50

Sebastian lag nicht weit entfernt, auf einen Arm gestützt, den Oberkörper zur Seite geneigt. Der Marmorboden unter ihm war voller Blut. Da Adie Jennsen nicht aufhalten konnte, war sie fest entschlossen, wenigstens ihren Preis in Gestalt von Sebastians Leben zu kassieren. Mit ansehen zu müssen, daß Sebastian Schmerzen litt, zu wissen, daß er getötet werden sollte, erschütterte Jennsen zutiefst.

Sebastian war alles, was sie hatte.

Die Hexenmeisterin war im Begriff, tödliche Magie gegen ihn zu entfesseln. Jennsen stand erheblich näher bei Sebastian als bei der Hexenmeisterin und wußte, daß sie sie niemals rechtzeitig erreichen konnte, um sie davon abzuhalten, aber vielleicht gelang es ihr, sich schützend über Sebastian zu werfen. Sie konnte die Hexenmeisterin nur töten, wenn sie bereit war, Sebastian dafür aufzugeben. Vor diese Wahl hatte Adie sie gestellt.

Die von der Hexenmeisterin entfesselte Magie verfehlte Sebastian, schoß in Gestalt knisternder Lichtblitze über den polierten Marmorboden und ließ diesen unmittelbar neben ihm aufplatzen. Jennsen schlang die Arme schützend um ihn. »Kannst du laufen, Sebastian? Wir müssen augenblicklich von hier fort!«

Er nickte. »Hilf mir auf.« Das Sprechen schien ihm schwer zu fallen, sein Atem ging flach.

Jennsen schob ihren Kopf unter seinen Arm und mußte ihre gesamte Kraft aufbieten, um ihn auf seine Füße zu hieven. Mit hastigen Schritten eilten sie zur Tür. Hinter ihnen hob Adie, die nicht Jennsens, aber Sebastians Bewegungen mit ihren weißen Augen verfolgte, abermals die Hände. Jennsen drehte ihren Körper zur Seite und stellte sich in den Weg. Ein detonierender Lichtblitz zerriß die Luft, verfehlte sie um wenige Zoll und sprengte die schwere, metallbeschlagene Tür aus ihren Angeln, die daraufhin weit in den Flur hinausgeschleudert wurde.

Als sie die schwere Tür durch den Gang fliegen, immer wieder gegen die Wände prallen und dabei große Brocken Mauerwerks heraussprengen sah, wurde Jennsen bewußt, daß ein solches Geschoß sie mühelos zermalmen konnte. Außerdem merkte sie, daß ihr Arm, wo die Gesteinssplitter sie getroffen hatten, aus unzähligen winzigen Wunden blutete. Das war nicht das Werk magischer Kräfte, sondern scharfer Splitter, auch wenn diese Splitter mittels Magie herausgesprengt worden waren.

Auf einmal fühlte sich Jennsen gar nicht mehr so unbesiegbar.

An der ersten Kreuzung bog sie links ab, um Sebastian so schnell wie möglich aus der Schußlinie von Adies Gabe und ihren Waffen der Magie zu bringen. Jennsen spürte, wie sein warmes Blut über ihren Arm lief, den sie um ihn gelegt hatte. Trotz seiner schweren Verletzung bat Sebastian sie nicht das Tempo zu drosseln, um ihm Schmerzen zu ersparen. So schnell ihn seine Füße trugen, eilten sie zurück zu der Stelle, wo Jennsen Kaiser Jagang zurückgelassen hatte.

»Bist du schwer verletzt?«, fragte sie und hatte Angst vor der Antwort.

»Weiß ich nicht genau«, antwortete er. völlig außer Atem und sichtlich unter Schmerzen. »Meine Rippen brennen wie Feuer. Hättest du den Volltreffer nicht verhindert, wäre ich wohl längst tot.«

Auf ihrem Weg durch den Palast stießen sie auf einen Trupp Soldaten. Jennsen brach unmittelbar neben ihnen zusammen, keuchend, erschöpft, unfähig, Sebastian auch nur noch einen Schritt länger zu stützen. Ihre Beinmuskeln zitterten vor Anstrengung.

»Wir ziehen ab«, erklärte Sebastian, der vor Schmerzen fast keine Luft bekam, den Soldaten. »Wir müssen von hier verschwinden. Kaiser Jagang ist schwer verwundet. Wir müssen ihn von hier fortschaffen.« Er deutete in verschiedene Richtungen. »Teilt Euch in unterschiedliche Richtungen auf und treibt unsere Leute zusammen. Wir brauchen jeden Mann, den wir auftreiben können, um den Kaiser zu beschützen und ihn in Sicherheit zu bringen. Ihr zwei müßt mir helfen.«

Der Großteil der Männer machte sich augenblicklich auf den Weg. Die beiden, die zurückblieben, legten sich Sebastians Arme über ihre Schultern und hoben ihn mühelos hoch. Er zuckte vor Schmerzen zusammen. Jennsen führte sie, nach den markanten Punkten Ausschau haltend, die sie sich gemerkt hatte, quer durch den Palast.

»Hier entlang«, sagte sie, als sie die gähnende Bresche an der Ecke eines mit Trümmerteilen übersäten Korridors wiedererkannte. Dort, am klaffenden Loch in der äußeren Ummauerung, durch das Tageslicht hereinfiel und von wo aus man einen weiten Blick über die Parkanlagen tief unten hatte, war das für sie und Kaiser Jagang bestimmte Zauberfeuer detoniert.

Fünf Soldaten bahnten sich aus der anderen Richtung einen Weg durch den Flur; sie hatten eine Schwester des Lichts bei sich. Hinter ihnen konnte man nahezu ein weiteres Dutzend Soldaten erkennen. Zwei Schwestern, die Gesichter rußverschmiert, kamen durch ein nahes, seitlich gelegenes Gemach, gefolgt von weiteren Soldaten des Sturmtrupps. Die Hälfte der Männer war verwundet, doch sie waren alle im Stande, sich aus eigener Kraft fortzubewegen.

Kaiser Jagang lehnte dort, wo Jennsen ihn zurückgelassen hatte, in aufrechter Haltung an der Wand. Der Vorhangstoff, mit dem Jennsen ihm das Bein umwickelt hatte, hielt die Wunde halbwegs zusammen, allerdings waren die Wundränder nicht richtig angepaßt worden, und die entsetzliche Verletzung bedurfte dringend der Versorgung. Offenbar hielt die Wirkung der von der Schwester kurz vor ihrem Tod durchgeführten Heilmagie noch an, so daß Jagang nicht mehr viel Blut verlor.

Wegen seines hohen Blutverlusts wirkte der Kaiser allerdings matt und bleich, aber längst nicht so bleich wie die Gesichter derer, die zum ersten Mal die Schwere seiner Verletzung erkannten.

Eine der Schwestern kniete nieder, um nach der Wunde zu sehen. Jagang zuckte zusammen, als sie versuchte, die beiden Seiten seines aufgerissenen Beins genauer aneinander anzupassen.

»Wir haben keine Zeit, um es gleich hier zu heilen«, meinte sie. »Wir müssen ihn erst an einen sicheren Ort bringen.«

Sie ging sogleich daran, den Verband aus blutdurchtränktem Vorhangstoff straffer zu ziehen und sich weitere Stoffetzen aus den Trümmern zusammenzusuchen.

»Habt Ihr sie erwischt?«, erkundigte sich Jagang, während die Schwester damit beschäftigt war, die Wunde zu versorgen. »Wo ist sie? Sebastian!« Er stemmte sich mit Hilfe eines Brettes in eine aufrechte Stellung und versuchte erst auf der einen, dann auf der anderen Seite an dem Trupp Soldaten vorbeizuspähen, der Sebastian half, bis zu Kaiser Jagang vorzudringen. »Da seid ihr ja endlich. Wo ist die Mutter Konfessor? Habt Ihr sie gefaßt?«

»Sie war es nicht«, beantwortete Jennsen die Frage.

»Was?« Der Kaiser blickte verärgert in die Gesichter der ihn Umstehenden. »Ich habe das Miststück doch mit eigenen Augen gesehen und werde ja wohl wissen, ob ich die Mutter Konfessor vor mir habe! Wieso habt Ihr sie nicht erwischt?«

»Ihr habt einen Zauberer gesehen und eine Hexenmeisterin«, erklärte ihm Jennsen. »Sie haben Euch mit Hilfe von Magie glauben gemacht, Ihr sähet Lord Rahl und die Mutter Konfessor. Das Ganze war ein Täuschungsmanöver.«

»Ich fürchte, sie hat Recht«, warf Sebastian ein, ehe Jagang sie anschreien konnte. »Ich stand unmittelbar neben ihr, und während ich die Mutter Konfessor sah, konnte Jennsen sie nicht sehen.«

Jagang musterte sie mit mißbilligender Miene. »Aber wenn die anderen sie gesehen haben, wie ist es dann möglich, daß Ihr sie nicht...«

Dann endlich schien er zu begreifen. Aus einem für Jennsen nicht ganz nachvollziehbaren Grund wurde ihm plötzlich klar, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte.

»Aber warum?«, fragte die Schwester.

»Beide, sowohl der Zauberer als auch die Hexenmeisterinnen, schienen sehr in Eile zu sein«, meinte Jennsen. »Offenbar haben sie irgendetwas vor.«

»Das ist ein Ablenkungsmanöver«, sagte Jagang leise, den leeren Blick in den verlassenen, mit Trümmern übersäten Flur gerichtet. »Sie wollten, daß wir beschäftigt sind. Sie wollten uns fernhalten und dafür sorgen, daß wir uns über andere Dinge den Kopf zerbrechen.«

»Von was denn fern halten?«, fragte Jennsen.

»Von der Hauptstreitmacht«, sagte Sebastian, der Jagangs Gedankengang sofort verstanden hatte. Eine zweite Schwester beeilte sich, ihm einen Druckverband an den Rippen anzulegen und ihn mit einem langen, um die Brust gewickelten Stoffstreifen zu befestigen, damit er nicht verrutschte.

»Das wird nur kurze Zeit halten«, murmelte sie, halb zu sich selbst. »Es sieht gar nicht gut aus.« Sie sah abermals zu der anderen Schwester hinüber. »Wir werden die Wunde ordnungsgemäß verbinden müssen, aber hier ist das nicht möglich.«

Jagang stieß einen wütenden Fluch aus. Er spähte durch das von Zauberfeuer in die Wand gesprengte Loch und bückte in die Richtung, wo sie die Armee talabwärts am Fluß zurückgelassen hatten. Dann ballte er die Faust und biß die Zähne aufeinander.

»Dieses Miststück! Sie wollten, daß wir beschäftigt sind, damit sie unsere Hauptstreitmacht bei ihrer Attacke wie auf dem Präsentierteller vorfinden. Dieses intrigante Miststück! Wir müssen sofort umkehren!«

Der kleine Sturmtrupp hastete durch die Flure. Jagang und Sebastian wurden, jeweils einen Soldaten rechts und links unter dem Arm, getragen, so daß sie auf dem Weg hinaus aus dem Palast schnell vorankamen. Sebastians Zustand hatte sich erkennbar verschlechtert.

Unterwegs kamen weitere Soldaten hinzu. Jennsen staunte, daß sie immer noch auf Überlebende stießen. Verglichen mit der Streitmacht, mit der sie angerückt waren, waren sie jedoch vernichtend geschlagen worden. Wären sie zusammengeblieben, statt sich, wie von Kaiser Jagang und Sebastian veranlaßt, immer weiter aufzuteilen, hätten sie gut und gerne alle auf einen Schlag getötet werden können. Doch auch so mußte die Armee der Imperialen Ordnung eine gewaltige Zahl von Toten zurücklassen.

Unmittelbar nach Erreichen des unteren Stockwerks bahnten sie sich einen Weg durch die Dienstbotengänge zum Seiteneingang des Palasts. Draußen bot sich ihnen ein grauenhaftes Bild. Allem Anschein nach war die gesamte Streitmacht niedergemetzelt worden, und die Wahrscheinlichkeit, daß auch nur ein einziger Kavallerist überlebt hatte, überaus gering. Jennsen empfand den Anblick eines Blutbads von diesen Ausmaßen unerträglich und doch zugleich so überwältigend, daß sie nicht wegsehen konnte. Die ineinander verschlungenen Leichen der Pferde und Soldaten bildeten eine unregelmäßige, sich hangabwärts ziehende Frontlinie, sie waren exakt an der Stelle gefallen, wo sie in vollem Galopp frontal auf den Gegner geprallt waren. In der Ferne grasten ein paar versprengte Pferde, deren Reiter zweifellos längst nicht mehr lebten.

»Man sieht überhaupt keine gegnerischen Toten«, stellte Jagang mit einem Rundblick über das Schlachtfeld fest, während er, auf einen Langspieß gestützt, den ihm ein Soldat gereicht hatte, weiterhumpelte. »Was mag nur eine solche verheerende Wirkung gehabt haben?«

»Jedenfalls nichts von dieser Welt«, meinte eine Schwester.

Soldaten hoch zu Roß – insgesamt weniger als eintausend der ursprünglich über vierzigtausend Mann – kamen angeritten, um die kleine, aus dem Palast zurückkehrende Truppe zu umringen. Es folgte eine Reihe berittener Schwestern, die sich, einen inneren Verteidigungsring bildend, dicht um den Kaiser scharten.

Rusty kam mit Pete im Schlepptau herangetrabt; die beiden hatten sich den zerlumpten Überresten der Kavallerie angeschlossen. Rusty erkannte das Signal, als Jennsen pfiff, und eilte herbei; Jennsen strich dem Tier mit der Hand beruhigend über den zitternden Hals und kraulte ihm die Ohren. Als Pete ihr mit der Stirn von hinten gegen die Schulter stieß, wurde er auf ähnliche Weise getröstet.

»Was ist nur passiert?«, brüllte Jagang wutentbrannt. »Wie konntet Ihr Euch auf diese Weise überrumpeln lassen?«

Der die berittene Truppe anführende Offizier blickte verzweifelt um sich. »Exzellenz, es ist ... wie aus heiterem Himmel über uns gekommen. Da war nichts, gegen das wir hatten kämpfen können.«

»Wollt Ihr mir etwa weismachen, es waren Gespenster?«, blaffte Jagang.

»Ich glaube, es waren die Pferde, die der Kundschafter gerochen hat«, warf ein anderer Offizier ein. Sein Arm war trotz seines bis unter die Achseln reichenden Verbandes blutverschmiert.

Während Soldaten zusätzliche Pferde herbeischafften, saß Schwester Perdita unmittelbar neben ihm ab. »Exzellenz, an dem Angriff war in irgendeiner Form Magie beteiligt – die einzige Erklärung, die ich habe, sind durch Zauberei heraufbeschworene Phantomreiter.«

Er sah sie aus seinen bedrohlichen Augen auf eine Weise an, die sogar Jennsen vor Angst zittern ließ. »Und wieso habt Ihr und Eure Schwestern es dann nicht verhindert?«

»Weil sie mit der heraufbeschworenen Magie nichts gemein hat, mit der wir es gewöhnlich zu tun bekommen. Meiner Meinung nach muß es sich um eine Spielart konstruierter Magie gehandelt haben, sonst hätten wir sie nicht nur erkennen, sondern auch etwas dagegen unternehmen können. Zumindest ist das meine Vermutung. Ich bin mit konstruierter Magie bislang noch nie in Berührung gekommen, aber ich habe davon gehört. Was immer uns attackierte, hat auf keinen unserer Abwehrversuche reagiert.«

Der Kaiser musterte sie nach wie vor mit finsterer Miene. »Magie ist Magie. Ihr hättet sie aufhalten müssen, dazu seid Ihr schließlich da.«

»Konstruierte Magie und heraufbeschworene Magie sind nicht dasselbe, Exzellenz.«

»Nicht dasselbe? Inwiefern?«

»Statt die Gabe spontan zu nutzen, wird konstruierte Magie vorab entworfen. Sie läßt sich über große Zeitspannen konservieren, über Tausende von Jahren, vielleicht sogar für immer. Wird sie benötigt, wird der Bann ausgelöst und die Magie freigesetzt.«

»Ausgelöst durch was?«, fragte Sebastian.

Schwester Perdita schüttelte verzweifelt den Kopf. »Dafür kann alles Mögliche in Frage kommen, wie ich mir habe sagen lassen. Das hängt ganz von ihrer Konstruktionsweise ab. Heutzutage ist kein Zauberer mehr im Stande, einen solchen Bann zu entwerfen. Wir wissen wenig über die Zauberer aus alter Zeit und welche Talente sie besaßen, aber das wenige, das wir wissen, läßt darauf schließen, daß ein konstruierter Bann eine trocken aufbewahrte Substanz sein könnte, die zum Leben erwacht, sobald ihr Feuchtigkeit zugeführt wird – wie etwa ein zum Düngen von Getreide benutztes Mittel, das mit Einsetzen des Frühlingsregens wirksam wird. Es könnte durch Erwärmen ausgelöst werden – wie ein Heilmittel, das man bei Fieber einnimmt –, wobei das Heilmittel als Träger des magischen Entwurfs dient und das Fieber selbst ihn auslöst. Andere werden durch eine winzige Portion Magie ausgelöst, manche durch eine kunstvolle Anwendung unglaublich komplexer Zauberei und gewaltiger Kräfte.«

»Demzufolge«, folgerte Jennsen. »müßte also jemand mit außerordentlichen magischen Talenten etwas so Gewaltiges wie diese Phantomreiter entfesselt haben?«

Schwester Perdita schüttelte den Kopf. »Es könnte sich um diese Form von konstruierter Magie handeln, aber ebenso gut könnte es auch ein Bann sein – wenn auch ein unglaublich mächtiger –, der in einem winzigen Behältnis aufbewahrt und ausgelöst wurde, indem man die Konstruktion ... nun ja, irgendeiner Substanz aussetzte – möglicherweise sogar Pferdedung.«

Kaiser Jagang tat den bloßen Gedanken mit einer Handbewegung ab. »Etwas so Kleines und leicht Auslösbares wäre niemals imstande, solche Kräfte zu entfalten.«

»Exzellenz«, gab die Schwester zu bedenken, »Ihr dürft dabei nicht die augenscheinliche physische Größe der Konstruktion oder ihres Auslösers mit den Auswirkungen gleichsetzen, beides steht in keinerlei Beziehung zueinander, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie es sich die meisten Menschen vorstellen. Der Auslöser hat keinerlei Einfluß auf die Stärke der Konstruktion. Nicht einmal die Konstruktion und ihr Auslöser müssen notwendigerweise in Beziehung zueinander stehen. Es gibt schlicht und einfach keine feste Regel, nach der sich eine Konstruktion bewerten ließe.«

Der Kaiser deutete mit einer ausladenden Armbewegung auf die Zehntausende im Tod ineinander verschlungenen Soldaten und Pferde. »Aber eine Katastrophe von solchen Ausmaßen muß doch zweifellos eine gewaltigere Ursache gehabt haben.«

»Die Armee der Phantomreiter, die diesen Angriff durchgeführt hat, könnte von einem Zauberer ausgelöst worden sein, der mit magischem Staub Banne zeichnet und dazu eine unvorstellbar komplexe Beschwörungsformel spricht, ebenso gut aber könnte der Auslöser ein Buch sein, in dem ein Kavalleriekonter beschrieben ist, das ganz einfach auf der richtigen Seite aufgeschlagen und der angreifenden Streitmacht entgegengehalten wird – selbst aus einer Entfernung von mehreren Meilen. Auslöser könnte sogar die schlichte Angst einer Person sein, die eine solche Konstruktion erzeugt.«

»Soll das etwa heißen, irgendeine x-beliebige Person könnte eine Konstruktion aus Versehen auslösen?«, fragte Jennsen.

»Ja, durchaus. Gerade das macht sie ja so gefährlich. Doch nach allem, was ich gelesen habe, kommt diese Art äußerst selten vor. Wegen ihrer großen Gefährlichkeit sind die meisten mit komplizierten Sicherungen und ausfallsicheren Mechanismen umgeben, für die höchst fundierte Kenntnisse in der Anwendung von Magie erforderlich sind.«

»Aber«, wandte Jennsen ein, »hat eine über entsprechend fortgeschrittene Kenntnisse verfügende Person – ein Zauberer – diese Schichten aus Sicherungen und ausfallsicheren Mechanismen einmal entfernt, könnte sie doch durch einen letzten, ganz einfachen Auslöser in Gang gesetzt werden?«

Schwester Perdita warf Jennsen einen viel sagenden Blick zu. »Genauso ist es.«

»Demzufolge könnte diese Streitmacht aus Phantomreitern«, sagte Jagang. auf die Tausende von Leichen deutend, »jeden Augenblick noch einmal losgeschickt werden, um uns den Rest zu geben.«

Die Schwester schüttelte den Kopf. »So wie ich es verstehe, kann ein konstruierter Bann jeweils nur einmal eingesetzt werden. Er erschöpft sich durch die Erfüllung des Zwecks, für den er geschaffen wurde. Das ist einer der Gründe für sein seltenes Vorkommen, einmal benutzt, erlischt er für immer, und kein lebender Zauberer kann ihn je wieder rekonstruieren.«

»Wieso sind wir dann nicht schon früher auf diese Banne gestoßen?«, fragte Sebastian, dessen Ungeduld zusehends wuchs. »Und wieso auf einmal ausgerechnet jetzt?«

Schwester Perdita starrte ihn einen Moment lang an, ein Bild verhaltenen Ärgers, wie sie es sich, vermutete Jennsen, unmittelbar gegenüber Jagang niemals erlaubt hätte, auch wenn der von ihm gegen ihren Rat befohlene Angriff auf den Palast der Konfessoren den Tod zahlloser Schwestern des Lichts zur Folge gehabt hatte.

Schwester Perdita gab sich betont besorgt, als sie hinauf zur düsteren, sich klar gegen den Berghang abhebenden Burg zeigte. »In der Burg der Zauberer gibt es mindestens eintausend Räume«, sagte sie mit leiser Stimme. »Und eine ganze Reihe von ihnen ist vermutlich bis unter die Decke mit äußerst üblen Dingen voll gestopft. Nachdem wir sie während des Winters hierher getrieben hatten, hatte der Zauberer auf ihrer Seite – dieser Zauberer Zorander – vermutlich alle Zeit der Welt, um die gesamte Burg nach den noch fehlenden Dingen zu durchforsten, um auf uns vorbereitet zu sein, wenn wir im Frühjahr gegen Aydindril vorrücken. Ich wage nicht mir vorzustellen, welche katastrophalen Überraschungen er noch für uns in petto hat.«

Sebastians Blick wurde ebenso finster wie der Jagangs. »Und wieso habt Ihr uns nicht davor gewarnt? Mir ist nie zu Ohren gekommen, daß Ihr über diese Dinge gesprochen hättet.«

»Habe ich aber. Ihr wart nur nicht da.«

»Ihr habt auch von vielen anderen Dingen abgeraten, die wir unbeschadet überstanden haben«, knurrte Jagang sie an. »Im Krieg muß man etwas riskieren und damit rechnen, gewisse Verluste hinzunehmen. Nur wer wagt, gewinnt.«

Sebastian gestikulierte hinauf zur Burg. »Womit müssen wir außerdem noch rechnen?«

»Konstruierte Banne sind nur eines der Risiken im Kampf gegen solche Gegner. Weil sie so selten vorkommen, hat keine von uns Schwestern sie als sonderlich ernste Gefahr betrachtet, aber wie Ihr jetzt seht, kann bereits ein Einziger von ihnen überaus gefährlich sein. Es existiert eine ganze Welt voller Gefahren, von denen wir uns nicht einmal ansatzweise eine Vorstellung machen können. Allein das winterliche Klima hier hat Tausende unserer Soldaten das Leben gekostet, ohne daß der Feind auch nur einen Finger krumm machen oder einen einzigen Mann riskieren mußte. Das allein hat uns mehr geschadet als nahezu jede Schlacht oder jedes durch Magie hervorgerufene Unglück. Haben wir diese Verluste durch etwas so Simples wie Schnee und Frost überhaupt einkalkuliert? Hat uns unsere Stärke oder Größe etwa davor bewahrt? Bedeuten diese vielen Toten etwa einen geringeren Verlust, weil sie an Fieber statt an einer ausgefallenen Anwendung der Magie gestorben sind? Welchen Unterschied macht das für die Toten – oder für die, die übrig geblieben sind, um weiterzukämpfen?

Zugegeben, ein aufgrund von Erkrankung seines Feindes zustande gekommener Sieg mag einem Soldaten weder sonderlich ruhmreich noch heldenhaft erscheinen, aber tot ist tot. Zahlenmäßig ist unsere Armee um ein Vielfaches überlegen, und doch haben wir diese Hunderttausende von Soldaten allein aufgrund eines durch die Witterungsbedingungen hervorgerufenen Fiebers verloren – und nicht etwa durch Magie, vor der wir Euch – Eure größte Sorge – beschützen sollen.«

»Aber in einem richtigen Kampf«, spottete Sebastian, »wird unsere zahlenmäßige Überlegenheit dann zum Tragen kommen, und am Ende werden wir den Sieg erringen.«

»Erzählt das denen, die am Fieber gestorben sind. Zahlenmäßige Überlegenheit ist nicht immer eine Garantie für den Sieg.«

»Was für ein abstruser Gedanke«, feuerte Sebastian zurück.

Schwester Perdita wies auf die Reihen der Gefallenen. »Sagt das den Toten.«

»Wenn wir gewinnen wollen, müssen wir Risiken eingehen«, erklärte Jagang, und damit war die Sache entschieden. »Was ich wissen will, ist Folgendes: Müssen wir damit rechnen, daß der Feind uns noch weitere dieser konstruierten Banne entgegenschleudern wird?«

Schwester Perdita schüttelte achselzuckend den Kopf, so als wollte sie sagen, das wisse sie nicht. »Ich bezweifle, daß Zauberer Zoranders Kenntnisse über die dort aufbewahrten konstruierten Banne sehr tiefgreifend sind. Die Beherrschung dieser Magie ist weitgehend in Vergessenheit geraten.«

»Einen dieser Banne hat er jedenfalls noch ziemlich gut beherrscht«, warf Sebastian ein.

»Und das könnte durchaus der Einzige gewesen sein, den er gut genug beherrscht, um ihn überhaupt einzusetzen. Wie schon gesagt, konstruierte Banne erschöpfen sich nach einmaligem Gebrauch.«

»Trotzdem ist es durchaus möglich«, mischte sich Jennsen ein, »daß er auch noch weitere konstruierte Banne beherrscht.«

»Ja. Aber nach allem, was man weiß, könnte dies auch ebenso gut der letzte noch existierende konstruierte Bann gewesen sein. Vielleicht aber hockt er auch dort oben und hat noch hundert weitere in der Hinterhand, die alle weitaus gefährlicher sind als dieser. Das läßt sich vorab beim besten Willen nicht feststellen.«

Jagangs schwarzgraue Augen waren starr auf seine gefallene Kavallerieelite gerichtet. »Nun, diesen hat er jedenfalls zu nutzen gew ...«

Am fernen Horizont blitzte ein gleißend helles Leuchten auf.

Die Welt rings um sie her erstrahlte mit der leuchtenden Strahlkraft eines Blitzes, nur daß dieser Blitz nicht, wie üblich, sofort wieder erlosch. Jennsen packte Rustys und Petes Zügel knapp unterhalb der Trense, um zu verhindern, daß sie durchgingen. Andere Pferde scheuten und bäumten sich auf.

Über dem Flußtal jenseits der Hügel – aus der Richtung, wo ihre Armee lagerte – flackerte ein weißglühendes Licht, ein Licht so weiß, so rein und gleißend hell, daß es bis zum gegenüberliegenden Horizont leuchtete.

Der weiß glühende Lichtschein, unter dem die hügelige Landschaft plötzlich zwergenhaft geschrumpft wirkte, breitete sich mit ungeheurer Geschwindigkeit aus und war doch so weit entfernt, daß man nicht das geringste Geräusch hörte. Die felsigen Flanken der Berge rings um die Stadt erstrahlten in grellem Licht.

Dann, endlich, vernahm Jennsen das tiefe, polternde Donnergrollen, das sie bis in die Brust spürte und das den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ. Das mächtige, hallende Krachen schwoll zu einem immer lauter werdenden, scheppernden Getöse an.

Ein dunkler Pilz quoll über dem Ursprung des Lichts himmelwärts. Jennsen erkannte, daß das, was sie aufgrund der großen Entfernung für einen sich immer weiter ausdehnenden Staubpilz hielt, aus mindestens wagen-, wenn nicht gar baumgroßen Trümmerteilen bestehen mußte.

Die Wolke im Zentrum des Lichts schwoll immer mehr an, bis sie sich schlagartig in ein Nichts auflöste, so als wäre sie in der ungeheuren Energie dieser alles verzehrenden Hitze und Helligkeit verdampft. Jennsen sah eine sich ringförmig ausbreitende Welle über den Erdboden hinrasen, ganz ähnlich den Ringen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft, bloß daß es in diesem Fall nur eine einzige Welle war.

Alle standen da wie gelähmt vor Angst, als eine Staub und Sand vor sich hertreibende Wand aus Wind hügelaufwärts auf sie zugeschossen kam. Schließlich hatte die Druckwelle sie erreicht. Sie traf sie mit solcher Plötzlichkeit und Wucht, daß die Zweige, wären sie nicht bereits kahl gewesen, auf der Stelle entlaubt worden wären. Äste knickten ab, als die vom Wind geschüttelten Bäume hin und her gepeitscht wurden.

Immer mehr Pferde gerieten in Panik, bockten und stoben davon. Soldaten warfen sich zu Boden, um sich vor den womöglich noch folgenden Nachwirkungen zu schützen. Jennsen, die der ungeheure Windstoß beinahe von den Füßen riß, hielt sich die Hand schützend vor die Augen, während kräftige, erwachsene Soldaten in ihrer Kindheit erlernte Gebete aufsagten, in denen sie den Schöpfer um Rettung anflehten.

Jagang stand da und bot dem Schauspiel mit einer Mischung aus Wut und Trotz die Stirn.

»Bei den Gütigen Seelen«, meinte Jennsen schließlich, mit zusammengekniffenen Augen den Staub aus ihren Augen blinzelnd, als die Nachwirkungen abzuflauen schienen. »Was in aller Welt mag das gewesen sein?«

Schwester Perdita war leichenblaß geworden. »Ein Lichtnetz.«

»Völlig ausgeschlossen!«, polterte Jagang. »Dort unten gibt es Schwestern zur Abwehr aller Lichtbanne!«

Die indirekt angesprochene Schwester Perdita brachte kein Wort hervor; sie schien die Augen nicht von dem fesselnden Anblick lösen zu können.

»Wieso sollte es ein Lichtnetz gewesen sein?«, fragte Jagang aufgebracht. »Es sind nicht mal irgendwelche Leute in der Nähe! Keine Armee, keine Truppen – außer vielleicht ein paar von ihren mit der Gabe Gesegneten.«

»Mehr wären dafür auch nicht nötig«, erwiderte Schwester Perdita. »Für diese Dinge ist keine Truppenunterstützung erforderlich. Ich sagte Euch doch bereits, daß hier etwas nicht stimmt. Hier in Aydindril steht die Burg der Zauberer, und niemand vermag zu sagen, was auch nur ein einzelner Zauberer zu Wege bringen könnte, um eine Armee – sogar eine Armee wie die unsrige – abzuwehren.«

Jagang machte ein ungläubiges Gesicht. »Ihr wollt doch nicht etwa behaupten, dieser klapprige alte Zauberer könnte das an einem Ort wie dieser Burg alles ganz allein bewerkstelligt haben?«

»Dieser eine klapprige alte Zauberer, wie Ihr ihn zu nennen beliebt, hat soeben das Unmögliche vollbracht. Nicht nur, daß er ein vermutlich vor Jahrtausenden konstruiertes Lichtnetz aufgestöbert hat, es ist ihm, was noch unbegreiflicher ist, auch noch gelungen, es auszulösen.«

Jagang wandte sich ab und starrte hinüber zu der Stelle, wo der Lichtschein endlich zu erlöschen schien. »Gütiger Schöpfer«, entfuhr es ihm leise, »genau dort drüben lagert die Armee.« Er wischte sich mit der Hand über seinen kahl geschorenen Schädel, während er die schauderhaften Folgen überlegte. »Wie ist es nur möglich, daß sie ein Lichtnetz inmitten unserer Armee entzünden? Dagegen sind wir doch abgesichert! Wie?«

Schwester Perdita senkte den Blick zu Boden. »Wir haben keine Möglichkeit, das herauszufinden, Exzellenz. Es könnte etwas so Einfaches gewesen sein wie ein uraltes Kästchen mit einem Lichtnetz darin, von dem er sämtliche Sicherungsvorkehrungen entfernt und es anschließend zurückgelassen hat, damit wir zufällig darauf stoßen. Vielleicht hat es einer unserer Männer beim Aufschlagen des Lagers gefunden, sich gefragt, was das kleine, unverdächtig aussehende Kästchen wohl enthalten mag, es geöffnet, und das Tageslicht wurde schließlich zum entscheidenden Auslöser. Aber es könnte auch etwas vollkommen anderes sein, das wir uns nicht einmal im Traum hätten ausdenken oder vorstellen und noch viel weniger hätten verhindern können. Wir werden es nie erfahren. Wer immer es ausgelöst hat, ist jetzt Teil jener gewaltigen Staubwolke, die dort über dem Flußtal steht.«

»Exzellenz«, sagte Sebastian, »ich rate dringend, die Armee von hier abzuziehen und den Rückzug zu befehlen.« Er hielt inne, als ein heftiger Schmerz ihn zusammenzucken ließ. »Wenn sie imstande sind, derartige Kräfte zu ihrer Verteidigung zu entfesseln, könnte eine Eroberung der Burg unmöglich sein – trotz der mit der Gabe Gesegneten und des Schutzes, den sie uns bieten.«

»Aber wir haben keine andere Wahl!«, brüllte Jagang.

Sebastian mußte warten, bis der stechende Schmerz ein wenig nachließ. »Ein Verlust dieser Armee, Exzellenz, bedeutete für Lord Rahl einen absoluten Triumph. So einfach ist das. Aydindril lohnt das Risiko nicht, als das es sich herausgestellt hat.« Hier sprach weniger der Sebastian, den Jennsen kannte, als vielmehr der oberste Stratege der Imperialen Ordnung. »Es wäre besser, sich zurückzuziehen und bei einer anderen Gelegenheit zu kämpfen, wenn wir die Bedingungen festlegen, und nicht sie. Die Zeit arbeitet für uns, nicht für sie.«

Sprachlos vor Zorn starrte Kaiser Jagang in die Richtung seiner bedrohten Armee, während er sich Sebastians Ratschlag durch den Kopf gehen ließ. Unmöglich zu sagen, wie viele Männer soeben ihr Leben verloren hatten.

»Das ist das Werk Lord Rahls«, meinte Jagang schließlich mit leiser Stimme. »Er muß ausgeschaltet werden. Im Namen des Schöpfers, er muß unschädlich gemacht werden.«

Jennsen machte sich ein weiteres Mal bewußt, daß nur sie allein diese Tat ausführen konnte.

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