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Als sie ihre mühselige Arbeit endlich hinter sich hatten, konnte Jennsen vor Erschöpfung kaum noch die Arme heben. Der schneidende, zudem feuchte Wind, der ihr durch die Kleider fuhr, schien bis ins Mark zu dringen, und aus Ohren, Nase und Fingern war jegliches Gefühl gewichen; Sebastians Gesicht war mit einer glänzenden Schweißschicht bedeckt.

Aber der Tote lag nun endgültig unter einer Schicht aus Geröll und Steinen begraben, die es am Fuß der Felsenklippe im Überfluß gab. Sebastian hatte den Schöpfer mit ein paar schlichten Worten gebeten, die Seele des Mannes in der Ewigkeit willkommen zu heißen; auf eine Bitte um Vergebung vor dem göttlichen Gericht hatte er, wie Jennsen auch, verzichtet.

Nachdem sie mit Hilfe eines schweren Zweigs und ihrer Füße das Geröll verteilt und so die Spuren ihrer Arbeit verwischt hatte, musterte Jennsen das Gelände noch einmal und stellte erleichtert fest, daß wohl niemand vermuten würde, hier läge ein Mensch begraben. Sollten tatsächlich Soldaten des Weges kommen, würden sie bestimmt nicht merken, daß an dieser Stelle einer der ihren den Tod gefunden hatte.

Dann legte Jennsen Sebastian die Hand an die Stirn und sah ihre Befürchtungen bestätigt. »Ihr glüht ja vor Fieber.«

»Wir sind fertig. Jetzt, da ich nicht mehr befürchten muß, von Soldaten aus meinem Schlafsack gescheucht und bei vorgehaltenem Schwert verhört zu werden, werde ich bestimmt unbeschwerter schlafen.«

Sie fragte sich nur wo das sein sollte, denn der Nieselregen wurde zusehends dichter, und wahrscheinlich würde es bald anfangen zu regnen. Jennsen sah zu, wie ihr Gefährte sich den Waffengurt um die Hüfte schnallte. Die Axt befestigte er an seiner rechten Seite; nachdem er die Klinge geprüft und für zufrieden stellend befunden hatte, machte er das Kurzschwert an der linken Gürtelseite fest. Anschließend warf er seinen schweren grünen Umhang darüber und sah wieder aus wie ein ganz gewöhnlicher Reisender. Jennsen vermutete allerdings, daß er mehr war als das. Er hatte seine Geheimnisse, mit denen er ganz beiläufig, fast offen umging; sie dagegen hütete die ihren ziemlich ungeschickt.

Er führte das Schwert mit einer Leichtigkeit, wie sie nur durch lange Vertrautheit entsteht. Das wußte sie, weil sie selbst ihr Messer mit müheloser Eleganz handhabte, eine Fertigkeit, die man nur durch Erfahrung und fortgesetztes Üben erlangte.

Sebastian nahm den Rucksack des Toten auf und schlug dessen Klappe zurück. »Wir werden seine Vorräte unter uns aufteilen. Wollt Ihr den Rucksack haben?«

»Rucksack und Vorräte solltet Ihr behalten«, erwiderte Jennsen, während sie ihre Fische holen ging.

Er nickte, und mit einem abschätzenden Blick in den Himmel schnürte er den Rucksack zu. »Dann mache ich mich jetzt wohl am besten auf den Weg.«

»Wohin?«

»Genau genommen nirgendwohin, denn ich habe kein bestimmtes Ziel. Ich schätze, ich werde noch ein Stück gehen und mir dann wohl am besten einen Unterschlupf suchen.«

»Es kommt Regen auf«, sagte sie. »Um das zu erkennen, braucht man kein Prophet zu sein.«

Er lächelte. »Wahrscheinlich nicht.« Seine Augen ertrugen geduldig den Anblick dessen, was vor ihm lag. Mit der Hand fuhr er sich durchs Haar, dann zog er seine Kapuze über. »Nun, paßt gut auf Euch auf, Jennsen Daggett. Und meine Empfehlung an Eure Mutter. Sie hat eine hübsche Tochter großgezogen.«

Mit einem kurzen Nicken quittierte sie lächelnd seine Worte, sah zu, wie er kehrtmachte und sich langsam über die ebene Geröllfläche entfernte. Ringsumher erhoben sich schroffe Felswände, deren schneebedeckte Vorsprünge sich in einer grauen Wolkendecke aufzulösen schienen, die auch die endlose Kette hoher Gipfel einhüllte.

Es schien so seltsam, so unsinnig, daß ihre Wege sich in der endlosen Weite dieses Landes für so kurze Zeit gekreuzt haben sollten, für einen so tragischen Augenblick, in dem ein Menschenleben endete, um sich unmittelbar darauf wieder in der endlosen Vergessenheit des Lebensstroms zu verlieren.

Jennsen schlug das Herz bis zum Hals, als sie darauf lauschte, wie seine Schritte sich knirschend auf dem groben Geröll entfernten. Sie überlegte hin und her, was sie tun sollte. War es ihr denn tatsächlich bestimmt, sich immer nur von den Menschen abzuwenden und sich zu verkriechen?

Sollte sie sich – wie immer – jedes kleine bißchen dessen, was das Leben ausmachte, verscherzen, noch dazu wegen eines Verbrechens, das sie nicht einmal begangen hatte? Durfte sie es riskieren?

Was ihre Mutter sagen würde, wußte sie genau. Aber ihre Mutter liebte sie von ganzem Herzen, deshalb würde sie nichts sagen, um sie nicht unnötig zu quälen.

»Sebastian?« Er drehte sich um, sah sie an und wartete darauf, daß sie weitersprach. »Ohne einen Unterschlupf erlebt Ihr vielleicht nicht mal den morgigen Tag. Es würde mir gar nicht gefallen zu wissen, daß Ihr dort draußen mit Fieber herumirrt und bis auf die Haut naß werdet.«

Er stand da und sah sie weiterhin an. »Mir würde das genauso wenig gefallen. Ich werde Eure Worte beherzigen und alles daransetzen, einen Unterschlupf zu finden.«

Bevor er sich abermals abwenden konnte, hob sie eine Hand und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Sie merkte, daß ihre Finger zitterten. »Ihr könntet doch mit zu mir nach Hause kommen.«

»Wird denn Eure Mutter nichts dagegen haben?«

Ihre Mutter würde in Panik ausbrechen. Ihre Mutter würde niemals erlauben, daß ein Fremder, ganz gleich, wie sehr er ihr geholfen hatte, in ihrem Haus schlief. Ihre Mutter würde die ganze Nacht kein Auge zutun, wenn ein Fremder auch nur in der Nähe wäre. Aber ohne ein Dach über dem Kopf konnte Sebastian sich mit seinem Fieber glatt den Tod holen. Und das würde Jennsens Mutter diesem Mann bestimmt nicht wünschen, denn ihre Mutter hatte ein großes Herz. Diese liebevolle Sorge war der Grund, weshalb sie sich Jennsen gegenüber so beschützend verhielt.

»Das Haus ist klein, aber in der Höhle, in der wir die Tiere halten, ist genug Platz. Wenn es Euch nichts ausmacht, könnt Ihr dort schlafen. Das klingt schlimmer, als es ist. Ich habe selbst schon manchmal dort übernachtet, wenn es mir im Haus zu eng wurde. Gleich am Eingang würde ich Euch ein Feuer anzünden, dann hättet Ihr es warm und bekämet die Ruhe, die Ihr so dringend braucht.«

Er wirkte unschlüssig, deshalb zeigte Jennsen ihm die Angelschnur mit den Fischen.

»Wir würden Euch auch etwas zu essen geben.« Sie versuchte, ihr Angebot verlockender klingen zu lassen. »Dann hättet Ihr wenigstens auch noch eine ordentliche Mahlzeit zu Eurem warmen Schlafplatz. Ihr habt mir geholfen; laßt Ihr Euch jetzt auch von mir helfen?«

Sein Lächeln kehrte zurück, ein Lächeln voller Dankbarkeit. »Ihr seid eine überaus freundliche Frau, Jennsen. Wenn Eure Mutter es erlaubt, werde ich Euer Angebot annehmen.«

Sie schlug ihren Umhang zurück, so daß man das scharfe Messer in seiner Scheide gewahrte, das sie hinter den Gürtel gesteckt hatte. »Wir werden ihr das Messer geben. Sie wird es zu würdigen wissen.«

»Ich denke, wegen eines fieberkranken Fremden müssen zwei mit Messern bewaffnete Frauen sich keine Sorgen machen.«

Jennsen hoffte, ihre Mutter würde es ebenso sehen.

»Dann also abgemacht. Kommt jetzt, bevor wir noch vom Regen überrascht werden.«

Als sie losging, folgte Sebastian ihr mit schnellen Schritten, bis er sie eingeholt hatte. Sie nahm ihm den Rucksack aus der Hand und warf ihn sich über die Schulter; in seinem geschwächten Zustand hatte Sebastian mit seinem eigenen Rucksack und den neuen Waffen schon genug zu tragen.

»Wartet hier«, flüsterte Jennsen. »Ich gehe und sage ihr, daß wir einen Gast haben.«

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