23

Jennsen machte es sich auf dem rotgoldenen Kissen bequem.

»Vor vielen Jahren«, begann Althea, ihre Hände im Schoß ihres schwarzweiß bedruckten Kleides faltend, »vor mehr Jahren, als du vielleicht glauben magst reiste ich mit meiner Schwester über die große Barriere unten im Süden in die Alte Welt.«

Jennsen entschied, daß es fürs Erste vielleicht am besten wäre, sich still zu verhalten und so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, statt immer wieder darauf zurückzukommen, daß sie bestimmte Dinge längst wußte, daß der neue Lord Rahl – entschlossen. Eroberungen zu machen – die große Barriere im Süden zerstört hatte, um in die Alte Welt einzufallen, und daß Sebastian aus der Alten Welt angereist war, um die Möglichkeiten auszuloten, wie Kaiser Jagang der Gerechte bei seinem Kampf gegen die d’Haranische Invasion unterstützt werden konnte. Wenn sie dies alles selbst ein wenig besser durchschaute, so ihr Hintergedanke, fand sie vielleicht doch noch einen Weg, Althea zu überzeugen, ihr zu helfen.

»Wir reisten in die Alte Welt, um dort einen Ort mit Namen Palast der Propheten aufzusuchen«, fuhr Althea fort. Auch das wußte Jennsen bereits von Sebastian. »Ich besitze die Gabe für eine sehr ursprüngliche Form der Prophezeiung. Darüber wollte ich so viel wie möglich in Erfahrung bringen, während meine Schwester vorhatte, sich über Heilverfahren und dergleichen kundig zu machen. Darüber hinaus aber wollte ich auch etwas über Menschen wie dich lernen.«

»Wie mich?«, fragte Jennsen. »Was wollt Ihr damit sagen?«

»Die Vorfahren Darken Rahls verhielten sich nicht anders als er, indem sie sämtliche nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen ausschalteten, von deren Geburt sie Wind bekommen hatten. Lathea und ich waren damals jung und voller Eifer, den Bedürftigen zu helfen, aber auch denen, die nach unserem Empfinden zu Unrecht verfolgt wurden. Mit Hilfe unserer Gabe wollten wir dazu beitragen, die Welt zum Besseren zu verändern. Obwohl wir beide ganz unterschiedliche Dinge zu studieren hofften, unternahmen wir diese Reise doch aus nahezu denselben Gründen.«

Jennsen fand, daß dies ihren Vorstellungen ziemlich nahe kam und exakt der Hilfe entsprach, von der sie die ganze Zeit redete, doch wußte sie auch, daß dies nicht der geeignete Augenblick war, um wieder davon anzufangen. Statt dessen fragte sie, »Wieso mußtet Ihr die weite Reise bis zum Palast der Propheten machen, um diese Dinge zu lernen?«

»Die Hexenmeisterinnen dort sind dafür berühmt, sich mit vielen Dingen auszukennen, mit Zauberern, mit Magie, am besten jedoch mit den Angelegenheiten, die diese Welt und die Welten jenseits davon betreffen.«

»Die Welten jenseits davon?« Jennsen zeigte auf die Fläche außerhalb des vergoldeten äußeren Rings der ganz in der Nähe liegenden Huldigung. »Ihr meint die Welt der Toten?«

Althea lehnte sich zurück und überlegte. »Nun ja, nicht ganz. Ist dir die Huldigung vertraut?« Althea wartete Jennsens Nicken ab, bevor sie fortfuhr. »Die Hexenmeisterinnen im Palast der Propheten besitzen Kenntnisse über die Wechselwirkung zwischen der Gabe und dem Schleier zwischen den Welten sowie ihrer jeweiligen Wechselbeziehung untereinander – wie eben all diese Dinge zusammengehören. Man nennt sie Schwestern des Lichts.«

Jennsen schoß Sebastians Bemerkung durch den Kopf, die Schwestern des Lichts hätten sich jetzt Jagang angeschlossen. Offenbar hatten sie etwas mit dem Licht des Schöpfers, vor allem aber mit der Gabe im Zentrum der Huldigung zu tun.

Dann kam ihr noch ein anderer Gedanke. »Hat das etwas mit Latheas Bemerkung zu tun? Daß Ihr im Stande seid, die ... Lücken in der Welt zu sehen, wie sie es nannte?«

In Altheas Lächeln zeigte sich die Freude eines Lehrers, der erkennt, daß sein Schüler kurz vor einer entscheidenden Erkenntnis steht. »Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Du mußt wissen, daß die nicht mit der Gabe gesegneten Nachkommen des Lord Rahl – eines jeden Lord Rahl, seit Tausenden von Jahren – sich von allen anderen Menschen unterscheiden. Für diejenigen unter uns, die mit der Gabe gesegnet sind, seid ihr Lücken in der Welt.«

»Was genau bedeutet das – Lücken in der Welt?«

»Wir sind blind in Bezug auf Euch.«

»Blind? Aber Ihr könnt mich doch sehen, und Lathea konnte mich ebenfalls sehen.«

»Nicht mit den Augen blind, sondern mit der Gabe.« Sie deutete mit einer ausladenden Geste erst auf den mit einem Eisenkessel am Feuer sitzenden Friedrich, dann zum Fenster.

»Überall gibt es lebendige Wesen. Du nimmst sie, genau wie ich und alle anderen auch, mit den Augen wahr – du siehst Friedrich und die Bäume und so weiter.« Sie hob zur Unterstreichung ihres Standpunkts ihren Zeigefinger. »Ich dagegen nehme sie auch über meine Gabe wahr.

Wiewohl es durchaus sein mag, daß unsere Augen euer Vorhandensein registrieren, können diejenigen unter uns, die die Gabe besitzen, euch mit dieser Seite ihrer Persönlichkeit trotzdem nicht wahrnehmen. Darken Rahl konnte dich nicht besser sehen als ich, und das Gleiche gilt für den neuen Lord Rahl. Für diejenigen unter uns, die die Gabe besitzen, bist du eine Lücke in der Welt.«

»Aber... aber«, stammelte Jennsen verwirrt, »das ist doch völlig unlogisch. Er hat mich verfolgt, er hat Männer ausgesandt, die mich ergreifen sollten – sie hatten sogar ein Stück Papier dabei, auf dem mein Name stand.«

»Mag sein, daß sie Jagd auf dich machen, aber nur im herkömmlichen Sinn. Es ist ihnen völlig unmöglich, dich mit den Mitteln der Magie zu finden. Er ist gezwungen, zusätzlich zu seiner Intelligenz und Gerissenheit Spione, Bestechungsgelder und Drohungen einzusetzen, um dich aufzuspüren. Verhielte es sich nicht so, brauchte er ja nur anstelle von Soldaten mit deinem Namen auf einem Stück Papier irgendein magisches Wesen loszuschicken, das dich für ihn aufgreift, und der Fall wäre erledigt.«

»Wollt Ihr damit etwa sagen, ich bin für ihn längst unsichtbar?«

»Nein. Ich kenne dich; ich erinnere mich an dein rotes Haar. Ich habe dich wiedererkannt, weil ich mich an deine Mutter erinnert habe und du ihr sehr stark ähnelst. Auf diese Art kenne ich dich – die Art, wie jeder einen anderen kennt und wiedererkennt. Lebte Darken Rahl noch, würde er dich vielleicht auch wiedererkennen – vorausgesetzt, er erinnerte sich noch an deine Mutter. Andere, die ihn kannten, könnten über die Ähnlichkeit mit deiner Mutter hinaus etwas von ihm in dir wiederfinden, so wie ich. Für uns, die wir die Gabe besitzen, gleichst du in vieler Hinsicht allen anderen Menschen, außer eben, daß du eine Lücke in der Welt bist.«

Jennsen hatte die Stirn nachdenklich in Falten gelegt, was ihr erst auffiel, als Althea ihre Daumen gegeneinander trommelte.

»Damals, während meines Aufenthalts im Palast der Propheten«, meinte sie schließlich, »lernte ich eine Frau namens Adie kennen, eine Hexenmeisterin wie ich. Sie war aus einem fernen Land allein in die Alte Welt gereist, um so viel wie möglich zu lernen. Doch Adie war blind.«

»Blind? Sie konnte allein auf Reisen gehen, obwohl sie blind war?«

Die Erinnerung an diese Frau ließ Althea versonnen lächeln. »Aber ja. Sie bediente sich dabei ihrer Gabe, nicht ihrer Augen. Alle Hexenmeisterinnen – überhaupt alle mit der Gabe Gesegneten – verfügen über außerordentliche Talente. Hinzu kommt, daß die Gabe sich nicht nur in ihren Erscheinungsformen unterscheidet, sondern diese Erscheinungsformen sind auch unterschiedlich stark ausgeprägt. Bei manchen ist sie sehr stark, bei anderen eher schwach. Jeder von uns ist ein individuelles Wesen. In Bezug auf unser besonderes Talent, die Gabe, sind wir allesamt einzigartig, ganz so wie du auf andere Weise einzigartig bist.«

»Und was war nun mit Eurer Freundin, dieser Adie?«

»Ja, richtig. Nun, Adies Gabe verriet ihr mehr über ihre Umgebung als meine Augen mir. Ganz so, wie nicht mit der Gabe gesegnete Blinde sich eher auf ihr Gehör verlassen und lernen, besser zu hören als du oder ich, verfuhr Adie mit ihrer Gabe. Sie sah, indem sie jenen winzig kleinen Funken der Gabe des Schöpfers spürte, der allen Wesen und Dingen innewohnt – dem Leben selbst, und überhaupt der ganzen Schöpfung. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Für mich, Darken Rahl und Adie existierst du einfach nicht. Du bist eine Lücke in der Welt.«

Jennsen fuhr ein Schrecken in die Glieder, aus Gründen, die sie zuerst gar nicht verstand. Dann, plötzlich, begann das Gefühl dieser entsetzlichen Angst allmählich Gestalt anzunehmen. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schössen.

»Der Schöpfer hat mir kein Leben eingehaucht, so wie allen anderen? Ich bin so etwas wie eine ... Mißgeburt? Mein Vater wollte mich töten lassen, weil ich so etwas wie eine Mißbildung der Natur bin?«

»Nein, nein, Kind«, sagte Althea und beugte sich vor, um ihr beschwichtigend mit der Hand übers Haar zu streichen, »das habe ich ganz und gar nicht damit sagen wollen. Hör mir erst einmal weiter zu.«

Jennsen nickte, sich die Tränen fortwischend. »Ich höre.«

»Der Umstand, daß du anders bist, macht dich noch nicht zu einem schlechten Menschen.«

»Und was bin ich dann letztlich?«

»Mein liebes Kind, du bist eine Säule der Schöpfung.«

»Aber gerade habt Ihr doch gesagt...«

»Ich sagte, daß die mit der Gabe Gesegneten dich mit ihr nicht wahrnehmen können. Ich habe weder behauptet, daß du nicht existierst, noch daß du nicht, wie wir anderen, Teil der Schöpfung bist. Eine Eule kann im Dunkeln sehen. Macht es dich etwa zu einem schlechten Menschen, daß die Menschen dich im Gegensatz zur Eule nicht sehen können? Die begrenzten Fähigkeiten eines Menschen machen einen anderen noch nicht schlecht. Bewiesen wird dadurch nur eins, daß unsere Fähigkeiten begrenzt sind.«

»Könnte es sein, daß die Lücken in der Welt, so wie ich, in Wahrheit eher selten sind?«

»Ja«, räumte Althea mit leiser Stimme ein.

Jennsen glaubte eine unterschwellige Anspannung hinter der einsilbigen Antwort zu erkennen. »Wollt Ihr damit andeuten, daß noch mehr dahinter steckt als die schlichte Tatsache, daß wir für die mit der Gabe Gesegneten Lücken in der Welt sind?«

»Ja. Das war einer der Gründe, weshalb ich die Schwestern des Lichts zu Studienzwecken aufsuchte. Ich wollte die Wechselwirkung zwischen der Gabe und dem Leben, wie wir es kennen – der Schöpfung –, besser verstehen lernen.«

»Konnten die Schwestern des Lichts Euch denn helfen?«

»Leider nein.« Althea schüttelte langsam den Kopf. »Das Ganze ist vielfältiger, Jennsen, als selbst ich es durchschaue. Ich habe den Verdacht, daß es dabei um etwas sehr viel Wichtigeres geht.«

Jennsen konnte sich nicht vorstellen, was das sein sollte. »Wie viele Nachkommen werden denn ganz ohne die Gabe geboren?«

»Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, geschieht es überaus selten, daß mehr als ein Nachkomme eines jeden Lord Rahl mit der Gabe, so wie wir sie uns vorstellen, geboren wird – sein Samen vermag nur einen einzigen echten Erben zu zeugen.« Althea beugte sich mit erhobenem Zeigefinger vor. »Möglich wäre aber, daß viele dieser anderen, obschon nach herkömmlichem Verständnis nicht mit der Gabe gesegnet, diesen ansonsten unsichtbaren und unnützen Funken der Gabe besitzen, so daß sie aufgespürt und vernichtet werden können, bevor andere wie ich überhaupt von ihrer Existenz erfahren.«

»Säulen der Schöpfung«, warf Jennsen voller Sarkasmus ein Althea lachte amüsiert. »Auf diese Weise klingt es vielleicht etwas freundlicher.«

»Aber für die mit der Gabe Gesegneten sind wir Lücken in der Welt.«

Altheas Lächeln erlosch. »So ist es. Wenn Adie hier wäre und du vor ihr stündest, sähe sie alles – nur dich nicht, in Bezug auf dich wäre sie blind. Für Adie, die allein mit Hilfe ihrer Gabe sehen kann, wärst du im wahrsten Sinne des Wortes eine Lücke in der Welt.«

»Das hebt nicht gerade mein Selbstwertgefühl.«

Altheas Lächeln kehrte zurück. »Verstehst du denn nicht, Kind? Es beweist lediglich die Beschränkung. Für einen Blinden ist jeder eine Lücke in der Welt.«

Jennsen dachte darüber nach. »Dann ist es also nur eine Frage der Wahrnehmung; es gibt Menschen, denen einfach die Fähigkeit fehlt, mich auf eine sehr eingeschränkte Weise wahrzunehmen.«

Althea bedachte sie mit einem einzigen knappen Nicken. »Genauso ist es. Aber weil die mit der Gabe Gesegneten ihr Talent oft ganz unbewußt benutzen, so wie du dein Sehvermögen, ist es für die mit der Gabe Gesegneten sehr verwirrend, jemandem wie dir zu begegnen.«

»Verwirrend? Warum denn verwirrend?«

»Weil es etwas Verstörendes hat, wenn die Sinneswahrnehmungen nicht übereinstimmen.«

»Aber sie können mich doch trotzdem noch sehen, wieso wirke ich dann verstörend auf sie?«

»Nun, stell dir vor, du hörst eine Stimme, könntest aber nicht feststellen, woher sie kommt.«

Das brauchte Jennsen sich nicht vorzustellen; sie wußte nur zu gut, wie verstörend das sein konnte.

»Oder stell dir vor«, fuhr die Hexenmeisterin fort, »du könntest mich zwar sehen, aber wenn du die Hand ausstrecktest, um mich zu berühren, griffe diese Hand durch mich hindurch, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden. Würde dich das nicht verstören?«

»Vermutlich schon«, mußte Jennsen zugeben. »Sind wir denn auch noch in anderer Hinsicht anders?«

»Das weiß ich nicht. Es geschieht äußerst selten, daß man jemandem wie dir noch zu Lebzeiten über den Weg läuft. Zwar ist es durchaus möglich, daß noch andere existieren, und einmal ist mir ein Gerücht zu Ohren gekommen, wonach einer von ihnen bei den Raug’Moss genannten Heilern gelebt haben soll, aber mit Gewißheit weiß ich nur von dir.«

Jennsen hatte die Heiler, die Raug’Moss, in sehr jungen Jahren zusammen mit ihrer Mutter aufgesucht. »Wißt Ihr seinen Namen?«

»Der Name, den man sich damals hinter vorgehaltener Hand erzählte, lautete Drefan, doch weiß ich natürlich nicht, ob er stimmt. Aber selbst wenn, wäre die Wahrscheinlichkeit überaus gering, daß er noch lebt.«

Jennsen dachte laut nach, »Wäre es möglich, daß wir so sind, um uns schützen zu können? Es gibt doch auch Tiere, die von Geburt an spezielle Eigenschaften besitzen, die ihnen im Überlebenskampf helfen. Rehkitze, zum Beispiel, haben Plätze, wo sie sich verstecken können, die sie für Räuber unsichtbar machen – also zu Lücken in der Welt.«

Die Vorstellung ließ Althea schmunzeln. »Ein überaus treffender Vergleich. Da ich mich aber mit Magie auskenne, vermute ich doch eher, daß der wahre Grund komplizierter ist. Alles strebt nach Ausgewogenheit. Rehe und Wölfe finden eine Art Mittelweg – die Verstecke der Kitze helfen diesen im Überlebenskampf, was wiederum die Existenz der Wölfe gefährdet, die dringend Nahrung brauchen. Diese Dinge sind ein ewiges Hin und Her. Fräßen die Wölfe sämtliche Kitze, würden die Rehe aussterben; aber auch die Wölfe würden aussterben, wenn sie keine andere Nahrungsquelle hätten, denn sie hätten das Gleichgewicht zwischen ihnen und den Rehen verschoben. Beide bestehen nebeneinander in einem Zustand der Ausgewogenheit, der beiden Spezies das Überleben garantiert, wenn auch auf Kosten einiger Einzelwesen.

Im Fall von Magie ist Ausgewogenheit von entscheidender Bedeutung. Was bei oberflächlicher Betrachtung ganz einfach erscheinen mag, erweist sich in seinen Ursachen oft als überaus komplex. Ich vermute, daß bei deinesgleichen eine wohl durchdachte Ausgewogenheit erzeugt wurde und daß eure Existenz als Lücken in der Welt nur ein untergeordnetes Symptom darstellt.«

»Zeigt sich die Ausgewogenheit vielleicht teilweise darin, daß manche mit der Gabe Gesegnete mich wahrnehmen können, so wie die Rehkitze, die trotz ihres Verstecks gefunden werden? Eure Schwester meinte, Ihr könntet die Lücken in der Welt erkennen.«

»Nein, das kann ich nicht, zumindest nicht vollständig. Ich habe mir lediglich ein paar Kniffe mit der Gabe beigebracht, ganz so wie Adie übrigens.« Jennsen runzelte verwirrt die Stirn, daher fragte Althea, »Kann man bei Neumond einen Vogel sehen?«

»Nein, wenn nicht einmal der Mond am Himmel steht, ist das unmöglich.«

»Unmöglich? Nun, nicht ganz.« Althea zeigte in den Himmel und deutete mit ihrer Handbewegung eine Flugbahn an. »Du wirst bemerken, daß sich dort, wo der Vogel vorüberfliegt, ein dunkler Schatten vor die Sterne schiebt. Behältst du diese Lücken am Himmel im Auge, ist das in gewisser Weise so, als könntest du die Vögel selbst sehen.«

»Also nur eine andere Form der Wahrnehmung?« Jennsen mußte über den gelungenen Einfall schmunzeln. »Auf diese Weise seht Ihr also Menschen wie mich?«

»Mit diesem Vergleich kann ich es dir am einfachsten erklären. Doch alles hat seine Grenzen. Einen Vogel nachts auf diese Weise zu sehen funktioniert nur wenn er vor einem sternenübersäten Hintergrund fliegt, wenn der Himmel nicht bewölkt ist und so weiter. Bei Menschen wie dir verhält es sich ganz ähnlich. Ich habe mir einfach eine kleine List ausgedacht, wie ich deinesgleichen erkennen kann, aber sie funktioniert nur bedingt.«

»Konntet Ihr bei Eurem Aufenthalt im Palast der Propheten etwas über Euer Talent der Prophezeiung in Erfahrung bringen? Vielleicht könnte mir das bei meiner Aufgabe in irgendeiner Form weiterhelfen?«

»Nichts, was im Zusammenhang mit den Prophezeiungen steht, wäre für dich von Nutzen.«

»Aber warum nicht?«

Althea neigte den Kopf nach vorn, so als bezweifelte sie, ob Jennsen richtig zugehört hatte. »Von wem stammen die Prophezeiungen?«

»Von den Propheten.«

»Und bei den Propheten ist dieses Talent stark ausgeprägt. Die Kunst, Prophezeiungen abzugeben, ist eine Form der Magie. Nun können die mit der Gabe Gesegneten dich mit ihrer Gabe nicht sehen, wie du dich erinnerst. Deswegen kannst du auch niemals Gegenstand einer Prophezeiung sein, da diese von den Propheten stammt und sie weder dich noch die Propheten selbst wahrnehmen kann.

Ich besitze zwar das schwach ausgeprägte Talent, Prophezeiungen abzugeben, aber das macht mich noch nicht zu einer Prophetin. Während meines Aufenthalts bei den Schwestern des Lichts habe ich mehrere Jahrzehnte in ihren Kellergewölben zugebracht, um die Prophezeiungen zu studieren, die über Generationen hinweg von großen Propheten niedergeschrieben worden waren. Sowohl aus eigener Erfahrung als auch aus dem in Büchern Gelesenen kann ich dir sagen, daß die Prophezeiungen in Bezug auf dich ebenso blind sind wie Adie. Soweit es die Prophezeiungen betrifft, hat es Menschen wie dich weder in der Vergangenheit gegeben noch gibt es sie jetzt oder wird es sie irgendwann in Zukunft geben.«

Jennsen stutzte. »Eine Lücke in der Welt, fürwahr.«

»Im Palast begegnete ich einem Propheten namens Nathan, und obwohl ich über deinesgleichen nichts in Erfahrung bringen konnte, habe ich doch etwas über mein Talent gelernt, im Wesentlichen, wie begrenzt es ist. Schließlich kam es so weit, daß mich die Dinge, die ich dort erfuhr, nicht mehr losließen.«

»Wie meint Ihr das?«

»Der Palast der Propheten wurde vor vielen tausend Jahren errichtet; er gleicht keinem mir sonst bekannten Ort. Sowohl der eigentliche Palast als auch das gesamte Gelände sind von einem einzigartigen Bann umgeben. Dieser Bann verändert den Alterungsprozeß all derer, die unter ihm stehen.«

»Dann hat er also in gewisser Weise auch Euch verändert?«

»Aber ja, er verändert jeden. Wer unter dem Bann des Palastes der Propheten lebt, dessen Alterungsprozeß verlangsamt sich. Während die Menschen außerhalb der Palastmauern ihrem Leben nachgingen und dabei etwa zehn bis fünfzehn Jahre älter wurden, alterten wir im Palast gerade mal ein Jahr.«

Jennsen machte ein skeptisches Gesicht. »Wie ist so was möglich?«

»Nichts bleibt ewig gleich; die Welt ist einem ständigen Wandel unterworfen. Damals, im Großen Krieg vor dreitausend Jahren, war die Welt völlig anders als heute. Als die große Barriere im Süden D’Haras errichtet wurde, waren auch die Zauberer anders; damals besaßen sie noch unvorstellbare Macht.«

»Darken Rahl war auch sehr mächtig.«

»So mächtig Darken Rahl auch gewesen sein mag, im Vergleich mit den Zauberern der damaligen Zeit war er ein Niemand. Sie beherrschten Kräfte, von denen Darken Rahl nur träumen konnte.«

»Demzufolge sind die Zauberer alle ausgestorben, die über diese ungeheure Macht verfügten? Seit damals ist kein einziger Zauberer wie sie mehr geboren worden?«

Den Blick in die Ferne gerichtet, antwortete Althea mit ernster Stimme, »Jemand wie sie ist seit dem Großen Krieg nicht mehr geboren worden. Schließlich wurden sogar die Zauberer selbst immer seltener. Jetzt aber, zum ersten Mal seit dreitausend Jahren, ist wieder ein solcher Mann geboren worden, dein Halbbruder Richard.«

Wie sich herausstellte, war ihr Verfolger noch sehr viel furchterregender, als sie ihm selbst in ihrer überaus lebhaften Phantasie zugetraut hatte. Der jetzige Lord Rahl war in jeder Hinsicht mächtiger und gefährlicher als ihr gemeinsamer Vater.

»Da es sich um ein so epochales Ereignis handelte, wußten viele im Palast der Propheten schon lange vor Richards Geburt von ihm. Man setzte große Hoffnungen auf diesen Mann, diesen Kriegszauberer.«

»Kriegszauberer?« Das Wort hatte einen Klang, der Jennsen ganz und gar nicht gefiel.

»Ganz recht. Es herrschte große Uneinigkeit, was die Auslegung der Prophezeiung über seine Geburt betraf – sogar über die Bedeutung des Begriffs ›Kriegszauberer‹ selbst. Während meines Aufenthalts im Palast hatte ich zweimal kurz Gelegenheit, den eben erwähnten Propheten Nathan – Nathan Rahl – zu treffen.«

Jennsen klappte der Unterkiefer herunter. »Nathan Rahl? Soll das heißen, er war ein echter Rahl?«

Althea lächelte, nicht nur über ihre Erinnerung, sondern auch über Jennsens überraschte Reaktion. »O ja, er war ein echter Rahl, herrisch, machtbewußt, klug, charmant und unvorstellbar gefährlich. Er wurde hinter unüberwindbaren magischen Schilden gefangen gehalten, wo er kein Unheil anrichten konnte, und doch ist es ihm gelegentlich gelungen. Ja, ein echter Rahl. Dabei war er schon über neunhundert Jahre alt.«

»Das ist doch unmöglich«, widersprach Jennsen, ehe sie Gelegenheit hatte, sich eines Besseren zu besinnen.

Friedrich war neben sie getreten und räusperte sich geräuschvoll. Er reichte seiner Frau eine Tasse dampfenden Tee, anschließend reichte er eine weitere hinunter zu Jennsen. Die unausgesprochene Frage in den Augen, wandte sich Jennsen wieder Althea zu.

»Ich bin jetzt fast zweihundert Jahre alt«, sagte sie.

Jennsen sah sie entgeistert an. Althea sah zwar alt aus, aber so alt nun auch wieder nicht.

»Zum Teil war diese Geschichte mit meinem Alter und dem Bann, der meinen Alterungsprozeß verlangsamte, dafür verantwortlich, daß ich etwas mit dir und deiner Mutter zu tun bekam, als du noch klein warst.« Althea seufzte schwer und trank einen Schluck Tee. »Was mich zu der gegenwärtigen Geschichte zurückbringt, zu deiner Frage, und warum ich dir mit Magie nicht helfen kann.«

Jennsen nippte, dann blickte sie kurz hoch zu Friedrich, der etwa genau so alt aussah wie Althea. »Dann seid Ihr im selben Alter?«

»Aber nein«, scherzte er »Althea hat sich einen viel zu jungen Mann genommen.«

Jennsen bemerkte die Blicke, die die beiden wechselten; es waren die vertrauten Blicke zweier sich sehr nahestehender Menschen. Sie konnte ihnen an den Augen ablesen, daß schon die kleinste Regung im Gesicht des anderen genügte, um sich zu verständigen. Bei ihr und ihrer Mutter war es genauso gewesen, sie brauchten sich nur anzusehen, und schon wußten sie, was der andere dachte.

»Ich lernte Friedrich bei meiner Rückkehr aus der Alten Welt kennen. Damals war ich ungefähr genauso viel gealtert wie er. Natürlich hatte ich sehr viel länger gelebt, doch das sah man meinem Körper nicht an, denn ich hatte ja unter dem Bann des Palasts der Propheten gestanden.«

Jennsen klammerte sich an jedes Wort. »Zu dieser Zeit habt Ihr auch meine Mutter kennen gelernt?«

»Ja. Siehst du, der Bann im Palast, der Bann, der die Zeit veränderte, brachte mich auf die Idee, wie ich Menschen wie dir helfen könnte. Ich wußte, daß die üblichen Methoden, Menschen wie dich mit einem magischen Netz einzufangen, nie so recht zu funktionieren schienen. Andere hatten sich daran versucht und waren gescheitert; die Nachkommen wurden getötet. Schließlich kam ich auf die Idee, das Netz nicht über dich auszuwerfen, sondern über die, die mit dir und deiner Mutter in Kontakt traten.«

Jennsen beugte sich gespannt vor; sie hatte das sichere Gefühl, endlich zum Kern dessen vorzudringen, was ihr am Ende die ersehnte Hilfe bringen konnte. »Was habt Ihr getan? Welche Art von Magie habt Ihr benutzt?«

»Ich benutzte eine Magie, die das Zeitempfinden verändert.«

»Das verstehe ich nicht. Wie hat sich das ausgewirkt?«

»Nun, wie ich bereits sagte, hatte Darken Rahl nur eine Möglichkeit, dich zu suchen – indem er sich der gebräuchlichen Methoden bediente. Und an diesen gebräuchlichen Methoden nahm ich kleine Veränderungen vor. Ich richtete es so ein, daß sich die Zeitwahrnehmung derer, die von deiner Existenz wußten, veränderte.«

»Ich verstehe noch immer nicht. Wie ... was habt Ihr denn nun an ihrer Wahrnehmung verändert? Zeit ist Zeit.«

Althea beugte sich vor, ein verschmitztes Grinsen im Gesicht. »Ich habe sie glauben gemacht, du wärst gerade erst geboren worden.«

»Wann?«

»Immerzu. Wann immer sie auf eine dich betreffende Information stießen, die dich als von Darken Rahl gezeugtes Kind auswies, nahmen sie dich als Neugeborenes wahr, was dann auch so in ihren Berichten stand. Während du anfangs zwei, dann zehn Monate, dann vier, fünf und schließlich sechs Jahre alt warst, suchten sie noch immer nach einem Neugeborenen, und zwar völlig unabhängig davon, wie lange sie bereits von deiner Existenz wußten. Der Bann verlangsamte ihr Zeitempfinden, und zwar allein deine Person betreffend, so daß sie stets auf der Suche nach einem neugeborenen und nicht nach einem heranwachsenden Mädchen waren.

Auf diese Weise konnte ich dich bis zum Alter von sechs Jahren unmittelbar vor ihrer Nase versteckt halten; sämtliche Berechnungen verschoben sich um sechs Jahre. Bis zum heutigen Tag wird jeder, der von deiner Existenz erfährt, dich für etwa vierzehn halten, während du in Wahrheit über zwanzig bist. Erst beim Erlöschen des Banns begann man dein Alter zu berechnen.«

Jennsen erhob sich bis auf die Knie. »Aber so könnte es doch funktionieren. Ihr müßt nur dasselbe noch einmal tun. Wenn Ihr jetzt den gleichen Bann für mich sprechen würdet wie damals, als ich klein war, dann würde er doch genauso funktionieren, oder? Niemand wüßte, daß ich erwachsen bin, man würde mich nicht verfolgen und statt dessen nach einem Neugeborenen suchen.«

Aus den Augenwinkeln sah Jennsen, wie Friedrich, der jetzt wieder an seiner Werkbank im Hinterzimmer saß, sich abwandte. Der Ausdruck auf Altheas Gesicht verriet ihr, daß sie offenbar exakt das Falsche gesagt hatte, und zwar genau das, was die Hexenmeisterin von ihr erwartet hatte.

Jennsen erkannte, daß es eine Art Falle gewesen war; und mit ihrem Gerede hatte sie sich soeben hoffnungslos darin verstrickt.

»Ich war damals jung und wüßte meine magischen Fertigkeiten meisterlich zu gebrauchen«, erklärte Althea. In ihren Augen blitzte ein Funken der Erinnerung an diese herrliche Zeit ihres Lebens auf. »Jahrtausendelang war es niemandem gelungen, die große Barriere in beiden Richtungen zu durchqueren, doch ich hatte es getan. Ich hatte bei den Schwestern des Lichts studiert, hatte Audienzen bei ihrer Prälatin und dem großen Propheten erhalten. Ich hatte Dinge erreicht wie nur wenige andere vor mir. Ich war weit über einhundert Jahre alt und noch immer jung, und ich hatte einen gut aussehenden und charmanten frischgebackenen Ehemann, der fest daran glaubte, ich könnte die Sterne vom Himmel holen, sofern mich nur der Wunsch dazu überkam.

Ich war altersweise und dabei noch immer jung. Ich war klug, oh, wie klug war ich damals, und ich besaß eine stark ausgeprägte Gabe. Ich war erfahren, intelligent und attraktiv, hatte zahlreiche Freunde und einen Kreis von Menschen um mich, der bei jeder meiner weltlichen Erklärungen an meinen Lippen hing.«

Mit ihren langen, schlanken Fingern zog Althea den Saum ihres Kleides hoch und entblößte ihre Beine.

Der Anblick ließ Jennsen erschrocken zurückweichen.

Jetzt sah Jennsen, warum Althea vorhin nicht aufgestanden war, Ihre Beine waren kraftlos und mißgebildet verkümmerte Knochen mit einer vertrockneten Schicht bleichen Fleisches darüber, so als waren sie bereits vor Jahren abgestorben und nie beerdigt worden, weil ihr restlicher Körper noch lebte.

»Du warst sechs Jahre alt«, fuhr die Hexenmeisterin mit geradezu beängstigend ruhiger und leiser Stimme fort, »als Darken Rahl mir schließlich auf die Schliche kam. Er war sehr erfinderisch. Sehr viel gerissener, wie sich herausstellte, als eine junge Hexenmeisterin von gerade mal einhundert Jahren. Mir blieb gerade noch Zeit, meiner Schwester aufzutragen, deine Mutter zu warnen, bevor er mich schnappte.«

Jennsen erinnerte sich, wie sie gerannt war. Sie war noch klein gewesen, als sie und ihre Mutter aus dem Palast geflohen waren. Es war Nacht gewesen, und kurz zuvor war ein Besucher an ihrer Tür erschienen. Aus dem dunklen Flur hatte sie Getuschel gehört, und unmittelbar darauf waren sie geflohen.

»Aber er ... er hat Euch nicht getötet?« Jennsen mußte schlucken. »Er hat sich Eurer erbarmt – und Euer Leben verschont.«

Altheas Lachen entbehrte jeglichen Humors. Es war das freudlose Lachen über eine zutiefst naive Bemerkung.

»Darken Rahl hielt nie viel davon, diejenigen, die sein Mißfallen erregt hatten, einfach umzubringen. Manchmal zog er es vor, wenn sie statt dessen ein langes, ausgedehntes Leben lebten; ihr Tod, mußt du wissen, wäre nur einer Erlösung gleichgekommen. Wie hätten sie tot Reue zeigen, wie hätten sie leiden und als warnendes Beispiel für andere dienen können?

Du kannst dir weder vorstellen, noch könnte ich dir auch nur ansatzweise erklären, welch ein Alptraum diese Gefangennahme war, der endlose Weg, als man mich vor ihn schleppte, was es hieß, sich in der Gewalt dieses Mannes zu befinden, was es hieß, in sein ruhiges Gesicht zu blicken, in seine kalten blauen Augen, wissend, daß man der Gnade eines Mannes ausgeliefert war, der keine Gnade kennt. Die Schmerzen entsprachen vermutlich dem, was man erwarten konnte. Meine Beine können vielleicht noch teilweise Zeugnis davon ablegen. Aber die Schmerzen waren nicht das Schlimmste, bei weitem nicht. Er nahm mir alles, was ich besaß und als selbstverständlich betrachtete. Meiner Kraft, meiner Gabe tat er Schlimmeres an als meinen Beinen; du kannst es nur nicht sehen, ich aber sehe es jeden Ta g .

Doch selbst all das reichte Darken Rahl noch nicht. Sein Mißfallen über das, was ich getan hatte, um euch zu verstecken, war gerade erst entflammt worden. Er verbannte mich hierher, in dieses verpestete Tiefland voller heißer Quellen und krankmachender Dämpfe. Hier hat er mich eingesperrt, um rings um mich herum ein Sumpfgebiet mit Ungeheuern zu bevölkern, erschaffen mit ebenjenen Kräften, die er mir geraubt hatte. Er wollte mich in seiner Nähe haben, mußt du wissen. Mehrfach war er hier, nur um zu sehen, wie ich in meinem Gefängnis vor mich hin darbe.

Ich bin den Wesen dort draußen ausgeliefert, die ihr Leben meiner Gabe zu verdanken haben, einer Gabe, zu der mir schon so lange der Zugang verwehrt ist. Mit meinen Armen allein könnte ich mich niemals aus dem Sumpf schleppen, aber selbst wenn ich es versuchen wollte oder mir ein anderer helfen würde, würden mich diese durch meine eigenen Kräfte erschaffenen Bestien in Stücke reißen. Ich kann sie nicht zurückpfeifen, nicht einmal, um mich selbst zu retten.

Er hat mir einen Pfad gelassen, vor dem Haus, damit Proviant und andere Vorräte hergebracht werden können und ich die Gewißheit habe, alles zu bekommen, was ich brauche. Friedrich mußte hier, an dieser Stelle, ein Heim für uns bauen, weil ich diesen Ort niemals verlassen kann. Zu guter Letzt wünschte mir Darken Rahl noch ein langes Leben – ein Leben, in dem ich durch mein Leiden dafür büßen soll, daß ich sein Mißfallen erregt hatte.«

Jennsen hörte zitternd zu, unfähig, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Althea zeigte mit einem Finger in das Hinterzimmer.

»Dieser Mann dort, der mich liebt, hat das alles mit ansehen müssen. Auf diese Weise wurde Friedrich dazu verdammt, zeit seines Lebens eine verkrüppelte Ehefrau zu pflegen, die ihm in fleischlichen Dingen schon lange keine Frau mehr sein kann.«

Sie strich mit der Hand über ihre knochendürren Glieder, als sähe sie sie so, wie sie einmal gewesen waren. »Ich durfte nie wieder die Freude erleben, mit meinem Mann zusammenzusein, wie Frauen dies mit Männern gemeinhin tun.«

Sie hielt inne, um sich zu sammeln, bevor sie weitersprach. »Als Teil meiner Strafe beließ mir Darken Rahl die Fähigkeit, meine Gabe auf die einzige Weise zu nutzen, die mich jeden Tag meines Lebens verfolgen würde, das Erstellen von Prophezeiungen.«

Jennsen fand, daß das eigentlich ein gewisser Trost sein mußte, und konnte sich nicht enthalten zu fragen, »Aber es ist doch Teil Eurer Gabe – habt Ihr nicht wenigstens ein bißchen Freude daran?«

Die dunklen Augen hefteten sich abermals auf sie. »Hast du dich des letzten Tages erfreut, den du mit deiner Mutter verbracht hast – des Tages vor ihrem Tod?«

»Ja«, meinte Jennsen schließlich.

»Hast du mir ihr gesprochen und gelacht?«

»Ja.«

»Wie wäre es gewesen, hättest du gewußt, daß sie am Tag darauf ermordet werden soll? Wenn du das alles lange bevor es geschah, Tage, Wochen, oder sogar Jahre vorher gesehen hättest? Wenn du gewußt hättest, was passieren würde und wann, und zwar bis ins kleinste, schaurige Detail? Wenn du kraft deiner Magie das grauenerregende Bild vor dir gesehen hättest, all das Blut, den Todeskampf und das Sterben? Hätte dir das etwa gefallen? Hättest du trotzdem Freude verspürt und gelacht?«

Kleinlaut antwortete Jennsen, »Nein.«

»Du siehst also, Jennsen Rahl. ich kann dir nicht helfen. Nicht, weil ich eigensüchtig wäre, wie du es ausdrückst, sondern weil ich einfach nicht mehr die Kraft hätte, einen Bann für dich zu sprechen, selbst wenn ich es wollte. Du mußt die Fähigkeit, dir selbst zu helfen, den freien Willen, das zu tun. was du tun mußt, in dir selber suchen. Nur so kannst du wirklich Erfolg im Leben haben.

Ich kann keinen Bann für dich sprechen, um deine Probleme zu lösen, denn ich habe einen großen Teil meines Lebens damit verbracht, für den letzten Bann zu büßen, den ich für dich gesprochen habe. Ginge es nur um mich, würde ich es gern auf mich nehmen, denn ich habe etwas getan, an das ich wirklich glaube. All das ist die Schuld eines bösartigen Mannes, nicht die eines unschuldigen Kindes. Trotzdem leide ich jeden Tag. denn ich habe nicht nur mein eigenes Leben verwirkt, sondern auch Friedrichs. Er hätte ...«

»Überhaupt nichts hätte ich.« Er war hinter Jennsen getreten. »Ich habe jeden einzelnen Tag meines Lebens als besondere Ehre angesehen, weil du ein Teil davon bist. Dein Lächeln ist für mich wie eine vom Schöpfer persönlich vergoldete Sonne, die Licht in mein bescheidenes Dasein wirft. Wenn dies der Preis war für all das, was ich gewonnen habe, dann habe ich ihn gern bezahlt. Werte meine Freude nicht ab, Althea, indem du sie als gering darstellst.«

Althea sah wieder hinunter zu Jennsen. »Siehst du? Das ist meine tägliche Folter, zu wissen, was ich für diesen Mann niemals sein noch tun konnte.«

Schluchzend kauerte Jennsen zu Füßen der Frau.

»Magie«, kam Altheas Stimme leise von oben, »bedeutet stets Ärger, den man nicht gebrauchen kann.«

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