Oba schlug die Augen auf, doch aus einem unerfindlichen Grund schien das nichts zu nützen; er konnte nichts sehen. Die Bestürzung darüber ließ ihn am ganzen Körper erstarren. Er lag auf dem Rücken, auf einer Art rauhem, kaltem Steinboden. Es war ihm ein absolutes Rätsel, wo er sich befand oder wie er dorthin gekommen war, seine erste und vernehmlichste Sorge aber galt der Tatsache, daß er offenbar erblindet war. Am ganzen Körper zitternd versuchte Oba, blinzelnd sein Sehvermögen zurückzugewinnen, doch es half nichts.
Ein noch weit schlimmerer Gedanke ließ ihn endgültig in Panik geraten, er überlegte, ob er womöglich wieder in seinem Verschlag eingesperrt war.
Oba hatte Angst, sich zu bewegen und dadurch seinen Verdacht zu bestätigen. Wie sie es angestellt hatten, war ihm schleierhaft, aber die Vorstellung, daß diese drei hinterhältigen Weiber – die widerwärtigen Hexenschwestern und seine geisteskranke Mutter – es irgendwie geschafft hatten, ihn wieder in das düstere Gefängnis seiner Kindheit zu sperren, ließ ihn schier verzweifeln. Vermutlich hatten sie sich aus ihrem Grab heraus verschworen und zugeschlagen, als er schlief.
Angesichts seiner ausweglosen Lage wie gelähmt, war Oba außer Stande, seine Gedanken zu ordnen.
Dann vernahm er plötzlich einen Laut. Er richtete seine Augen auf das Geräusch und nahm eine Bewegung wahr. Als sich die Umrisse langsam aus der Dunkelheit schälten, wurde ihm klar, daß es nur irgendein dunkler Raum war und doch nicht sein Verschlag. Eine Woge der Erleichterung überkam ihn, gefolgt von Verdruß. Was hatte er nur gedacht? Er war Oba Rahl, der Unbesiegbare. Wie konnte er das nur vergessen? Ganz in der Nähe hustete jemand. Aus einer anderen Richtung kam eine brummige Männerstimme, er solle die Klappe halten. Die Muskeln angespannt, verharrte Oba regungslos wie ein Berglöwe. Bemüht, seine Sinne wiederzuerlangen, ließ er den Blick vorsichtig durch den dunklen Raum wandern. Er war keineswegs, wie anfangs befürchtet, vollständig dunkel. Durch eine quadratische Öffnung in der Wand ihm gegenüber drang ein schwacher Lichtschein, möglicherweise von einer flackernden Kerze. In der Öffnung waren zwei senkrechte schwarze Linien zu erkennen.
Obas Kopf hämmerte noch immer, aber im Vergleich zu vorher ging es ihm bereits erheblich besser. Dann fiel ihm wieder ein, wie krank er sich gefühlt hatte. In der Rückschau wurde ihm bewußt, daß er überhaupt nicht begriffen hatte, wie krank er tatsächlich war. Als Junge hatte er einmal Fieber gehabt; vermutlich war es etwas ganz Ähnliches gewesen, ein Fieber. Wahrscheinlich hatte er es sich während seines Besuches bei dieser schauderhaften Sumpfhexe Althea eingefangen.
Oba richtete sich auf. aber davon wurde ihm schwindelig, also ließ er sich nach hinten gegen die Wand sinken. Sie war aus rauhem Stein, genau wie der Fußboden. Er rieb seine kalten, steifen Beine, streckte den Rücken. Dann rieb er sich die Augen und versuchte, den noch immer vorhandenen Nebel aus seinem Kopf zu vertreiben. Er sah Ratten, die mit zuckenden Barthaaren am Mauerrand entlang schnupperten. Trotz des widerlichen Gestanks in diesem Loch verspürte Oba einen Bärenhunger. Es stank nach Urin und Schlimmerem.
»Sieh an, der große Ochse ist aufgewacht«, meinte jemand auf der anderen Seite des Raumes. Die tiefe Stimme hatte einen spöttischen Unterton.
Oba linste hoch und erblickte Männer, die ihn anstarrten. Insgesamt befanden sich außer ihm fünf Mann in dem Raum. Sie schienen ein ziemlich heruntergekommener Haufen zu sein. Der Mann, der gesprochen hatte, drüben in der rechten Ecke, war der Einzige außer Oba, der saß. Sein freudloses Grinsen zeigte, daß sein ihm noch verbliebenes Gebiß kaum krummer und schiefer hätte sein können.
Oba ließ den Blick über die vier anderen stehenden, ihn anstarrenden Männer schweifen. »Ihr seht ja alle aus wie Verbrecher«, stellte er fest.
Schallendes Gelächter hallte durch den Raum.
»Wir wurden alle zu Unrecht verurteilt«, meinte der Mann in der Ecke.
»Genau«, pflichtete ein anderer ihm bei. »Wir gingen einfach unseres Weges, als die Wachen uns aufgriffen und völlig grundlos in dieses Loch warfen. Sie haben uns eingesperrt wie gemeine Verbrecher.«
Wieder ertönte Gelächter.
Oba glaubte nicht, daß es ihm gefiel, mit Verbrechern in einem Raum eingesperrt zu sein, denn er fühlte sich zu sehr an seinen Verschlag erinnert. Eine oberflächliche Überprüfung bestätigte seinen Verdacht. Sein Geld war weg. Eine Ratte auf der anderen Seite der Zelle beäugte ihn unter dem Türspalt hervor aus ihren kleinen knopfartigen Rattenaugen.
Oba hob den Blick von der Ratte zu der Öffnung, durch die der schwache Lichtschein fiel, und sah, daß die beiden Linien Gitterstäbe waren.
»Wo sind wir?«
»Im Palastgefängnis, du Hornochse«, meinte Krummzahn. »Oder findest du etwa, das sieht aus wie ein vernünftiges Bordell?«
Die anderen lachten über seinen Scherz. »Vielleicht die Sorte, die er besucht«, meinte einer, woraufhin das Gelächter lauter wurde. Drüben, auf der anderen Seite, beäugte ihn eine weitere Ratte.
»Ich habe Hunger. Wann bekommt man hier was zu essen?«, erkundigte sich Oba.
»Sieh an, er hat Hunger«, meinte einer der Stehenden höhnisch. Er spie angewidert aus. »Sie geben uns nur zu essen, wenn ihnen der Sinn danach steht. Gut möglich, daß du vorher verhungerst.«
Ein anderer Mann hockte sich vor ihn hin. »Wie heißt du?«
»Oba.«
»Was hast du angestellt, daß sie dich hier eingesperrt haben, Oba? Einer alten Jungfer ihre Jungfräulichkeit geraubt?«
Die anderen fielen in sein schallendes Gelächter ein.
Oba fand den Mann nicht witzig. »Ich habe nichts Unrechtes getan«, sagte er. Er mochte diese Männer nicht.
»Dann bist du also unschuldig, ja?«
»Ich weiß nicht, warum man mich hier eingesperrt hat.«
»Wir haben was anderes gehört«, meinte der Mann, der vor ihm kauerte.
»Allerdings«, pflichtete ihm der Hüter der Ecke bei. »Wir haben gehört, wie die Wachen sich unterhalten haben, du sollst einen Mann mit bloßen Händen totgeschlagen haben.«
Ehrlich verblüfft legte Oba die Stirn in Falten. »Warum sollte man mich deshalb hier einsperren? Der Mann war ein Dieb. Erst hat er mich ausgeraubt, dann hat er mich draußen in einer völlig menschenleeren Gegend zurückgelassen, damit ich dort krepiere. Er hat bloß gekriegt, was er verdient.«
»Sagst du«, meinte Krummzahn. »Nach unseren Informationen sollst du eher ihn ausgeraubt haben.«
»Was«, entfuhr es Oba ebenso ungläubig wie empört. »Wer sagt das?«
»Die Wachen«, lautete die Antwort.
»Dann lügen sie eben«, beharrte Oba. Die Männer fingen wieder an zu lachen. »Clovis war ein Dieb und Mörder.«
Das Gelächter verstummte, selbst die Ratten hielten inne.
Der Hüter der Ecke richtete sich vollends auf. »Clovis? Sagtest du gerade Clovis? Du meinst den Burschen, der die Amulette verscherbelt hat?«
Oba erinnerte sich zähneknirschend an die Situation. Am liebsten würde er Clovis noch ein Ding verpassen.
»Ja, genau den. Den Straßenhändler Clovis. Erst hat er mich ausgeraubt, und dann für tot zurückgelassen. Ich habe ihn nicht getötet, sondern ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Dafür sollte man mir eigentlich eine Belohnung zahlen. Sie können mich doch nicht ins Gefängnis sperren, weil ich den Kerl seiner gerechten Strafe zugeführt habe – für seine Verbrechen hatte er nichts anderes verdient.«
Der Mann in der Ecke erhob sich, auch die anderen kamen näher.
»Clovis war einer von uns«, meinte Krummzahn. »Wir waren mit ihm befreundet.«
»Tatsächlich?«, meinte Oba. »Nun, ich hab ihn zu einem blutigen Klumpen geprügelt. Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich ihm noch ein paar empfindliche Teile abgeschnitten.«
»Ziemlich mutig von einem so großen, kräftigen Kerl, einen kleinen Buckligen zu verprügeln, der noch dazu ganz allein war«, meinte einer der Männer mit leiser Stimme.
Einer spuckte ihn an. Obas Zorn war sofort geweckt. Er griff mit der Hand zum Messer, nur um festzustellen, daß es verschwunden war.
»Wer hat mein Messer geklaut? Ich will es sofort zurück!«
»Das haben dir die Wachen abgenommen.« Krummzahn kicherte. »Du bist tatsächlich ein dämlicher Einfaltspinsel, hab ich Recht?«
Oba funkelte den mitten im Raum stehenden Mann mit den schiefen Zähnen wütend an. Der mächtige Brustkorb des Mannes hob und senkte sich mit jedem wutschnaubenden Atemzug. Sein kahl rasierter Schädel wies ihn als Unruhestifter aus. Er ging einen weiteren Schritt auf Oba zu.
»Genau das bist du – ein riesengroßer Einfaltspinsel. Oba, der Einfaltspinsel.«
Die anderen lachten. Vor Wut schäumend lauschte Oba auf einen Rat seiner inneren Stimme. Am liebsten hatte er den Männern erst die Zunge rausgeschnitten und sie sich danach richtig vorgenommen. Normalerweise zog Oba es vor, diese Behandlung Frauen angedeihen zu lassen, aber diese Kerle hier hatten sie ebenso verdient. Als die Männer ihn von allen Seiten einkreisten, fiel Oba ein, daß er sein Messer gar nicht hatte und er deswegen auf die Art von Vergnügen, die er sich gerade vorstellte, würde verzichten müssen. Er mußte sich sein Messer unbedingt wiederbeschaffen. Außerdem hatte er dieses Loch satt, er wollte nichts als raus.
»Steh auf, Oba Einfaltspinsel«, knurrte Krummzahn.
Eine Ratte huschte an ihm vorüber. Oba schlug ihr mit der flachen Hand auf den Schwanz und hielt sie fest. Die Ratte zerrte und wand sich, konnte sich aber nicht befreien. Oba pflückte das pelzige Etwas mit seiner anderen Hand vom Boden. Zappelnd wand es sich bei dem Versuch, sich loszureißen, mal hierhin, mal dorthin, doch Oba hatte es fest im Griff.
Im Aufstehen biß er der Ratte den Kopf ab. Als er sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte, wobei er Krummzahn um gut einen Kopf überragte, blickte er den Männern wütend in die Augen. Das einzige Geräusch war das Mahlen der Knochen, als Oba den Rattenkopf zerbiß.
Die Männer wichen zurück.
Immer noch kauend, trat Oba an die Tür und linste durch die vergitterte Öffnung. An der nahen Kreuzung eines Quergangs sah er zwei Wachen stehen, die leise miteinander sprachen.
»Ihr da!«, rief er. »Hier hat es ein Mißverständnis gegeben! Ich muß mit euch reden!«
Die beiden unterbrachen ihre Unterhaltung. »Ach, ja? Und worin besteht dieses Mißverständnis?«, fragte einer.
Obas Blick ging zwischen den beiden hin und her, doch es war nicht nur sein Blick; auch der Blick des Wesens, von dem die Stimme stammte, beobachtete sie aus seinem Innern.
»Ich bin ein Bruder Lord Rahls.« Oba war sich darüber im Klaren, daß er damit etwas aussprach, das er noch nie einem Fremden anvertraut hatte, aber er glaubte keine andere Wahl zu haben. Selbst ein wenig überrascht, hörte er sich unter den Blicken der anderen weiterreden. »Man hat mich zu Unrecht dafür eingesperrt, daß ich, wie es meine Pflicht war, einem Dieb seine gerechte Strafe zugemessen habe. Lord Rahl wird diese ungerechte Einkerkerung nicht dulden. Ich verlange, meinen Bruder zu sehen.« Oba bedachte die beiden Wachen mit einem durchbohrenden Blick. »Los, geht ihn holen!«
Was sie in seinen Augen sahen, ließ beide Männer ungläubig blinzeln. Sie entfernten sich ohne einen weiteren Kommentar.
Oba drehte sich zu den mit ihm eingesperrten Männern um und blickte, ein Hinterbein der Ratte abnagend, einem nach dem anderen in die Augen. Sie machten ihm Platz, damit er, munter einen Rattenknochen nach dem anderen zermalmend, ungehindert auf und ab gehen konnte. Schließlich spähte er abermals durch die Öffnung, ohne jedoch jemanden zu sehen. Oba seufzte. Der Palast war riesengroß, es konnte also eine Weile dauern, bis die Wachen zurückkehrten, um ihn freizulassen.
Seine Zellengenossen wichen wortlos zurück, als Oba auf seinen Platz an der Wand gegenüber der Tür zurückkehrte und sich niederließ. Sie beobachteten ihn stehend. Oba erwiderte ihre Blicke, während er mit den Backenzähnen den nächsten Bissen aus dem Rattenkadaver riß.
Diese Männer waren von ihm fasziniert, dessen war er sicher. Schließlich war er beinahe ein Mitglied des Herrscherhauses und womöglich nicht nur beinahe – immerhin war er ein Rahl. Vermutlich waren sie noch nie einer so bedeutenden Persönlichkeit begegnet und von ehrfürchtiger Scheu ergriffen.
»Ihr habt erzählt, man gibt uns hier nichts zu essen.« Er fuchtelte mit den Überresten des schlaffen Rattenkörpers vor ihren stummen Blicken herum. »Ich werde jedenfalls nicht verhungern.« Er riß den Schwanz ab und warf ihn fort. Rattenschwänze waren Tierfutter; und ein Tier war er ja wohl kaum.
»Du bist nicht nur ein Einfaltspinsel«, sagte Krummzahn mit ruhiger, vor Verachtung triefender Stimme, »du bist ein vollkommen wahnsinniger Bastard.«
Explosionsartig schnellte Oba durch die Zelle und hatte den Mann an der Kehle gepackt, bevor auch nur einer überrascht Luft holen konnte. Oba hob den winselnden strampelnden, krummzahnigen Verbrecher hoch, bis er ihn Auge in Auge anfunkeln konnte. Dann rammte er ihn mit einem wuchtigen Stoß gegen die Wand. Der Mann erschlaffte wie zuvor die Ratte.
Oba drehte sich um und sah, daß die anderen an die gegenüberliegende Wand zurückgewichen waren. Er ließ den Mann zu Boden gleiten, wo er sich stöhnend seinen kahl rasierten Hinterkopf hielt. Oba verlor das Interesse an ihm, hatte er doch über Wichtigeres nachzudenken, als diesem Kerl das Hirn aus dem Schädel zu prügeln, auch wenn er ein Verbrecher war.
Er ging an seinen Platz zurück und legte sich auf den kalten Steinboden. Womöglich war er nach seiner Krankheit noch nicht völlig wiederhergestellt, also mußte er auf sich achten. Vor allem brauchte er seinen Schlaf.
Oba hob den Kopf. »Weckt mich, wenn sie mich holen kommen«, befahl er den vier Burschen, die ihn noch immer wortlos anstarrten. Es amüsierte ihn zu sehen, wie fasziniert sie darauf reagierten, einen Mann von Rang in ihrer Mitte zu haben. Trotzdem waren es nach wie vor Verbrecher; er würde sie hinrichten lassen.
»Wir sind zu fünft, und du bist ganz allein«, meinte einer der Männer. »Wie kommst du darauf, du würdest jemals wieder aufwachen, nachdem du einmal die Augen zugemacht hast?« Die Drohung in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Oba grinste ihn nur an.
Und mit ihm die Stimme.
Die Augen des Mannes weiteten sich. Schluckend wich er zurück, bis er mit den Schultern gegen die Wand stieß, dann schob er sich seitlich an der Wand entlang. Als er die hinterste Ecke erreicht hatte, ließ er sich zu Boden gleiten und zog die Knie vor seinen Körper. Leise wimmernd, das Gesicht tränenüberströmt, wandte er den Kopf ab und verbarg seine Augen hinter seiner zuckenden Schulter.
Oba legte den Kopf auf seinen ausgestreckten Arm und schlief ein.