Oba war gerade damit beschäftigt, einen Strohballen vorn Heuboden hinunterzuwerfen, als er die Stimme seiner Mutter hörte.
»Oba! Wo steckst du wieder? Komm sofort herunter!«
Hastig kletterte Oba die Leiter hinunter.
»Was gibt’s denn, Mama?«
»Wo ist meine Medizin? Und deine Arznei?« Ihr wütender Blick wanderte über den Boden. »Wie ich sehe, hast du diese Schweinerei noch immer nicht aus der Scheune geschafft. Ich habe dich gestern Abend gar nicht nach Hause kommen hören. Was hat dich so lange aufgehalten? Sieh dir das Freßgitter an! Hast du es etwa immer noch nicht in Ordnung gebracht? Was hast du die ganze Zeit getrieben? Muß ich dir eigentlich jede Kleinigkeit erklären?«
Oba war unschlüssig, welche Frage er zuerst beantworten sollte. Nach den Ereignissen des gestrigen Abends, nach allem, was er gelernt hatte, hatte er eigentlich geglaubt, gegenüber seiner Mutter ein wenig selbstsicherer auftreten zu können.
Am hellichten Tag aber, hinter der Scheune vor seiner Mutter stehend, die sich wie ein drohendes Unwetter vor ihm aufgepflanzt hatte, fühlte er sich angesichts ihrer wütenden Beschimpfungen im Großen und Ganzen genau wie immer, beschämt, klein und minderwertig. Bei seiner Heimkehr hatte er sich noch stark gefühlt, wichtig, jetzt aber glaubte er, in sich zusammenzuschrumpfen; ihr Gezeter machte ihn völlig hilflos.
»Also, ich hab ...«
»Rumgetrödelt hast du! Und sonst gar nichts – rumgetrödelt! Ich stehe hier und warte auf meine Medizin, die Knie tun mir weh, während mein Sohn Oba, dieser Einfaltspinsel, längst vergessen hat, weshalb ich ihn losgeschickt habe!«
»Ich hab nichts vergessen ...«
»Wo ist dann meine Medizin? Wo, red schon!«
»Ich hab sie nicht bekommen, Mama ...«
»Wußte ich’s doch! Ich wußte, daß du das Geld verprassen würdest, das ich dir mitgegeben habe. Ich schufte mir beim Spinnen die Finger blutig, um es zu verdienen, und du ziehst einfach los und verpraßt es mit irgendwelchen Weibern! Jawohl, das hast du getan, rumgehurt hast du!«
»Nein, Mama!«
»Wo ist dann meine Medizin? Wieso hast du sie nicht besorgt, wie ich es dir aufgetragen habe?«
»Das ging nicht weil ...«
»Weil du einfach keine Lust hattest, du nichtsnutziger Einfaltspinsel! Du brauchtest bloß zu Lathea zu gehen ...«
»Lathea ist tot.«
Da, jetzt war es heraus. Er hatte es gesagt, ans Licht gebracht.
Der Mund seiner Mutter stand weit offen, es sprudelten allerdings keine Worte daraus hervor. Noch nie zuvor hatte er sie so jäh verstummen sehen, noch nie hatte er sie so schockiert gesehen, daß ihr der Unterkiefer einfach herunterklappte. Der Anblick gefiel ihm.
Oba kramte eine Münze aus seiner Tasche, eine Münze, die er eigens zurückbehalten hatte, damit sie nicht glaubte, er hätte das Geld ausgegeben. Mitten in diesem erregenden Moment seltener Stille reichte er ihr das Geldstück.
»Tot ... Lathea?« Sie starrte auf die Münze in ihrer Hand. »Was soll das heißen, tot? Ist sie krank geworden?«
Oba schüttelte den Kopf; sobald er daran dachte, was er mit Lathea gemacht hatte, wie er mit dieser verdrießlichen Hexenmeisterin umgesprungen war, fühlte er, wie sein Selbstvertrauen wuchs.
»Nein, Mama, ihr Haus ist abgebrannt. Sie ist in den Flammen umgekommen.«
»Ihr Haus ... abgebrannt ...« Seine Mutter runzelte mißtrauisch die Stirn. »Woher weißt du überhaupt, daß sie umgekommen ist? Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß Lathea sich von einem Feuer überraschen läßt. Die Frau ist immerhin Hexenmeisterin.«
Oba zuckte mit den Achseln. »Also, ich weiß nur, daß ich einen ziemlichen Aufruhr hörte, als ich in den Ort kam. Leute liefen runter zu ihrem Haus, dann sahen wir, daß es lichterloh brannte. Kurz darauf hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt, aber die Hitze war so groß, daß es vollkommen unmöglich war das Haus zu retten.«
Zumindest der letzte Teil entsprach zu einem gewissen Grad der Wahrheit, denn als er nach seinem Besuch im Wirtshaus auf dem Heimweg war, kurz nachdem ihn diese Jennsen und der Mann in ihrer Begleitung überholt hatten, hatte er Leute rufen hören, unten bei Latheas Haus sei ein Feuer ausgebrochen. Gemeinsam mit den anderen war Oba die lange dunkle Straße entlanggerannt, immer auf den orangefarbenen Lichtschein zwischen den Bäumen zu. Er war nichts weiter als ein unbeteiligter Passant, genau wie alle anderen, es bestand nicht die geringste Veranlassung, ihn wegen irgend etwas zu verdächtigen.
»Vielleicht hat Lathea sich ja aus den Flammen retten können.« Es klang eher, als wollte seine Mutter sich selber überzeugen und nicht ihn.
Oba schüttelte den Kopf. »Ich bin noch dageblieben, weil ich dasselbe hoffte wie du, Mama. Ich blieb und tat, was ich konnte. Deshalb war ich auch erst so spät zurück.«
Auch das entsprach zum Teil der Wahrheit, Er war, zusammen mit allen anderen, noch geblieben, hatte sich das Feuer angeschaut und das Gerede gehört, hatte die angespannte Erwartung ausgekostet, die in der Menge herrschte, das Getratsche und die wilden Spekulationen.
»Sie ist eine Hexenmeisterin. Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß eine solche Frau einem Brand zum Opfer fällt.«
In den Äußerungen seiner Mutter klang erster Argwohn durch, doch darauf war Oba vorbereitet. Er beugte sich ein wenig näher zu ihr hin.
»Als das Feuer weit genug heruntergebrannt war, haben ein paar von uns Männern Schnee darüber geworfen, damit wir über die rauchenden Trümmer ins Haus selbst klettern konnten. Drinnen fanden wir dann Latheas Gebeine.«
Oba zog einen schwarz verkohlten Fingerknochen aus seiner Hosentasche und hielt ihn seiner Mutter hin. Sie starrte auf das grausige Indiz und verschränkte die Arme, ohne es jedoch in die Hand zu nehmen. Zufrieden über den erzielten Effekt, steckte Oba das kostbare Stück wieder ein. »Sie lag mitten im Zimmer, eine Hand über ihren Kopf erhoben, als hätte sie noch versucht die Tür zu erreichen und wäre dann vom Rauch überwältigt worden. Die Männer erzählten, es sei immer der Rauch, der die Menschen zusammenbrechen läßt; anschließend verbrannten sie dann in den Flammen. Genau so muß es sich auch bei Lathea zugetragen haben. Erst hat sie der Rauch übermannt, und dann, als sie auf dem Fußboden lag. die Hand nach der Tür ausgestreckt, ist sie in den Flammen umgekommen.«
Seine Mutter funkelte ihn wütend an, sagte aber nichts. Dieses eine Mal hatte es ihr die Sprache verschlagen. Er fand jedoch, daß ihr wütender Blick kein bißchen weniger unangenehm war. Die Aggressivität, die aus diesen Augen sprach, verriet ihm, was sie dachte, Er taugte nichts, ihr kleiner Bankert.
Sie ließ verdrießlich die Arme sinken und wandte sich ab. »Ich muß wieder zurück an meine Spinnerei für Mr. Tuchmann. Und du siehst zu, daß der Boden endlich sauber wird, hast du verstanden?«
»Aber ja, Mama.«
»Außerdem tätest du gut daran, das Freßgitter in Ordnung zu bringen, bevor ich zurückkomme und feststellen muß, daß du den ganzen Tag vertrödelt hast.« Mehrere Tage lang bearbeitete Oba den gefrorenen Mist auf dem Boden, ohne jedoch recht voranzukommen. Nach wie vor herrschte bitterkaltes Wetter, so daß der gefrorene Misthaufen eher noch härter geworden war. Sosehr er sich auch abmühte, ihn abzutragen, es schien aussichtslos, ganz so, als versuchte man, ein Stück Granitgestein mit dem Meißel zu bearbeiten. Oder das steinharte Gemüt seiner Mutter.
Natürlich waren da noch seine anderen Obliegenheiten, die er auf keinen Fall vernachlässigen durfte. Er hatte das Freßgitter repariert sowie ein gebrochenes Scharnier am Scheunentor. Er hatte die Tiere versorgt und hundert andere Kleinigkeiten erledigt.
Im Kopf jedoch, während der Arbeit, tüftelte er bereits an der Konstruktion des neuen Kamins. Er würde ihn vor die Trennwand zwischen Wohnbereich und Scheune setzen, da diese bereits existierte; in Gedanken schichtete er bereits Steine vor ihr auf, aus denen er dann die Brennkammer formen würde. Auch hatte er schon einen länglichen Stein ins Auge gefaßt, den er als Querbalken benutzen wollte, anschließend würde er alles ordnungsgemäß mit Mörtel verfugen. Wenn Oba sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, tat er alles, um es auch zu verwirklichen.
Vor seinem inneren Auge malte er sich aus, wie seine Mutter sich freuen würde, sobald sie sah, was er für sie gebaut hatte. Endlich würde sie begreifen, wie wertvoll seine Arbeit war, endlich würde er bei ihr Anerkennung finden. Doch bevor er mit dem Bau des Kamins anfangen konnte, mußte er noch verschiedene andere Arbeiten erledigen.
Irgendwann hatte sich aber dann der quälende Gedanke bei ihm festgesetzt, daß ein Mann von seiner Bedeutung seine Zeit vielleicht nicht mit einer derart niederen Arbeit verschwenden sollte. Gefrorener Dung, das schlug wohl kaum in das Fach eines Mannes, der aller Wahrscheinlichkeit nach so etwas wie ein Prinz war. Zumindest wußte er jetzt, daß er eine bedeutende Persönlichkeit war, ein Mann, in dessen Adern Rahl’sches Blut floß. ein unmittelbarer Nachkomme – der Sohn – jenes Mannes, der einst über ganz D’Hara geherrscht hatte, Darken Rahl. Vermutlich gab es keinen einzigen Menschen, der nicht irgendwann schon einmal von Darken Rahl, von Obas Vater, gehört hatte.
Früher oder später würde er seiner Mutter die Wahrheit ins Gesicht sagen, die sie ihm so lange vorenthalten hatte – die Wahrheit über den Mann, der er in Wirklichkeit war. Nur wußte er noch nicht so recht, wie er es anstellen sollte, ohne daß sie dahinterkam, daß ausgerechnet Lathea diese Information ausgeplaudert hatte.
Erschöpft stützte sich Oba mit den Unterarmen auf den Schaufelgriff; trotz der Kälte lief ihm der Schweiß aus seinen verfilzten Haaren.
»Oba, der Einfaltspinsel«, rief seine Mutter, als sie in die Scheune kam. »Steht rum, tut nichts, denkt nichts, taugt nichts. So ist es doch, oder etwa nicht, Oba, mein kleiner Einfaltspinsel?«
Sie blieb, ganz ruhig vor ihm stehen und musterte ihn angewidert.
»Ich hab bloß kurz verschnauft, Mama.« Dabei deutete er um sich, auf die Eissplitter, mit denen der Boden ringsum übersät war, Beweis seiner tatkräftigen Bemühungen. »Ich hab daran gearbeitet, Mama, wirklich.«
Sie sah nicht einmal hin, sondern durchbohrte ihn mit ihrem Blick. Er wartete, sich völlig darüber im Klaren, daß sie etwas ganz anderes beschäftigte als der gefrorene Misthaufen. Er spürte immer ganz genau, wenn sie darauf aus war, ihm Scherereien zu machen und ihm das Gefühl zu geben, nicht besser zu sein als der Mist, in dem er watete. Aus den dunklen Ecken und Verstecken überall in der gesamten Scheune verfolgten die Ratten aus ihren kleinen schwarzen Rattenaugen das Geschehen.
Den vorwurfsvollen Blick durchdringend auf ihn geheftet, hielt ihm seine Mutter eine Münze hin. Sie hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, um ihm nicht einfach nur die Münze selbst, sondern ihre tiefere Bedeutung vor Augen zu führen.
Oba war ein wenig verdutzt. Lathea war tot, und in der Nähe gab es, zumindest seines Wissens, nirgendwo eine andere Hexenmeisterin, die seiner Mutter ihre Medizin beschaffen konnte – oder ihm seine Arznei. Trotzdem hielt er artig die Hand auf.
»Sieh sie dir genau an«, befahl sie und ließ die Münze in seine Hand fallen.
Oba hielt sie in das durch die Tür hereinfallende Licht und unterzog sie einer sorgfältigen Prüfung. Mit einem verstohlenen Seitenblick zu seiner Mutter hin drehte er die Münze um. Sorgfältig untersuchte er die Rückseite, vermochte aber noch immer nichts Außergewöhnliches zu entdecken.
»Ja. Mama?«
»Fällt dir daran etwas Ungewöhnliches auf, Oba?«
»Nein, Mama.«
»Da ist kein Kratzer am Rand.«
Oba besah sich die Münze noch einmal.
»Stimmt, Mama.«
»Es ist die Münze, die du mir zurückgegeben hast.«
Oba nickte, schließlich hatte er keine Veranlassung, ihr nicht zu glauben. »Richtig, Mama, die Münze, die du mir für Lathea mitgegeben hast.«
Ihr zornig funkelnder Blick war mörderisch, ihre Stimme dagegen klang erstaunlich ruhig und gefaßt. »Es ist nicht dieselbe Münze, Oba.«
Oba feixte. »Das ist sie ganz bestimmt, Mama.«
»Die Münze, die ich dir gegeben habe, hatte eine Markierung am Rand. Eine Markierung, die ich selbst dort angebracht habe.«
Obas Grinsen schmolz dahin, seine Gedanken rasten. Krampfhaft versuchte er darüber nachzudenken, was er sagen sollte – sagen konnte –, damit sie ihm glaubte. Er konnte wohl schlecht behaupten, die Münze in die Tasche gesteckt und dann bei der Rückgabe eine andere Münze hervorgezogen zu haben, denn schließlich wußte sie nur zu gut, daß er nie Geld hatte.
»Aber ... bist du wirklich sicher Mama? Vielleicht meinst du nur, du hättest sie markiert. Vielleicht hast du es ja vergessen.«
Das hinterhältige Weib traute nicht mal ihrem eigenen Sohn. Was war das eigentlich für eine Mutter? Und was hatte sie schon für Beweise, außer einem winzigen, nicht vorhandenen Kratzer am Rand einer Münze? Keinen einzigen. Die Frau war krank im Kopf. Er beschloß, dreist alles abzustreiten.
»Du irrst dich ganz bestimmt, Mama. Ich habe kein Geld – das weißt du doch. Wie sollte ich denn an eine andere Münze kommen?«
»Genau das würde ich auch gern wissen.« Ihre Augen waren furchterregend, er wagte unter ihrem sengenden, forschenden Blick kaum zu atmen. Ihre Stimme dagegen blieb weiterhin gefaßt, als sie sagte, »Ich hatte dir doch aufgetragen, von dem Geld Medizin zu kaufen.«
»Wie hätte ich das tun sollen? Lathea ist tot, also habe ich dir die Münze zurückgegeben.«
Sie wirkte so stark und mächtig, wie sie dort vor ihm stand, ein Fleisch gewordener Racheengel, der gekommen war, seine Stimme im Namen der Toten zu erheben. Vielleicht war Latheas Seele zurückgekehrt, um ihn zu verpetzen, diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht in Betracht gezogen. Das sähe dieser widerwärtigen Hexenmeisterin absolut ähnlich. Die Frau steckte auch im Jenseits noch voller Heimtücke.
»Weißt du eigentlich, warum ich dich Oba genannt habe?«
»Nein, Mama.«
»Es ist ein sehr alter d’Haranischer Name. Wußtest du das, Oba?«
»Nein, Mama.« Seine Neugier gewann die Oberhand über ihn. »Was bedeutet er?«
»Zweierlei, sowohl Diener als auch König. Ich habe dich Oba genannt, weil ich hoffte, du könntest eines Tages König werden, und wenn nicht, so wärst du wenigstens ein treuer Diener deines Schöpfers. Aber Narren werden nur selten Könige, daher wirst du wohl nie einer werden. Es war nichts weiter als der törichte Traum einer jungen, unerfahrenen Mutter. Bleibt also ›Diener‹. Und wem dienst du, Oba?«
Oba wußte nur zu gut, wem er diente, denn dadurch war er unbesiegbar geworden.
»Woher hast du diese Münze. Oba?«
»Hab ich doch schon gesagt, Mama. Ich konnte deine Medizin nicht kaufen, weil Lathea bei dem Brand in ihrem Haus ums Leben gekommen war. Vielleicht hat irgendwas in meiner Hosentasche deine Markierung abgewetzt.«
Sie schien über seine Worte nachzudenken. »Bist du ganz sicher, Oba?«
Oba nickte, in der Hoffnung, sie endlich von dieser verworrenen Münzgeschichte ablenken zu können. »Aber ja, Mama.«
Seine Mutter zog eine Braue hoch. »War es wirklich so, Oba?«
Sie zog langsam ihre Hand aus der Tasche ihres Kleides. Er konnte nicht erkennen, was sie darin hielt, war aber erleichtert, weil er offenbar im Begriff war, sie endlich zur Vernunft zu bringen.
»Aber ja, Mama, Lathea war tot.« Er merkte, daß es ihm gefiel, die Worte auszusprechen.
»Wirklich, Oba? Du konntest die Medizin gar nicht kaufen? Du würdest deine Mutter doch niemals anlügen, oder, Oba?«
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Bestimmt nicht, Mama.«
»Und was ist dann das hier?« Sie drehte ihre Hand um und hielt ihm das Medizinfläschchen unter die Nase, das Lathea ihm gegeben hatte, bevor er sich eingehender mit ihr beschäftigt hatte. »Das habe ich in deiner Jackentasche gefunden, Oba.«
Oba starrte auf das vermaledeite Fläschchen, die Rache dieser widerwärtigen Hexenmeisterin. Er hätte die Frau auf der Stelle umbringen sollen, bevor sie ihm das verräterische Fläschchen geben konnte. Hatte er doch tatsächlich vergessen, daß er es – in der Absicht, es noch am selben Abend auf dem Nachhauseweg im Wald fortzuwerfen – in eine seiner Jackentaschen gesteckt hatte! Wegen der vielen wichtigen Dinge, die er in letzter Zeit hinzugelernt hatte, war ihm das verdammte Medizinfläschchen völlig entfallen.
»Nun, ich denke ... ich denke, es muß wohl ein altes Fläschchen sein.«
»Ein altes Fläschchen? Es ist bis oben hin voll!« Da war er wieder, dieser schneidend scharfe Ton in ihrer Stimme. »Wie hast du es bloß angestellt, von einer Toten ein Fläschchen mit Arznei zu bekommen – noch dazu in ihrem bereits abgebrannten Haus? Wie, Oba? Und wie kommt es, daß du mir eine andere Münze zurückgegeben hast als die, die ich dir zum Bezahlen mitgegeben habe? Raus mit der Sprache!« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Wie, Oba?«
Oba wich einen Schritt zurück. Er konnte seine Augen nicht von der vermaledeiten Medizin losreißen.
»Na ja, ich ...«
»Na ja was, Oba? Na ja was, du widerlicher Bankert, du nichtsnutziger, arbeitsscheuer, verlogener Wechselbalg. Du niederträchtiger, hinterhältiger, widerwärtiger Bastard, Oba Schalk.«
»Oba Rahl«, verbesserte er.
Sie zuckte nicht mal mit der Wimper. In diesem Augenblick wurde ihm bewußt, daß sie ihn die ganze Zeit dazu getrieben hatte, es zuzugeben; es war alles Teil ihres Plans. Dieser Name, Rahl, schrie geradezu heraus, woher er sein Wissen hatte, und verriet es seiner Mutter. Oba stand da wie versteinert, sein Verstand befand sich im Zustand unbändiger Panik, wie bei einer Ratte, deren Schwanz von einem Stiefel festgehalten wurde.
»Bei den Seelen, ich will verdammt sein«, entfuhr es ihr leise. »Ich hatte tun sollen, was Lathea mir immer schon geraten hat. Ich hätte uns das alles ersparen sollen. Du hast sie umgebracht, du widerlicher Bankert, du abscheulicher, verlogener...«
Flink wie ein Wiesel ließ Oba die Schaufel herumschnellen und legte sein ganzes Gewicht und all seine Körperkraft in den Schlag. Das stählerne Schaufelblatt tönte beim Zusammenprall mit ihrem Schädel wie eine Glocke.
Wie ein Sack Getreide, den man vom Heuboden herunterstößt, klatschte seine Mutter auf den Boden.
Oba sprang hastig einen Schritt zurück, aus Angst, sie könnte wie eine Spinne auf ihn zugekrabbelt kommen, um ihm mit ihrem boshaften kleinen Mund in den Knöchel zu beißen. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß sie dazu fähig wäre. Dieses heimtückische Weibsstück!
Blitzschnell versetzte er ihr mit der Schaufel einen zweiten Schlag. In einem von Angst und Wut genährten Tobsuchtsanfall drosch er dann wieder und wieder mit der Schaufel auf ihren Schädel ein. Die Ratten, die aus ihren winzigen kleinen Rattenaugen zugeschaut hatten, verzogen sich ängstlich in ihre Löcher.
Oba taumelte zurück, völlig außer Atem von der gewaltigen Anstrengung, sie zum Schweigen zu bringen. Keuchend betrachtete er ihren reglosen Körper, der ausgestreckt auf dem gefrorenen Dung lag. Ihre zu beiden Seiten ausgebreiteten Arme schienen um eine Umarmung zu bitten. Dieses hinterhältige Weibsstück. Womöglich führte sie etwas im Schilde, wahrscheinlich wollte sie Besserung geloben und erbot sich, ihn zu umarmen, so als könnte das die unzähligen Male ungeschehen machen, die er im Verschlag hatte zubringen müssen.
Ihr Gesicht hatte sich verändert, der Ausdruck war irgendwie komisch; auf Zehenspitzen ging er näher heran. Der Schädel hatte völlig seine Form verloren, und dieser Anblick war so ungewohnt, daß es ihm nicht gelang, seine Gedanken zu ordnen.
Mamas Melonenschädel, zerplatzt wie eine reife Frucht.
Sicherheitshalber schlug er, so schnell es ihm möglich war, noch dreimal auf sie ein, dann ging er, die Schaufel schlagbereit, auf sichere Entfernung, für den Fall, daß sie plötzlich aufsprang und ihn anschnauzte. Das sähe ihr durchaus ähnlich, diese Heimtücke.
In der Scheune war nach wie vor alles ruhig. Er sah, wie sein Atem stoßweise in der kalten Luft verdampfte. Aus seiner Mutter entwich keine Atemluft, ihre Brust hatte aufgehört sich zu bewegen. Die rote Lache um ihren Kopf sickerte über den Mist ringsum; einige der Löcher, die er herausgehackt hatte, füllten sich mit dem flüssigen Inhalt ihres seltsam melonenartigen, völlig zerschmetterten Schädels.
In diesem Augenblick keimte in Oba die Gewißheit, daß seine Mutter nie wieder häßliche Dinge zu ihm sagen würde. Nicht gerade mit Klugheit geschlagen, hatte sie vermutlich Latheas Nörgeleien nachgegeben und sich einreden lassen, sie hasse ihn, ihren einzigen Sohn. Die beiden Frauen hatten sein Leben absolut beherrscht, er war nichts weiter gewesen als der machtlose Diener dieser zwei machtgierigen Weiber.
Welch ein Glück, daß er endlich unbesiegbar geworden war und sich von beiden befreit hatte.
»Möchtest du wissen, wem ich diene, Mama? Ich diene der Stimme, die mich unbesiegbar gemacht hat, der Stimme, die mich von dir befreit hat.«
Seine Mutter wußte nichts darauf zu erwidern. Endlich einmal hatte sie nicht das letzte Wort.
Oba mußte grinsen.
Er zog sein Messer. Er war ein neuer Mensch, ein Mann, der sich den geistigen Anforderungen stellte, so wie sie sich ergaben. Deshalb fand er, er sollte einen Blick riskieren und nachsehen, was sich sonst noch an merkwürdigen und seltsamen Dingen im Innenleben seiner Mutter finden ließe.
Oba lernte gern etwas Neues hinzu. Oba war gerade damit beschäftigt, ein schmackhaftes Mittagsmahl aus Eiern zu verspeisen – gebraten über der Feuerstelle, die er für sich zu bauen begonnen hatte –, als er einen Wagen auf den Holzplatz rollen hörte. Mittlerweile war es über eine Woche her, daß seine heimtückische Mutter ihr boshaftes kleines Lästermaul zum letzten Mal aufgemacht hatte.
Oba ging zur Tür, öffnete sie einen spaltweit, spähte hinaus und erblickte den hinteren Teil eines Wagens, der dicht beim Haus hielt. Ein Mann kletterte herunter.
Es war Mr. Tuchmann, der regelmäßig kam, um Wolle anzuliefern. In letzter Zeit hatten so viele neue Dinge seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, daß er Mr. Tuchmann völlig vergessen hatte. Oba blickte kurz hinüber in die Ecke, um zu sehen, wie viel Garn seine Mutter gesponnen hatte, Viel war es nicht. Seitlich daneben lag ballenweise Wolle, die darauf wartete, zu Garn versponnen zu werden. Sie hätte wenigstens noch ihre Arbeit erledigen können, bevor sie anfing, nichts als Scherereien zu machen.
Oba wußte nicht was er tun sollte. Mr. Tuchmann war ein schlanker, hoch gewachsener Mann mit einer großen Nase und ebensolchen Ohren. Sein Haar war bereits leicht ergraut und ebenso kraus wie die Wolle, mit der er handelte. Er war erst kürzlich Witwer geworden. Oba wußte, daß seine Mutter von Mr. Tuchmann ziemlich angetan gewesen war, vielleicht wäre er im Stande gewesen, ihr ein wenig von der giftigen Bissigkeit zu nehmen, sie ein wenig milder zu stimmen. Eine interessante Theorie.
»Tag, Oba.« Seine Augen – Augen, die Oba stets als seltsam klar empfunden hatte – linsten durch den Spalt und wanderten suchend durchs Haus. »Ist deine Mutter in der Nähe?«
Oba, der sich ein wenig gestört fühlte, stand da, den Teller mit der Eierspeise in der Hand, und überlegte krampfhaft, was er tun, was er darauf erwidern sollte. Mr. Tuchmanns Blick fiel auf den offenen Kamin.
Oba wurde hinter der Tür zunehmend mulmig, er ermahnte sich, daß er ein neuer Mann war, ein bedeutender Mann. Bedeutende Männer ließen sich nicht einfach verunsichern, sondern ergriffen stattdessen die Gelegenheit beim Schopf und lieferten einen Beweis für ihre Größe.
»Mama?« Oba stellte seinen Teller ab und blickte kurz hinüber zum Kamin. »Oh, sie muß hier irgendwo sein.«
Eine Zeit lang musterte der kraushaarige Mr. Tuchmann Obas Feixen mit versteinerter Miene. Boshaft, voller Heimtücke.
»Hast du schon von Lathea gehört? Was man in ihrem Haus gefunden hat?«
»Lathea?« Oba saugte sich einen Eierrest aus den Zähnen. »Die ist doch tot. Was kann man schon bei ihr gefunden haben?«
»Oder präziser ausgedrückt, was man nicht bei ihr gefunden hat. Geld nämlich. Lathea hatte Geld, das wußte jeder. Aber in ihrem Haus hat man keins gefunden.«
Oba zuckte mit den Achseln. »Muß wohl verbrannt sein, geschmolzen.«
Mr. Tuchmann brummte skeptisch. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gibt Leute, die behaupten, es sei womöglich schon vor Ausbruch des Feuers nicht mehr da gewesen.«
Oba war empört, daß manche Leute einfach an allem herumzumeckern hatten. Konnten sie sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, diese Wichtigtuer?
»Ich werde Mama ausrichten, daß Ihr hier wart.«
»Ich brauche dringend das Garn, das sie gesponnen hat. außerdem habe ich eine neue Ladung Wolle für sie. Jetzt muß ich weiter, es warten ja noch andere auf mich.«
Der Mann hatte eine ganze Schar von Frauen, die für ihn Wolle verspannen. Gönnte er ihnen denn nie eine Verschnaufpause?
»Nun, ich fürchte, Mama ist nicht dazu gekommen ...«
Mr. Tuchmann starrte wieder auf den Kamin, noch unverwandter diesmal. Der Ausdruck seines Gesichts war mehr als bloße Neugier, er grenzte an Verärgerung. Der Webereibesitzer, daran gewöhnt, Menschen herumzukommandieren – und zwar stets in einer solchen Unverblümtheit, daß Oba sich in seiner Nähe unbehaglich fühlte – trat durch die Tür ins Haus und stellte sich, den Blick noch immer nicht vom Kamin lassend, mitten in den Raum. Er hob den Arm und zeigte.
»Was ... was ist das? Gütiger Schöpfer...«
Oba folgte seinem Arm mit dem Blick – zum neuen Kamin, den er gerade vor der Trennwand zwischen Haus und Scheune errichtete. Er fand sein Werk recht gut gelungen – es war sauber und robust ausgeführt. Obwohl der Schornstein noch nicht bis zur vollen Höhe reichte, war er bereits in Gebrauch.
In diesem Moment bemerkte Oba, worauf Mr. Tuchmann tatsächlich zeigte.
Auf den Unterkieferknochen seiner Mutter.
Na, wenn das keine Überraschung war. Oba hatte nicht mit Besuch gerechnet, schon gar nicht mit herumschnüffelnden Besuchern.
Wenn Mr. Tuchmann auszuplaudern begann, was er im Kamin gesehen hatte, würden gewiß Fragen gestellt werden. Jeder würde sich bemüßigt sehen, seine Nase in die Angelegenheit zu stecken und herauszufinden, wem der Knochen gehört haben mochte. Wahrscheinlich würden die Leute anfangen, sich wegen seiner Mutter aufzuregen, wie sie es bereits im Fall der Hexenmeisterin taten.
So weit durfte es Oba, ein neuer Mensch und Mann der Tat, wohl kaum kommen lassen. Oba war ein bedeutender Mann, und bedeutende Männer schritten zur Tat, gingen die Probleme an, so wie sie sich ergaben, rasch, effektiv und ohne Zögern.
Oba packte Mr. Tuchmann im Genick und setzte seinem Rückzug ein Ende. Der Mann wehrte sich nach Leibeskräften, hatte aber trotz seiner Körpergröße und Drahtigkeit Obas Kraft und Schnelligkeit nichts entgegenzusetzen.
Vor Anstrengung ächzend, rammte Oba Mr. Tuchmann sein Messer in den Leib. Der Mund des Mannes klaffte auf, und seine stets so klaren, interessierten Augen weiteten sich ebenfalls, erfüllt von einem Ausdruck des Entsetzens.
Oba folgte dem verhaßten Mr. Tuchmann hinunter zum Boden. Die beiden hatten viel zu erledigen, aber harte Arbeit hatte Oba noch nie gescheut. Zuallererst galt es, sich dieses widerspenstigen kraushaarigen Schnüfflers zu entledigen, danach war die Frage seines Wagens zu klären. Wahrscheinlich würden irgendwelche Leute auftauchen, um nach ihm zu suchen. Obas Leben begann kompliziert zu werden.
Im Grunde hatte Oba überhaupt nichts gegen Mr. Tuchmann – trotz seines unverschämten und rechthaberischen Gebarens. Schuld war allein diese widerwärtige Hexenmeisterin, die noch stets alles daransetzte, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Wahrscheinlich hatte sie aus dem Jenseits in der Unterwelt erst ihrer Mutter und dann Mr. Tuchmann eine Nachricht zukommen lassen, dieses Miststück.
Und das alles nur, weil er jetzt ein bedeutender Mann war, daran bestand für ihn kein Zweifel.
Vermutlich war es an der Zeit, Verschiedenes zu ändern. Oba konnte unmöglich hier bleiben und zulassen, daß ständig irgendwelche Leute vorbeischauten und ihm mit ihrer Fragerei den Nerv töteten. Er war ohnehin viel zu bedeutend, um sich länger an diesem nichtswürdigen Ort aufzuhalten.
Ächzend unternahm Mr. Tuchmann einen aussichtslosen Fluchtversuch. Höchste Zeit, befand Oba, daß dieser erbärmliche Witwer sich beim Hüter der Unterwelt zu seiner geisteskranken Mutter und der widerwärtigen Hexenmeisterin gesellte.
Nun endlich war der Augenblick gekommen, Oba konnte sein bedeutendes Leben als neuer Mensch selbst in die Hände nehmen und sich an interessantere Orte begeben.
Im selben Moment, als ihm klar wurde, daß er die Scheune nie wieder würde betreten, nie wieder den gefrorenen Misthaufen würde sehen müssen, den er – der unablässigen Nörgelei seiner Mutter zum Trotz – nicht mit der Schaufel hatte entfernen können, fiel ihm ein, daß er im Handumdrehen damit hätte fertig sein können, wenn er stattdessen die Breithacke benutzt hätte. Also, wenn das kein Ding war.