Oba fühlte sich schick mit seiner Kappe und der braunen Wolljacke, als er am Rand der engen Straßen entlanglief und dabei eine Melodie summte. Er mußte warten, bis ein Mann zu Pferd vorüber war, bevor er in Latheas Straße einbiegen konnte. Das Pferd drehte im Vorübergehen die Ohren in seine Richtung. Früher hatte Oba auch einmal ein Pferd besessen und ritt gern, seine Mutter hatte jedoch entschieden, daß Ochsen nützlicher waren und mehr Arbeit leisteten; allerdings waren sie nicht so gesellig.
Als er mit knirschenden Stiefeln über den verharschten Schnee der dunklen Straße ging, kam ihm ein Pärchen aus der anderen Richtung entgegen. Er sah sie an und überlegte, ob sie die Hexenmeisterin wohl wegen eines Heilmittels aufgesucht haben mochten. Die Frau wich ihm zur Seite hin aus, doch der Mann, der sie begleitete, hielt Obas Blick stand – nicht viele Männer taten das.
Ihre Art zu starren erinnerte Oba an die Ratte. Die Erinnerung ließ ihn schmunzeln – man lernte doch stets etwas hinzu. Beide, sowohl der Mann als auch die Frau, glaubten offenbar, sein Schmunzeln gelte ihnen. Als Oba daraufhin seine Kappe vor der jungen Dame zog, antwortete sie mit einem wenig überzeugenden Lächeln, was zur Folge hatte, daß er sich wie ein Possenreißer vorkam. Im Nu verschmolz das Paar wieder mit der Dunkelheit der Straße.
Oba stopfte die Hände in die Taschen seiner Jacke und wandte sich um. Es war ihm zuwider, im Dunkeln zu Latheas Haus gehen zu müssen; ein Besuch bei der Hexenmeisterin war auch ohne den Fußmarsch über ihren finsteren Pfad bereits furchterregend genug. Er entließ einen geplagten Seufzer in die frische Winterluft.
Es bereitete ihm keine Angst männlicher Stärke die Stirn zu bieten, aber gegen die Geheimnisse der Magie war er machtlos. Er wußte, welche Schmerzen Latheas Tränke bei ihm verursachten, Sie brannten, wenn man sie zu sich nahm und wenn man sie wieder von sich gab; sie waren nicht nur schmerzhaft, sondern bewirkten auch, daß er die Kontrolle über sich verlor und sich fühlte, als sei er nichts weiter als ein Tier. Es war erniedrigend.
Er hatte jedoch von anderen erzählen hören, die den Zorn der Hexenmeisterin erregt und ein weitaus schlimmeres Schicksal erlitten hatten – Fieberschübe, Blindheit, einen quälend langsamen Tod. Ein Mann hatte den Verstand verloren und war nackt in den Sumpf gerannt; man fand ihn von Schlangen zerbissen und tot, völlig aufgedunsen und violett angelaufen zwischen halb vermoderten Wasserpflanzen treibend. Oba konnte sich nicht vorstellen, was der Mann getan haben mochte, daß er ein solches Schicksal durch die Hexenmeisterin verdient hatte. Er hätte eben klüger sein und dem zänkischen alten Weib gegenüber mehr Vorsicht walten lassen müssen.
Manchmal verfolgten Oba die Dinge, die sie ihm mit ihrer Magie ohne Zweifel antun konnte, bis in seine Alpträume. Er stellte sich vor, Lathea könnte ihn aufgrund ihrer magischen Kräfte mit tausend Stichen durchbohren oder ihm gar das Fleisch von den Knochen reißen, ihm die Augen im Kopf verdampfen oder seine Zunge so weit anschwellen lassen, bis er würgend und hustend langsam und qualvoll daran erstickte.
Mit hastigen Schritten eilte er über den Pfad. Je eher er die Sache anging, desto schneller hätte er sie hinter sich. Das hatte Oba inzwischen gelernt.
Beim Haus angelangt, klopfte er an und rief, »Ich bin’s, Oba Schalk. Meine Mutter schickt mich wegen ihrer Medizin.«
Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt weit, so daß Lathea zu ihm herausspähen konnte. Er fand, als Hexenmeisterin sollte sie ihn eigentlich sehen können, ohne vorher die Tür zu öffnen. Manchmal, wenn jemand vorbeikam, während er darauf wartete, daß Lathea ihre Arzneien zusammenmischte, öffnete sie ganz einfach die Tür. Aber wenn Oba kam, schaute sie jedes Mal erst nach, um sich zu vergewissern, daß er es war.
»Oba.« Der Verdruß über das Wiedersehen war ihrer Stimme ebenso anzumerken wie ihrem Gesichtsausdruck.
Die Tür ging auf, um ihn einzulassen. Vorsichtig, voller Respekt, trat Oba ein. Er sah sich um, obwohl er das Haus gut kannte, sorgfältig darauf bedacht, ihr gegenüber nicht zu vorlaut aufzutreten; sie dagegen hegte ihm gegenüber nicht die geringste Angst und drängte ihn mit einem Klaps auf die Schulter, weiter ins Zimmer zu treten, damit sie genug Platz hatte, die Tür zu schließen.
»Wieder mal die Knie deiner Mutter, ja?«, erkundigte sich die Hexenmeisterin.
Oba nickte, den Blick starr auf den Boden gerichtet. »Sie sagt, sie tun ihr weh, und sie hatte gern etwas von Eurer Medizin.« Er wußte, daß er ihr den Rest nicht vorenthalten durfte. »Sie bittet Euch ... ihr auch für mich etwas mitzugeben.«
Lathea lächelte auf die ihr eigene, durchtriebene Art. »Etwas für dich, Oba?«
Oba war absolut sicher, daß sie ganz genau wußte, was er meinte. Es gab überhaupt nur zwei Heilmittel, derentwegen er sie jemals aufsuchte, eines für seine Mutter und das andere, das für ihn bestimmt war. Aber es gefiel ihr, ihn zu zwingen, es auszusprechen. Die Frau war gemein wie Zahnschmerzen.
»Und eine Arznei für mich, hat Mama gesagt.«
Ihr Gesicht kam näher, und sie linste zu ihm hoch. »Eine Arznei gegen Schlechtigkeit?« Ihre Stimme troff vor Spott. »Ist es das, Oba? Ist es das, was du für Mutter Schalk holen sollst?«
Er räusperte sich und nickte. Ihr Lächeln gab ihm das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein, also senkte er den Blick wieder zum Boden.
Latheas Blick verweilte auf ihm, und er fragte sich, was in ihrem gescheiten Kopf vorgehen mochte, welche verschlagenen Gedanken und finsteren Machenschaften dort entstanden. Schließlich entfernte sie sich, um die Zutaten zu holen, die sie in dem hohen Schrank aufbewahrte; die grobe Fichtenholztür knarrte, als sie aufgezogen wurde. Lathea legte ein paar Fläschchen in ihre Armbeuge und trug sie zum Tisch in der Mitte des Raumes.
»Sie gibt niemals auf, was Oba?« Ihre Stimme war tonlos geworden, so als spräche sie zu sich selbst. »Sie versucht es immer wieder, obwohl sich an dem, was ist, dadurch niemals etwas ändern wird.«
Oba.
Eine Öllampe auf dem von Schrägen gestützten Tisch beleuchtete die Fläschchen, als sie eines nach dem anderen dort abstellte. Lathea brütete irgend etwas aus – wahrscheinlich, welch abscheuliches Gebräu sie ihm diesmal zusammenmischen könnte, in welch ekelhaften Zustand sie ihn versetzen sollte, um ihn von seiner allgegenwärtigen Verdorbenheit zu erlösen.
Die Eichenscheite im Kamin waren in der flackernden Glut des Feuers aufgeplatzt und gaben nicht nur eine angenehme Wärme ab, sondern auch Licht. Oba und seine Mutter hatten nur eine einfache Feuergrube mitten in ihrer Hütte, deshalb gefiel es ihm, wie der Rauch in Latheas offenem Kamin sogleich durch den Schornstein und aus dem Haus abzog, statt erst einmal im Raum zu stehen, bevor er sich allmählich durch ein winziges Loch in der Decke einen Weg nach draußen suchte. Oba hätte gern einen richtigen offenen Kamin gehabt und fand, er sollte für sich und seine Mutter einen bauen. Wenn er bei Lathea weilte, merkte er sich jedes Mal genau, wie ihr Kamin konstruiert war – aus dem wichtigen Bedürfnis heraus, ständig dazuzulernen.
Außerdem behielt er Latheas Rücken im Auge, während sie aus den Fläschchen Flüssigkeit in einen Krug mit weiter Öffnung goß. Sie verrührte die Mischung mit einem gläsernen Stab und gab nach und nach die einzelnen Ingredienzien hinzu. Als sie zufrieden war, füllte sie die Medizin in ein Fläschchen um und verschloß es mit einem Korken.
Dieses kleine Fläschchen reichte sie ihm nun mit den Worten, »Für deine Mutter.«
Oba händigte ihr die Münze aus, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte. Seine Augen fest im Blick, ließ sie die Münze mit ihren knotigen Fingern in eine Tasche ihres Kleides gleiten. Oba atmete erleichtert auf, als sie sich wieder dem Tisch und ihrer Arbeit zuwandte. Sie nahm einige Fläschchen zur Hand und prüfte sie im Schein des Feuers, bevor sie mit dem Zusammenmischen seiner Arznei begann. Seine verfluchte Arznei.
Oba unterhielt sich äußerst ungern mit Lathea, doch wenn sie schwieg, war ihm noch weit unbehaglicher zumute; es machte ihn nervös. Obwohl ihm im Grunde nichts einfiel, das zu sagen sich gelohnt hätte, entschied er sich schließlich dennoch, etwas zu sagen.
»Mama wird sich über ihre Medizin bestimmt freuen. Sie hofft, daß sie ihren Knien hilft.«
»Und hofft sie auch auf eine Arznei, die ihren Sohn kuriert?«
Oba zuckte mit den Achseln; er bedauerte seinen Versuch zu einer zwanglosen Plauderei bereits. »Ja, Ma’am.«
Die Hexenmeisterin warf ihm einen viel sagenden Blick über die Schulter zu. »Ich habe Mutter Schalk bereits mehrmals erklärt, daß sie meiner Meinung nach nichts nützen wird.«
Der Ansicht war Oba auch, zumal er ohnehin nicht glaubte, daß es da etwas gab, das geheilt werden mußte. Als kleines Kind hatte er immer geglaubt, seine Mutter wisse es am besten und würde ihm die Arznei nicht geben, wenn er sie nicht wirklich brauchte, inzwischen aber waren ihm Zweifel gekommen.
»Aber sie macht sich bestimmt Sorgen um mich. Sie versucht es immer wieder.«
»Vielleicht hofft sie, dich mit Hilfe der Arznei loszuwerden«, bemerkte Lathea ein wenig geistesabwesend, da sie so vertieft in ihre Arbeit war.
Oba.
Oba hob den Kopf, starrte auf den Rücken der Hexenmeisterin. Auf den Gedanken war er nie gekommen! Vielleicht hoffte Lathea ja sogar selbst, daß die Medizin sie beide von dem Bankert erlösen würde. Ab und zu besuchte seine Mutter Lathea, womöglich hatten sie darüber gesprochen.
Hatte er ganz naiv geglaubt, die beiden Frauen versuchten ihm etwas Gutes zu tun, ihm zu helfen, obwohl in Wahrheit genau das Gegenteil zutraf? Vielleicht hatten die beiden einen Plan ausgeheckt? Womöglich hatten sie schon die ganze Zeit versucht, ihn heimlich zu vergiften?
Wenn ihm etwas zustieße, müßte seine Mutter ihn nicht länger unterstützen. Sie beklagte sich ja ohnehin ständig darüber, wie viel er aß. Immer wieder hielt sie ihm vor, daß sie mehr für seinen Unterhalt schuftete als für ihren eigenen und deshalb seinetwegen niemals etwas zurücklegen konnte. Wenn sie das Geld statt dessen zurückgelegt hätte, das sie in all den Jahren für seine Medizin ausgegeben hatte, hätte sie vielleicht längst einen beruhigenden Notgroschen beisammen.
Andererseits, wenn ihm etwas zustieße, müßte seine Mutter die ganze Arbeit allein machen.
Vielleicht taten die beiden Frauen es einfach aus purer Gemeinheit.
Oba beobachtete den flackernden Feuerschein, der über das feine, glatte Haar der Hexenmeisterin spielte. »Mama meinte heute, sie hätte längst tun sollen, was Ihr ihr von Anfang an geraten habt.«
Lathea, damit beschäftigt, eine sämige bräunliche Flüssigkeit in den Krug umzufüllen, sah über ihre Schulter. »Ach, hat sie das?«
Oba.
»Was war das eigentlich, das Ihr Mama von Anfang an geraten habt?«
»Liegt das nicht auf der Hand?«
Oba.
Als es ihm dämmerte, überlief es ihn eiskalt.
»Ihr meint, sie hätte mich umbringen sollen?«
Nie zuvor hatte er sich herausgenommen, eine solche Dreistigkeit so offen auszusprechen. Nicht ein einziges Mal hatte er es gewagt, auf welche Weise auch immer, der Hexenmeisterin die Stirn zu bieten – dafür hatte er viel zu große Angst vor ihr. Diesmal aber waren ihm die Worte einfach durch den Kopf geschossen, ganz wie die Stimme, und er hatte sie ausgesprochen, bevor sich eine Gelegenheit bot, zu überlegen, ob das klug war oder nicht.
Lathea hatte er damit noch mehr überrascht als sich selbst. Sie zögerte über ihren Fläschchen und sah ihn an, als wäre er vor ihren Augen zu einem anderen Menschen geworden. Und vielleicht stimmte das ja sogar.
In diesem Augenblick wurde ihm klar, daß es ihm gefiel, seine Meinung offen auszusprechen.
Er hatte Lathea noch nie unsicher werden sehen, was möglicherweise daran lag, daß sie sich sicher fühlte, wenn sie geschickt um den heißen Brei herumredete und sich hinter den Worten verschanzte, ohne jemals erleben zu müssen, daß irgend etwas offen ausgesprochen wurde.
»War es das, was Ihr ihr immer geraten habt, Lathea? Daß sie ihren kleinen Bankert töten soll?«
Ein gequältes Lächeln umspielte ihre dünnen Lippen. »Es war nicht so, wie du es klingen machst, Oba.« Alles niederträchtig Schleppende, aller Hochmut war aus ihrem Tonfall gewichen. »Ganz und gar nicht.« Mehr als je zuvor sprach sie jetzt mit ihm wie mit einem Mann, statt ihn als den kleinen bösartigen Bankert zu behandeln, den sie bestenfalls duldete; sie klang fast freundlich. »Manchmal stehen sich Frauen ohne ihr Neugeborenes besser. Es ist nicht so schlimm, wenn das Kleine gerade geboren ist. Dann ist es ... noch keine so weit entwickelte Persönlichkeit.«
Oba. Gib dich hin.
»Mit anderen Worten, es ist einfacher.«
»Ganz genau«, bestätigte sie, seine Worte geradezu begierig aufgreifend. »Es wäre einfacher.«
Jetzt war es seine Stimme, die bedächtiger wurde und eine Schärfe annahm, die er sich zuvor niemals zugetraut hätte. »Ihr meint also, es wäre einfacher ... bevor sie groß genug sind, um sich dagegen zu wehren.«
Das Ausmaß seiner verborgenen Talente erstaunte ihn; dies war ein Abend wundersamer Neuerungen.
»Unsinn, nein, das meinte ich keineswegs.« Er dagegen fand sehr wohl, daß sie das meinte. Ihre Stimme, in der sich ein neu gewonnener Respekt für ihn widerspiegelte, wurde hektischer, bekam fast etwas Eindringliches. »Ich wollte damit nur sagen, daß es einfacher ist, bevor eine Frau ihr Kind zu lieben beginnt. Du weißt schon, bevor das Kind zu einer Persönlichkeit wird. Einer echten Persönlichkeit, mit einem eigenen Verstand. Dann ist es einfacher, und manchmal ist es für die Mutter so am besten.«
Oba war im Begriff, etwas Neues zu lernen, aber noch bekam er seine Gedanken nicht recht geordnet, spürte aber daß das Lernen neuer Dinge von größter Wichtigkeit war, daß er an der Schwelle zu wahrer Erkenntnis stand.
»Wieso ist es so für sie am besten?«
Lathea ließ vom Umfüllen der Flüssigkeit ab und stellte das Fläschchen fort. »Nun, manchmal bedeutet es Not und Mühsal, ein Kind zu bekommen. Für beide. Manchmal ... ist es für beide wirklich das Beste.«
Sie ging entschlossenen Schritts zum Schrank. Als sie mit einem weiteren Fläschchen zurückkehrte, trat sie um den Tisch herum auf die andere Seite, um ihm nicht länger den Rücken zuzukehren. Die meisten Zutaten seiner Arzneien waren Pulver oder Flüssigkeiten, und er hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Das Fläschchen, das sie mitgebracht hatte, enthielt eines der wenigen Dinge, die er wiedererkannte, die getrockneten Stengel der Bergfieberrose. Sie sahen aus wie braune verschrumpelte kleine Kreise mit einem Stern in der Mitte. Des Öfteren mischte sie einen davon unter seine Medizin, doch diesmal schüttete sie eine größere Menge in ihre hohle Hand, zerdrückte sie in der Faust und ließ die feinen braunen Krümel in die Arznei rieseln, die sie gerade zusammenmischte.
»Das Beste für beide, ja?«, fragte Oba.
Sie schien nicht zu wissen, was sie mit ihren Fingern anfangen sollte. »Ja, manchmal.« Offenbar wollte sie nicht weiter darüber sprechen, sah aber keine Möglichkeit, das Gespräch zu beenden. »Manchmal bedeutet es größere Not, als eine Frau ertragen kann, das ist alles – eine Not, die sie selbst und ihre anderen Kinder gefährdet.«
»Aber Mama hat keine anderen Kinder.«
Lathea verstummte für einen Augenblick.
Gib dich hin, Oba.
Er horchte auf die Stimme, die Stimme, die sich irgendwie völlig gewandelt hatte.
»Nein, aber trotzdem warst du ein großes Ungemach für sie. Es ist für eine Frau schwer, ein Kind allein großzuziehen. Erst recht ein Kind ...« Sie fing sich, setzte noch einmal an. »Ich wollte damit nur sagen, daß es oft schwierig ist.«
»Aber sie hat es getan. Schätze, Ihr habt Euch getäuscht. Ist es nicht so, Lathea? Ihr habt Euch geirrt. Nicht Mama – Ihr. Mama wollte mich.«
»Abgesehen davon war sie nie verheiratet«, fiel sie ihm barsch ins Wort. Ihr Zornesausbruch hatte das Feuer hochmütiger Autorität in ihren Augen aufs Neue entfacht. »Wenn sie ... wenn sie geheiratet hätte, möglicherweise hätte sie dann die Gelegenheit gehabt, eine vollständige Familie zu bekommen statt nur einen ...«
»Einen kleinen Bankert?«
Diesmal enthielt sich Lathea einer Antwort. Sie schien zu bedauern, daß sie ihre Meinung geäußert hatte; das zornige Funkeln in ihren Augen erlosch. Mit leicht zittriger Hand schüttete sie eine weitere Portion der getrockneten Blumenstengel in ihre Handfläche, zerdrückte sie rasch in der Faust und ließ sie in die Arznei rieseln. Dann wandte sie sich um und tat, als betrachtete sie die Flüssigkeit in dem blauen Glasfläschchen im Schein der Flammen ihres offenen Kamins.
Oba machte einen Schritt in Richtung Tisch. Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen.
»Gütiger Schöpfer ...«, hauchte sie, als sie seine Augen sah. Er merkte, daß sie nicht zu ihm, sondern zu sich selber sprach. »Manchmal, wenn ich in diese blauen Augen schaue, sehe ich ihn geradezu vor mir...«
Trotz seines wütenden Blicks runzelte Oba die Stirn.
Das Fläschchen glitt ihr aus der Hand, fiel auf den Tisch und rollte weiter, bis es auf den Boden schlug und dort zerschellte.
Oba. Gib dich hin. Gib deinen Willen hin.
Das war neu. Das hatte die Stimme noch nie zuvor gesagt.
»Ihr wolltet, daß Mama mich tötet, nicht wahr, Lathea?«
Er machte einen weiteren Schritt in Richtung Tisch.
Lathea erstarrte. »Keinen Schritt weiter, Oba.«
Aus ihren Augen, ihren kleinen Rattenaugen, sprach nackte Angst. Das war eindeutig neu! Er lernte fast schneller Neues hinzu, als er sich das alles merken konnte.
Dann sah er, wie sie ihre Hände hob, die Waffen einer Hexenmeisterin. Oba zögerte. Er stand da, auf der Hut, die Wachsamkeit in Person.
Gib dich hin, Oba, und du wirst unbesiegbar sein.
Das war nicht nur neu, das war geradezu alarmierend.
»Ich glaube, Ihr wollt mich mit Euren ›Arzneien‹ umbringen, hab ich Recht, Lathea? Ihr wollt, daß ich sterbe.«
»Ach was, Oba. Unsinn, das stimmt nicht. Ich schwöre, so ist es nicht.«
Ein weiterer Schritt – um die Verheißungen der Stimme auf die Probe zu stellen.
Sie hob die Hände, während ein Lichtschein rings um ihre zu Krallen gebogenen Finger zu Leben erwachte. Die Hexenmeisterin beschwor Magie herauf.
»Oba« – ihre Stimme klang jetzt kräftiger, fester –, »bleib endlich, wo du bist.«
Gib dich hin, Oba, und du wirst unbesiegbar sein.
Oba spürte, wie er im Vorwärtsgehen mit der Hüfte gegen den Tisch stieß. Klirrend und scheppernd stießen die Krüge aneinander; einer von ihnen geriet gefährlich ins Wanken, um dann tatsächlich zu kippen und seine dicke, rote Flüssigkeit zu verschütten.
Plötzlich war Latheas Gesicht verzerrt vor lauter Haß, vor Wut und Anstrengung. Sie warf ihre zu Krallen gebogenen Hände nach vorn, in seine Richtung, und schleuderte ihm ihre Kraft mit aller Macht entgegen.
Begleitet von einem heftigen Donnerschlag flammte ein Lichtblitz auf, dessen gleißende Helligkeit alles im Raum einen Lidschlag lang weiß aufleuchten ließ.
Er sah ein gelblich-weißes Licht auflodern, das die Luft zerteilte und auf ihn zugefaßt kam – ein todbringender Lichtblitz, ausgesandt, um zu töten.
Doch Oba spürte nichts.
Hinter seinem Rücken sprengte das Licht ein mannsgroßes Loch in die hölzerne Wand, schleuderte brennende Splitter in die Nacht hinaus; die Flammen erloschen jedoch ohne Ausnahme zischend im Schnee.
Oba faßte sich an die Brust, an die Stelle, auf die die volle Wucht ihrer Kraft gerichtet gewesen war: kein Blut, kein zerfetztes Fleisch. Er war unverletzt.
Dann fiel ihm auf, daß Lathea noch verwunderter darüber zu sein schien als er selbst. Sie hatte den Mund staunend geöffnet und starrte ihn mit großen Augen an.
Und diese Vogelscheuche hatte er sein Leben lang gefürchtet!
Aber Lathea hatte sich schnell wieder erholt, und abermals verzerrte sich ihr Gesicht vor Anstrengung, als sie die Hände nach oben riß. Diesmal bildete sich ein gespenstisch zischendes, bläuliches Licht, woraufhin die Luft nach versengtem Haar roch. Lathea kehrte die Handflächen nach oben, verströmte ihre tödliche Magie, schickte ihm den Tod. Eine Kraft, der vermeintlich kein Mensch zu widerstehen vermochte, schoß kreischend auf ihn zu.
Das blaue Licht verkohlte die Wände hinter ihm, er aber spürte wieder nichts. Oba grinste.
Abermals ließ Lathea die Arme kreisen, doch diesmal murmelte sie einen leisen Sprechgesang dazu aus halb verschluckten Worten, die er nicht verstand – blitzschnell leierte sie eine magische Drohung herunter. Eine Lichtsäule erstrahlte, bewegte sich schlängelnd vor ihm durch die Luft, eine Giftschlange von außergewöhnlicher Macht, zweifellos dazu bestimmt, zu töten.
Oba hob die Hände, um den sich windenden Strang knisternden Todes zu befühlen, den sie erzeugt hatte. Er fuhr mit den Fingern hindurch, spürte aber nichts. Es war, als ob er ein Wesen aus einer anderen Welt betrachtete.
Es war, als wäre er... unbesiegbar.
Begleitet von wütendem Geheul, riß sie abermals die Hände hoch.
Blitzschnell packte Oba sie bei der Kehle.
»Oba!«, kreischte sie. »Nicht, Oba, bitte!«
Das war neu. Nie zuvor hatte er Lathea »bitte« sagen hören.
Mit seiner fleischigen Hand zog er sie quer über den Tisch zu sich herüber. Flaschen und Krüge wurden umgeworfen, polterten zu Boden; manche prallten auf und rollten fort, andere zerbrachen wie rohe Eier.
Oba krallte eine Faust in Latheas strähniges Haar. Sie schlug ihm ihre Krallen ins Gesicht, versuchte verzweifelt von ihren Talenten Gebrauch zu machen; dabei sprach sie Worte, die eine flehentliche Bitte an die Magie selbst, an ihre Gabe, an ihre Macht als Hexenmeisterin sein mußten. Obwohl ihm die Worte selbst nichts sagten, begriff er ihre tödliche Absicht.
Doch Oba hatte sich hingegeben und war unbesiegbar geworden. Er hatte zugesehen, wie sie ihren Zorn entfesselt hatte, jetzt ließ er dem seinen freien Lauf.
Mühelos hob er sie hoch und stieß sie krachend gegen den Schrank; ihr Mund klaffte auf zu einem stummen Schrei.
»Warum wolltet Ihr, daß Mama mich beseitigt?«
Ihre einzige Antwort war eine rasche Folge keuchend vorgebrachter Schreie.
»Warum? Warum?«
Oba riß ihr das Kleid vom Leib; dabei fielen Münzen aus der Tasche, regneten auf den Fußboden.
»Warum?«
Er krallte seine Hand in das weiße Untergewand.
»Warum?«
Sie versuchte das Unterhemd an ihren Körper zu pressen, doch er riß es ihr gnadenlos herunter. Mit ausgezehrten Brüsten, schlaff wie welke Euter, stand die ehemals so mächtige Hexenmeisterin nun nackt vor ihm – und sie war ein Nichts.
Endlich fand sie ihre Stimme wieder und fing aus Leibeskräften an zu schreien. Mit zusammengebissenen Zähnen packte er sie bei den Haaren und stieß sie unbarmherzig gegen den Schrank, so daß das Holz splitterte und eine Flut von Flaschen herauspolterte. Eine herauspurzelnde Flasche schnappte er sich und zerschlug sie am Schrank.
»Warum, Lathea?« Er preßte ihr den abgebrochenen Flaschenhals an den Bauch. »Warum?« Mit einer schraubenden Bewegung bohrte er ihn in ihre weiche Körpermitte, woraufhin ihr Geschrei noch lauter wurde. »Warum?«
»Bitte ... oh, gütiger Schöpfer... bitte nicht.«
»Warum, Lathea?«
»Weil du«, jammerte sie, »der uneheliche Sohn eines Ungeheuers mit Namen Darken Rahl bist.«
Oba zögerte. Das war eine verblüffende Neuigkeit – vorausgesetzt, sie stimmte.
»Mama wurde vergewaltigt, das hat sie mir selbst einmal erzählt. Sie sagte, ich sei von irgendeinem Kerl gezeugt worden, den sie gar nicht kannte.«
»Oh, und ob sie ihn kannte. Als sie noch jünger war, arbeitete sie im Palast. Damals hatte deine Mutter große Brüste und noch viel größere Ideen, ziemlich unausgegorene Ideen. Sie war nicht klug genug, um zu erkennen, daß sie nichts weiter war als die Zerstreuung eines Mannes für eine einzige Nacht, eines Mannes, der über einen unerschöpflichen Vorrat an Frauen verfügte – solche, die willig waren, wie sie, und solche, die es nicht waren.«
Das war ganz entschieden etwas Neues. Darken Rahl galt damals als der mächtigste Mann der Welt. War es möglich, daß das edle Blut der Rahls in seinen Adern floß? Was das bedeutete, war so Schwindel erregend, daß sich ihm der Kopf drehte.
Vorausgesetzt, die Hexenmeisterin sagte die Wahrheit.
»Meine Mutter wäre dort geblieben, im Palast des Volkes, wenn sie Darken Rahls Sohn zur Welt gebracht hatte.«
»Du bist nicht ein mit der Gabe gesegneter Nachkomme.«
»Aber trotzdem, wenn ich sein Sohn wäre ...«
Trotz ihrer Schmerzen gelang es ihr, ihn auf diese gewisse Weise anzulächeln, die ihm zu verstehen gab, daß er in ihren Augen nichts als Dreck war. »Du bist nicht mit der Gabe gesegnet, deinesgleichen war für ihn stets nur Ungeziefer. Er hat alle, die er fand, unerbittlich ausgemerzt. Auch dich und deine Mutter hätte er zu Tode gefoltert, wenn er von deiner Existenz gewußt hätte. Nachdem sie das erfahren hatte, ist deine Mutter geflohen.«
Oba wurde geradezu überschwemmt mit Neuigkeiten; sie begannen bereits, sich in seinem Kopf zu einem wirren Durcheinander zu vermischen.
Er zog die Hexenmeisterin ganz nah zu sich heran. »Darken Rahl war ein mächtiger Zauberer. Wenn es stimmt, was Ihr sagt, dann hatte er uns nachgestellt.« Abermals stieß er sie heftig gegen den Schrank, rüttelte sie dann, um eine Antwort aus ihr herauszubringen. »Ganz bestimmt!«
»Hat er auch, nur konnte er die Lücken in der Welt gar nicht sehen.«
Sie verdrehte die Augen, denn ihr zerbrechlicher Körper war Obas Kräften nicht gewachsen; Blut sickerte aus ihrem rechten Ohr.
»Was?« Oba kam zu dem Schluß, daß Lathea mittlerweile offenbar wirres Zeug daherredete.
»Nur Althea kann ...«
Ihr Kopf kippte zur Seite. »Ich hätte ... uns alle retten sollen ... als ich noch die Gelegenheit dazu hatte. Althea hat sich getäuscht...«
Er rüttelte sie erneut, versuchte sie so zum Weitersprechen zu bewegen, doch aus ihrer Nase schäumte in roten Bläschen Blut. Obwohl er sie anbrüllte, sie aufforderte weiterzureden, sie schüttelte, brachte sie kein Wort mehr heraus. Voller Wut starrte er in ihre leeren Augen.
Oba mußte an all das brennende Pulver denken, das er hatte trinken müssen, an die Tränke, die sie ihm zusammengemischt hatte, an die Tage, die er im Verschlag zugebracht hatte; er mußte an die zahllosen Male denken, die er sich die Eingeweide aus dem Leib gekotzt und das Brennen immer noch nicht nachgelassen hatte.
Knurrend hob Oba die hagere Frau hoch, schleuderte sie mit einem wütenden Aufschrei gegen die Wand, schleuderte sie auf den schweren, aufgebockten Tisch, zerbrach diesen – und sie gleich mit. Mit jedem Aufprall wurde ihr Körper schlaffer, floß mehr Blut. Ihre Schreie waren Öl auf die Flammen seiner Rache, und er weidete sich an ihrer hilflosen Qual. Dabei hatte Oba gerade erst angefangen, sich an ihr auszutoben.