Mißmutig sah Betty, die braunhaarige Ziege, aus ihrem Verschlag heraus zu, wie Jennsen rasch ein wenig Stroh für den Fremden in Bettys Heiligtum zur Seite räumte. Nach einem wehleidigen Meckern beruhigte sich das Tier schließlich, als Jennsen ihm liebevoll die Ohren kraulte, das drahtige Haar an seinem Bauch tätschelte und ihm anschließend eine halbe Möhre aus dem Vorrat oben auf dem hohen Felssims zu fressen gab; Bettys kurzer, senkrecht aufgestellter Schwanz wedelte heftig.
Sebastian legte Umhang und Rucksack ab, den Gürtel mit seinen neuen Waffen aber behielt er um. Er schnallte das Bettzeug unter seinem Rucksack los und breitete es über das Strohlager. Trotz Jennsens Drängen weigerte er sich, sich hinzulegen und auszuruhen, solange sie noch am Höhleneingang kniete, um die Feuerstelle einzurichten.
Als er ihr beim Aufschichten des trockenen Anmachholzes half, sah sie im schwachen Licht, das aus dem Fenster des Hauses auf der anderen Seite der Lichtung fiel, daß sich Schweißperlen auf seinem Gesicht gebildet hatten. Er schlug mehrmals Feuerstahl und Feuerstein aufeinander, bis die Funken in der Dunkelheit auf den von ihm gemachten Zunder übergriffen. Er hielt die Hände schützend über die wolligen Holzspäne und blies behutsam in die zögerlichen Flammen, bis sie stärker brannten; dann legte er den brennenden Zunder unter das Anmachholz, wo die Flammen zwischen den trockenen Zweigen rasch größer wurden und mit leisem Knall zum Leben erwachten. Kaum hatten sie Feuer gefangen, verströmten die Zweige einen angenehmen Balsamduft.
Ursprünglich hatte Jennsen zu dem nicht weit entfernten Haus hinüberlaufen wollen, um ein paar glühende Scheite zum Feuermachen zu holen, aber er hatte das Feuer längst brennen, bevor sie überhaupt dazu kam, den Vorschlag auszusprechen. So wie er zitterte, konnte er es vermutlich kaum erwarten, sich zu wärmen, obwohl er vor Fieber glühte. Sie konnte den vom Haus herüberwehenden Duft der gebratenen Fische riechen, und ab und zu, wenn der Wind in den Föhrenzweigen etwas nachließ, hörte sie sogar das Brutzeln.
Die zunehmende Helligkeit bewog die Hühner, sich in den rückwärtigen Teil der Höhle zurückzuziehen. Die Ohren wachsam aufgestellt, lauerte Betty auf ein Zeichen von Jennsen, ob vielleicht noch eine weitere Möhre für sie abfiel; ab und zu wackelte sie erwartungsvoll mit dem Schwanz.
Die Öffnung im Berghang war dadurch entstanden, daß sich in grauer Vorzeit eine Gesteinsplatte gelöst hatte, wie ein loser Zahn aus dem Granit herausgebrochen und den Hang herabgepoltert war, in dem sie eine trockene Höhle hinterlassen hatte. Die Höhle reichte nur etwa zwanzig Fuß weit in den Hang hinein, aber der Felsüberhang am Eingang bot zusätzlichen Schutz und half, den Innenraum trocken zu halten. Die Höhlendecke war hoch genug, so daß Jennsen trotz ihrer Größe fast überall aufrecht stehen konnte, ebenso Sebastian, der nur wenig größer war als sie.
Jennsen hatte sich Sebastian gegenüber auf der anderen Seite des Feuers niedergelassen, mit dem Rücken zum Regen, damit sie sein Gesicht im Schein des Feuers betrachten konnte, während sie sich beide die Hände in der Hitze der knisternden Flammen wärmten.
Sie versuchte dabei nicht daran zu denken, daß sie ihr gemütliches Heim verlassen mußten, noch dazu in dieser Jahreszeit. Gleich vom allerersten Augenblick an. als sie das Stück Papier gesehen hatte, war ihr klar gewesen, daß es so weit kommen konnte.
»Seid Ihr hungrig?«, fragte sie.
»Ich sterbe vor Hunger«, erwiderte er, offenbar ebenso gierig auf die Fische wie Betty auf ihre Möhre; die köstlichen Wohlgerüche ließen auch ihren Magen knurren.
»Das ist gut. Meine Mutter sagt immer, wenn man krank ist und trotzdem Appetit hat, kann es nicht allzu schlimm sein.«
»Ein, zwei Tage, dann geht es mir wieder prächtig.«
»Auch ein wenig Ruhe wird Euch guttun.«
Jennsen zog ihr Messer. »Es ist das erste Mal, daß wir jemanden hier übernachten lassen. Ihr habt sicherlich Verständnis dafür, daß wir ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen.«
Ihr Messer hatte – im Gegensatz zu der noblen Waffe des toten Soldaten – einen einfachen, aus einem Geweih gemachten Griff, und die Klinge war eher dünn; die Schneide jedoch hielt sie stets rasiermesserscharf.
Jennsen brachte sich mit der Klinge einen flachen Schnitt an der Innenseite ihres Unterarms bei. Sebastian runzelte die Stirn und wollte schon protestierend aufspringen, als ihr herausfordernder Blick ihn mitten in der Bewegung innehalten ließ. Also ließ er sich wieder zurücksinken und verfolgte mit wachsender Besorgnis, wie sie die Klinge mit der flachen Seite durch die dunkelroten Tropfen zog, die hervorquollen. Nach einem weiteren, ganz bewußten Blick in seine Augen kehrte sie ihm den Rücken zu und begab sich näher an die Höhlenöffnung, wo der Boden feucht vom Regen war.
Mit dem in Blut getauchten Messer zeichnete Jennsen einen großen Kreis. Sie spürte Sebastians Augen auf dem Rücken, als sie als Nächstes die blutige Klingenspitze in geraden Linien durch das feuchte Erdreich zog, so daß ein Quadrat entstand, dessen Ecken die Innenseite des Kreises gerade eben berührten.
Mit leiser Stimme sprach sie Gebete an die Gütigen Seelen, in denen sie sie darum bat, ihre Hand zu führen, ein Vorgehen, das ihr durchaus angemessen erschien. Sie wußte, daß Sebastian ihren leisen eintönigen Sprechgesang hören, die Worte aber nicht verstehen konnte. Ganz unerwartet kam ihr in den Sinn, daß es für ihn ganz so sein mußte wie die Stimmen, die sie manchmal selbst in ihrem Kopf vernahm. Manchmal hörte sie beim Zeichnen des äußeren Kreises die leblos wirkende Stimme flüsternd ihren Namen rufen.
Nach Aufsagen des Gebets öffnete sie die Augen wieder und zeichnete einen achteckigen Stern, dessen Zacken den Innenkreis, das Quadrat und schließlich den Außenkreis durchdrangen. Jeder zweite Zacken teilte eine Ecke des Quadrats exakt in der Mitte.
Die Ecken standen angeblich für die Gabe des Schöpfers, deswegen sprach Jennsen beim Zeichnen des achtstrahligen Sterns stets ein stilles Dankgebet für die Gabe ihrer Mutter.
Als sie fertig war und den Blick hob, stand ihre Mutter vor ihr und wurde von den züngelnden Flammen hinter Jennsen angestrahlt. Im Schein dieser Flammen glich ihre Mutter dem Traumbild einer unfassbar schönen Seele.
»Wißt Ihr, was diese Zeichnung bedeutet, junger Mann?«, fragte Jennsens Mutter mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.
Sebastian starrte zu ihr hoch, wie es die Menschen häufig taten, wenn sie sie zum ersten Mal erblickten, und schüttelte den Kopf.
»Man nennt es eine Huldigung. Diese Huldigungen werden von denen mit der Gabe der Magie schon seit Tausenden von Jahren gezeichnet – manche behaupten, schon von Anbeginn der Schöpfung. Der äußere Kreis bezeichnet den Beginn der Ewigkeit der Unterwelt, der Totenwelt des Hüters, der Innenkreis beschreibt die Ausdehnung der Welt des Lebens. Das Quadrat versinnbildlicht den Schleier, der beide Welten voneinander trennt und sie gelegentlich beide berührt. Der Stern steht für das Licht der Gabe des Schöpfers – die Magie –, das sich durch das gesamte Leben zieht und bis in die Welt der Toten reicht.«
Das Feuer knackte und zischte, während Jennsens Mutter, einer geisterhaften Erscheinung gleich, in voller Größe vor den beiden stand. Sebastian schwieg. Ihre Mutter hatte die Wahrheit gesagt, eine Wahrheit allerdings, die einen bestimmten Eindruck vermitteln sollte, der selbst nicht ganz korrekt war.
»Meine Tochter hat diese Huldigung zu Eurem Schutz gezeichnet, damit Ihr heute Nacht hier unbehelligt ruhen könnt, aber auch als Schutz für uns. Eine weitere befindet sich vor der Eingangstür des Hauses.« Sie schwieg und wartete einen Moment, bevor sie hinzufügte, »Es wäre unklug, eine von ihnen ohne unsere Einwilligung zu überschreiten.«
»Verstehe, Mrs. Daggett.« Im Schein des Feuers war seinem Gesicht keine Regung anzumerken.
Seine blauen Augen wanderten zu Jennsen. Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf seinen Lippen, seine Miene aber blieb ernst. »Ihr seid eine erstaunliche junge Frau. Jennsen Daggett, eine Frau mit vielen Geheimnissen. Ich werde heute Nacht ganz gewiß wohlbehütet schlafen.«
»Und bestimmt auch tief und fest«, meinte Jennsens Mutter. »Außer dem Abendessen habe ich noch ein paar Kräuter mitgebracht, die Euch helfen werden.« Sie hielt Sebastian die Schüssel hin und bot ihm vom Fisch an mit den Worten, »Ich möchte mich bei Euch für die Hilfe bedanken, die Ihr Jennsen heute gegeben habt, junger Mann.«
»Sebastian, bitte.«
»Ja. Jennsen hat Euren Namen bereits mehrmals erwähnt.«
»Ich habe es gern getan. Eigentlich habe ich mir damit selbst auch geholfen. Nur zu gern würde ich es vermeiden, d’Haranische Soldaten auf meine Spur zu locken.«
Sie deutete auf die Fische. »Das Stück obenauf hat eine Kruste aus Kräutern, die Euch helfen werden zu schlafen.«
Er spießte das dunklere, mit einem Kräutermantel umgebene Stück Fisch mit seinem Messer auf. Nachdem sie die Klinge an ihrem Rock abgewischt hatte, nahm Jennsen sich mit ihrem Messer ein anderes Stück.
»Jennsen erzählte mir, Ihr seid von außerhalb D’Haras.«
Er sah kauend auf. »Das ist richtig.«
»Es fällt mir schwer, das zu glauben. D’Hara ist von unpassierbaren Grenzen umgeben. Solange ich lebe, konnte niemand D’Hara betreten oder verlassen. Wie ist es dann möglich, daß Ihr es konntet?«
Sebastian zog das Stück Fisch im Kräutermantel mit den Zähnen von der Klinge, sog die Luft ein, um den Bissen abzukühlen, und gestikulierte kauend mit dem Messer. »Wie lange lebt Ihr schon ganz auf Euch gestellt hier draußen in diesem riesigen Waldgebiet? Ohne je einen Menschen zu Gesicht zu bekommen? Ohne Nachrichten?«
»Einige Jahre.«
»Oh. Nun, dann ist es vermutlich nur verständlich, daß Ihr nichts darüber wißt, denn während Ihr hier draußen gelebt habt, sind die Barrieren gefallen.«
Jennsen und ihre Mutter nahmen diese geradezu unfaßbare Neuigkeit schweigend auf, und in diesem Augenblick der Stille wagten die beiden nach und nach, sich die schwindelerregenden Möglichkeiten auszumalen. Zum allerersten Mal in Jennsens Leben schien eine Flucht denkbar, der unvorstellbare Traum von einem selbstbestimmten Leben schien plötzlich nur noch eine Reise weit entfernt. Sie waren ihr Leben lang umhergezogen und hatten sich versteckt, doch jetzt schien es, als nähere sich diese Reise endlich ihrem Ende.
»Sebastian«, sagte Jennsens Mutter »warum habt Ihr Jennsen geholfen?«
»Ich helfe gern anderen, und sie brauchte Hilfe. Es schien mir offensichtlich zu sein, wie sehr dieser Mann sie ängstigte, obwohl er tot war.« Er lächelte Jennsen an. »Sie sah hübsch aus, deswegen wollte ich ihr helfen. Außerdem«, gab er schließlich zu, »mag ich d’Haranische Soldaten nicht besonders.«
Als sie ihm gestikulierend die Schale hinhielt, spießte er ein weiteres Stück Fisch auf. »Mrs. Daggett ich werde wahrscheinlich schon recht bald einschlafen. Warum erzählt Ihr mir nicht einfach, was Ihr auf dem Herzen habt?«
»Wir werden von d’Haranischen Soldaten verfolgt.«
»Warum?«
»Das ist eine Geschichte für einen anderen Abend. Je nach Ausgang dieses Abends werdet Ihr sie noch erfahren, aber im Augenblick ist wirklich nur wichtig, daß wir verfolgt werden – Jennsen mehr noch als ich. Wenn die d’Haranischen Soldaten uns aufgreifen, wird man sie töten.«
Sebastians Blick wanderte hinüber zu Jennsen. »Das würde mir überhaupt nicht gefallen.«
»Dann sind wir drei ja einer Meinung«, meinte ihre Mutter murmelnd.
»Deswegen also habt Ihr Eure Messer stets griffbereit«, meinte er.
»So ist es«, sagte ihre Mutter, »Jennsen, zeig Sebastian das Stück Papier, das du bei dem d’Haranischen Soldaten gefunden hast.«
Völlig verdutzt wartete Jennsen. bis ihre Mutter in ihre Richtung schaute. Der Blick, den sie wechselten, verriet Jennsen, daß ihre Mutter entschlossen war, das Risiko einzugehen; nun, wenn sie es tatsächlich wagen wollten, dann mußten sie ihn wenigstens teilweise einweihen.
Jennsen zog den zerknüllten Zettel aus der Tasche und reichte ihn Sebastian. »Das fand ich in der Tasche des toten Soldaten.«
Sebastian zog das zerknüllte Papier auseinander und strich es mit Daumen und Zeigefinger glatt während er den beiden einen mißtrauischen Blick zuwarf. Er hielt das Papier in den Schein des Feuers, damit er die beiden Worte darauf entziffern konnte.
»Jennsen Lindie«, las er von dem Zettel ab. »Wer ist Jennsen Lindie?«
»Das bin ich«, antwortete Jennsen. »Zumindest war ich es eine Zeit lang.«
»Eine Zeit lang? Das verstehe ich nicht.«
»So lautete mein Name früher«, sagte Jennsen. »Jedenfalls der Name, den ich vor ein paar Jahren benutzte, als wir hoch oben im Norden lebten. Wir ziehen häufig um – stets in der Hoffnung, verhindern zu können, daß wir gefaßt werden. Und jedes Mal ändern wir den Namen, damit es schwieriger wird, uns nachzuspüren.«
»Dann ... ist also auch Daggett nicht Euer richtiger Name?«
»Nein.«
»Und wie heißt Ihr nun wirklich?«
»Auch das ist Teil der Geschichte für einen anderen Abend.« Der Tonfall ihrer Mutter verriet, daß sie nicht die Absicht hatte, darüber zu diskutieren. »Worauf es ankommt, ist, daß der Soldat heute im Besitz dieses Namens war. Das kann nur das Allerschlimmste bedeuten.«
»Aber Ihr sagtet doch, es sei ein Name, den Ihr gar nicht mehr benutzt.«
Ihre Mutter beugte sich zu Sebastian hinüber. Jennsen wußte, daß sie ihn jetzt mit einem Blick bedachte, den er als beunruhigend empfinden würde.
»Mag sein, daß wir jetzt anders heißen und wir diesen Namen ausschließlich oben im Norden benutzt haben, aber er hatte sich diesen Namen notiert, und er war hier nur wenige Meilen von der Stelle entfernt, wo wir uns im Augenblick befinden. Irgendwie hat er eine Verbindung zu uns hergestellt, beziehungsweise der Mann, der uns verfolgt, hat diese Verbindung hergestellt und seinen Schergen dann auf uns angesetzt. Und nun sucht man uns hier.«
»Jetzt verstehe ich, was Ihr meint.« Sebastian machte sich wieder daran, den auf seinem Messer aufgespießten Fischhappen zu verspeisen.
»Dieser tote Soldat wird in Begleitung anderer hergekommen sein«, fuhr ihre Mutter fort. »Durch das Verscharren habt ihr Zeit für uns gewonnen. Zumindest in diesem Punkt haben wir Glück, denn wir sind ihnen noch immer ein paar Schritte voraus. Diesen Vorteil müssen wir nutzen und uns aus dem Staub machen, bevor die Schlinge sich zusammenzieht. Wir müssen gleich morgen früh aufbrechen.«
»Seid Ihr sicher?« Er deutete mit dem Messer gestikulierend um sich. »Ihr habt Euch hier in der Wildnis ein Leben aufgebaut. Hätte ich Jennsen nicht zufällig bei dem toten Soldaten gesehen, ich hatte Euch niemals entdeckt. Wie sollten sie Euch finden? Ihr habt ein Haus hier, ein richtiges Heim.«
»›Leben‹, das ist der entscheidende Begriff bei allem, was Ihr gerade sagtet. Ich kenne den Mann, der hinter uns her ist. Er kann sich bei unserer Verfolgung auf ein jahrtausendealtes, blutiges Erbe berufen. Und er wird niemals Ruhe geben. Wenn wir hier ausharren, wird er uns früher oder später aufspüren. Wir müssen fliehen, solange wir noch dazu in der Lage sind.«
Sie zog das edle Messer aus dem Gürtel und reichte es Sebastian.
»Der Buchstabe ›R‹ auf dem Heft steht für das Haus Rahl, für unseren Häscher. Eine solch vortreffliche Waffe wird er nur einem ganz besonderen Soldaten geschenkt haben. Ich will keine Waffe, die ein Geschenk dieses verruchten Mannes war.«
Sebastian blickte kurz auf das ihm dargebotene Messer, ohne es jedoch entgegenzunehmen. Er bedachte die beiden mit einem Blick, der Jennsen bis ins Mark frösteln ließ – einem Blick, der von unerbittlicher Entschlossenheit zeugte.
»Dort, wo ich herkomme, ist es Brauch, Besitztümer unserer Feinde als Waffe gegen sie zu benutzen.«
Jennsen hatte noch nie jemanden eine solche Einstellung äußern hören.
»Wäret Ihr bereit, das, was er Euch versehentlich in die Hände gespielt hat, gegen ihn zu benutzen? Oder zieht Ihr es vor, das Opfer zu spielen?«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Warum tötet Ihr ihn nicht?«
Jennsen klappte der Unterkiefer herunter, ihre Mutter dagegen schien weniger verblüfft. »Das ist völlig ausgeschlossen«, beharrte sie. »Er ist ein mächtiger Mann und wird von zahllosen Personen beschützt, angefangen bei einfachen Soldaten bis hin zu Personen, die Magie heraufbeschwören können. Wir dagegen sind nichts weiter als zwei einfache Frauen.«
Ihre Ausflüchte vermochten Sebastian nicht zu beeindrucken. »Er wird nicht aufgeben, bis er Euch getötet hat.« Er nahm das Stück Papier in die Hand und bemerkte, wie sie es mit den Augen verschlang. »Dies ist der Beweis. Er wird niemals aufgeben. Wieso bringt Ihr ihn nicht um, bevor er Euch – Eure Tochter – umbringt? Oder zieht Ihr es vor, die Rolle lebender Leichen zu spielen, die nur darauf warten, von ihm eingesammelt zu werden?«
Die Stimme ihrer Mutter wurde hitzig. »Und wie, bitte, sollen wir es Eurer Meinung nach anstellen, Lord Rahl zu töten?«
Sebastian spießte ein weiteres Stück Fisch auf. »Zunächst einmal solltet Ihr das Messer behalten. Es ist dem, das Ihr bei Euch tragt, als Waffe überlegen. Schlagt ihn mit seinen eigenen Waffen. Eure sentimentale Weigerung, es anzunehmen, nützt ausschließlich ihm, nicht aber Euch oder Jennsen.«
Ihre Mutter saß regungslos da, als wäre sie aus Stein. Noch nie hatte Jennsen jemanden so reden hören. Er verstand es, sie die Dinge aufgrund seiner Worte in einem völlig neuen Licht sehen zu lassen.
»Ich muß gestehen, was Ihr sagt, klingt durchaus plausibel«, erwiderte ihre Mutter. Sie sprach mit leiser Stimme, in der Schmerz, vielleicht sogar ein gewisses Bedauern mitschwang. »Ihr habt mir die Augen geöffnet, jedenfalls ein kleines Stück. Was den Versuch betrifft, ihn umzubringen, bin ich nicht einer Meinung mit Euch, dafür kenne ich ihn viel zu gut. Ein solcher Versuch käme im günstigsten Fall einem Selbstmord gleich, im ungünstigsten würde er ihm zu seinem Ziel verhelfen. Aber ich werde das Messer behalten und es benutzen, um mich selbst und meine Tochter zu verteidigen. Danke, Sebastian, für Eure klaren Worte, obwohl ich sie gar nicht hören wollte. Ihr sagt, die Barrieren sind gefallen. Ich habe die Absicht, D’Hara zu verlassen. Wir werden versuchen, uns bis in ein anderes Land durchzuschlagen, wo Darken Rahl uns nicht verfolgen kann.«
Sebastian sah auf, während er ein weiteres Fischstück aufspießte. »Darken Rahl? Darken Rahl ist lange tot.«
Jennsen, die seit ihren Kindertagen vor diesem Mann hatte weglaufen müssen, war wie vom Donner gerührt. Erst in diesem Moment begriff sie, daß sie den Mann immer für unsterblich gehalten hatte – so unsterblich wie das Böse selbst.
»Darken Rahl ... tot? ... Das ist unmöglich«, stammelte Jennsen, während ihr Tränen der Erleichterung in die Augen traten.
Sebastian nickte. »Aber wahr. Soweit ich gehört habe, schon seit ungefähr zwei Jahren.«
»Wenn Darken Rahl nicht mehr lebt...«
»Darken Rahls Sohn ist jetzt Lord Rahl«, erklärte Sebastian.
»Sein Sohn?« Jennsen spürte, wie ihre Hoffnung wieder schwand.
»Es ist Lord Rahl, der uns verfolgt«, erklärte ihre Mutter in deren ruhiger und fester Stimme nichts auch nur für einen einzigen Augenblick auf übertriebene Hoffnung hindeutete. »Lord Rahl ist Lord Rahl. Es hat sich nicht das Geringste geändert. Und es wird sich auch niemals etwas ändern.«
So unsterblich wie das Böse selbst.
»Richard Rahl«, warf Sebastian ein. »Er ist jetzt Lord Rahl.«
Richard Rahl. Jetzt kannte Jennsen also auch den neuen Namen ihres Häschers. Ihr kam ein entsetzlicher Gedanke, Früher hatte sie die Stimme nie mehr sagen hören als »Gib dich hin« sowie ihren Namen und gelegentlich jene fremdartigen Worte, die sie nicht verstand. Jetzt verlangte sie, daß sie ihren Körper und sogar ihren Willen hingab. Wenn es die Stimme ihres Verfolgers war, wie ihre Mutter behauptete, dann mußte dieser neue Lord Rahl auf geradezu beängstigende Weise mächtiger sein als sein teuflischer Vater. Das flüchtige Gefühl der Erlösung wich bitterster Verzweiflung.
Als Sebastian sich vorbeugte, wurde plötzlich Wut in seinen Augen sichtbar. »Richard Rahl wurde Lord Rahl von D’Hara, nachdem er seinen Vater ermordet und die Herrschaft an sich gerissen hatte. Und falls Ihr als Nächstes andeuten wollt, daß der Sohn vielleicht eine geringere Bedrohung darstellt als sein Vater, dann laßt Euch eines Besseren belehren. Denn Richard Rahl war es, der die Barrieren zum Einsturz gebracht hat.«
Daraufhin warf Jennsen verwirrt die Arme in die Luft. »Aber dadurch erhielten doch nur jene, die es in die Freiheit zieht, eine Möglichkeit, aus D’Hara zu fliehen und somit auch ihm zu entkommen.«
»Nein. Er hat diese alten Schutzbarrieren niedergerissen, um seine Tyrannei auch auf jene Länder ausweiten zu können, die sogar für seinen Vater noch unerreichbar waren.« Sebastian schlug sich mit der geballten Faust vor die Brust. »Er will mein Land! Lord Rahl ist ein Wahnsinniger. Es genügt ihm nicht, D’Hara zu beherrschen, er ist geradezu versessen darauf, die gesamte Welt zu unterwerfen.«
Jennsens Mutter starrte mit leerem Blick in die Flammen; sie schien allen Mut verloren zu haben. »Ich dachte immer, wenn Darken Rahl erst tot ist, hätten wir vielleicht eine Chance. Aber das Stück Papier mit ihrem Namen darauf, das Jennsen heute fand, sagt mir, daß der Sohn sogar noch gefährlicher ist als sein Vater und ich mir nur etwas vorgemacht habe. So nah ist uns selbst Darken Rahl niemals gekommen. Ich werde das Messer behalten. Die Wahrheit ist so, wie sie ist. Sie hilft uns, Entscheidungen zu treffen.« Ihre Mutter lächelte sie an. »Jennsen hat den Dingen schon immer auf den Grund gehen wollen, und ich habe nie versucht, ihr die Wahrheit zu verschweigen. Sie ist das Einzige, was einen am Leben hält; so einfach ist das.«
»Wenn Ihr schon nicht versuchen wollt, ihn zu töten, um die Bedrohung auszuschalten, vielleicht habt Ihr dann ja eine Idee, wie Ihr den neuen Lord Rahl dazu bringen könntet, das Interesse an Euch und Jennsen zu verlieren.«
Jennsens Mutter schüttelte den Kopf. »Es geht um sehr viel mehr, als wir Euch heute Abend verraten können – um Dinge, von denen Ihr keine Kenntnis habt. Dieser Dinge wegen wird er niemals ruhen, niemals locker lassen. Ihr begreift nicht, welche Mühen Lord Rahl – jeder Lord Rahl – auf sich nehmen würde, um Jennsen zu töten.«
»Nun, wenn das so ist, habt Ihr wahrscheinlich Recht. Vielleicht solltet Ihr beide tatsächlich fliehen.«
»Würdet Ihr uns – oder zumindest Jennsen – helfen, D’Hara zu verlassen?«
Sein Blick wanderte von einer Frau zur anderen. »Wenn es in meiner Macht steht, kann ich es versuchen. Aber laßt Euch eins gesagt sein, Verstecken könnt Ihr Euch nicht. Wenn Ihr jemals frei sein wollt, werdet Ihr ihn töten müssen.«
»Ich bin keine Mörderin«, warf Jennsen ein.
Sebastian begegnete ihrem Blick, sein weißes Haar, rötlich im Schein des Feuers, umrahmte seine kalten blauen Augen. »Ihr wäret nicht so überrascht, wenn Ihr wüßtet, zu was ein Mensch fähig ist sobald er nur über die richtigen Beweggründe verfügt.«
Ihre Mutter hob die Hand, um dieses Gerede zu unterbinden. Sie war eine praktisch denkende Frau und nicht gewillt, kostbare Zeit mit wilden Plänen zu vergeuden. »Im Augenblick ist für uns nur wichtig, daß wir von hier fortgehen. Lord Rahls Handlanger sind uns zu dicht auf den Fersen, das ist die schlichte Wahrheit. Der Beschreibung und dein Messer zufolge gehörte der Tote, den ihr heute gefunden habt, wahrscheinlich einem Quadron an.«
Sebastian hob stirnrunzelnd den Kopf. »Einem was?«
»Einem Trupp aus vier Meuchelmördern. Manchmal arbeiten auch mehrere Quadronen Hand in Hand – wenn sich ihr Opfer als besonders schwer zu fassen herausstellt oder von unschätzbarem Wert ist. Beides trifft auf Jennsen zu.«
Sebastian dachte nach. »Für jemanden, der lange Jahre auf der Flucht war und in Verstecken lebte, scheint Ihr eine Menge über diese Quadronen zu wissen. Seid Ihr sicher, daß Ihr mit Eurer Vermutung richtig liegt?«, fragte er dann.
Der Schein des Feuers tanzte in den Augen ihrer Mutter, und ihre Stimme bekam einen entrückten Unterton. »Als ich noch jung war, lebte ich im Palast des Volkes. Ich habe diese Männer, diese Quadronen, dort oft gesehen. Darken Rahl bediente sich ihrer, um Jagd auf bestimmte Personen zu machen. Ihre Skrupellosigkeit übertrifft alles, was Ihr Euch vorsteilen könnt.«
Sebastian wirkte beunruhigt. »Nun, das wißt Ihr vermutlich besser als ich. Wir brechen also morgen früh auf.« Er räkelte sich und gähnte. »Eure Kräuter fangen bereits an zu wirken, und das Fieber hat mich erschöpft. Sobald ich eine Nacht lang durchgeschlafen habe, werde ich Euch helfen, von hier fortzukommen, fort aus D’Hara und in die Alte Welt, sofern das Euer Wunsch ist.«
»Ist es.« Ihre Mutter erhob sich. Im Vorbeigehen strich sie Jennsen liebevoll über den Hinterkopf »Ich werde ein paar Sachen zusammensuchen und alles packen, was wir mitnehmen können.«
»Ich komme gleich nach«, rief Jennsen. »Sobald ich das Feuer mit Asche zugedeckt habe.«