20

Das plötzliche Licht stach ihr in die Augen. Jennsen hob eine Hand, um sich gegen die Helligkeit zu schützen, und sah, daß Tom dabei war, sich aus den Decken zu befreien. Sie räkelte sich gähnend, aber als ihr daraufhin vollends bewußt wurde, daß sie auf der Ladefläche eines Wagens lag, wo sie sich befanden und warum, fand ihr Gähnen ein abruptes Ende. Sie richtete sich auf. Der Wagen hatte am Rand einer saftigen Wiese haltgemacht.

Jennsen legte eine Hand auf die Seitenverkleidung des Wagens, eine grobe, an der Oberkante abgegriffene Planke, und sah sich blinzelnd um. Hinter ihnen erhob sich eine zerklüftete, graue Felswand, in deren Risse und Spalten sich karge, zähe Büsche klammerten, knorrig und geduckt, als müßten sie sich gegen einen immerwährenden Wind behaupten. Ihr Blick wanderte den verwitterten Fels hinauf bis zu der Stelle, wo dieser sich im Dunst verlor. Am Fuß der Felswände, die die Wiese säumten, sowie neben der schmalen Klamm, die sich in den Fels einschnitt, wucherte verfilztes Gestrüpp. Irgendwie war es Tom gelungen, den Wagen zwischen diesen steilen Klippen hindurchzumanövrieren. Die beiden stämmigen Zugpferde rupften, noch immer eingespannt, an dem wild wuchernden Gras.

Weiter vorn, unterhalb der Wiese, senkte sich das Gelände hinab in einen dunklen, ausgedehnten Wald voller rankender Kletterpflanzen und hängender Moose. Unter dem üppigen grünen Blätterdach drangen seltsame Rufe, Schnalz- und Pfeiflaute hervor.

»Und das im tiefsten Winter...«, war alles, was ihr dazu einfiel.

Tom hob die Futtersäcke von der Ladefläche des Wagens herunter. »Könnte vielleicht sogar ganz nett sein, den Winter dort unten zu verbringen« – er wies mit einem Nicken hangabwärts in das wuchernde Gestrüpp – »gäbe es nicht diese seltsamen Wesen, die angeblich von dort unten hervorkommen. Andernfalls hätte es bestimmt längst irgendein Narr mal ausprobiert, da wette ich. Aber falls es jemand getan hat, ist er wohl von irgendeinem alptraumhaften Wesen hinuntergezerrt worden und hat es nie wieder bis nach oben geschafft.«

»Soll das heißen, Ihr glaubt wirklich, da unten gibt es irgendwelche ... Ungeheuer?«

Er beugte sich genau über ihr ins Wageninnere. »Es ist nicht meine Art, jungen Damen Angst zu machen, Jennsen. Als ich noch klein war, haben sich einige der anderen Jungen einen Spaß daraus gemacht, mit zappelnden Schlangen vor den Augen der Mädchen herumzufuchteln, nur um sie kreischen zu hören. Das habe ich nie getan. Ich will Euch wirklich keine Angst einjagen. Aber ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich Euch einfach dort hineinspazieren ließe, so als wäre das Ganze nur ein lustiger Streich und Ihr würdet am Ende nicht wieder herauskommen. Vielleicht ist es ja nur Gerede, keine Ahnung. Angeblich ist es unmöglich, den Sumpf von der Rückseite aus zu durchqueren und mit dem Leben davonzukommen, aber wenn es sich jemand in den Kopf gesetzt hat, es zu versuchen, dann ganz sicher Ihr. Ich weiß, Ihr hattet wichtige Gründe herzukommen, deshalb erwarte ich nicht, daß Ihr tagelang herumsitzen werdet, um auf eine Einladung zu warten.«

Jennsen mußte schlucken, sie hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Unsicher, was sie auf seine Worte erwidern sollte, bedankte sie sich mit einem Nicken.

Tom strich sich sein blondes Haar aus dem Gesicht. »Ich wollte Euch nur darüber aufklären, was ich weiß.« Er nahm die Futtersäcke auf und ging hinüber zu den Pferden.

Was immer es dort unten gab, gab es eben dort. Sie mußte ganz einfach hinein, das war alles – sie hatte keine Wahl.

Voller Entschlossenheit griff sie unter ihren Umhang und berührte das Heft ihres Messers. Schließlich war sie nicht irgendein Mädchen aus der Stadt, das sich nicht zu wehren wußte.

Sie war Jennsen Rahl.

Jennsen befreite sich vollends aus den Decken und kletterte, eine Speiche des Hinterrads als Tritt benutzend, von der Ladefläche des Wagens herunter. Tom kam soeben zurück, einen Wasserschlauch in der Hand.

»Möchtet Ihr einen Schluck? Es ist Wasser – ich hänge sie immer über die Kummete, damit die Pferde mit ihrer Körperwärme verhindern, daß es einfriert.«

Die Kälte hatte sie ausgetrocknet, und sie trank gierig. Sie sah Tom sich den Schweiß von der Stirn wischen, und erst in diesem Augenblick wurde ihr bewußt, wie warm es in Wirklichkeit war. Vermutlich würde kein echter, von Ungeheuern bevölkerter Sumpf, der etwas auf sich hielt, zulassen, daß er überfror.

Tom schlug das zusammengefaltete Tuch von einem Gegenstand zurück, den er in der Hand hielt. »Frühstück?«

Sie lächelte, als sie eine Fleischpastete zum Vorschein kommen sah.

»Ihr seid nicht nur anständig, sondern auch sehr aufmerksam.«

Grinsend reichte er ihr die Pastete, dann wandte er sich um. um den Pferden die Zugkette abzunehmen. »Vergeßt nicht ihr habt versprochen, Lord Rahl etwas auszurichten«, rief er ihr über die Schulter zu.

Um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden, das mit ihrem Häscher zu tun hatte, lenkte sie vom Thema ab. »Ihr werdet also genau hier warten? Wenn ich zurückkomme, meine ich? Damit wir gleich wieder zurückfahren können?«

Er blickte hinter sich, während er den Leistengurt über das Hinterteil des Pferdes streifte. »Ihr habt mein Wort darauf, Jennsen. Ich werde Euch hier bestimmt nicht im Stich lassen.«

Seinem Gesichtsausdruck nach hatte er soeben einen Eid geleistet. Sie lächelte dankbar. »Ihr solltet Euch ein wenig ausruhen, immerhin seid Ihr die ganze Nacht gefahren.«

»Ich werd’s versuchen.«

Hungrig nahm sie noch einen Bissen von der Fleischpastete. Sie war kalt, aber köstlich und sättigend. Beim Kauen schweifte ihr Blick hinüber zu der grünen Wand jenseits der Wiese, in die Dunkelheit, die sich dahinter verbarg, anschließend warf sie einen abschätzenden Blick in den eisengrauen Himmel.

»Habt Ihr eine Ahnung, wie spät es ist?«

»Die Sonne ist vor ungefähr einer Stunde aufgegangen«, meinte er, während er die Verbindungsglieder an den Lederriemen überprüfte. Er wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Vor dem Abstieg auf diese tiefgelegene Stelle befanden wir uns oberhalb einer Schicht aus Dunst und Nebel. Da oben schien die Sonne.«

Angesichts des schummrigen Lichts, das unter der grauen Wolkendecke herrschte, verwunderte sie diese Vorstellung. Es schien, als hätte es noch nicht einmal angefangen zu dämmern. Und es fiel schwer, sich vorzustellen, daß gar nicht weit von hier die Sonne scheinen sollte.

Nachdem sie die Fleischpastete aufgegessen und sich die Krümel von den Händen abgewischt hatte, wartete Jennsen, bis Tom den Packgurt von der breiten, muskulösen Brust eines seiner Pferde losgeschnallt hatte und sich umdrehte. Beide Tiere waren gepflegte Grauschimmel mit schwarzer Mähne und ebensolchem Schweif. Es waren die größten Pferde, die sie je gesehen hatte – bis sie Tom neben ihnen hantieren sah. Neben ihm wirkten sie nicht mehr ganz so beeindruckend, erst recht nicht, wenn er sie liebevoll streichelte.

Während Tom sie vollends vom Zaumzeug befreite, sahen sich beide Tiere gelegentlich nach ihm um oder blickten Jennsen an, ihre weitaus größte Aufmerksamkeit allerdings galt den Schatten jenseits des Wiesenrandes; sie hatten die Ohren aufgestellt und auf das Sumpfgebiet gerichtet.

»Ich sollte jetzt besser aufbrechen, die Zeit ist ohnehin bereits knapp.« Er nickte einmal kurz.

»Vielen Dank, Tom. Falls ich später keine Gelegenheit mehr dazu haben sollte, möchte ich Euch für Eure Hilfe danken. Es gibt nicht viele Menschen, die sich so verhalten hätten wie Ihr.«

Wieder zeigte er sein schüchternes Lächeln, so daß man seine weißen Zähne sah. »Geholfen hätte Euch fast jeder. Aber ich bin froh, daß ich es war, der die Gelegenheit dazu hatte.«

Sie war überzeugt davon, daß er damit etwas andeuten wollte, was sie nicht ganz verstand. Aber was immer es sein mochte, im Augenblick war das ihre geringste Sorge.

Ihre Augen wandten sich den hallenden Rufen zu, die aus dem Sumpf hervorschallten. Es war unmöglich, die Höhe der Bäume abzuschätzen, da ihre Wipfel sich im Nebel verloren. Die Stämme mußten gewaltig sein, soweit man dies erkennen konnte. Kletterpflanzen rankten sich aus dem Dunst herab, zusammen mit einer Unmenge anderer ineinander verflochtener Schlingpflanzen, die die Stämme der mächtigen Bäume umhüllten, so als wollten sie sie niederringen und in das Dunkel unter ihnen ziehen.

Jennsen ließ den Blick suchend am Wiesenrand entlangwandern und entdeckte schließlich einen schmalen Felsgrat, der sich vorn Rand der Wiese hinunter in die Tiefe erstreckte. Ein Pfad war es nicht gerade, aber immerhin ein Anfang. Sie hatte ihr ganzes Leben im Wald gelebt und vermochte Pfade zu finden, von deren Vorhandensein sonst niemand etwas ahnte, doch es gab keinen ausgetretenen Weg hinunter in diesen Sumpf. Nichts und niemand, so schien es, wagte sich jemals dort hinein. Sie würde sich selbst einen Weg suchen müssen.

Jennsen wandte sich vorn Rand der Wiese wieder um und blickte dem hochgewachsenen Mann lange in seine blauen Augen.

Er zeigte ihr ein zaghaftes Lächeln – aus Respekt für das, was sie zu tun im Begriff war. »Mögen die Gütigen Seelen mit Euch sein und über Euch wachen.«

»Über Euch auch, Tom. Ihr solltet ein wenig schlafen. Wenn ich zurück bin, werden wir auf dem Rückweg in den Palast ein scharfes Tempo vorlegen müssen.«

Tom verbeugte sich. »Ganz wie Ihr wünscht.«

Sein erstaunliches Benehmen entlockte ihr ein Schmunzeln; schließlich wandte sie sich der Düsterkeit des Sumpfes zu und begann hinabzusteigen.

Unter dem Saum des Sumpfgebietes staute sich die Hitze, und die Feuchtigkeit war wie ein lebendiges Wesen, das nur darauf wartete, jeden Eindringling zurückzudrängen; die Dunkelheit nahm mit jedem Schritt zu. Die Stelle war ebenso schwer und undurchdringlich wie die feuchte Luft, und die wenigen Rufe, die durch das ferne Dunkel hallten, unterstrichen noch die Lautlosigkeit und die unendliche Weite, die sich vor ihr erstreckte.

Jennsen folgte dem Felsgrat auf seinem gewundenen Weg mal hierhin, mal dorthin, und gelangte dabei immer tiefer nach unten.

Als sie sich umdrehte, um hinter sich zu blicken, gewahrte sie einen Tunnel aus Licht, der bis hinauf zur Wiese reichte. Mitten in dem Kreis aus trübem Licht an seinem Ende konnte sie die Silhouette eines großen Mannes ausmachen, der, die Hände auf den Hüften, zu ihr hinunterblickte. In dieser Dunkelheit konnte er unmöglich darauf hoffen, sie zu erkennen. Und sie selbst sah ihn wohl nur deshalb, weil er im Gegenlicht stand. Er jedoch verharrte trotzdem da und hielt Wache.

Jennsen wußte nicht recht, was sie von ihm halten sollte; er schien ein herzensguter Mann zu sein, aber sie traute niemandem – außer Sebastian.

Nachdem sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, ergab ein Blick zurück, daß der von ihr gewählte Weg der einzig mögliche Abstieg in der näheren Umgebung war, zumindest so weit sie dies erkennen konnte.

Jennsen schaute sich wiederholt um, atmete tief durch, um ihre Entschlossenheit zu bekräftigen, dann ging es weiter hinab, tiefer und tiefer unter die Bäume.

Kurz darauf erkannte sie schließlich, daß viele der Bäume, die sie weiter oben gesehen hatte, nur die Laubkronen hoch aufragender, uralter Eichen gewesen waren, die von Felsvorsprüngen aus in den Himmel ragten. Sie merkte, daß sie manche der oberen Zweige irrtümlicherweise für Stämme gehalten hatte. Jennsen hatte noch nie so mächtige Bäume gesehen, fast wäre ihre Angst ehrfürchtiger Scheu gewichen. In der Ferne sah sie Nester, ungewöhnlich große, mit daunenweichem Moos und Flechten ausgepolsterte Zusammenballungen aus Zweigen und Halmen, in den hohen Gabelungen der Äste sitzen. Falls diese Nester bewohnt waren, so vermochte sie zumindest nicht zu erkennen, welche Vogelgattung im Stande gewesen wäre, derart eindrucksvolle Horste zu bauen, vermutete aber daß es Raubvögel sein mußten.

Als sie sich bückte, um sich unter einem dichten Gestrüpp aus bis knapp über die schmälste Stelle des Grats herabhängenden Zweigen hindurchzuzwängen, tat sich plötzlich der Ausblick auf ein weites, unter dem dichten Blattwerk des oberen Laubdachs versteckt liegendes Gebiet auf. Es war als läge hier eine vollkommen neue Welt verborgen, in die noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hatte. Gedämpftes Licht wagte sich nur zögernd bis hierhin vor. Da und dort hingen Lianen aus dem dunkel wuchernden Grün weiter oben herab. Vögel schwebten lautlos durch diese höhlenähnliche, nur von trübem Licht erhellte Welt. Von fern vernahm sie den Ruf eines ihr völlig unbekannten Tieres; aus einer anderen Richtung erfolgte von weit her eine Antwort.

So urtümlich und Unheil verkündend dieser Ort auf sie wirkte – auf rätselhafte Weise fand sie ihn auch schön.

In mancherlei Hinsicht erinnerte das Sumpfgebiet sie an so vieles in D’Hara – rätselhaft, bedrohlich und gefährlich, war es gleichzeitig auf geradezu schmerzliche Weise schön.

Rings um sie her klammerten sich die Bäume mit krallengleichen Wurzeln in den felsigen Steilhang, so als mußten sie befürchten, zu dem, was immer dort unten lauern mochte, in die Tiefe hinabgerissen zu werden. Ein sehr alter Baum lag, wie mit seiner Umgebung verschmolzen, quer über ihrem Weg; das Holz fühlte sich beim Drauftreten schwammig an und wimmelte nur so von Insekten.

Oben aus dem Gezweig beobachtete sie eine Eule, während sie sich mühsam immer weiter nach unten arbeitete. Ameisen marschierten über den Boden, ihre Schätze in winzigen Brocken aus dem feuchten Wald abtransportierend. Kakerlaken, riesig, hart und glänzend braun, huschten über das herabgefallene Laub.

Jennsen hatte ihr ganzes Leben im Wald verbracht und dort alles gesehen, von riesengroßen Bären bis hin zu neugeborenen Kitzen, von Vögeln bis zu Käfern, von Fledermäusen bis zu Wassermolchen. Es gab Tiere, die ihr Angst machten, Schlangen zum Beispiel oder Bärenmütter mit Jungen, aber mit Tieren kannte sie sich gut aus. Die meisten fürchteten die Menschen und wollten nur in Ruhe gelassen werden, deshalb hatte sie auch keine Angst vor ihnen. Sie wußte aber nicht, welche verhexten Tiere die niederen Gefilde rund um das Versteck dieser Hexenmeisterin durchstreifen mochten, Lebewesen, die sich wahrscheinlich vor nichts und niemandem fürchteten.

Sie sah fette Spinnen, schwarz und behaart, die sich, mit ihren Beinen gemächlich die feuchtwarme Luft durchharkend, geschmeidig an irgendwo weiter oben befestigten Fäden herunterließen, um in den wuchernden Farngestrüppen zu verschwinden. Trotz der feuchten Wärme hatte Jennsen, um sich besser vor Spinnen und ähnlichem Getier zu schützen, ihren Umhang fest um den Körper gerafft und ihre Kapuze über den Kopf gezogen.

Ein Spinnenbiß konnte ebenso tödlich sein wie der eines anderen Tieres – und tot war tot, die Ursache spielte keine Rolle. Der Hüter würde einem keinerlei Sonderrecht einräumen, nur weil das tödliche Gift von einem kleinen, scheinbar unbedeutenden Tierchen stammte. Der Hüter der Toten hüllte jeden in ewige Finsternis, der sein Reich betrat – aus welchem Grund auch immer.

So heimisch Jennsen sich draußen in freier Natur fühlte und so berückend schön das Sumpfgebiet war – dieser Ort ließ sie die Augen stets weit offen halten und ihr Herz schneller schlagen. Jede Ranke und jedes Büschel Grün kam ihr in irgendeiner Weise bedrohlich vor, und mehr als einmal fuhr sie erschrocken zusammen.

Der ganze Ort verströmte ein Gefühl von überall lauerndem Tod.

Schließlich endete der Felsgrat, ihr einziger Weg nach unten, vor ihren Augen in einem seichten, stinkenden und morastigen, von einem Geflecht aus kreuz und quer wuchernden Wurzeln durchzogenen Tümpel. Fast schien es, als fürchteten sich die Bäume vor dem undurchsichtigen Naß und versuchten, ihre Wurzeln davon fern zu halten. Sie erspähte die unverkennbare Form eines Oberschenkelknochens, der ein Stück seitlich aus der morastigen Fläche ragte. Der Knochen war mit einem feinen Flaum aus grünlichem Schimmel überzogen, im Großen und Ganzen jedoch konnte man seine Form noch deutlich erkennen. Von welcher Art Tier er stammen mochte, wußte sie nicht; zumindest hoffte sie, daß es ein Tierknochen war.

Zu ihrer Überraschung stieß sie auf morastige Stellen, in denen der Schlamm tatsächlich zu brodeln schien. Klebrige Blasen dunkelbraunen Schlamms blubberten wie auf kleiner Flamme kochend vor sich hin und schleuderten, wobei sie heißen Dampf freisetzten, Klumpen eines zähen Breis in die Höhe. Dort gedieh buchstäblich nichts; an manchen Stellen war der Schlamm zu harten Kegeln getrocknet, aus denen gelblicher Dampf entwich.

Als Jennsen sich vorsichtig einen Weg durch das Gewirr aus Wurzeln, dampfenden Schloten und brodelndem Morast suchte und dabei immer tiefer in das Schattenreich auf dem Grund des Waldes vordrang, erkannte sie, daß die morastigen Abschnitte zunehmend Flächen stehenden Wassers wichen. Anfangs waren es nur kleine Tümpel und Pfützen, in denen es kochte und zischte und aus denen Fahnen beißenden Dampfes aufstiegen. Als sie die heißen Quellen hinter sich ließ, weiteten sich die Gewässer zu großen, von hohem Schilfrohr umstandenen Teichen, über denen sich Schwärme winziger Insekten in kleinen Wolken tummelten.

Schließlich gewannen die stehenden Gewässer endgültig die Oberhand, und der Waldboden wurde schwarz und flüssig. Abgestorbene Baumstämme ragten aus dem schwarzen Wasser, Wächter über ein nach Fäulnis stinkendes Land. Die Schreie und Rufe von Tieren trugen von noch weit düstereren Orten über das Wasser bis zu ihr hin. An einigen Stellen wuchs in Ufernähe, verborgen unter laubreichen Rändern, ein Geflecht aus Entengrütze, das den Unachtsamen mit dem Versprechen auf ein leichter begehbares, grün bewachsenes Geläuf anlockte. Jennsen sah Augen aus der Entengrütze hervorlugen, die sie beobachteten, als sie nicht weit entfernt vorüberging.

Der moosige Untergrund wurde schwammig, bis schließlich auch er nach und nach ganz unter der vollkommen stillen Wasseroberfläche versank. Anfangs konnte sie noch auf den Grund sehen, doch dann wurde es tiefer, bis sie unter sich nur noch undurchdringliches Dunkel sah. Und in diesem undurchdringlichen Dunkel glitten noch dunklerere Schatten vorüber.

Von einer Wurzel auf die nächste tretend, versuchte Jennsen ihr Gleichgewicht zu halten, ohne sich allzu oft an den glitschigen Stämmen der Bäume abstützen zu müssen. Solange sie auf den vorstehenden Wurzelbögen blieb, brauchte sie nicht hinunter in das Wasser zu treten. Sie hatte Angst, unter der Wasseroberfläche könnte sich eine Vertiefung verbergen, in der sie auf Nimmerwiedersehen versank.

Als die Abstände zwischen den Wurzeln, die aus der Wasseroberfläche ragten, immer größer wurden, zog sich der Knoten in ihrer Magengrube mit jedem Schritt ein wenig fester. Sie zögerte, aus Angst, bereits zu weit gegangen zu sein und den Punkt erreicht zu haben, an dem es kein Zurück mehr gab. Andererseits konnte sie ihr Urteil, ob dies der beste Weg ins Sumpfgebiet war, schlecht in Zweifel ziehen, denn es hatte nirgends eine Möglichkeit gegeben, sich zu entscheiden; dies war der einzige Weg gewesen. Leicht vornübergebeugt spähte sie in das trübe Licht, vorbei an Moosfetzen und blätterbewachsenen Schlingpflanzen. Durch Dunst, Schatten und Unterholz meinte sie zu erkennen, daß das Gelände weiter vorn wieder anstieg und der Untergrund trockener wurde.

Jennsen nahm einen tiefen Zug der stickig schwülen Luft und streckte ihr Bein aus, um sich bis zur nächsten kräftigen Wurzel vorzutasten, konnte sie aber nicht ganz erreichen. Sie würde bis zu dem fernen, dicken Wurzelwulst hinüberspringen müssen; eigentlich war es eher ein kleiner Hüpfer denn ein großer Sprung. Was ihr nicht gefiel, war das, was sich womöglich unter ihr befand, falls sie abglitt und ins Wasser fiel. Wenn sie allerdings mit genügend Schwung absprang und die Wurzel genau richtig traf, konnte sie von dort weiter bis auf das gegenüberliegende Ufer springen.

Um sich abzustützen, legte sie ihre Fingerspitzen gegen den glatten, aber klebrigen Stamm eines Baumes. Jennsen holte tief Luft, dann stieß sie sich vor Anstrengung ächzend vom Baum ab und sprang über das Stück offenen Wassers hinweg.

Gerade wollte sie auf dem Bogen der Baumwurzel landen, als diese sich unter ihrem Fuß bewegte – doch da war ihre Entscheidung längst gefallen, eine Richtungsänderung nicht mehr möglich.

Völlig überraschend begann die Wurzel, dicker als ihr Knöchel, sich unter ihr zu winden und verschwand. Im Nu schlang sich eine andere dicke Windung um ihren Knöchel, während ein weiteres kaltes, schuppiges Ende nach oben schnellte und sich um ihr Knie wickelte.

Das alles ging viel zu schnell, zumal sie einerseits noch damit beschäftigt war, nach der Wurzel zu greifen, die sie gepackt hielt, während sie andererseits versuchte, ihren Fuß zurückzuziehen. Gefangen in der Bewegung zwischen Absprung und Landung, konnte sie sich nicht mehr aufrecht halten.

Jennsen griff instinktiv nach ihrem Messer, doch in diesem Augenblick wand sich das Tier heftig und warf sie mit dem Gesicht nach vorne ab. Geistesgegenwärtig streckte sie die Arme vor, um den Sturz abzufangen. Das Wasser unter ihr kochte! Sie bekam die fernen Wurzeln am Ufer, echte Wurzeln, die sich naß und rauh und hölzern unter ihren greifenden Fingern anfühlten, gerade eben noch zu fassen.

Aber noch während sie ihren Sturz durch einen Griff nach den Wurzeln knapp in ihrer Reichweite abzufangen versuchte, wurde sie von einer riesigen Schlange in Empfang genommen, die plötzlich aus dem aufgewühlten Wasser auftauchte.

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