22

Jennsen stand da wie versteinert, die plötzlich verschlossene Tür nur wenige Zoll vor ihrem Gesicht.

Von drinnen vernahm sie die Stimme einer Frau. »Wer war das, Friedrich?«

»Du weißt sehr gut, wer das war.« Friedrichs Stimme klang vollkommen anders als während des kurzen Wortwechsels mit Jennsen. Jetzt klang sie liebevoll, respektvoll, vertraulich.

»Nun laß sie schon herein.«

»Aber Althea, du kannst unmöglich ...«

»Laß sie herein, Friedrich.« Die Frauenstimme hatte einen tadelnden Unterton, ohne dabei barsch zu klingen.

Jennsen spürte eine Woge der Erleichterung. Die Liste mit Argumenten, die sie sich zurechtgelegt hatte, während sie drauf und dran war, abermals anzuklopfen, löste sich auf in nichts. Die Tür ging auf, etwas weniger schwungvoll diesmal.

Friedrich blickte zu ihr heraus, nicht etwa wie ein geschlagener oder gescholtener Mann, eher wie jemand, der bereit war, seinem Schicksal mit Würde entgegenzutreten.

»Bitte komm herein, Jennsen«, forderte er sie in einem ruhigeren, herzlicheren Tonfall auf.

»Vielen Dank«, erwiderte Jennsen etwas erstaunt und beunruhigt, daß er ihren Namen kannte.

Sie erfaßte alles mit einem Blick, als sie ihm ins Haus hinein folgte. Trotz der im Sumpfgebiet herrschenden Hitze verlieh das kleine Feuer, das im offenen Kamin knisterte, der Luft einen süßlichen Geruch sowie ein angenehmes Gefühl von Trockenheit; das war der vorherrschende Eindruck, nicht etwa Wärme, sondern Trockenheit. Die Möbel waren einfach, aber gut gearbeitet und mit Schnitzmustern verziert. Der Wohnraum besaß nur zwei kleine Fenster, jeweils in den gegenüberliegenden Seitenwänden. Nach hinten hinaus gab es noch weitere Zimmer, und in einem von ihnen stand, vor einem weiteren kleinen Fenster, eine Werkbank mit säuberlich darauf angeordneten Werkzeugen.

Jennsen konnte sich nicht an das Haus erinnern, sofern es denn überhaupt dasselbe Haus war. Ihre Erinnerung an den Besuch bei Althea setzte sich eher aus Eindrücken von freundlichen Gesichtern zusammen und nicht so sehr aus Bildern eines konkreten Ortes. Die Wände mit den zahlreichen Dingen, an denen sie ihre Augen weiden lassen konnte, kamen ihr vertraut vor. Überall sah man geschnitzte Figuren von Vögeln, Fischen und anderen Tieren; manche der geschnitzten Figuren waren bemalt, andere im Naturzustand belassen, Federn, Schuppen und Fell jedoch so detailliert wiedergegeben, daß sie fast wie durch Magie zu Holz erstarrte Lebewesen wirkten. Ein Wandspiegel war mit einem Sonnenaufgangssymbol verziert, dessen Strahlen abwechselnd vergoldet und versilbert waren.

Zum Kamin hin lag ein großes rotgoldenes Kissen auf dem Fußboden. Jennsens Blick wurde auf ein quadratisches, auf dem Boden vor dem Kissen liegendes Spielbrett mit einer vergoldeten Huldigung gelenkt. Sie glich genau der Huldigung, die sie selbst oft zeichnete, diese allerdings, das erkannte sie augenblicklich, war echt. Etwas seitlich davon lagen kleine Steinchen zu einem Stapel aufgehäuft.

In einem prunkvoll gearbeiteten Sessel mit hoher Lehne und geschnitzten Armstützen saß eine zierliche Frau mit großen, dunklen Augen, die um so eindrucksvoller wirkten, als sie von goldblonden, mit Grau durchsetzten Haaren umsäumt wurden. Das Haar umrahmte ihr Gesicht und fiel schwungvoll bis auf die Schultern. Ihre Handgelenke ruhten auf den Armstützen, während sie mit ihren schlanken Fingern anmutig über den Schwung der geschnitzten Schnecke an deren Enden strich.

»Ich bin Althea.« Ihre Stimme war sanft, enthielt aber unverkennbar einen Unterton von Autorität. Sie stand nicht auf.

Jennsen machte einen Knicks. »Madam, bitte verzeiht, daß ich so ungeladen und unerwartet hereinplatze.«

»Ungeladen vielleicht, aber gewiß nicht unerwartet, Jennsen.«

»Ihr kennt meinen Namen?« Zu spät merkte Jennsen, wie albern ihre Frage klingen mußte, die Frau war schließlich Hexenmeisterin.

Althea lächelte, was ihr durchaus vorteilhaft zu Gesicht stand. »Ich erinnere mich an dich. Eine Begegnung mit jemandem wie dir vergißt man nicht.«

Jennsen wußte nicht recht, was genau sie damit meinte, bedankte sich aber trotzdem bei ihr.

Das Lächeln auf Altheas Gesicht wurde strahlender, bis sich kleine Fältchen um ihre Augen bildeten. »Gütiger Himmel, du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Wäre da nicht das rote Haar, würde ich glatt meinen, ich wäre in der Zeit zurückgeeilt bis zu unserer letzten Begegnung, als sie genauso alt war wie du jetzt.« Sie hielt ihre Hand ausgestreckt vor ihren Körper. »Dabei warst du damals gerade mal so groß.«

Jennsen spürte, daß ihr Gesicht so rot wurde wie ihr Haar.

»Und wie geht es ihr?«

Jennsen mußte schlucken. »Meine Mutter ... meine Mutter ist von uns gegangen.« Sie schlug, von Kummer übermannt, die Augen nieder. »Sie wurde ermordet.«

»Das tut mir sehr leid«, warf Friedrich ein, der hinter ihr stand. Er legte ihr mitfühlend eine Hand auf die Schulter. »Wirklich, das tut es. Ich kannte sie ein wenig, aus dem Palast. Sie war eine durch und durch anständige Person.«

»Wie ist das passiert?«, wollte Althea wissen.

»Sie haben uns schließlich doch noch geschnappt.«

»Euch geschnappt?« Althea reagierte leicht überrascht. »Wer denn?«

»Nun, die d’Haranischen Soldaten. Die Männer des Lord Rahl.«

Altheas Blick erfaßte wieder Jennsens Gesicht. »Es schmerzt mich, das zu hören. Liebes.«

Jennsen nickte. »Aber ich muß Euch warnen. Ich war bei Eurer Schwester...«

»Du hast sie vor ihrem Tod noch gesehen?«

Jennsen sah sie überrascht an. »Aber ja. Ich ging zu ihr, weil ich dringend Hilfe brauchte. Mir war eingefallen, daß meine Mutter den Namen einer Hexenmeisterin erwähnte, die uns vor langer Zeit einmal geholfen hat, aber dann habe ich wohl die Namen verwechselt, und so landete ich schließlich bei Eurer Schwester. Sie wollte mich nicht einmal empfangen und sagte, sie könne nichts für mich tun, da Ihr es gewesen wäret, die mir damals geholfen hätte. Deswegen mußte ich unbedingt herkommen.«

»Wie hast du überhaupt hergefunden?«, fragte Friedrich, mit einer Handbewegung auf den Pfad vor dem Haus deutend. »Du bist doch gewiß vom Weg abgekommen.«

»Ich bin doch gar nicht über diesen Weg gekommen, sondern hinten herum, durch den Sumpf.«

Jetzt machte sogar Althea ein erstauntes Gesicht. »Aber hinten herum existiert keinerlei Weg.«

»Na ja, einen richtigen Weg gibt es dort nicht, ich hab mich eben irgendwie durchgeschlagen.«

»Von dieser Seite aus kann niemand bis zu uns gelangen«, beharrte Althea. »Es gibt dort draußen Wesen, die diese Seite bewachen.«

»Ich weiß. Ich hatte einen Zusammenstoß mit einer riesigen Schlange ...«

»Du hast die Schlange gesehen?«, unterbrach Friedrich sie erstaunt.

Jennsen nickte. »Ich hielt sie für eine Wurzel und bin aus Versehen draufgetreten. Es kam zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf ich gezwungen war ein Bad zu nehmen.«

Die beiden sahen sie auf eine Weise an, die Jennsen nervös machte.

»Ja, schon gut«, meinte Althea, wegen der Schlange offenbar nicht weiter besorgt; sie winkte ab, so als wollte sie mit derart unwesentlichen Einzelheiten nicht behelligt werden, »aber du hast doch bestimmt auch die anderen Wesen gesehen.«

Jennsens Blick wanderte von Friedrichs großen Augen zu Altheas gerunzelter Stirn. »Außer der Schlange habe ich überhaupt nichts gesehen.«

»Die Schlange ist nichts weiter als eine Schlange«, erklärte Althea. »Dort unten gibt es aber auch sehr gefährliche Wesen, Wesen, die niemals jemanden durchlassen würden. Niemanden. Wie, im Namen der Schöpfung, konntest du dich nur an ihnen vorüberschleichen?«

»Welcher Art sind denn diese Wesen?«

»Magische Wesen«, antwortete Althea düster.

»Tut mir leid, aber ich kann Euch nicht mehr sagen, als daß ich durchgekommen bin und außer der Schlange nicht das Geringste gesehen habe.« Sie sah zur Decke, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. »Nur im Wasser ist mir noch etwas aufgefallen – merkwürdige Wesen, die unter der Wasseroberfläche lauerten.«

»Fische wahrscheinlich«, meinte Friedrich spöttisch.

»Und im Gebüsch auch – ich habe irgendwelche Wesen im Gebüsch gesehen. Also, direkt gesehen hab ich sie eigentlich nicht, aber ich sah, wie sich die Büsche bewegten, und wußte, daß sich dort drinnen etwas verbirgt. Sie sind allerdings nie aus ihrem Versteck herausgekommen.«

»Diese Wesen«, erklärte Althea. »verstecken sich nicht im Gebüsch, denn sie fürchten sich vor nichts. Sie wären hervorgekommen und hätten dich in Stücke gerissen.«

»Ich weiß auch nicht, warum sie es nicht getan haben«, erwiderte Jennsen. Ihr Blick fiel durch das Fenster auf den Rand der endlosen Fläche aus dunklen Gewässern im Schatten des Schlingpflanzengewirrs, und sie verspürte einen sorgenvollen Stich, als sie an ihren Rückweg dachte. Sebastians Leben stand auf dem Spiel, und sie empfand das sinnlose Gerede der Hexenmeisterin darüber, was in dem Sumpfgebiet hauste, als enttäuschend. Schließlich war es ihr gelungen, sich durchzuschlagen, offenbar war es also nicht ganz so unmöglich, wie die beiden ihr weismachen wollten. »Wieso lebt Ihr überhaupt hier draußen? Wenn Ihr so weise seid, warum lebt Ihr dann in diesem schlangenverpesteten Sumpf?«

Althea zog eine Braue hoch. »Weil ich es vorziehe, wenn meine Schlangen weder Arme noch Beine haben.«

Jennsen atmete tief durch und versuchte es erneut. »Ich bin zu Euch gekommen, Althea. weil ich dringend Eure Hilfe brauche.«

Althea schüttelte den Kopf, als wollte sie nichts davon hören. »Ich kann dir nicht helfen.«

Jennsen war verblüfft, daß ihre Bitte so mir nichts, dir nichts abgeschlagen wurde. »Aber Ihr müßt.«

»Tatsachlich?«

»Bitte, Ihr habt mir doch schon einmal geholfen, und jetzt brauche ich Eure Hilfe wieder. Ich bin mit meinem Latein am Ende und weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll. Ich weiß nicht einmal, warum Lord Rahl mich überhaupt umbringen will.«

»Weil du ein nicht mit der Gabe gesegneter Nachkömmling Darken Rahls bist.«

»Seht Ihr, jetzt habt Ihr genau den Grund genannt, weshalb es keinen Sinn ergibt, Ich bin nicht mit der Gabe gesegnet, wie könnte ich ihm also gefährlich werden? Wenn er tatsächlich ein so mächtiger Zauberer ist, was kann ich ihm dann überhaupt anhaben?«

Althea schüttelte erneut den Kopf. »Ich weiß es nicht, schließlich ist es nicht so, daß Lord Rahl zu mir käme, um seine Angelegenheiten mit mir zu besprechen.«

»Nachdem ich bei Eurer Schwester war und sie mir erklärt hatte, daß sie mir nicht helfen würde, ging ich noch einmal zurück, um ihr genau dieselbe Frage zu stellen, aber da hatten die Männer, die auch hinter mir her sind, sie bereits umgebracht. Offenbar befürchteten sie, sie könnte mir etwas verraten, also haben sie sie ermordet.« Jennsen strich sich mit den Händen über ihr Haar. »Das mit Eurer Schwester tut mir leid, wirklich, aber begreift Ihr nicht? Euer Wissen über diese Angelegenheit bringt Euch ebenfalls in Gefahr.«

Althea schien immer noch nicht überzeugt. »Bist du sicher, daß es Lord Rahls Männer waren? In den Steinen vermag ich das nicht zu erkennen ...«

»Sie sind in unser Haus eingedrungen und haben meine Mutter umgebracht. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen und gegen sie gekämpft. Es waren d’Haranische Soldaten.« Sie zog das Messer aus der Scheide an ihrem Gürtel und zeigte ihr die Klinge. »Einer von ihnen hatte dieses Messer bei sich.«

Althea betrachtete es mit größter Sorgfalt, sagte aber nichts.

Jennsen warf sich vor der Frau auf die Knie. »Althea, ich bitte Euch, ich brauche Eure Hilfe. Eure Schwester hat sich geweigert, mir zu helfen; sie meinte, das könntet nur Ihr. Sie sagte, nur Ihr wäret imstande, die Lücken in der Welt zu sehen. Was das bedeutet, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß es etwas mit dieser Geschichte, mit Magie zu tun hat. Bitte, ich bin wirklich unbedingt auf Eure Hilfe angewiesen.«

Die Hexenmeisterin schien verwirrt. »Und was, bitte, möchtest du, das ich für dich tue?«

»Versteckt mich, so wie damals, als ich noch klein war. Sprecht einen Bann über mich, damit niemand weiß, wer ich bin oder wo man mich finden kann – damit sie mir nicht folgen können. Ich will einfach nur in Frieden gelassen werden. Deshalb brauche ich diesen Bann, der mich für Lord Rahl unsichtbar macht.

Aber er käme nicht nur mir allein zugute. Ich benötige ihn auch, um einem Freund zu helfen. Ich brauche den Bann, um meine wahre Identität zu verbergen, damit ich noch einmal in den Palast des Volkes zurückkehren und ihn befreien kann.«

»Ihn befreien? Was soll denn das jetzt heißen? Wer ist dieser Freund überhaupt?«

»Sein Name ist Sebastian. Er hat mir zur Seite gestanden, als die Soldaten uns überfielen und meine Mutter umbrachten. Er hat mir das Leben gerettet und mich hierher gebracht, damit ich Euch besuchen kann. Er hat mich auf der ganzen weiten Reise begleitet und mir geholfen, hierher zu gelangen, damit ich Euch aufsuchen und die Hilfe erbitten kann, die ich so dringend brauche. Wir waren im Palast, um Friedrich zu suchen und von ihm zu erfahren, wo Ihr wohnt, und dabei haben die Palastwachen Sebastian gefangen genommen.

Versteht Ihr nicht? Er hat mir geholfen und wurde deswegen festgenommen. Man wird ihn ganz gewiß foltern. Er wollte mir helfen – es ist meine Schuld, daß er jetzt diese Scherereien hat. Bitte, Althea, ich benötige einen Bann, der mich gewissermaßen unsichtbar macht, damit ich noch einmal dorthin zurückkehren und ihn befreien kann.«

Althea starrte ungläubig vor sich hin. »Wie kommst du nur auf die Idee, ein Bann könnte so etwas leisten?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nichts darüber, wie Magie funktioniert, sondern nur, daß ich diese Hilfe unbedingt brauche – einen Bann, der meine wahre Identität verbirgt.«

Die alte Frau schüttelte den Kopf, als hätte sie es mit einer Geistesgestörten zu tun. »Magie funktioniert nicht so, wie du dir das vorstellst. Glaubst du vielleicht, ich brauche einfach nur ein Netz auszuwerfen, damit du anschließend einfach in den Palast hineinspazierst, und die Palastwachen geraten irgendwie unter diesen Bann und fangen an, dir sämtliche Türen aufzuschließen?«

»Nun ja, ich weiß nicht...«

»Natürlich nicht, deswegen sage ich dir ja, daß es so nicht funktioniert. Magie ist kein Schlüssel, der dir irgendwelche Türen öffnet. Magie ist nichts, das einfach so, mir nichts, dir nichts, irgendwelche Probleme löst. Magie würde diese Probleme nur verschlimmern. Wenn ein Bär in dein Zelt eingedrungen ist, bittest du schließlich auch nicht noch einen zweiten hinzu.«

»Aber Sebastian ist auf meine Hilfe angewiesen. Und ich bin auf die Hilfe von Magie angewiesen, um ihm diese Hilfe zu gewähren.«

»Angenommen, du spazierst einfach dort hinein, so wie du dir das vorstellst, und benutzt dabei eine Art ...«, sie fuchtelte mit der Hand, als suchte sie nach einem geeigneten Wort – »was weiß ich, magischen Staub oder so etwas, der dir Tür und Tor öffnet, um deinen Freund zu befreien, was, glaubst du wohl, würde passieren? Daß ihr zwei glücklich eures Weges gehen könntet, und die Geschichte damit erledigt wäre?«

»Na ja. ich weiß nicht... genau ...«

Althea beugte sich auf einen Ellbogen gestützt vor. »Meinst du nicht, die Leute, die den Palast verwalten, würden wissen wollen, wie es dazu kam, um zu verhindern, daß sich dergleichen wiederholt? Glaubst du nicht, daß ein paar vollkommen unschuldige Menschen, deren Aufgabe es ist, Türen zu bewachen, größten Ärger bekämen, wenn sie einen Gefangenen entkommen ließen und sie dafür büßen müßten? Denkst du vielleicht, die Palastbeamten würden ihren entlaufenen Gefangenen nicht wieder einfangen wollen? Meinst du nicht, daß sie nach einer Flucht, bei der solche Mittel angewendet wurden, glauben müßten, dein Freund sei weit gefährlicher als ursprünglich angenommen, ganz gleich, für wie bedrohlich sie ihn zuvor gehalten haben? Meinst du nicht, daß durch die zur Festnahme eines entflohenen Sträflings ergriffenen Maßnahmen auch so mancher vollkommen Unschuldige zu Schaden kommen könnte? Oder meinst du etwa, sie würden die Armee und die mit Gabe Gesegneten nicht ausrücken lassen, um das Gelände zu durchkämmen, noch bevor er sehr weit kommt?

Und meinst du nicht auch«, sagte die Hexenmeisterin schließlich in tiefstem Ernst, »daß ein so mächtiger Zauberer wie Lord Rahl, Herrscher über ganz D’Hara, für jeden, der es wagt, den Bann einer alten, bedauernswerten Hexenmeisterin gegen ihn einzusetzen – noch dazu in seinem eigenen Palast – eine überaus unangenehme, quälend langwierige und verhängnisvolle Überraschung auf Lager hätte?«

Jennsen starrte in die dunklen Augen, die sie durchdringend ansahen. »Das habe ich alles gar nicht bedacht.«

»Da sagst du mir wahrlich nichts Neues.«

»Aber ... was soll ich denn nur tun, um Sebastian zurückzubekommen? Wie kann ich ihm helfen?«

»Nun, ich schätze, du wirst dir etwas einfallen lassen müssen, um ihn zu befreien – vorausgesetzt, es ist überhaupt möglich –, allerdings muß es auf eine Weise geschehen, die allem, was ich dir soeben erklärt habe, sowie noch einigen anderen Dingen Rechnung trägt. Ein Loch in die Gefängnismauer zu schlagen, durch das er einfach in die Freiheit spaziert, damit würde man wohl nur schlafende Hunde wecken, meinst du nicht? Dadurch würdest du ebenso in Schwierigkeiten geraten wie durch Magie. Nein, du mußt dir überlegen, was sie überzeugen könnte, ihn von sich aus freizulassen. Dann werden sie dich nicht verfolgen, um ihn wieder einzufangen.«

Das alles klang durchaus vernünftig. »Und wie kann ich das bewerkstelligen?«

Die Hexenmeisterin zuckte mit den Achseln. »Ich möchte auf Folgendes wetten: Wenn es irgend möglich ist, wirst du es auch schaffen. Schließlich ist es dir bereits gelungen, zu einer prächtigen jungen Frau heranzuwachsen, den Quadronen zu entkommen und den Weg hierher zu finden, oder etwa nicht? Du hast also schon eine ganze Menge erreicht, mußt aber mit der nötigen Entschlossenheit zu Werke gehen. Eins solltest du jedoch tunlichst unterlassen, gleich von Anfang an im Wespennest herumzustochern.«

»Aber ich sehe nicht, wie mir das ohne die Hilfe von Magie gelingen soll. Ich bin ein Niemand.«

»Ein Niemand«, schnaubte Althea spöttisch und lehnte sich zurück. Sie wurde mehr und mehr zur ungeduldigen Lehrerin, deren Schülerin sich ungeschickt anstellt. »Du bist durchaus jemand; du bist Jennsen, ein kluges Mädchen, das seinen Kopf zu gebrauchen weiß. Du solltest dich nicht vor mir auf die Knie werfen, so tun, als hättest du von nichts eine Ahnung, und mir mit deinem Unvermögen in den Ohren liegen und im selben Atemzug darum bitten, ein anderer möge dir die Arbeit abnehmen.

Wenn du dein Leben lang auf andere angewiesen bleiben willst, dann laufe nur weiter herum und bitte andere, dir die Arbeit abzunehmen. Sie werden dir den Gefallen tun. du wirst jedoch feststellen, daß du einen Preis dafür bezahlen mußt, deine Entscheidungsfreiheit, deine Freiheit überhaupt, ja, dein ganzes Leben. Sie werden dir die Arbeit abnehmen, und als Folge davon wirst du ewig in ihrer Pflicht stehen, denn du hast deine Freiheit zu einem jämmerlichen Preis verscherbelt. Dann, und nur dann, wirst du ein Niemand sein, der immer nur auf andere angewiesen ist, und zwar weil du selbst es so gewollt hast, niemand sonst.«

»Aber vielleicht verhält es sich in diesem Fall ja ganz anders ...«

»Die Sonne geht im Osten auf; es gibt keine Sonderregelungen, nur weil du es gern so hättest. Ich weiß, wovon ich spreche, und ich sage dir, Magie ist keine Lösung.«

»Aber die Magie ...«

»Magie ist immer nur ein Mittel zum Zweck, aber keine Lösung.«

Jennsen ermahnte sich, nicht die Fassung zu verlieren, dabei hätte sie die Frau am liebsten bei den Schultern gepackt und geschüttelt, bis sie sich bereit erklärt hätte, ihr zu helfen. Doch anders als bei Lathea war sie diesmal nicht gewillt, sich diese Hilfe zu verscherzen. »Was meint Ihr damit, Magie ist keine Lösung? Magie ist mächtig.«

»Du besitzt doch ein Messer. Hast du es mir nicht selbst gezeigt?«

»Ja, richtig.«

»Angenommen, du bist hungrig, bedrohst du dann einen anderen damit, um ihm sein Brot wegzunehmen? Nein. Du bringst ihn dazu, dir Brot zu geben, indem du ihm im Gegenzug eine Münze überläßt.«

»Wollt Ihr damit sagen, Ihr glaubt, man könnte diese Leute bestechen?«

Noch ein Seufzer. »Nein. Nach allem, was ich weiß, kann ich dir versichern, daß sie sich nicht bestechen lassen – zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Dennoch besteht da im Prinzip eine gewisse Ähnlichkeit.

Wenn Friedrich Brot möchte, dann benutzt er sein Messer nicht, um es dem wegzunehmen, der welches hat – jedenfalls nicht auf diese Weise, wie du offenbar Magie benutzen willst. Er gebraucht statt dessen seinen Kopf und benutzt sein Messer als Werkzeug, um damit Figuren zu schnitzen und sie hinterher zu vergolden. Anschließend verkauft er, was er mit dem Messer hergestellt hat, und dieses Geld wiederum tauscht er gegen Brot ein.

Verstehst du jetzt? Würde er sein Messer – das Werkzeug – dazu benutzen, das Problem der Brotbeschaffung auf direktem Weg zu lösen, würde ihm das am Ende mehr schaden als nützen.«

»Dann meint Ihr also, ich müßte die Magie auf indirekte Weise benutzen, gewissermaßen als Werkzeug?«

Althea seufzte schwer. »Nein, mein Kind. Laß die Magie ganz aus dem Spiel. Gebrauche deinen Verstand. Magie bringt nichts als Scherereien. Gebrauche deinen Kopf.«

»Das hab ich bereits«, sagte Jennsen. »Es war nicht einfach, aber ich habe meinen Kopf gebraucht, um zu Euch zu kommen und Hilfe zu holen. Was ich jetzt brauche, ist ein Bann, den ich als Werkzeug benutzen kann.«

Althea wandte sich ab und schaute in den Kamin, in die lodernden Flammen. »Auf diese Weise kann ich dir nicht helfen. Ich kann es nicht tun, es steht nicht in meiner Macht.«

»Aber gewiß doch. Ihr habt es ja schon einmal getan.« Mit diesen Worten brach ein ganzes Leben voller Enttäuschungen und Ängste, voller Verluste und vergeblichem Bemühen aus ihr heraus, und sie fing bitterlich an zu weinen.

Althea vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »So glaub mir doch, ich kann keinen solchen Bann für dich sprechen.«

Jennsen unterdrückte ihre Tränen. »Bitte, Althea, ich möchte doch nur in Frieden gelassen werden. Ihr habt die Macht dazu.«

»Die habe ich keineswegs, das hast du dir in deiner Phantasie nur so zurechtgelegt. Ich habe dir auf die einzige Weise geholfen, die mir zur Verfügung steht.«

»Wie könnt Ihr nur einfach dasitzen, obwohl Ihr wißt, daß andere Menschen leiden und sterben – und mir Eure Hilfe verweigern? Wie könnt Ihr nur so selbstsüchtig sein, Althea?«

Friedrich schob eine Hand unter Jennsens Arm und bedeutete ihr damit aufzustehen. »Tut mir leid, aber du hast dein Anliegen vorgebracht und gehört, was Althea dazu zu sagen hat. Wenn du klug bist, wirst du das Gehörte beherzigen und dir selbst helfen. Jetzt ist es Zeit für dich zu gehen.«

Jennsen riß sich los. »Alles, was ich will, ist ein Zauber, der mir hilft! Wie kann sie nur so selbstsüchtig sein!«

Friedrichs Augen funkelten wütend, auch wenn seiner Stimme nichts davon anzumerken war. »Es steht dir nicht zu, so mit uns zu reden. Du weißt nichts, gar nichts, über all die vielen Opfer, die sie gebracht hat. Es wird Zeit für dich zu ...«

»Friedrich«, unterbrach ihn Althea milde, »warum brühst du uns nicht einen Tee auf?«

»Es gibt keinen Grund, dich ihr gegenüber zu irgendwelchen Erklärungen verpflichtet zu fühlen, Althea – ihr am allerwenigsten.«

Althea sah lächelnd zu ihm hoch. »Es ist schon in Ordnung.«

»Welche Erklärungen denn?«, fragte Jennsen.

»Mein Gemahl mag sich in deinen Ohren etwas schroff anhören, dabei möchte er nur vermeiden, daß ich dich belaste. Er weiß, daß viele Menschen unglücklich mit dem Wissen fortgehen, das ich ihnen gebe.« Sie wandte ihre dunklen Augen ihrem Gemahl zu. »Setzt du uns nun einen Tee auf?«

Friedrich gab sich schließlich geschlagen und nickte.

»Von welchem Wissen sprecht Ihr? Was verschweigt Ihr mir?«, fragte Jennsen.

Während Friedrich zum Küchenschrank ging und den Wasserkessel und Tassen herausnahm, die er auf den Tisch stellte, bedeutete Althea Jennsen, auf dem Kissen vor ihr Platz zu nehmen.

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