19

»Warum steht hier kein Wächter?« fragte ich.

»Der ist erledigt«, antwortete Msaliti. »Sei unbesorgt!« Er deutete auf die Tür. »Tritt ein!«

»Sicher hat Shaba andere Angehörige seiner Kaste bei sich, Geographen oder Schriftgelehrte«, meinte ich.

»Tritt ein!« drängte mich Msaliti.

»Leih mir deine Lampe!« forderte ich. Er trug eine kleine flache Lampenschale, in der Tharlarionöl brannte.

»Die Askaris könnten das Licht durch die Wände ausmachen«, sagte er. »Es sind viele Soldaten unterwegs. Beeil dich!«

Ich ließ mich in den Raum gleiten. Drinnen war es pechschwarz. Ich stand mit dem Rücken zur Graswand links von der Tür.

Die Schlafplattform, so hatte man mir gesagt, befand sich ungefähr in der Mitte. Shaba, so vermutete ich, trug den Ring um den Hals. Zoll um Zoll, alle Sinne auf das äußerste angespannt, rückte ich zur Zimmermitte vor. Msaliti hatte mich persönlich vor dem Raum abgeliefert. Er war nicht in Begleitung von Askaris gewesen. Das fand ich etwas seltsam.

»Von deiner Tat dürfen möglichst wenige erfahren«, hatte er gesagt.

»Ja«, hatte ich erwidert.

Aber gewiß rechnete er doch nicht damit, daß ich ihm den Ring brachte. Ich hatte erwartet, daß er im Gefolge von Askaris erscheinen würde, die er auf mich hetzen konnte, mir den Garaus zu machen, sobald ich Shaba getötet oder den Ring in meinen Besitz gebracht hatte. Doch es war niemand zu sehen. Natürlich war es meine Hoffnung gewesen – und ein Risiko, das Msaliti wohl eingehen mußte –, daß ich mit dem Ring seinen Askaris entgehen konnte, selbst wenn das Zimmer umstellt worden war. Hätte ich den Ring besessen, wäre der Vorteil letztlich wohl doch auf meiner Seite gewesen. Es waren Chancen, die Msaliti einfach hatte annehmen müssen. Ich konnte natürlich jederzeit den Raum verlassen, indem ich mich irgendwo gewaltsam durch die Grasmauer arbeitete.

Als ich mich umblickte, bemerkte ich, wie sich Msalitis Lampe vor dem Zimmer zweimal hob und senkte.

Ich lächelte vor mich hin. Ich sah darin ein Zeichen an seine Askaris, die sich jetzt bestimmt in der Dunkelheit draußen anschlichen.

Dann hörte ich hastige Schritte. Augenblicklich duckte ich mich nieder, den Dolch blank gezogen, die Klinge in die Höhe gestreckt, die linke Hand abwehrbereit erhoben. Ich war erstaunt. Aber die Schritte näherten sich nicht mir. Ich glaubte Geräusche wahrzunehmen, die auf ein Klettern hindeuteten. Plötzlich gellte in der Dunkelheit vor mir ein schrecklicher Schmerzensschrei auf, gefolgt von einem wilden, jämmerlichen Kreischen, das in krampfartigem Husten und Keuchen endete. Fingernägel kratzten über eine hölzerne Oberfläche, ein Körper zuckte hin und her.

Ich wandte mich zur Flucht, doch an der Tür wurde ich schon von den angriffsbereit erhobenen Lanzenspitzen mehrerer Askaris erwartet. Vom Msaliti keine Spur. Ich hob die Hände und ließ das Messer dabei fallen. Männer mit Lampen erschienen.

Und da sah ich, daß ich mich gar nicht im Schlafgemach Shabas befand.

In der Mitte des Raums, auf einer hohen Plattform, etwa neun Fuß über dem Boden, gestützt von acht Pfosten, erblickte ich nicht etwa Shaba, sondern Ubar Bila Huruma – mit untergeschlagenen Beinen dasitzend, nackt bis auf die Kette mit Pantherzähnen um den Hals.

Männer packten mich an den Armen, hielten sie fest. Ich spürte, wie mir die Hände auf dem Rücken zusammengebunden wurden.

Mehrere Lampen erhellten das Zimmer inzwischen bis in die Ecken. Auf ein Zeichen des Ubars wurden noch weitere Lichtquellen entzündet.

Ich blickte in die flache, runde Grube in der Mitte des Raums. Sie war etwa einen Fuß tief. Die Pfosten der Schlafplattform nahmen hier ihren Anfang. In der Grube lag ein Askari – eine blutige Hand umklammerte noch einen Holzpfosten. Sein Körper war auf entsetzliche Weise verdreht und entstellt. Das Fleisch hatte eine schwärzlich-orangerote Färbung angenommen und war stellenweise aufgeplatzt, wobei sich die Haut zurückwölbte wie Papier. Dicht neben ihm war ein Messer in die Grube gefallen. Rings um seinen Körper krochen kleine, nervöse, wendige Schlangen – Osts. Seltsamerweise war jedes dieser Geschöpfe an einen Faden gebunden. Ich zählte acht der winzigen Reptilien. Die Schnüre führten von ihren Köpfen zu einem Pfahl am Kopfende der Schlafplattform, wo sie angebunden worden waren. Nahe dem Fuß der Schlafgelegenheit hing ein Flechtkorb. Die Ost ist gewöhnlich eine orangerote Schlange, hier jedoch handelte es sich um Ushindi-Osts, die eine rote Haut mit schwarzen Streifen besitzen. Anatomisch und im Hinblick auf ihr Gift sollen sie mit der gewöhnlichen Ost beinahe identisch sein.

»Was geht hier vor, mein Ubar?« rief Msaliti, der in diesem Augenblick über die Schwelle eilte. Seine Kleidung war durcheinander, als hätte das Geschrei ihn geweckt. Die Lampe hatte er nicht bei sich. Beim hastigen Aufstehen hatte er natürlich nicht die Zeit, ein Licht anzuzünden. Ich bewunderte ihn. Er war ein schlauer Bursche.

Plötzlich hielt Msaliti verblüfft inne. Er schien erstaunt zu sein, aber nach kurzer Zeit faßte er sich wieder. »Mein Ubar!« rief er. »Geht es dir gut?«

»Ja«, sagte Bila Huruma.

Beim Eintreten hatte Msaliti den Ubar angerufen, doch als er ihn dann tatsächlich erblickte, hatte er einen Sekundenbruchteil lang verblüfft reagiert. Ich machte mir klar, daß er gerufen hatte, damit alle Anwesenden erkannten, er habe den Ubar bei seinem Eintreten bei bester Gesundheit erwartet. Als er dann aber sehen mußte, daß der Ubar tatsächlich noch lebte, hatte er seine Überraschung einen Augenblick lang nicht verhehlen können. Er hatte sich schnell wieder gefaßt. Er konnte im Grunde nicht wirklich damit gerechnet haben, daß ich den Ubar tötete. Mein Interesse galt dem Ring. Hätte ich ihn nicht bei Shaba gefunden, hätte ich den Mann sicher nicht umgebracht und wäre damit das Risiko eingegangen, das kostbare Stück für immer zu verlieren.

Msaliti blickte in die flache Grube unter der hohen Schlafplattform Bila Hurumas. Der Anblick schien ihn nicht gerade zu erfreuen.

»Was ist passiert?« fragte er. Eingehend betrachtete er die verzerrt daliegende Gestalt, deren verfärbte Hände noch immer den Pfosten umklammerten. »Das ist ja Jambia«, fuhr er fort, »dein Wächter.«

»Er hat versucht, mich umzubringen«, sagte Bila Huruma. »Zweifellos hat er einen guten Preis dafür bekommen. Aber er wußte nichts von den Osts. Dieser Mann ist bestimmt sein Komplize.«

In diesem Augenblick ging mir der raffinierte Plan Msalitis auf. Allerdings hatte er die Genialität seines Ubars unterschätzt.

Er hatte mir gesagt, der Wächter sei beseitigt worden. In Wirklichkeit hatte er sich im Inneren des Raumes befunden, von Msaliti bestochen, und hatte auf das Lampensignal gewartet. Mir fiel ein, daß Msaliti mir am Morgen noch gesagt hatte, der Wiederbeschaffung des Ringes stehe eigentlich am meisten Bila Huruma im Wege und daß es leicht sein müßte, Shaba zu verhaften und an den Ring zu kommen, wäre der Herrscher erst einmal aus dem Weg. Davon ausgehend, hatte er einen simplen Plan geschmiedet. Jambia sollte Bila Huruma umbringen und sodann fliehen, vermutlich indem er sich durch eine Graswand entfernte. Ich sollte dann im Schlafraum des Ubars angetroffen werden. Vielleicht sollte Jambia selbst die Tat entdecken. Natürlich würde der Riß in der Graswand gegen mich ausgelegt werden – als Spur meines Eindringens und nicht als Überbleibsel einer Flucht aus dem Zimmer. Hätte der Plan geklappt, wäre Bila Huruma tot gewesen, und Shaba, seines Beschützers ledig, hätte gegen Msaliti nicht mehr viel ausrichten können, der als Großwesir natürlich die Zügel der Regierungsgeschäfte sofort übernehmen würde, wenn auch nur vorübergehend. Meine falsche Identität als Abgesandter von Teletus, die Msaliti für mich gestrickt hatte, konnte mich unter solchen Umständen nicht länger schützen. Wenn ich überhaupt diplomatische Immunität besessen hatte, dann war es spätestens jetzt damit vorbei. Msaliti hätte mit mir machen können, was ihm einfiel. Der erfolgreich in die Tat umgesetzte Plan hätte es ihm nicht nur ermöglicht, an den Ring heranzukommen, sondern mich gleichzeitig loszuwerden, mich, der ich das Geheimwissen um den Ring mit ihm teilte und der selbst daran interessiert sein mochte, den Ring zu Belisarius in Cos zurückzubringen, von wo er dann zu den Kurii zurückkehren sollte. Ich hatte Msaliti Schwierigkeiten bereitet. Und ich mochte ihm auch künftig Probleme machen. So hatte er eine nützliche Rolle für mich in seinen Plänen gefunden. Und wenn dann noch angenommen wurde, ich sei der Mörder, würde die Aufmerksamkeit der Ermittler noch zusätzlich vom Hof fortgelenkt und befaßte sich nicht mit Dingen, die im Palast abliefen.

Msalitis Plan war aber nicht aufgegangen.

»Tötet ihn!« sagte Msaliti und deutete auf mich.

Zwei Askaris hoben ihre kurzen Speere, um sie mir in die Brust zu bohren.

»Nein«, sagte Bila Huruma.

Die Soldaten senkten ihre Speere.

»Sprichst du Ushindi?« fragte mich der Ubar.

»Nur ein wenig«, antwortete ich. Ayari, mit dem ich am Kanal an der Gaunerkette gehangen hatte, war mir beim Lernen sehr behilflich gewesen. Ich hatte mein Vokabular schnell erweitern können. Die Grammatik dagegen war viel schwieriger. Ich beherrschte die Sprache der Binnenländer sehr schlecht, doch immerhin bekam ich dank Ayari einiges von dem mit, was ringsum gesprochen wurde.

»Wer hat dich angeworben?« fragte Bila Huruma.

»Niemand«, antwortete ich. »Ich wußte nicht, daß dies dein Schlafgemach ist.«

Beinahe zärtlich machte sich Bila Huruma daran, die winzigen Osts an ihren Fäden aus der Vertiefung zu ziehen und im Korb am Fußende der Schlafplattform zu verstauen.

»Gehörst du der Kaste der Attentäter an?« fragte er.

»Nein«, antwortete ich.

Er hielt die letzte Ost empor, an der Schnur baumelnd, etwa fünf Fuß über der Grube unter seinem Bett.

»Führt ihn näher heran!« befahl er.

Ich wurde an den Rand der Grube gezerrt. Bila Huruma streckte den Arm aus. Ich sah die kleine Ost, rot, mit schwarzen Streifen, dicht vor meinem Gesicht. Die winzige gespaltene Zunge zuckte zwischen den schmalen Kiefern hin und her.

»Gefällt dir mein kleiner Freund?« fragte er.

»Nein.«

Die Schlange wand sich an der Schnur.

»Wer hat dich für deine Dienste bezahlt?«

»Niemand«, antwortete ich. »Ich wußte nicht, daß dies dein Schlafgemach ist.«

»Wahrscheinlich weißt du wirklich nicht, wer letztlich für deine Dienste bezahlt«, sagte er. »Solche Leute treten doch nie offen in Erscheinung.«

»Er ist weiß«, sagte ein Mann hinter mir. »Nur die Leute in Schendi würden einen solchen Mörder beauftragen. Sie kennen die Sleen des Nordens.«

»Mag sein«, sagte Bila Huruma.

Die Schlange wurde angehoben, bis sie sich in Höhe meiner Augen befand.

»Kennst du Jambia, der mein Wächter war?« fragte Bila Huruma.

»Nein.«

»Warum wolltest du mich töten?« fragte der Ubar.

»Ich wollte dich nicht umbringen«, erwiderte ich.

»Warum bist du dann hier?« fragte er weiter.

»Ich wollte etwas Wertvolles finden«, sagte ich.

»Ah!« sagte Bila Huruma. Dann wandte er sich mit einigen schnellen Worten an einen Askari. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte.

Bila Huruma nahm die kleine Schlange und verstaute sie sorgfältig im hängenden Korb. Dann verschloß er den Korb mit einem Deckel. Ich atmete auf.

Urplötzlich wurde mir eine schwere Goldkette um den Hals gelegt. Jemand hatte sie aus einer der Truhen genommen, die die Wände des Raumes säumten.

»Du warst Gast in meinem Haus«, sagte er. »Wenn dir der Sinn nach etwas Wertvollem stand, hättest du danach fragen sollen. Ich hätte es dir ohne weiteres gegeben.«

»Vielen Dank, Ubar!«

»Wäre ich andererseits der Meinung gewesen, du hättest nicht darum bitten sollen«, fuhr er fort, »hätte ich dich umgebracht.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Aber ich mache dir gern dieses Geschenk«, fuhr er fort. »Die Kette gehört dir. Wenn du ein Mörder bist, nimm sie hin anstelle der Bezahlung, die dir ja nun entgeht. Wenn du, wie ich vermute, ein einfacher Dieb bist, soll die Kette das Zeichen meiner Bewunderung für deine Kühnheit sein. Es erfordert Mut, in das Schlafgemach eines Ubars einzudringen.«

»Ich wußte ja nicht einmal, daß dies dein Gemach ist«, sagte ich.

»Dann behalte das Stück zur Erinnerung an unsere Begegnung.«

»Sei bedankt, Ubar!« äußerte ich.

»Trage es am Kanal!« fuhr er fort. »Bringt ihn fort!«

Zwei Askaris drehten mich herum und stießen mich zur Tür. Vor der Schwelle blieb ich stehen, was die Askaris erstaunte. Meine beiden Häscher mit mir ziehend, drehte ich mich noch einmal zu Bila Huruma um.

Unsere Blicke begegneten sich.

Und zum ersten Mal schaute ich tief in die Augen Bila Hurumas.

Er saß auf seiner hohen Plattform über den anderen, eine einsame, von dem Menschen isolierte Gestalt, das Halsband aus Tigerzähnen auf der Brust, die Lampen unter sich.

Und einen Augenblick lang spürte ich, was es bedeuten mußte, Ubar zu sein. In diesem Moment sah ich ihn als das, was er wirklich war, was er sein mußte. Ich erschaute Einsamkeit, Entscheidungsfreude und Macht. In einem Ubar mußten dunkle Kräfte schlummern. Er mußte zu etwas fähig sein, das viele Menschen nicht fertigbrachten – zu tun, was getan werden mußte.

Nur einer kann auf dem Thron sitzen, so geht das Sprichwort. Und, so heißt es ferner, wer auf dem Thron sitzt, ist der einsamste aller Menschen.

Er ist es, der allen anderen Menschen fremd erscheinen muß und für den alle Menschen Fremde sein müssen.

Der Thron ist wahrlich ein einsames Reich.

Viele Menschen wünschen sich, dort zu leben, doch nur wenige wären wohl in der Lage, seine Last zu ertragen.

Stellen wir uns unsere Ubars auch weiterhin als Menschen vor, die im Grunde wie wir sind – nur vielleicht ein wenig klüger und stärker oder mehr vom Glück begünstigt. Auf diese Weise schaffen wir es vielleicht, uns unter ihnen weiter wohl zu fühlen, und uns ihnen vielleicht ein wenig überlegen zu fühlen. Aber wir dürfen ihnen nicht zu tief in die Augen schauen, denn wir könnten dort Dinge entdecken, die sie uns entfremden.

Es ist nicht immer wünschenswert, einem Ubar zu tief in die Augen zu schauen.

Die Askaris drehten mich wieder um. Mein Blick streifte über das Gesicht Msalitis.

Dann wurde ich aus der Schlafkammer Bila Hurumas geleitet. Sein Geschenk, eine goldene Halskette, wog mir schwer auf der Schulter. Ich erinnerte mich an ihn, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte – auf der hohen Plattform sitzend, an der ein Korb voller Osts baumelte.

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