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»Ich habe die Karten und Notizbücher untersucht«, sagte ich zu Bila Huruma.

»Sind die Unterlagen vollständig?« fragte er.

»Ja, es wurde alles gefunden.«

Wir standen auf einer weitläufigen Steinfläche, zu der verschiedene breite Treppen heraufführten, ausgehend von dem eindrucksvollen Marmorkai am Westrand der uralten Stadt, dem Kai an dem wir vor Tagen gelandet waren, nachdem wir den See überquert hatten. Hinter uns lag das riesige Gebäude mit seinen mächtigen Säulen, von denen einige in die Ruinen gestürzt waren. Links und rechts erhoben sich die überlebensgroßen Gestalten der Steinkrieger, die strengen Blickes nach Westen starrten. Shabas Galeere und die drei Galeeren und Kanus Bila Hurumas, daneben unser kleines Kanu, das uns lange und treu gedient hatte, waren tief unter uns festgemacht.

Wir schauten auf den ruhig daliegenden See hinaus.

Links von uns befanden sich die Überreste eines großen Scheiterhaufens. Bila Huruma hatte eigenhändig die Asche Shabas in die Luft hinaufgeschleudert, damit der Wind sie packe und über die Stadt und den dahinterliegenden Dschungel wehe. So würde ein Teil von Shaba die Reisen fortsetzen, die er als Geograph begonnen hatte, Flocken weißer Asche im Wind, zerbrechlich, aber beständig, schnell verweht, aber ewig, etwas, das mit den Realitäten von Geschichte und auch Ewigkeit unwiderruflich verbunden war.

»Dieser See, der die Quelle des Ua-Flusses ist«, sagte ich, »hat den Namen Bila-Huruma-See erhalten.«

»Das streichst du wieder«, befahl Bila Huruma. »Statt dessen schreibst du Shaba-See hin.«

»Es soll geschehen«, sagte ich.

Eine Zeitlang verfolgten Bila Huruma und ich, wie die Galeeren und Kanus zur Abfahrt vorbereitet wurden. Man hatte gejagt und Vorräte angelegt. Etwa neunzig Askaris waren Bila Huruma geblieben. Von Shabas Leuten hatten siebzehn überlebt.

»Ich bin ein einsamer Mann«, sagte Bila Huruma. »Shaba war mein Freund.«

»Und doch hast du ihn verfolgt«, sagte ich, »um ihn einzuholen und zu töten, um ihn zu berauben.«

Bila Huruma musterte mich verwirrt. »Nein«, antwortete er, »ich bin ihm gefolgt, um ihn zu schützen. Er war mein Freund. Nach unseren Plänen sollte er hundert Galeeren und fünftausend Mann den Fluß hinaufführen. Er jedoch floh mit drei Galeeren und nicht einmal zweihundert Gefolgsleuten, so möchte ich schätzen. Ich wollte ihm mit der Zahl meiner Schiffe und Männer Unterstützung gewähren.«

»Auf der ursprünglich vorgesehenen Expedition solltest du ihn nicht begleiten«, stellte ich fest.

»Natürlich nicht«, gab er zurück. »Ich bin ein Ubar.«

»Warum bist du ihm dann gefolgt?« wollte ich wissen.

»Ich wollte, daß die Flotte durchkam«, sagte er. »Shaba hätte sie ans Ziel bringen können, und dasselbe traute ich mir zu. Ob auch andere dazu in der Lage sein würden, wußte ich nicht.«

»Du bist doch aber ein Ubar«, sagte ich.

»Gleichzeitig war ich sein Freund«, sagte Bila Huruma. »Für einen Ubar ist jeder Freund kostbar. Wir haben so wenige.«

»Shaba sagte mir, er habe dir Unrecht getan«, sagte ich.

Bila Huruma lächelte. »Er hat es bedauert, mich durch Täuschung auf den Fluß gelockt zu haben«, sagte er. »Doch vielleicht hat er mir sogar das Leben gerettet, indem er aus meinem Palast floh. Ein Anschlag war bereits auf mein Leben verübt worden. Er war der Ansicht, daß ich nach seiner Flucht nicht mehr unmittelbar in Gefahr sein würde.«

Ich nickte. Msaliti, der am Fluß den Schutz des Ubars und seiner Männer brauchte, hatte seine Mordpläne daraufhin sicher aufgegeben, zumindest vorübergehend. Eine solche Tat war nur sinnvoll, soweit sie dazu beitrug, Hindernisse auf dem Weg zur Erlangung des Tahari-Ringes zu beseitigen.

»Hat Msaliti dir nicht zugeraten, Shaba zu verfolgen?« fragte ich. »Hat er dir nicht mitgeteilt, daß Shaba im Besitz einer außerordentlich wertvollen Sache sei?«

»Nein«, erwiderte Bila Huruma. »Ein solcher Vorstoß war seinerseits gar nicht erforderlich, denn ich hatte mich von allein zu der Expedition entschlossen. Er bat lediglich, mich begleiten zu dürfen, was ich ihm natürlich gestattete.«

»Es will mir scheinen, als habe Shaba damit gerechnet, daß ich oder ein anderer ihm den Fluß herauf folgen würde«, sagte ich.

»Ja«, meinte Bila Huruma. »Aus irgendeinem Grund hat er nicht erwartet, den Vorstoß zu überleben. Vielleicht solltest du oder ein anderer ihm folgen, um seine Karten und Notizbücher sicher in die Zivilisation zurückzubringen.«

»Es sieht so aus«, sagte ich.

»Warum hat er nicht damit gerechnet zu überleben?« fragte Bila Huruma.

»Der Fluß, die Gefahren, die Krankheit«, mutmaßte ich.

»Ganz bestimmt auch wegen der Ungeheuer«, meinte Bila Huruma.

»Ja, auch wegen der Ungeheuer.«

»Und wohl auch deinetwegen«, fuhr Bila Huruma fort. »Gewiß hättest du ihn umgebracht wegen der Sache, auf die es dir ankam.«

»Ja«, sagte ich. »Wäre es nötig gewesen, hätte ich ihn deswegen getötet.«

»Es muß eine sehr kostbare Sache sein«, sagte Bila Huruma.

»Das war sie«, erwiderte ich nickend.

»War?« fragte er.

»Die Kurii haben sie jetzt«, erwiderte ich, »die Ungeheuer, die uns angegriffen haben.«

»Ich verstehe«, sagte er.

»Shaba«, fuhr ich fort, »sagte mir, er habe dich für seine Zwecke eingespannt. Ich glaube, seiner Meinung nach hat er dir in diesem Sinne ein Unrecht angetan und weniger dadurch, daß er dich den Fluß heraufgelockt hat.«

»Darüber sprach er zu mir vor seinem Tode«, sagte Bila Huruma.

»Ich kann nicht verstehen, inwiefern du für seine Zwecke eingespannt worden bist.«

»Liegt das nicht auf der Hand?« fragte er lächelnd.

»Nein«, sagte ich.

»Ich sollte dich bei deiner Fahrt flußabwärts beschützen«, sagte er. »Die Landkarten und Notizbücher sollten heil in die Zivilisation zurückkehren.«

Wie betäubt stand ich auf der Plattform. Kisu erstieg die Treppe zu uns. »Die Galeeren, die Kanus sind bereit«, meldete er.

»Gut«, sagte Bila Huruma.

»Wir kommen gleich«, sagte ich.

Kisu nickte und machte auf der Treppe kehrt, um zu den Schiffen zurückzukehren.

»Wir sind beide getäuscht worden«, sagte Bila Huruma.

»Du scheinst deswegen nicht verbittert zu sein.«

»Bin ich auch nicht«, sagte er.

»Wir könnten die Landkarten und Notizbücher verbrennen«, sagte ich.

»Natürlich.«

»Aber ich bringe es nicht fertig.«

»Ich auch nicht«, stimmte mir der Ubar lächelnd zu. »Wir werden sie nach Ushindi bringen, von dort kannst du sie mit angemessener Eskorte den Nyoka hinab nach Schendi bringen. Ramani aus Anango, der Shabas Lehrmeister war, wartet dort auf sie.«

»Shaba hat alles gründlich durchgeplant«, sagte ich.

»Er wird mir sehr fehlen«, sagte Bila Huruma.

»Er war ein Dieb und ein Verräter«, sagte ich.

»Er blieb seiner Kaste treu«, sagte Bila Huruma.

»Ein Dieb und ein Verräter«, sagte ich aufgebracht.

Bila Huruma wandte sich ab und blickte auf die Ruinen des riesigen Gebäudes, auf die verwitterten Denkmäler und die vergessene Stadt, die sich im Osten erstreckte.

»Hier gab es einmal ein großes Reich«, sagte er. »Jetzt ist es verschwunden, und wir wissen nicht einmal, wer diese Steine auftürmte und ausrichtete, wer die Mauern und Tempel entstehen ließ und die Gärten und breiten Straßen anlegte. Wir wissen nicht einmal den Namen dieses Reiches oder wie die Menschen hier sich nannten. Wir wissen nur, daß sie diese Dinge bauten und eine Zeitlang darin lebten. Reiche erblühen und scheinen dann wieder zu vergehen. Trotzdem müssen die Menschen sie erschaffen.«

»Oder vernichten«, sagte ich.

»Oder das«, sagte Bila Huruma und richtete den Blick auf die Galeeren und Kanus. Dort unten erwartete uns Kisu. »Ja, oder das«, fuhr er fort. »Einige Männer erschaffen Reiche, andere möchten sie vernichten.«

»Und was ist das edlere?« fragte ich.

»Ich finde«, sagte Bila Huruma, »es ist besser zu bauen als zu zerstören.«

»Obwohl auch die eigene Welt einmal zu Staub zerfallen wird?« fragte ich.

»Ja, trotzdem«, entgegnete Bila Huruma.

»Weißt du, was ich und Msaliti bei Shaba gesucht haben?«

»Natürlich. Vor seinem Tode hat mir Shaba alles gesagt.«

»Es war nicht sein rechtmäßiges Eigentum«, sagte ich. »Er war ein Dieb und ein Verräter.«

»Er blieb seiner Kaste treu«, stellte Bila Huruma fest.

Ich kehrte dem Ubar den Rücken zu und begann die Stufen hinabzugehen.

»Warte«, sagte Bila Huruma.

Ich wandte mich ihm zu, und er folgte mir, bis wir wieder auf gleicher Höhe standen.

»Shaba hat mich gebeten, dir dies zu geben«, sagte er. »Er hatte es in seiner Kleidung versteckt.« Er drückte mir einen großen Ring in die Hand, ein Schmuckstück, das für einen menschlichen Finger zu groß war. Er bestand aus Gold und hatte eine eingefaßte silberne Platte. An der Außenseite des Rings, gegenüber der Fassung, befand sich ein eingelassener runder Schalter. Auf dem eigentlichen Ring entdeckte ich einen winzigen Kratzer, den ich sofort wiedererkannte.

Meine Hand begann zu zittern.

»Shaba«, fuhr Bila Huruma fort, »hat mich gebeten, dir seinen Dank auszurichten – und seine Entschuldigung. Er brauchte den Ring, weißt du. Am Ua-Fluß hat er ihm gute Dienste geleistet, wie du dir vorstellen kannst.«

»Seinen Dank?« fragte ich. »Seine Entschuldigung?«

»Er hatte den Ring gewissermaßen geliehen«, fuhr Bila Huruma fort. »Er wollte ihn nicht für immer behalten. Er hoffte, daß es dir nichts ausmachen würde.«

Ich brachte kein Wort heraus.

»Er hatte die Absicht, dir den Ring persönlich zurückzugeben«, erklärte Bila Huruma, »aber der überraschende Angriff der Ungeheuer kam ihm dazwischen.«

Ich schloß die Hand um den Ring. »Weißt du, was du mir da gibst?« fragte ich.

»Ein Ring von großer Macht«, sagte Bila Huruma, »ein Schmuckstück, das seinem Besitzer den Mantel der Unsichtbarkeit umlegen kann.«

»Mit einem solchen Ring könntest auch du selbst unsichtbar sein«, sagte ich.

»Mag sein«, sagte Bila Huruma lächelnd.

»Warum gibst du ihn mir?«

»Es war Shabas Wunsch«, antwortete Bila Huruma.

»Ich hatte es kaum für möglich gehalten, daß es solche Freundschaften gibt«, sagte ich.

»Ich bin ein Ubar«, sagte Bila Huruma. »In meinem ganzen Leben habe ich nur zwei Freunde gehabt. Jetzt sind beide tot.«

»Shaba war der eine«, sagte ich.

»Natürlich«, sagte Bila Huruma.

»Wer war der andere?« wollte ich wissen.

»Den anderen habe ich töten lassen«, sagte er.

»Und wie hieß er?«

»Msaliti«, antwortete er.

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