagtest du, Lord Rahl sei in deine Heimat eingefallen; offenbar war genau das sein Ziel – die Stadt Altur’Rang.«
Sebastian starrte sie an. »Vielleicht ist er gar nicht in Aydindril. Möglicherweise stellt sich heraus, daß er sich noch immer im Süden aufhält, Jenn, in der Alten Welt. Das solltest du nicht vergessen. Ich möchte nicht, daß du all deine Hoffnungen darauf setzt, nur um später erleben zu müssen, daß sie sich in Rauch auflösen.«
»Das stimmt; ich hoffe, daß er hier ist und die Geschichte endgültig zum Abschluß gebracht werden kann, aber wie Exzellenz bereits über den Vormarsch auf Aydindril sagte, haben wir dabei nichts zu verlieren. Schließlich hatte ich nicht erwartet, ihn hier anzutreffen. Wenn er nicht in Aydindril ist, bleibt mir immer noch die Hilfe, derentwegen du mich überhaupt nur hergebracht hast.«
»Und worin soll diese Hilfe bestehen?«, fragte Jagang.
Sebastian antwortete an ihrer Stelle. »Ich erklärte ihr, die Schwestern könnten ihr möglicherweise mit einem Bann helfen – damit sie den Schutzring um Lord Rahl überwinden und nahe genug an ihn herankommen kann, um die Tat auszuführen.«
»Nun, wie auch immer. Wenn er sich in Aydindril aufhält, sollt Ihr ihn bekommen.« Jagang nahm die Olive auf, mit der er gespielt hatte, und ließ sie in seinem Mund verschwinden. »Und wenn nicht, könnt Ihr frei über die Schwestern verfügen. Was immer Ihr an Hilfe von ihnen benötigt, sei Euch zugestanden. Ihr braucht nur zu fragen, und sie werden sie Euch gewähren. Ihr habt mein Wort darauf.«
Der Blick in seinen schwarzen Rabenaugen war todernst.
Draußen polterte ein Donner; mittlerweile hatte der Regen wieder zugenommen. Ein flackernder Blitz tauchte das Zelt von außen in gespenstisches Licht, das den Schein der Kerze um so trüber erscheinen ließ, als das Gleißen abrupt endete und sie, wieder in nahezu völliger Dunkelheit sitzend, auf das Donnergrollen lauschten.
»Sie müssen nur einen Bann über mich sprechen, der seine Bewacher ablenkt, damit ich nahe genug an ihn herankomme«, erklärte Jennsen, nachdem der Donner verhallt war. Sie zog ihr Messer aus der Scheide und hielt es in die Höhe, um das kunstvoll eingravierte »R« in seinem Silbergriff zu betrachten. »Dann endlich kann ich ihm mein Messer in sein gottloses Herz stoßen; und zwar dieses Messer – sein eigenes. Sebastian hat mir erklärt, wie wichtig es ist, den Feind mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.«
»Da hat Sebastian Euch klug geraten. Nun, mit der gütigen Führung des Schöpfers werden wir auch obsiegen. Laßt uns beten, daß wir die beiden fassen, diese Geschichte zum Abschluß gebracht werden kann, die Geißel der Magie beseitigt wird und die Menschheit endlich ein Leben in Frieden leben kann, wie es dein Willen des Schöpfers entspricht.«
Jennsen und Sebastian pflichteten den beschwörenden Worten mit einem Nicken bei.
»Sollten wir sie in Aydindril aufgreifen«, verkündete Jagang mit einem tiefen Blick in ihre Augen, »so verspreche ich Euch, werdet Ihr es sein, die ihm die Klinge ins Herz stößt, auf daß Eure Mutter endlich ihren Frieden findet.«
»Ich danke Euch«, erwiderte Jennsen voller Dankbarkeit mit leiser Stimme.
Er fragte nicht einmal, was sie überhaupt zu einer solchen Tat prädestinierte. Vielleicht hatte ihm die Gewißheit in ihrer Stimme verraten, daß sich dahinter mehr verbarg, als er derzeit wußte – daß sie einen besonderen Vorzug besaß, der sie zu einer solchen Tat befähigte.
Und es verbarg sich tatsächlich mehr dahinter, als sowohl er als auch Sebastian wußten. Jennsen hatte ausgiebig und gründlich darüber nachgedacht und sämtliche Details während ihrer langen und mühseligen Reise nach Aydindril zu einem Bild zusammengefügt, das sie endlich das wahre Ausmaß ihrer Einzigartigkeit erkennen ließ – und den Grund, warum ausgerechnet sie es sein mußte, die Richard Rahl töten würde.
Schließlich war in Jennsen die Erkenntnis gereift, daß nur sie allein dazu überhaupt fähig und geboren war, denn auf eine entscheidende, gefährliche und grundsätzliche Weise war sie ... unbesiegbar.
Jetzt wußte sie, daß sie es schon immer gewesen war.