59

Jennsen und Sebastian folgten Schwester Perdita, die bereits hinter dem höchsten Punkt des Grats verschwunden war. Als sie den Kamm erreichten, sahen sie sie; sie befand sich bereits ein gutes Stück unterhalb von ihnen. Jennsen schaute sich zum oberen Pfadende um, ohne jedoch den einzelnen Mann zu sehen. Was sie statt dessen sah, war eine dunkle Wolkenwand, die sich über die gesamte Breite der trostlosen Ebene herangewälzt hatte.

»Beeilt Euch!«, rief Schwester Perdita ihnen von unten herauf zu.

Sebastians Hand im Rücken, die sie anhielt, nicht stehen zu bleiben, kletterte Jennsen den steilen Pfad hinunter. Die Schwester bewegte sich geschwind wie der Wind; mit wehendem Gewand eilte sie über den in einen steilen Felshang gehauenen Pfad. Jennsen hatte noch nie so große Mühe gehabt, mit einem Menschen Schritt zu halten. Vermutlich nahm die Frau ihre Magie zur Hilfe.

Nicht lange, und Jennsen geriet außer Puste und mußte wie die weit vor ihr laufende Schwester verschnaufen. Auch Sebastian unmittelbar hinter ihr klang, als wäre er völlig außer Atem. Er hatte ein paarmal den Halt verloren, und einmal hatte Jennsen ihn gerade noch am Arm festhalten können, bevor er über den Rand eines steilen, unvorstellbar tiefen Abhangs gestürzt wäre. Die Erleichterung darüber stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Nach einem scheinbar endlosen, anstrengenden Abstieg dem Talgrund ein gutes Stück näher gekommen, stellte Jennsen erleichtert fest, daß die Felswände und -türme hier wenigstens das glühend heiße Sonnenlicht aussperrten. Sie blickte in den Himmel, eine Wohltat, auf die sie eine ganze Weile hatte verzichten müssen, und erkannte, daß es nicht nur die Schatten der Felsen waren, die den Tag verdunkelten. Über dem wenige Stunden zuvor noch wolkenlosen und strahlend blauen Himmel war eine aufgewühlte graue Wolkendecke aufgezogen, so als sollte das ganze Tal der Säulen der Schöpfung vom Rest der Welt abgeschnitten werden.

Sie setzte sich mit schweren Gliedern abermals in Bewegung und marschierte los, um mit Schwester Perdita Schritt zu halten; sie hatte keine Zeit, sich über Wolken den Kopf zu zerbrechen. Trotz ihrer Erschöpfung war Jennsen überzeugt, die nötige Kraft zu finden, Richard Rahl das Messer in den Leib zu stoßen, sobald der Augenblick gekommen war. Er war jetzt zum Greifen nahe. Statt ihr Angst zu machen, erfüllte das Wissen um ihr nahes Ende Jennsen mit einem merkwürdig dumpfen Gefühl innerer Ruhe. Sie hatte fast etwas Angenehmes, diese Aussicht auf ein Ende des Kampfes, der Angst und der Notwendigkeit, sich ständig sorgen zu müssen. Die Erschöpfung würde bald ein Ende haben, ebenso wie die unerträgliche Hitze, der Schmerz, das Leid und die Qualen.

Gleichzeitig machte ein überwältigendes Entsetzen jeden klaren Gedanken unmöglich, wenn ihr, für winzige Augenblicke nur, die ungeheuerliche Wirklichkeit ihres nahen Todes bewußt wurde. Es war ihr Leben, ihr einziges, kostbares Leben, das hier unaufhaltsam zur Neige ging und schon bald in der kalten Umarmung des Todes enden würde.

Flackernde Blitze zuckten über einen zusehends dunkler werdenden Himmel und wanderten unter der Wolkendecke dahin. Dann wieder gleißte fernes Wetterleuchten auf, durchdrang die schweren Wolken und ließ sie von innen heraus in einem spektakulären grünen Licht erstrahlen. Fernes Donnergrollen wälzte sich über das weite, menschenleere Tal.

Je tiefer sie gelangten, desto gewaltiger wurden die in den Himmel ragenden Felssäulen, die anfangs noch aus den Spalten längs der Grate emporwuchsen, bis sie schließlich, ganz unten auf dem Grund, in der Talsohle selbst verwurzelt zu sein schienen. Als die drei die Felsklippen schließlich immer weiter hinter sich zurückließen und in das eigentliche Tal vordrangen, ragten diese Säulen wie ein versteinerter Wald aus grauer Vorzeit in den Himmel. Zwischen ihnen kam Jennsen sich wie eine Ameise vor.

Als ihre Schritte von den Felswänden widerhallten, konnte sie sich der Faszination der glatt geschliffenen, welligen Oberfläche der Säulen nicht entziehen, die aussahen, als wäre das Gestein, Steinen in einem Flußbett gleich, ausgewaschen worden. Die verschiedenen Schichten der senkrechten Felsformationen wiesen offenbar eine unterschiedliche Dichte auf, so daß sie verschieden stark ausgewaschen waren und die Oberfläche dieser Felsentürme demzufolge horizontal geriffelt war. An einigen Stellen balancierten gewaltige Teile dieser Säulen über äußerst schmalen Hälsen.

Die ganze Zeit über, während sie sich mit schweren Schritten durch das scharfkantige Geröll auf dem Talgrund schleppte, lastete die Hitze auf ihr wie ein erdrückendes Gewicht. Zwischen den Säulen warf das Licht gespenstische Schatten, wodurch im Hintergrund zwischen den Felstürmen vollkommen düstere Stellen entstanden. Dann wieder schien das Licht hinter den Felsen hervorzuleuchten. Als sie den Kopf hob, war es, als blickte sie vom tiefsten Grund der Welt nach oben, um zu sehen, wie der Fels, vom Wetterleuchten in den Wolken gelegentlich in grünes Licht getaucht, sich um Erlösung flehend in den Himmel reckte.

Schwester Perdita, den flatternden, schwarzen Burnus hinter sich, schwebte wie ein Todesengel durch dieses Felsenlabyrinth. Inmitten dieser stummen Wächter der Schöpfungskraft war selbst Sebastians Anwesenheit für Jennsen kein Trost mehr.

Ein Blitz zuckte in weitem Bogen über ihre Köpfe und die Spitzen der Felsentürme hinweg, als hatte er es auf den Wald aus Stein abgesehen. Der darauf folgende Donner ließ das Tal so heftig erbeben, daß bröckelndes Gestein auf sie herniederrieselte und sie Reißaus nehmen mußten, um nicht gesteinigt zu werden. Da und dort erblickte Jennsen Stellen, an denen schon vor langer Zeit einige dieser gewaltigen Säulen in sich zusammengebrochen waren; jetzt lagen sie da wie gefallene Riesen. In Hohlwegen – entstanden dort, wo die gewaltigen Felsbrocken durch Erosion hervorgerufene Spalten überbrückten – kamen sie an manchen Stellen unter kolossalen, quer über dem Weg liegenden Felsen hindurch. Sie hoffte, daß keiner der über das gesamte sichtbare Firmament schießenden Blitze auf die Idee kam, in eine der steinernen Säulen unmittelbar über ihnen einzuschlagen und sie unter ihrem unvorstellbar großen Gewicht zu begraben.

Als Jennsen sich langsam zu fragen begann, ob sie sich in dieser Enge zwischen den himmelwärts strebenden Felsen endgültig verlaufen hatten, erblickte sie zwischen den Felstürmen eine Öffnung, hinter der sich die ungeheure Weite des restlichen Talgrunds offenbarte. Sie bahnten sich einen gewundenen Weg zwischen den eng beieinander stehenden Steinsäulen hindurch und gelangten schließlich in offeneres Gelände, wo die Steinsäulen nicht mehr so dicht standen, sondern eher frei stehenden Monumenten ähnelten.

Der den steinernen Wald inzwischen fast ohne Unterlaß mit seinem Krachen, Grollen und Beben überziehende Donner nahm allmählich beängstigende Ausmaße an. Mittlerweile hing der Himmel so tief, daß die wallenden Wolkengebirge die umliegenden Felswände streiften. Weit hinten, ganz am anderen Ende des Tales, verbreitete das dunkelste von ihnen ein nahezu anhaltendes Staccato aus Flackern und gelegentlich erschreckend hellen Blitzen, die augenblicklich Unmengen von markerschütternden Donnerschlägen erzeugten.

Sie hatte gerade eine mächtige Steinsäule passiert, als Jennsen in der Ferne zu ihrer Verblüffung einen Wagen erspähte, der sich einen Weg durch den Talgrund bahnte.

Als sie sich umdrehte und Sebastian auf den Wagen aufmerksam machen wollte, stand plötzlich der hünenhafte Fremde hinter ihnen.

Ihr Blick erfaßte sein schwarzes Hemd, seinen schwarzen, an den Seiten offenen Waffenrock, verziert mit uralten Symbolen, die sich auf einem breiten, goldenen Streifen ganz um den eckig zugeschnittenen Saum schlängelten. Ein breiter Ledergürtel mit an beiden Seiten angebrachten Ledertaschen raffte den Waffenrock an der Taille. Die kleinen, goldbesetzten Taschen am Gürtel wiesen silberne Embleme aus ineinander verketteten Ringen auf, die denen auf den breiten, ledergepolsterten silbernen Armreifen an jedem Handgelenk entsprachen. Hosen und Stiefel waren schwarz; als Kontrast dazu lag ein scheinbar ganz aus Gold gewebtes Cape um seine breiten Schultern.

Außer dem Messer an seinem Gürtel trug er keine Waffe, aber die brauchte er auch nicht, um als Verkörperung drohender Gefahr zu wirken.

Ein einziger Blick in seine grauen Augen genügte, um Jennsen augenblicklich und unwiderruflich die Gewißheit zu geben, daß sie die Raubvogelaugen Richard Rahls vor sich hatte.

Es war, als legte sich die Angst wie eine Hand um ihr Herz und drückte zu. Jennsen zog ihr Messer und hielt es so fest umklammert, daß sich ihre Knöchel um das Heft weiß verfärbten. Sie spürte deutlich, wie das kunstvoll ziselierte »R« ihr jetzt, da Lord Rahl leibhaftig vor ihr stand, in Handfläche und Finger schnitt.

Sebastian fuhr herum, erblickte ihn ebenfalls und stellte sich eilig hinter Jennsen.

Diese stand, von ihren widerstrebenden Gefühlen hin und her gerissen, wie erstarrt vor ihrem Bruder.

»Jenn«, raunte ihr Sebastian von hinten zu, »sei unbesorgt. Du kannst es tun. Deine Mutter beobachtet dich; laß sie jetzt nicht im Stich.«

Richard Rahl maß sie mit forschendem Blick; Sebastian oder gar die noch weiter hinten wartende Schwester Perdita schien er überhaupt nicht wahrzunehmen. Jennsen, ebenfalls blind für die beiden anderen, starrte ihren Bruder an.

»Wo ist Kahlan?«, brach Richard schließlich das Schweigen.

Seine Stimme war völlig anders, als sie erwartet hatte. Sie war gebieterisch, gewiß, aber gleichzeitig noch sehr viel mehr; eine Vielzahl von Gefühlen schwang darin mit, angefangen bei kalter Wut, über unerschütterliche Entschlossenheit bis hin zu Verzweiflung. Dieselbe unverfälschte und grausame Entschlossenheit spiegelte sich in seinen Augen wider.

Jennsen konnte den Blick nicht von ihm lassen. »Wer ist Kahlan?«

»Die Mutter Konfessor. Meine Gemahlin.«

Jennsen war unfähig, sich zu bewegen, so sehr zerriß sie innerlich, was sie sah und hörte. Dies war kein Mann auf der Suche nach einer Kohorte von Ungeheuern, nach einer unbarmherzigen Mutter Konfessor, die die Midlands mit eiserner Faust und ebensolchem Willen beherrschte. Was diesen Mann antrieb, war die Liebe, die er für diese Frau empfand. Jennsen konnte deutlich sehen, daß für ihn kaum etwas anderes zählte. Falls sie den Weg nicht freigäben, würde er durch sie ebenso hindurchgehen wie durch die tausend Reiter. So einfach war das.

Nur war Jennsen, im Gegensatz zu diesen Reitern, unbesiegbar.

»Wo ist Kahlan?«, wiederholte Richard.

»Ihr habt meine Mutter umgebracht«, sagte Jennsen; es klang fast wie eine Rechtfertigung.

Ein Zucken ging über seine Stirn, er schien ehrlich verwirrt. »Ich habe erst kürzlich erfahren, daß ich eine Schwester habe. Friedrich Gilder hat es mir erzählt, und daß dein Name Jennsen ist.«

Jennsen merkte, daß sie nickte, unfähig, ihren Blick von seinen Augen zu lösen, in denen sie ihre eigenen wiedererkannte.

»Töte ihn, Jenn!«, bedrängte Sebastian sie, ihr betörend ins Ohr flüsternd. »Töte ihn! Du kannst es. Seine Magie kann dir nichts anhaben! So mach schon.«

Jennsen fühlte, wie ein kribbelndes Angstgefühl langsam ihre Beine heraufkroch. Irgend etwas war hier verkehrt. Die Hand fest um das Messer geschlossen, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, als die Stimme ihren Kopf füllte, bis dort kein Raum mehr für irgendeinen anderen Gedanken war.

»Mein Leben lang hat der jeweilige Lord Rahl versucht, mich zu töten. Nach dem Mord an Eurem Vater habt Ihr seinen Platz eingenommen. Ihr habt Soldaten auf mich angesetzt und mich gehetzt, genau wie Euer Vater. Ihr habt uns die Quadronen geschickt. Ihr Bastard habt die Soldaten geschickt, die meine Mutter ermordet haben!«

Richard hörte ihr erst widerspruchslos zu, dann antwortete er mit ruhiger überlegter Stimme, »Lege keinen Mantel der Schuld um meine Schultern, weil andere böse sind.«

Jennsen erschrak, als ihr bewußt wurde, daß ihre Mutter in der Nacht vor ihrem Tod fast genau dasselbe gesagt hatte. »Lege nie einen Mantel der Schuld um deine Schultern, nur weil andere böse sind.«

Seine Kiefermuskeln spannten sich, als er die Zähne aufeinanderbiß. »Was habt ihr mit Kahlan gemacht?«

»Sie ist jetzt meine Königin!«, ertönte eine hallende Stimme zwischen den Säulen.

Jennsen glaubte die Stimme wiederzuerkennen. Als sie sich umschaute, war Schwester Perdita nirgendwo zu sehen.

Blitzschnell war Richard wie ein Schatten an ihr vorbeigehuscht und hielt auf die Stelle zu, woher die Stimme gekommen war; dann war auch er plötzlich verschwunden. Sie hatte ihre Chance vertan, ihn zur Strecke zu bringen.

»Jenn!«, rief Sebastian und zerrte sie am Arm. »Was ist bloß los mit dir! Komm schon! Du kannst ihn immer noch erwischen!«

Sie wußte nicht, was los war; irgend etwas war halt eindeutig verkehrt. Sie preßte ihre Hände gegen den Kopf und versuchte, das Gemurmel der Stimme abzustellen. Es wollte ihr nicht mehr gelingen; sie hatte sich auf einen Handel eingelassen, und jetzt marterte die Stimme ihren Verstand mit nie gekannten Schmerzen und verlangte gnadenlos, daß sie ihren Teil erfüllte.

Als Jennsen Gelächter aus dem Wald der steinernen Säulen schallen hörte, waren Hitze und Erschöpfung vergessen, und sie rannte augenblicklich los. Längst wußte sie nicht mehr, wo sie sich befand, welcher Weg wohin führte. Sie liefen durch felsige Hohlwege, die in wieder andere mündeten, unter Felsenbögen hindurch, vorbei an Säulen, durch Licht und Schatten. Es war, als ob man durch eine verwirrende Kombination aus Wäldern und Korridoren rannte, nur daß die Wände hier aus blankem Fels und unverputzt waren und die Bäume aus Stein.

Als sie um eine mächtige Säule bogen, gelangten sie auf eine freie Fläche aus welligem, glattem, völlig unregelmäßig geformtem Fels; dort stand, inmitten anderer wächterähnlicher Steintürme, eine hohe, mächtige, von kleineren Exemplaren umringte Steinsäule, deren Umfang dem sehr alter Eichen entsprach.

An eine dieser Säulen war eine Frau gebunden.

Jennsen hatte nicht den geringsten Zweifel, daß dies Richards Gemahlin Kahlan war, die Mutter Konfessor.

Das hallende Gelächter kam von weit her aus einer ganz anderen Richtung; neckend versuchte es, Lord Rahl vom Ziel seiner Suche fortzulocken.

Die Mutter Konfessor glich keineswegs dem Ungetüm in Menschengestalt, das Jennsen sich stets vorgestellt hatte. Sie schien in schlechter Verfassung zu sein und hing kraftlos in den Stricken, mit denen man sie an die Säule gebunden hatte. Sie war nicht richtig gefesselt, sondern nur mit einem Strick um ihre Taille festgebunden worden.

Offenbar hatte sie das Bewußtsein verloren; ein Teil ihres dichten Haars baumelte von ihrem auf die Brust gesunkenen Kopf herab, ihre Arme hingen schlaff neben ihrem Körper. Sie trug schlichte Reisekleidung, die jedoch ebenso wenig wie der halb ihr Gesicht verdeckende Haarschleier verhüllen konnte, welch schöne Frau sie war. Sie schien nur wenige Jahre älter zu sein als Jennsen. und es sah nicht so aus, als würde sie noch sehr viel älter werden.

Wie aus dem Nichts erschien Schwester Perdita neben ihr, riß den Kopf der Mutter Konfessor an den Haaren hoch, betrachtete sie kurz, und ließ ihn wieder fallen.

Jennsen brauchte die Stimme in ihrem Kopf nicht, um zu begreifen, daß dies der Köder war, den man ausgelegt hatte, um Richard Rahl in den Tod zu locken. Die Stimme hatte ihre Schuldigkeit getan.

Entschlossen packte Jennsen ihr Messer fest mit der Hand und lief hinüber zu der Schwester. Der bewußtlosen Frau drehte sie den Rücken zu, um keinen Gedanken an sie verschwenden und sie nicht ansehen zu müssen, und konzentrierte sich statt dessen ganz auf ihre bevorstehende Aufgabe.

Plötzlich trat der Mann, der gelacht hatte, hinter einer nahen Säule hervor, zweifellos, um seinen Teil beim Anlocken des Opfers beizutragen. Jennsen erkannte das schauderhafte Grinsen, Es war derselbe Mann, den sie in der Nacht gesehen hatte, als die Hexenmeisterin Lathea ermordet worden war, der Mann, vor dem Betty sich so gefürchtet hatte und den Jennsen aus ihren Alpträumen zu kennen glaubte.

»Wie ich sehe, habt Ihr meine Königin gefunden«, meinte der Alptraum in Menschengestalt.

»Was?«, fragte Sebastian verdutzt.

»Meine Königin«, wiederholte der Mann, noch immer mit demselben schauderhaften Grinsen im Gesicht. »Ich bin König Oba Rahl, und sie wird meine Königin sein.«

In diesem Moment bemerkte Jennsen, daß in seinen Augen eine geringfügige Ähnlichkeit mit Nathan Rahl, mit Richard Rahl und auch mit ihr selbst bestand. Bei ihm war diese Ähnlichkeit wohl nicht so stark ausgeprägt wie bei ihr, trotzdem hatte sie genug gesehen, um zu wissen, daß er die Wahrheit sagte – auch er war ein Sohn Darken Rahls.

»Da kommt er«, sagte er, drehte sich um und stellte ihn mit einer Handbewegung vor, »mein Bruder, der derzeitige Lord Rahl.«

Richard trat aus den Schatten hervor.

»Du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten, Jenn«, flüsterte Sebastian ihr ins Ohr. »Er kann dir nichts tun. Jetzt kannst du ihn dir vornehmen.«

Ihre Gelegenheit war gekommen; noch einmal würde sie sie nicht vertun.

Und dann sah sie hinter dem dichten Wald aus steinernen Säulen mehrfach kurz den näher kommenden Wagen auftauchen. Sie glaubte die Pferde wiederzuerkennen – zwei Grauschimmel mit schwarzer Mähne und ebensolchem Schweif. Es waren die größten Pferde, die sie je gesehen hatte. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, daß der Fahrer ein blonder Hüne war.

Als Jennsen sich umwandte und ungläubig auf den Wagen starrte, vernahm sie Bettys vertrautes Meckern. Die Ziege hatte ihre Vorderhufe neben dem Fahrer auf den Sitz gestellt, woraufhin der große, blonde Mann sie kurz kraulte. Er sah aus wie Tom.

»Jennsen«, rief Richard, »gib den Weg zu Kahlan frei.«

»Tu es nicht, Schwester!«, schrie Oba, brüllend vor Lachen.

Das Messer in der Hand, näherte sich Jennsen rückwärts gehend der bewußtlosen Frau, die hinter ihr an der aufragenden Felsensäule hing. Richard würde versuchen, sie zu überwältigen, wenn er zu Kahlan wollte, und dann würde Jennsen ihn erwischen.

»Jennsen«, fragte Richard, »wieso hältst du es mit einer Schwester der Finsternis?«

Verwirrt sah sie kurz zu Schwester Perdita hinüber. »Mit einer Schwester des Lichts«, verbesserte sie.

Richard schüttelte langsam den Kopf, während sein Blick zu der hinter ihr stehenden Schwester Perdita schweifte. »Nein, sie ist eine Schwester der Finsternis. Jagang hat auch Schwestern des Lichts in seiner Gewalt, aber die anderen ebenfalls. Sie sind alle Sklavinnen des Traumwandlers, deswegen tragen sie auch den Ring durch die Unterlippe.«

Den Namen – Traumwandler – hatte Jennsen schon einmal gehört; sie versuchte sich verzweifelt zu erinnern, wo. Sie erinnerte sich auch an die Beschwörungen der Schwestern in jener Nacht im Wald. Dies alles schoß ihr in einem wüsten Durcheinander durch den Kopf. Da war es auch wenig hilfreich, daß die Stimme zugegen war und sie unablässig bedrängte. Ihr ganzes Innenleben schrie geradezu danach, diesen Mann zu töten, und doch hielt etwas sie zurück. Sie wußte nur, daß es nicht seine Magie sein konnte.

»Ihr werdet Jennsen überwältigen müssen, wenn Ihr Kahlan retten wollt«, sagte Schwester Perdita in ihrer kühlen, vor Verachtung triefenden Stimme. »Allmählich gehen Euch Zeit und Alternativen aus, Lord Rahl. Ihr tätet gut daran, Eure Gemahlin zu retten, bevor auch ihre Zeit abgelaufen ist.«

Seitlich von sich erblickte Jennsen, noch ein gutes Stück entfernt, ihre braune Ziege, die, Tom um Längen hinter sich zurücklassend, durch den Wald aus steinernen Säulen gesprungen kam.

»Betty?«, rief Jennsen leise mit tränenerstickter Stimme, während sie sich den schwarzen Schleier vom Kopf wickelte, damit die Ziege sie erkannte.

Die Ziege reagierte auf die Nennung ihres Namens mit einem Meckern und wedelte im Laufen fröhlich mit dem Schwanz. Dahinter, ungefähr auf Toms Höhe, folgte noch etwas anderes, Kleineres. Bevor die Ziege sie erreichte, begegnete sie überraschend Oba. Sie war gerade hinter einer Säule hervorgekommen, als sie ihn erblickte, und wich unter kläglichem Gemecker zur Seite hin aus. Jennsen kannte Bettys Schrei nur zu gut, wenn sie es mit der Angst bekam und sich bedrängt fühlte, wenn sie Hilfe brauchte und getröstet werden wollte.

Der Himmel entlud sich mit Donner und Blitzen, was das Tier zusätzlich verängstigte.

»Betty?«, wiederholte Jennsen, die kaum ihren Augen zu trauen wagte und sich bereits fragte, ob es vielleicht ein Trugbild sein könnte, eine grausame Sinnestäuschung. Doch dazu wäre Lord Rahls Magie wohl doch nicht fähig gewesen.

Als sie ihre Stimme hörte, sprang die Ziege, ihre lebenslange, geliebte Freundin, auf Jennsen zu. Kaum mehr ein Dutzend Sprünge entfernt, sah die Ziege hoch zu Jennsen und blieb jählings stehen. Das Schwanzwedeln setzte abrupt aus; Betty meckerte unglücklich. Das Meckern schlug um in Entsetzen angesichts des Anblicks, der sich ihr jetzt bot.

»Betty«, rief Jennsen, »alles in Ordnung. Komm doch – ich bin es.«

Die Reaktion der Ziege war jedoch die Gleiche wie eben noch bei Oba, die Gleiche wie in jener Nacht, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte; ängstlich wich sie vor Jennsen zurück, machte kehrt und rannte los.

Geradewegs auf Richard zu.

Er ging in die Hocke, als das sichtlich gepeinigte Tier auf der Suche nach Trost auf ihn zugesprungen kam – und ihn schließlich auch unter seiner schützenden Hand fand.

In diesem Augenblick hörte Jennsen zu ihrer völligen Verblüffung weitere Meckerlaute. Ein kleines, weißes Zwillingsziegenpaar erschien munter springend inmitten der Menschen, inmitten dieser angespannten Situation auf Leben und Tod. Sie scheuten, als sie den Mann erblickten, drehten sich um und wichen, als sie Jennsen sahen, auch vor ihr zurück.

Betty antwortete auf ihre Rufe; blitzschnell machten auch sie kehrt und flohen in ihre Obhut. In Gegenwart ihrer Mutter fühlten sie sich geborgen und drängten sich um Richard, ganz versessen auf die beruhigenden Streicheleinheiten, die ihre Mutter soeben erhielt.

Tom war ein gutes Stück weiter hinten in der Nähe einer Säule stehen geblieben und beobachtete das Geschehen von weitem. Offensichtlich hatte er nicht die Absicht, sich einzumischen.

Jennsen war jenseits allen Zweifels überzeugt, daß die ganze Welt sich in ein Tollhaus verwandelt hatte.

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