12

Also, wenn das kein Ding war! Die Geschichte wurde immer merkwürdiger. Diese Nacht steckte voller Überraschungen, eine dicht gefolgt von der nächsten.

Von seinem Versteck gleich hinter der Hausecke aus hatte Oba die Unterhaltung der beiden zum größten Teil mithören können. Anfangs war er sicher gewesen, sie würden loslaufen, um Hilfe zu holen. Oba bezweifelte zwar, daß man das Feuer löschen konnte, trotzdem war er einen Augenblick lang beunruhigt gewesen, da er befürchtete, der Mann und die Frau könnten Lathea aus dem Haus ziehen und sie aus der Feuersbrunst retten, damit irgendwelche Leute anschließend dort herumschnüffeln konnten. Das sähe der Hexenmeisterin ähnlich, daß sie einen Weg fand, ihn doch noch zu quälen – und das nach all der Arbeit, die er sich gemacht hatte!

Aber offenbar zogen es sowohl der Mann als auch die Frau vor, Lathea den Flammen zu überlassen. Auch sie hofften wohl, daß das Feuer sämtliche Beweise für das wahre Ende der Hexenmeisterin vernichtete. Als die Frau davon sprach, sie habe ihrer Mutter Geld weggenommen, und er irgendwelchen Soldaten, da hatten sie fast wie Diebe geklungen. Sehr verdächtig.

Die Nacht erwies sich als eine einzige Abfolge von Überraschungen. Erst war er unbesiegbar geworden und hatte dadurch sein wahres inneres Selbst befreit, nur um herauszufinden, daß das Blut der Rahls in seinen Adern floß, und dann war dieses merkwürdige Paar aufgekreuzt, um ihm beim Vertuschen von Latheas wahrem Ende zu helfen. Die Geschichte wurde immer merkwürdiger. Soeben hatte sich herausgestellt, daß er, Oba Schalk, eine ziemlich bedeutende Persönlichkeit war, ein Mann von edlem Geblüt und adliger Geburt! Er fragte sich, ob er sich korrekterweise jetzt nicht Oba Rahl nennen sollte, und überlegte, ob er nicht in Wirklichkeit ein Prinz sei.

Dieser Gedanke erschien ihm durchaus verlockend. Unglücklicherweise hatte seine Mutter ihn jedoch in bescheidenen Verhältnissen großgezogen, daher kannte er sich in der Frage, welcher Rang oder welcher Titel ihm von Rechts wegen zustand, nicht besonders gut aus.

Außerdem wurde ihm klar, daß seine Mutter eine Lügnerin war. Sie hatte ihrem eigenen Sohn, ihrem eigen Fleisch und Blut – Darken Rahls Fleisch und Blut – seine wahre Identität verschwiegen. Wahrscheinlich war sie nachtragend und neidisch und wollte nicht, daß Oba von seinem hohen gesellschaftlichen Rang erfuhr. Ständig versuchte sie, ihn kleiner zu machen als er war, dieses Miststück.

Oba huschte verstohlen über die Schneefläche, um sich hinter dem dicken Stamm einer Eiche zu verstecken, und beobachtete, wie das Pärchen mit eiligen Schritten den Pfad zwischen den Bäumen in Richtung Straße hinunterlief. Als sie außer Sicht waren, folgte er ihren Fußstapfen. Eigentlich war er etwas zu kräftig gebaut, um sich hinter einem Baumstamm zu verstecken, aber in der Dunkelheit war das sicherlich kein Problem.

Diese Frau hatte von einem Quadron gesprochen. Zum Teil war es das, was ihn beunruhigte. Oba hatte bereits vage von Quadronen gehört, angeblich handelte es sich um eine Art gedungene Mörder – von Lord Rahl höchstpersönlich ausgesandte Meuchelmörder, die auf besonders wichtige oder als gefährlich geltende Personen angesetzt wurden. Vielleicht war das der Grund: Die beiden waren gefährliche Leute und am Ende doch keine gewöhnlichen Diebe.

Den Namen der Frau hatte Oba deutlich verstanden – Jennsen.

Aber was ihn wirklich die Ohren hatte spitzen lassen, war die Tatsache, daß Lathea eine Schwester namens Althea hatte – noch eine von diesen vermaledeiten Hexenmeisterinnen – und diese Althea die Einzige war, die diese Lücken in der Welt erkennen konnte. Das war es, was ihn am allermeisten beunruhigte, denn genau dieselben Worte hatte Lathea ihm gegenüber gebraucht.

Auf rätselhafte Weise schienen diese Frau namens Jennsen und er das zu sein, was Lathea als Lücken in der Welt bezeichnet hatte. Es klang irgendwie wichtig. Irgendwie war diese Jennsen so wie er, irgend etwas verband sie beide miteinander. Der Gedanke faszinierte ihn und er hätte sie sich gern genauer angesehen. Als sie sich umdrehte, war gerade Zeit für einen flüchtigen Blick gewesen, aber dieser flüchtige Blick hatte genügt, um zu erkennen, daß sie eine bemerkenswert schöne junge Frau war.

Oba versuchte noch immer, zwischen all den neuen Dingen, die er hinzugelernt hatte, einen Zusammenhang herzustellen. Das Ganze war überaus kompliziert – so viel zumindest war ihm klar. Er durfte nichts unberücksichtigt lassen, wenn sich alles ineinander fügen sollte. Als er zum nächsten Baum weiterhuschte, entschied er, daß es wohl das Beste wäre, Jennsen und Sebastian, diesen Kerl in ihrer Begleitung, genauer unter die Lupe zu nehmen.

Obwohl die beiden sich ständig umschauten, hatte Oba bei dieser Dunkelheit keine Mühe, ihnen unbemerkt zu folgen; nachdem sie die ersten Gebäude erreicht hatten, wurde es sogar noch einfacher. Nicht viel später öffneten sie die Tür zu einem Gasthaus. Gelächter und Musik drangen heraus auf die Straße – so, als sei man bereits dabei, das Ableben der Hexenmeisterin zu feiern. Schade nur, daß niemand wußte, wer der Held war der diesen Nagel zu ihrer aller Sarg beseitigt hatte. Wenn die Leute wüßten, was er, Oba, soeben vollbracht hatte, würde er vermutlich so viele Krüge spendiert bekommen, wie er sich nur wünschen konnte. Er sah zu, wie Jennsen und Sebastian im Innern der Gaststube verschwanden. Die Tür fiel mit einem dumpfen Knall ins Schloß, und die Stille der winterlichen Nacht kehrte zurück.

Oba wischte sich die Nase an seinem Jackenärmel ab und nahm Kurs Richtung Tür. Es war höchste Zeit, ein gemütliches Wirtshaus aufzusuchen und sich ein Gläschen zu genehmigen. Wenn jemand das verdient hatte, dann Oba Rahl. Jennsen musterte die Gesichter in der Gaststube argwöhnisch.

»Bleibt ganz ruhig«, ermahnte Sebastian sie leise. »Wir wollen auf keinen Fall Verdacht erregen.« Stufe um Stufe stiegen sie die Treppe hinauf, gemächlichen Schritts, wie ein Paar, das einfach sein Zimmer aufsucht.

Dort angekommen, sammelte Jennsen sogleich einige Dinge zusammen, die sie ihren Rucksäcken entnommen hatten, und stopfte sie wieder hinein, zurrte Riemen und Schnallen fest. Latheas grausiges Schicksal schien sogar Sebastian den letzten Nerv geraubt zu haben, denn er überprüfte ständig die Waffen unter seinem Umhang.

»Wollt Ihr wirklich nicht wenigstens ein bißchen schlafen? Lathea kann ihnen unmöglich etwas verraten haben – sie wußte nicht, daß wir hier im Gasthaus abgestiegen sind. Vielleicht wäre es besser, ausgeschlafen im Morgengrauen aufzubrechen.«

Sie warf ihm einen Blick zu, während sie sich ihren Rucksack über die Schulter warf.

»Also gut«, sagte er. Dann packte er sie beim Arm und fügte hinzu, »Ihr müßt Euch aber unbedingt zusammennehmen, Jennsen. Wenn Ihr anfangt zu laufen, werden die Leute den Grund dafür wissen wollen. Benehmt Euch einfach, als gingen wir hinunter, um ein Glas zu trinken oder der Musik zuzuhören.«

Beschämt nickte sie erneut. »Ich schätze, diese Dinge liegen mir nicht besonders, das Weglaufen, wenn man mir so dicht auf den Fersen ist, meine ich. Ich war mein Leben lang auf der Flucht und mußte mich verstecken, aber nicht so, nicht, wenn sie so nah sind, daß ich ihren Atem fast im Nacken spüre.«

Er bedachte sie mit seinem freundlichen Lächeln. »Ihr seid in diesen Dingen ungeübt. Trotzdem bin ich wahrscheinlich noch keiner anderen Frau begegnet, die sich in einer solchen Lage so vorbildlich verhalten hätte. Ihr macht Eure Sache ausgezeichnet – wirklich.«

Als sie und Sebastian sich ihren Weg durch die Menge und hinaus an die Luft bahnten, stieß sie mit einem kräftig gebauten Mann zusammen, der ihren Weg kreuzte. Sie blickte hoch in sein ansehnliches Gesicht, erinnerte sich an ihn, derselbe Mann, den sie vor gar nicht so langer Zeit auf der Straße zu Latheas Haus gesehen hatten!

Er nahm zum Gruß seine Kappe ab. »’n Abend.« Dabei sah er sie grinsend an.

»Guten Abend«, erwiderte sie. Sie zwang sich, zu lächeln und dabei glaubhaft und normal zu wirken, war sich allerdings nicht sicher, ob sie ihre Sache gut machte; er schien es jedoch überzeugend zu finden.

Auch benahm er sich längst nicht mehr so schüchtern, wie sie dies zuvor bei ihm beobachtet zu haben meinte; sogar seine Körperhaltung, seine Bewegungen verrieten mehr Selbstsicherheit. Vielleicht tat ihr Lächeln, wie erhofft, seine Wirkung.

»Ihr zwei seht aus, als könntet Ihr einen Schluck vertragen. Eure Nasen sind ganz rot vor Kälte. Darf ich Euch an einem so frostigen Abend zu einem Bier einladen?«

Bevor Sebastian annehmen konnte, was, wie sie befürchtete, durchaus möglich schien, erwiderte Jennsen, »Vielen Dank, nein. Wir... haben noch etwas Geschäftliches zu erledigen. Trotzdem, das Angebot ist sehr freundlich von Euch.« Sie zwang sich abermals zu lächeln. »Vielen Dank.«

Der Mann hatte eine Art, sie anzustarren, die sie nervös machte, und zwar vor allem deshalb, weil sie sich dabei ertappte, daß sie ihm ebenso unverwandt in seine blauen Augen starrte. Endlich gelang es ihr, den Blick abzuwenden, und sie strebte weiter Richtung Tür.

»Kommt er Euch nicht auch irgendwie bekannt vor?«, raunte sie Sebastian zu und blickte sich noch einmal um.

»Doch. Wir sind ihm vorhin schon mal begegnet, draußen auf der Straße, auf dem Weg zu Latheas Haus.«

Bevor sie durch die Tür nach draußen trat, drehte sich der Mann noch einmal um, ganz so, als hätte er gespürt, daß sie ihn ansah. Als ihre Blicke sich trafen und er daraufhin lächelte, schienen die beiden für einen Augenblick ganz allein auf der Welt zu sein. Sein Lächeln war höflich, mehr nicht, und doch spürte sie, wie sie es kalt und schaudernd überlief, genau wie bei der leblosen Stimme in ihrem Kopf. Das Gefühl, das sich einstellte, sobald sie ihn ansah, hatte etwas beängstigend Vertrautes; irgendwas am Ausdruck seiner Augen erinnerte sie an die Stimme.

Es war, als erinnerte sie sich aus einem unergründlichen Traum an ihn, den sie bis zu diesem Augenblick vollkommen vergessen hatte. Ihn zu sehen, im Wachzustand, war zutiefst... erschütternd.

Sie war erleichtert, als sie in die menschenleere Nacht hinaustreten und sich auf den Weg machen konnten. Zum Schutz gegen den schneidend kalten Wind raffte sie die Kapuze ihres Umhangs eng um ihr Gesicht, während sie mit eiligen Schritten im Schnee die Straße entlang liefen. Die Kalte brannte ihr auf den Oberschenkeln; zum Glück war es nicht weit bis zum Stall, auch wenn sie wußte, daß sie dort nur kurz verschnaufen konnten. Es würde eine lange, kalte Nacht werden.

Während Sebastian den Stallmeister wecken ging, zwängte sich Jennsen durch das Scheunentor. Eine von einem Balken herabhängende Lampe spendete genug Licht, so daß sie sich zu dem Verschlag vortasten konnte, wo man Betty angebunden hatte. Sie begrüßte Jennsen mit einem herzzerreißenden Meckern, als hatte sie befürchtet, man könnte sie dort für immer zurückgelassen haben. Ihr aufgerichteter Schwanz wedelte fröhlich, als Jennsen sich auf ein Knie niederließ und der Ziege die Arme um den Hals schlang. Schließlich erhob Jennsen sich wieder und strich ihr mit der Hand über die seidenweichen Ohren, eine Berührung, die Betty in Verzückung geraten ließ. Als das Pferd im Stall nebenan den Kopf auf die Querstange legte, um seine Stallgefährtin zu beäugen, stellte sich Betty vor lauter Freude über das Wiedersehen mit ihrer lebenslangen Freundin auf die Hinterläufe und konnte es gar nicht mehr erwarten, ihr ganz nahe zu sein.

Jennsen tätschelte das drahtige Haar an Bettys dickem Bauch. »Gutes Mädchen.« Sie war zehn gewesen, als sie Bettys Geburt beigewohnt und ihr den Namen gegeben hatte. Betty, Jennsens einzige Freundin in Kindertagen, hatte geduldig ihren zahllosen Sorgen und Ängsten gelauscht, und als sich dann bei Betty die ersten Hörnerstummel zeigten, hatte sie den Kopf an ihrer treuen Freundin gerieben und bei ihr Trost gesucht. Abgesehen von der Angst, von ihrer lebenslangen Gefährtin im Stich gelassen zu werden, führte Betty ein nahezu sorgenfreies Leben.

Jennsen durchwühlte ihren Rucksack, bis sie eine Mohrrübe für die stets hungrige Ziege gefunden hatte; Betty nahm den Leckerbissen mit freudig wedelndem Schwanz in Empfang. Das Pferd im Stall nebenan schüttelte leise wiehernd den Kopf und verfolgte das Geschehen aus seinen glänzenden, intelligenten Augen. Jennsen lächelte und gab dem Pferd ebenfalls eine Möhre. Dann hörte sie das Klirren von Zaumzeug, als Sebastian mit dem Stallmeister zurückkehrte, beide mit Sätteln über den Armen. Die beiden Männer warfen ihre Last nacheinander über die Querstange von Bettys Verschlag, und Betty, der Sebastian noch immer nicht geheuer war, wich mehrere Schritte zurück.

»Ich werde die Gesellschaft Eurer kleinen Freundin vermissen«, meinte der Mann und deutete auf die Ziege, als er neben Sebastian trat.

Jennsen kraulte Bettys Ohren. »Danke, daß Ihr sie aufgenommen habt.«

»Nicht der Rede wert, die Nacht ist ja noch nicht einmal um.« Der Blick des Mannes schweifte von Sebastian zu Jennsen. »Wieso wollt Ihr zwei überhaupt mitten in der Nacht aufbrechen? Und warum wollt Ihr unbedingt Pferde kaufen? Noch dazu um diese Stunde?«

Ein panisches Angstgefühl ließ Jennsen erstarren. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß jemand sie danach fragen würde, und hatte deshalb keine Antwort parat.

»Es geht um meine Mutter«, antwortete Sebastian in vertraulichem Ton und fügte einen überzeugenden Seufzer hinzu. »Wir haben Nachricht erhalten, daß sie krank geworden ist. Niemand weiß, ob sie durchhält, bis wir bei ihr sein können. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn wir nicht ... also, jedenfalls müssen wir rechtzeitig dort sein, das ist alles.«

Das Mißtrauen im Gesicht des Mannes wich einem Ausdruck des Mitgefühls. Jennsen war überrascht, wie glaubwürdig Sebastian klang, und versuchte, es ihm gleichzutun und eine besorgte Miene aufzusetzen.

»Verstehe schon, junger Mann. Verzeiht – das konnte ich ja nicht ahnen. Was kann ich tun, um Euch zu helfen?«

»Welche Pferde könnt Ihr uns verkaufen?«, erkundigte sich Sebastian.

Der Mann kratzte sich das stopplige Kinn. »Laßt Ihr die Ziege hier?«

Sebastians »Ja« erfolgte im selben Augenblick wie Jennsens »Nein«.

Der Mann sah die beiden nacheinander mit großen Augen an.

»Betty wird uns bestimmt nicht aufhalten«, meinte Jennsen. »Sie ist durchaus in der Lage, Schritt zu halten. Wir werden trotzdem rechtzeitig bei Mutter sein.«

Der Mann wies mit einem enttäuschten Seufzen auf das Pferd, das Jennsen gerade hinter den Ohren kraulte. »Rusty versteht sich ganz gut mit Eurer Ziege. Schätze, ich kann sie Euch ebenso gut verkaufen wie eines der anderen Tiere. Ihr seid eine hoch gewachsene junge Frau, sie dürfte also ganz gut zu Euch passen.«

Jennsen erklärte sich mit einem Nicken einverstanden, das Betty, so als hätte sie jedes Wort verstanden, mit einem Meckern bekräftigte.

An Sebastian gewandt fuhr er fort, »Dann habe ich noch einen kräftigen kastanienbraunen Wallach, der für einen Mann Eures Gewichts besser geeignet wäre. Pete steht unten rechts, am Ende des Ganges. Ich wäre bereit, ihn Euch zusammen mit Rusty hier zu überlassen.«

»Wieso heißt sie Rusty?«, fragte Jennsen.

»In der Dunkelheit kann man es nicht so gut erkennen, aber sie ist ein Rotschimmel, wie es roter wohl kaum einen gibt, und zwar von Kopf bis Fuß – bis auf die Blesse an der Stirn.«

Rusty beschnupperte Betty, die wiederum Rustys Nüstern abschleckte. Das Pferd antwortete mit einem leisen Schnauben.

»Wir nehmen Rusty«, meinte Sebastian. »Und das andere Pferd auch.«

Der Stallmeister kratzte sich erneut die Bartstoppeln und besiegelte den Vertrag mit einem Nicken. »Ich werde Pete holen gehen.«

Als die beiden zurückkamen, bemerkte Jennsen zu ihrer Freude, daß Pete seine Schnauze zur Begrüßung an Rustys Schulter rieb. Jennsen verspürte nicht die geringste Lust, sich ausgerechnet jetzt da ihnen die Gefahr so dicht auf den Fersen war mit zwei streitsüchtigen Pferden abplagen zu müssen, die beiden schienen jedoch recht gut miteinander auszukommen.

Nach dem Fußmarsch versprach das Reisen hoch zu Roß und in eine Decke gehüllt eine willkommene Erleichterung. Das Pferd würde ihr helfen, sich warm zu halten, und machte die Aussicht auf die vor ihr liegende Nacht erträglicher. Für Betty, die sich gern von Dingen am Wegesrand ablenken ließ, nahmen sie einen langen Strick mit.

Jennsen wußte nicht, was Sebastian für die Pferde samt Zaumzeug bezahlen mußte, es war ihr auch gleich. Das Geld stammte von den Mördern ihrer Mutter und würde ihnen zur Flucht verhelfen. Und allein darauf kam es an.

Dem Stallmeister zuwinkend, der ihnen das große Tor aufhielt, ritten sie hinaus in die eiskalte Nacht. Die beiden Pferde, offensichtlich erfreut über die Aussicht auf Bewegung, schlugen trotz der späten Stunde auf der Straße ein forsches Tempo an. Rusty drehte ihren Kopf nach hinten, um sich zu vergewissern, daß Betty, die links von ihnen lief, Schritt hielt.

Nicht lange, und sie hatten das letzte Gebäude hinter sich gelassen. Zarte Wolken jagten vor dem aufgehenden Mond dahin, trotzdem blieb noch genügend Licht, um die verschneite, durch die undurchdringliche Dunkelheit der Wälder zu beiden Seiten führende Straße in ein schimmerndes Band zu verwandeln.

Plötzlich spannte sich Bettys Strick ruckartig. Jennsen, in Erwartung, Betty bei dem Versuch zu ertappen, einen jungen Sproß anzuknabbern, sah über ihre Schulter. Statt dessen hatte Betty steifbeinig die Hufe in den Boden gestemmt und weigerte sich weiterzugehen.

»Betty!«, fuhr Jennsen sie an. »Los jetzt. Was hast du nur? Komm endlich.« Wegen ihres geringen Gewichts war die Ziege dem Pferd nicht gewachsen und wurde so gegen ihren Willen die Straße entlang mitgeschleift.

Als Sebastians Pferd kurz darauf seitlich ausbrach und Rusty anrempelte, erkannte Jennsen den Grund des Ärgers. Sie waren soeben im Begriff, einen Mann zu überholen, der die Straße entlangging. Wegen seiner dunklen Kleidung hatten sie ihn am rechten Straßenrand, vor dem Hintergrund der dunklen Bäume, nicht bemerkt. Da Jennsen wußte, daß Pferde Überraschungen nicht mochten, tätschelte sie Rustys Hals und redete beruhigend auf sie ein. Betty hingegen, nach wie vor nicht überzeugt, nutzte die ganze Länge des Stricks, um ihn in weitem Bogen zu umgehen.

Jennsen erkannte, daß es sich um den hünenhaften Blonden aus dem Gasthaus handelte, den Mann, der angeboten hatte, sie auf ein Glas einzuladen – den Mann, der ihrem Gefühl nach aus irgendeinem Grund eher in ihre Träume gehörte als in ihr Leben im Wachzustand.

Jennsen ließ den Mann beim Überholen nicht aus den Augen; Sebastian und der Fremde tauschten im Vorübergehen einen kurzen Gruß. Betty hingegen lief, nachdem sie den Mann passiert hatte, voraus und zerrte an ihrem Strick, so als könnte sie es gar nicht erwarten, auf Abstand zu dem Mann zu gehen.

»Grushdeva du kalt misht.«

Jennsen entfuhr ein kurzes Stöhnen, bevor es ihr vor Schreck endgültig den Atem verschlug; sie wandte sich um und starrte den hinter ihr auf der Straße gehenden Mann mit großen Augen an. Es hatte so geklungen, als hatte er die Worte gesprochen. Aber das war unmöglich; die seltsamen Worte stammten aus dem Innern ihres Kopfes.

Sebastian nahm von all dem keine Notiz, daher erwähnte sie es gar nicht erst, um nicht für verrückt gehalten zu werden.

Mit Bettys Einverständnis trieb sie ihr Pferd an, ein wenig schneller zu gehen.

Kurz bevor sie eine Biegung der Straße hinter sich ließen und außer Sicht gerieten, blickte Jennsen sich ein letztes Mal um. Im Mondschein konnte sie ganz deutlich sehen, wie der Mann sie angrinste.

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