»Ist sie nicht wunderschön?« flüsterte Ayari.
»O ja!« sagte ich.
»Ruhe!« befahl ein Askari.
»Steht stramm!« forderte ein anderer Aufseher. »Hebt die Köpfe! Achtet darauf, daß eure Reihe gerade ist!«
»Wer ist der Mann, der Kisu genannt wird?« fragte ein Askari, der durch das Wasser herbeiwatete.
»Keine Ahnung!« sagte ich.
»Der da!« sagte Ayari und deutete auf Kisu, der einige Kettenplätze von uns entfernt stand.
Langsam wurde die Staatsplattform nähergezogen. Sie bestand aus Planken, die auf den Bordwänden von vier langen Kanus befestigt waren. Von angeketteten Sklaven gezogen, kam das Gebilde langsam näher. Auf der Plattform, beschattet von einem Seidenbaldachin, befand sich ein Podest, auf dem zahlreiche Seidenkissen lagen.
»Warum hast du ihm gesagt, wer Kisu ist?« fragte ich.
»Sie kennt ihn doch, oder?«
»Da hast du recht«, sagte ich.
Auf den Kissen lag zurückgeneigt und auf einen Ellbogen gestützt ein hübsches, hochmütig wirkendes Mädchen. Sie trug eine goldbestickte gelbe Robe und zahlreiche Schmuckreifen und Edelsteine.
»Das ist Tende«, flüsterte einer der Männer, »die Tochter Aibus, des hohen Häuptlings des Ukungu-Distrikts.«
Dies wußten wir längst, denn die Botschaft der Trommeln war ihr aus dem Osten vorausgeeilt.
Links und rechts von Tende kniete je ein hübsches weißes Sklavenmädchen, am Hals und am linken Fußgelenk eine Kette aus weißen Muscheln, am Körper ein kurzes Wickeltuch aus rot und schwarz bedrucktem Reptuch. Beide Sklavinnen besaßen eine hübsche Figur. Ich fand es schwer, den Blick von ihnen zu wenden. Sie gehörten zu den Geschenken, die Tende von ihrem vorgesehenen Gefährten übersandt worden waren. Ich lächelte und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Obwohl sie als persönliche Sklavinnen einer Frau dienen sollten, waren sie bestimmt von einem Mann ausgesucht worden. Jede der beiden Sklavinnen hielt an langem Griff einen Fächer aus bunten Federn. Mit sanften Bewegungen fächelten sie ihrer Herrin Kühlung zu.
Ich betrachtete die blonde Barbarin, die früher einmal Janice Prentiss geheißen hatte. Sie kniete links von Tende, also zu meiner Rechten. Sie begegnete meinem Blick nicht. Ihre Unterlippe zitterte. Sie wagte es nicht, sich anmerken zu lassen, daß sie mich kannte.
Tende hatte sich eine Peitsche um den linken Unterarm gebunden.
»Steht strammer!« befahl ein Askari.
Wir gehorchten.
In Tendes Nähe standen vier Askaris in der Aufmachung, die ich von Bila Hurumas Hof kannte – es waren seine Abgesandten. Wie die meisten Askaris waren sie mit fransenversehenen langen Schilden und kurzen Stoßspeeren bewaffnet. Die Tochter Aibus wurde gut bewacht. Weitere Askaris wateten unweit der Plattform durch das Wasser.
Neben den Askaris hielt sich ein weiterer Mann auf der Plattform auf. Es war Mwoga, der Wesir Aibus, der Tende zur Feier ihrer Gefährtenschaft geleitete. Ich erkannte ihn sofort, denn ich kannte ihn aus Bila Hurumas Palast. Wie so viele Menschen aus dem Landesinnern und den benachbarten Ebenen und Savannen im Norden und Süden der Äquatorzone besaß er lange, gestreckte Glieder und war hochgewachsen – eine körperliche Besonderheit, die die Abstrahlung von Körperhitze erleichterte. Sein Gesicht wies Tätowierungen auf, wie sie hier im Landesinnern üblich waren. Nach den Mustern lassen sich natürlich einzelne Stämme erkennen, manchmal sogar Dörfer und Distrikte. Er trug eine lange schwarze Robe, die mit Goldfäden bestickt war, und eine weiche flache Mütze, ähnlich dem in Schendi gebräuchlichen Kleidungsstück. Ich zweifelte nicht daran, daß ihm diese Gewandung am Hof Bila Hurumas zum Geschenk gemacht worden war. Trotz der Internationalität seines Hofes trug Bila Huruma selbst meistens die Häute, Federn und das Gold der Askaris. Das ging nicht nur darauf zurück, daß sie die Grundlage seiner Macht bildeten und er ihnen schmeicheln wollte. Vielmehr war er selbst Askari und sah sich als Askari. Im Hinblick auf seine Kraft, Geschicklichkeit und Intelligenz gab es nichts dagegen zu sagen, daß er der erste unter ihnen war. Er war ein Askari unter Askaris.
»Sieh nur, meine Dame!« sagte Mwoga jetzt und deutete auf Kisu. »Hier steht der Feind deines Vaters und auch dein Feind, hilflos angekettet im Sumpf. Schau ihn dir an, untersuch ihn! Er widersetzte sich deinem Vater. Jetzt hängt er an einer Gaunerkette und gräbt für deinen künftigen Gefährten, den großen Bila Huruma, im Schlamm herum.«
Der Ukungu-Dialekt ist mit der Ushindi-Sprache eng verwandt. Leise übersetzte mir Ayari das Gespräch. Doch hätte ich auch ohne ihn dem Dialog einigermaßen folgen können.
Kisu blickte der lässig dasitzenden Frau kühn in die Augen.
»Du bist die Tochter des Verräters Aibu«, sagte er.
Tendes Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
»Wie mutig der Rebell hier spricht!« sagte Mwoga spöttisch.
»Wie ich sehe«, wandte sich Kisu an Mwoga, »du bist jetzt ein wichtiger Wesir. Du hast deine Position als unbedeutender Häuptlingslakai verlassen und bist aufgestiegen. Solche Glücksfälle gibt es eben in der Politik immer wieder.«
»Manche haben dabei mehr Glück als andere«, erwiderte Mwoga. »Du, Kisu, warst zu dumm, um die Politik zu verstehen. Du bist halsstarrig und töricht, du verstandest dich nur auf den Speer und die Kriegstrommel. Du greifst an wie ein Kailiauk. Ich verhielt mich klüger; ich wartete die richtige Zeit ab – so wie es die Ost tut. Der Kailiauk läßt sich in der Palisade einsperren. Die Ost schlüpft zwischen den Stämmen des Zauns hindurch.«
»Du hast Ukungu an das Imperium verraten«, sagte Kisu.
»Ukungu ist ein Distrikt in diesem Reich«, erwiderte Mwoga. »Ein Aufstand war gegen das Gesetz.«
»Du verdrehst Worte!« fauchte Kisu.
»Wie stets bei solchen Fragen hat der Speer entschieden, wo in dieser Sache das Recht liegt«, sagte Mwoga lächelnd.
»Wie wird sich das später in den Geschichten anhören?« wollte Kisu wissen.
»Wir werden die Überlebenden sein, die diese Geschichten erzählen«, sagte Mwoga.
Kisu trat einen Schritt vor, doch ein Askari neben ihm hielt ihn zurück.
»Es kann kein Volk verraten werden«, sagte Mwoga, »das nicht damit einverstanden ist.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Kisu.
»Das Reich bedeutet Sicherheit und Zivilisation«, erklärte Mwoga. »Die Menschen sind der Stammesfehden überdrüssig. Die Menschen wünschen sich Ruhe und Frieden, um ungestört ihre Ernte einfahren zu können. Wie können sich Menschen frei nennen, wenn sie jeden Tag das Einsetzen der Dämmerung fürchten müssen?«
»Das verstehe ich nicht«, wiederholte Kisu.
»Das liegt daran, daß du ein Jäger bist, ein Mann, der tötet«, sagte Mwoga. »Du lebst nach dem Speer, du kennst Überfälle, Gegenattacken, den Rachedurst, die Schatten des Waldes. Stahl ist dein Werkzeug, die Dunkelheit dein Verbündeter. Bei den meisten Menschen jedoch ist das anders. Die meisten wünschen sich den Frieden.«
»Alle Menschen wünschen sich den Frieden«, sagte Kisu.
»Wenn das so wäre, gäbe es keinen Krieg«, sagte Mwoga.
Kisu musterte ihn aufgebracht. »Bila Huruma ist ein Tyrann«, sagte er.
»Natürlich«, entgegnete Mwoga.
»Man muß sich ihm widersetzen.«
»Dann widersetz dich ihm doch!«
»Man muß ihn stürzen.«
»Dann stürz ihn!«
»Du siehst dich als Held, der du mein Volk ins Licht der Zivilisation führen willst?« fragte Kisu.
»Nein«, sagte Mwoga. »Ich gehorche den Umständen. Ich diene mir selbst und meinen Vorgesetzten.«
»Jetzt endlich sprichst du ehrliche Worte!«
»Die Politik, die Bedürfnisse, die Zeit – dies alles bringt Männer wie mich in den Vordergrund«, fuhr Mwoga fort. »Ohne Männer wie mich könnte es keine Veränderung geben.«
»Der Tharlarion und die Ost haben ihren Platz im Palast der Natur.«
»Und ich werde den meinen am Hof von Ubars finden«, ergänzte Mwoga.
»Stell dich mit dem Speer zum Kampf!« forderte Kisu.
»Wie wenig du doch begreifst!« sagte Mwoga. »Wie naiv siehst du doch die Dinge! Wie sehr sich dein Herz nach solchen Vereinfachungen sehnt!«
»Ich möchte dein Blut an meinem Speer sehen«, sagte Kisu.
»Das Reich würde trotzdem weiterbestehen«, sagte Mwoga.
»Das Reich ist etwas Böses«, sagte Kisu.
»Wie schlicht du doch denkst!« rief Mwoga staunend. »Wie betäubt und verwirrt mußt du sein, wenn du gelegentlich einmal auf die Wahrheit stößt.«
»Das Reich muß vernichtet werden«, sagte Kisu.
»Dann vernichte es doch!« rief Mwoga.
»Geh und diene deinem Herrn Bila Huruma!« sagte Kisu. »Ich entlasse dich.«
»Deine Großzügigkeit stimmt uns dankbar«, sagte Mwoga lächelnd.
»Und nimm diese Sklavinnen mit, Geschenke für Seine Hoheit Bila Huruma«, fuhr Kisu fort und deutete auf Tende und ihre beiden Dienstboten.
»Lady Tende, Tochter Aibus, des hohen Häuptlings von Ukungu, wird ehrenvoll zur Feier der Gefährtenschaft geleitet, die sie mit Seiner Majestät Bila Huruma eingeht.«
»Sie wird verkauft, um einen Kuhhandel zu besiegeln«, sagte Kisu. »Klarer könnte sie nicht als Sklavin dastehen.«
Tendes Gesicht blieb ausdruckslos.
»Aus eigener Willensentscheidung«, sagte Mwoga, »beeilt sich die Lady Tende, Bila Hurumas Ubara zu werden.«
»Eine von gut zweihundert Ubaras!« rief Kisu spöttisch.
»Sie handelt aus eigenem Entschluß«, wandte Mwoga ein.
»Ausgezeichnet!« rief Kisu. »Dann verkauft sie sich also selbst. Gut gemacht, Sklavin!« rief er dem Mädchen zu.
»Sie wird in eine ehrenvolle Gefährtenschaft eintreten«, sagte Mwoga.
»Ich habe Bila Huruma gesehen«, bemerkte Kisu. »Für ihn ist keine Frau etwas anderes als eine Sklavin. In seinem Palast habe ich viele reizvolle Sklavinnen gesehen, schwarz, weiß und orientalisch. Mädchen, die es wahrlich verstehen, einem Mann zu gefallen, und die das Bedürfnis dazu in sich spüren. Bila Huruma kann zwischen zahlreichen heißblütigen ausgebildeten Sklavenschönheiten wählen. Wenn du an seinem prächtigen Hof nicht allein und unbeachtet dahinsiechen willst, wirst du es lernen müssen, mit ihnen zu wetteifern. Du wirst dich daran gewöhnen, vor ihm auf dem Boden herumzukriechen und ihm mit der uneingeschränkten, wohlig schaudernden Hingabe einer ausgebildeten Sklavin deine Dienste anzubieten.«
Noch immer zeigte sich auf Tendes Gesicht keine Regung.
»Und so wird es auch mit dir kommen, denn im Grunde deines Herzens bist du eine echte Sklavin – das sehe ich schon an deinen Augen.«
Tende hob die rechte Hand, um die die Peitsche gewickelt war, und bewegte sie lässig hin und her. Die beiden erschrockenen Sklavinnen hörten auf zu fächeln. Anmutig erhob sich Tende und stieg von ihrem Podest herab, um sich über Kisu am Rand der Plattform aufzustellen.
»Hast du nichts zu sagen, meine liebe Tende, du schöne Tochter des Verräters Aibu?« erkundigte sich Kisu.
Sie versetzte ihm mit der Peitsche einen Schlag ins Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen, um nicht geblendet zu werden.
»Ich spreche nicht mit einfachen Untergebenen«, sagte sie. Dann kehrte sie an ihren Ausgangsort zurück, und ihr Gesicht war wieder eine Maske der Ausdruckslosigkeit. Auf ihr Zeichen hin bewegten die Sklavinnen wieder die Fächer.
Kisu öffnete die Augen. Über sein Gesicht zog sich ein blutiger Striemen. Er hatte die Fäuste geballt.
»Weiter!« sagte Mwoga zu einem der Askaris auf der Plattform.
Der Mann äußerte einen scharfen Befehl an die Sklaven, die die Plattform schleppten, und deutete mit dem Speer die Richtung an. Die Männer setzten sich in Bewegung, die Kanus mit der Plattform durch das Wasser schleppend.
Wir blickten der Plattform und ihren Passagieren nach.
Ich bedachte Kisu mit einem Blick. Ich nahm nicht an, daß ich noch lange warten mußte.
»Grabt weiter!« sagte ein Askari in unserer Nähe.
Befriedigt und irgendwie auch erfreut stieß ich meine Schaufel tief in den Sand zu meinen Füßen. Wir hockten in dem langen Käfig, der auf dem Floß errichtet worden war. Ich fuhr mir mit den Fingern unter dem Kragen entlang, um meinen Hals etwas zu entlasten. Der Geruch des Sumpfes ringsum war allgegenwärtig.
Unter leisem Kettengerassel kroch er durch die Dunkelheit zu mir. Mit dem Fingernagel kratzte ich ein wenig Rost von der Kette an meinem Kragen. Aus der Ferne gellte das Geschrei von Dschungelvögeln herüber, das Heulen von winzigen Primaten mit langen Gliedmaßen. Es war etwa eine Ahn nach dem spätabendlichen Regen, etwa die zwanzigste Ahn des Tages. Der Himmel war noch immer bedeckt und verbreitete eine Dunkelheit, die für das, was bald geschehen mußte, wie geschaffen war.
»Ich muß mit dir reden«, sagte er in schlechtem Goreanisch.
»Ich wußte gar nicht, daß du meine Sprache beherrschst«, sagte ich und blickte geradeaus in die Dunkelheit.
»Als Kind«, erwiderte er, »bin ich einmal fortgelaufen. Ich lebte zwei Jahre in Schendi und kehrte dann nach Ukungu zurück.«
»Ich hatte auch nicht angenommen, daß dich ein kleines Dorf zufriedenstellen könnte«, sagte ich. »Für ein Kind war das aber eine lange und gefährliche Reise.«
»Ich bin nach Ukungu zurückgekehrt«, sagte er.
»Vielleicht bist du deswegen ein solcher Patriot deiner Gegend«, sagte ich, »weil du einmal von dort geflohen bist.«
»Ich muß mit dir sprechen!« wiederholte er.
»Vielleicht spreche ich aber nicht mit Angehörigen des Adels«, gab ich zurück.
»Verzeih mir!« sagte er. »Ich war dumm.«
»Du hast also doch von Bila Huruma gelernt, der mit allen Menschen spricht.«
»Wie sonst kann man etwas hören?« fragte er. »Wie sonst kann man das andere verstehen?«
»Bettler sprechen mit Bettlern – und Ubars«, sagte ich.
»Das ist ein Schendi-Sprichwort.«
»Ja.«
»Sprichst du Ushindi?«
»Ein wenig«, sagte ich.
»Kannst du mich verstehen?« fragte er in dem Dialekt, der am Hof Bila Hurumas gebräuchlich war.
»Ja«, sagte ich. Die goreanische Sprache fiel ihm nicht leicht. Das Ushindi war für mich nicht leichter. Ayari der rechts neben mir lag, kannte das Ushindi gut genug, um es mühelos in den verwandten Ngao-Dialekt umzusetzen, der im Ukungu-Distrikt gesprochen wurde – doch so weit gingen meine Fähigkeiten nicht. Ich sagte: »Wenn ich dich nicht verstehe, sage ich es dir.« Ich bezweifelte nicht, daß wir uns auf diese Weise verständigen konnten.
»Ich werde versuchen, Goreanisch zu sprechen«, sagte er. »Wenigstens ist das nicht die Sprache des Bila Huruma.«
»Es sprechen auch andere Dinge für das Goreanische«, sagte ich. »Es ist eine komplexe, ausdrucksstarke Sprache mit großem Vokabular.«
»Ukungu ist die schönste Sprache der Welt«, sagte er.
»Das mag schon sein«, erwiderte ich, »aber ich beherrsche es nicht.«
»Ich möchte fliehen«, sagte Kisu auf Goreanisch. »Ich muß fliehen.«
»Na schön – dann fliehen wir doch!« sagte ich.
»Aber wie?« wollte er wissen.
»Die Werkzeuge unserer Flucht befinden sich schon lange in unserer Hand«, sagte ich. »Nur hat mir bisher die Unterstützung gefehlt, die ich brauche, um sie zu nützen.«
Ich wandte mich an Ayari. »Gib die Nachricht an der Kette weiter!« sagte ich. »In beiden Richtungen, in den passenden Sprachen! Wir werden heute nacht fliehen.«
»Wie gedenkst du das anzustellen?« fragte Ayari.
»Erledige deine Aufgabe, mein lieber Übersetzer!« sagte ich. »Du wirst es bald erleben.«
»Was ist, wenn sich einige vor der Flucht fürchten?«
»Dann werden wir sie bei lebendigem Leib von der Kette reißen«, sagte ich.
»Ich weiß nicht, ob mir das gefällt«, sagte Ayari.
»Willst du etwa der erste sein?« erkundigte ich mich.
»Ich doch nicht«, gab Ayari zurück. »Ich habe zu tun. Ich gebe die Nachricht an der Kette durch.«
»Wie können wir fliehen?« fragte Kisu.
Ich hob die Hand und maß die Kette an seinem Kragen – ich ließ die Hand an den Kettengliedern entlanggleiten, bis ich etwa fünf Fuß weiter den Halskragen des nächsten Mannes erreichte. Ich führte die beiden Männer dicht zusammen, bis die Kette in einer Schlaufe auf dem aus Baumstämmen bestehenden Boden des Schlaffloßes lag. Mit tastenden Fingern ließ ich die Schleife zwischen die Enden zweier Stämme gleiten und zog sie an – nun aber etwa zwei Fuß von dem Ende des Baumstammes entfernt, um den die Kette lag. Die Unterseite der Kettenschlaufe befand sich folglich unter Wasser und führte um einen Stamm. Ich gab dem kräftigen Kisu ein Ende der Kette in die Hand und bemächtigte mich des anderen Endes.
»Ich verstehe«, sagte Kisu. »Als Werkzeug ist das aber nicht sonderlich ergiebig.«
»Du könntest die Askaris um ein besseres bitten«, schlug ich vor.
Nun begannen wir in gleichmäßigen, festen Zügen die Kette druckvoll unter dem Stamm hin und her zu ziehen. In wenigen Sekunden hatten wir mit Hilfe dieser primitiven Säge die Rinde des Baumstammes durchtrennt und gruben uns nun in rhythmischem Hin und Her in das splitternde Holz, das darunter lag. Die sich bewegenden Kettenglieder dienten in ihrer Versetzung recht gut als Sägezähne. Ab und zu quietschte das Metall auf dem harten Holz, doch vermochten wir ziemlich leise zu arbeiten, denn die Geräusche pflanzten sich lediglich unter Wasser fort. Es war ein Fehler der Askaris, uns in einem Käfig auf einem Holzfloß unterzubringen und uns außerdem noch die Halsketten zu lassen. Einmal unterbrachen wir die Arbeit, als ein Kanu mit Askari-Aufpassern vorbeiglitt.
Meine Hände, die die Kette umklammerten, begannen zu bluten. Sicher wiesen auch Kisus Hände solche Spuren auf.
Ein Mann kroch herbei. »Das ist doch Wahnsinn!« sagte er. »Ich komme nicht mit.«
»Dann müssen wir dich umbringen«, erwiderte ich.
»Ich habe es mir anders überlegt«, erwiderte er. »Ich mache mit – aus vollem Herzen.«
»Gut«, antwortete ich.
»Der Lärm wird sich unter Wasser fortpflanzen«, sagte ein anderer Mann. Ja, er hatte recht, unter Wasser breitete sich der Schall besser aus als darüber, etwa fünfmal so gut. Diese Fortpflanzung findet aber eine natürliche Barriere in der Wasseroberfläche, so daß wir in dieser Beziehung von den Askaris nichts zu fürchten hatten.
»Bestimmt werden dadurch Tharlarion angelockt«, fuhr der Mann fort.
»Wir warten ab, bis sie das alles erkundet und sich dann wieder verzogen haben«, sagte ich.
Ayari beugte sich zu mir. »Es ist dunkel«, sagte er. »Eine gute Nacht für die wilden Eingeborenen.«
Zwischen meinen Füßen splitterte ein Stück Holz ab.
Ich ließ die Kettenschlaufe zum Ende des Stammes gleiten, dort wo er an den nächsten stieß. In dieser Position mochte die Kette nun als Hebel dienen.
»Zieh!« forderte ich Kisu auf und zerrte heftig an der Kette. Splitternd bog sich das Holz nach oben und brach ab. Mit Fuß und Händen brach ich einige störende Spitzen ab.
»Wir warten jetzt eine gewisse Zeit ab«, sagte ich.
Wir hörten, wie der Rücken eines großen Tharlarion an der Unterseite des Floßes entlangscharrte.
Ich raffte die Kette in meinen blutigen Händen zusammen, um damit nach dem Tier zu schlagen, sollte es die Schnauze durch das Loch stecken.
»Deckt den Balken ab!« sagte ich. »Tut so, als ob ihr schlaft!«
Wir saßen um das abgebrochene Stück Baumstamm, die Köpfe gesenkt, während sich einige andere hingelegt hatten. Die kleine Bugfackel eines weiteren Askari-Kanus glitt an uns vorbei – an Bord befanden sich diesmal zehn bewaffnete Aufseher.
Sie achteten kaum auf uns.
»Sie haben Angst vor Überfällen der Eingeborenen«, sagte Ayari.
Als einige Minuten später alles ruhig zu sein schien, sagte ich: »Der erste Mann an der Kette soll kommen.«
Dieser wurde herbeigeschubst. Er war sichtlich nervös. »Ich würde ja als erster gehen«, sagte ich, »aber das geht nicht, da ich mich in der Mitte der Kette befinde.«
»Was ist mit dem Burschen am anderen Ende der Kette?« fragte er.
»Eine ausgezeichnete Idee«, gab ich zurück. »Es könnte aber sein, daß er genauso unwillig ist wie du – und in diesem Augenblick ist dein Hals in meiner Reichweite, nicht seiner.«
»Was ist, wenn mich Tharlarion anfallen?« fragte er.
»Hast du Angst?« fauchte ich.
»Ja«, gestand er.
»Kein Wunder«, sagte ich. »Es könnten sich hier Tharlarion herumtreiben.«
»Ich steige nicht durch das Loch«, sagte er.
»Atme tief ein«, forderte ich ihn auf, »und bleib in Bewegung, denn andere kommen nach! Schwimm zum Schlammfloß! Dort finden wir Schaufeln.«
»Ich schwimme nicht«, wiederholte er.
Ich packte ihn und stieß ihn mit dem Kopf voran durch das Loch. Der nächste ließ sich mit den Füßen voran in die Tiefe gleiten. Der dritte, der ein wenig rundlich war, zwängte sich nicht ohne Mühe durch die Öffnung zwischen den Baumstämmen. Der vierte folgte. Prustend erschien der Kopf des ersten Mannes neben dem Floß an der Wasseroberfläche. Er begann auf das Schlammfloß zuzuschwimmen. Einer nach dem anderen schoben sich die sechsundvierzig Gefangenen der Kette durch das rettende Loch – Kisu und ich befanden uns etwa in der Mitte der Kette.
»Nehmt euch Schaufeln und bringt das Floß her!« sagte ich.
»Wohin wollen wir?« fragte Ayari.
»Folgt mir!« sagte ich.
»Du willst nach Westen?« erkundigte sich Ayari.
»Wir müssen uns befreien«, sagte ich. »An der Kette kämen wir nicht weit. Wenn wir nach Westen ziehen, können wir neugierige Askaris täuschen. Außerdem liegt im Westen, kaum einen Pasang entfernt, die Insel der Schmiede, wo Männer an die Kette gelegt werden.«
»Es wird dort auch Werkzeuge geben«, sagte Ayari.
»Genau«, sagte ich.
»Wir sollten nach Osten ziehen oder in die Dschungel des Nordens oder Südens«, meinte ein anderer Mann.
Kisu versetzte ihm einen Hieb gegen die Schläfe, so daß er zur Seite torkelte.
Ich musterte Kisu. »Erscheint es dir nicht ratsam, Mfalme, nach Westen zu ziehen?«
Er richtete sich auf. »Ja«, sagte er, »wir gehen nach Westen.«
Sein Einverständnis freute mich. Ohne seine Zustimmung, ohne sein Prestige wäre es für mich schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen, der Kette meinen Willen aufzuzwingen. Ohne seine Unterstützung, ohne seinen Einfluß wären wir vermutlich nicht aus dem Käfig herausgekommen. Daß er den Burschen niederschlug, war für mich der Hinweis, daß auch er es für angebracht hielt, nach Westen zu ziehen. Ihn mit seinem Titel Mfalme ansprechend, hatte ich ihn dazu gebracht, seine Haltung klar zu äußern. Seine Antwort beruhigte die Männer. Zugleich hatte ich natürlich meinen Respekt vor seinen Ansichten zum Ausdruck gebracht, den ich in der Tat hatte, und mit der Erwähnung seines Titels hatte ich bestätigt, daß ich seinen hohen Status für Ukungu anerkennen wollte. Hätte ich seine Zustimmung nicht vorausgesehen, weiß ich nicht, was ich hätte tun sollen. Vermutlich hätten wir dann gegeneinander kämpfen und einer den anderen umbringen müssen.
Bald führten Kisu und ich die Kette an, die wir – und einige Männer zwischen uns – aus der Mitte vorzogen, während die Enden links und rechts hinter uns verliefen, dazwischen das Schlammfloß, das von einigen Männern geschoben wurde.
»Du bist ein schlauer Bursche«, sagte Kisu zu mir.
»Bist du nicht auch meiner Meinung, daß der Westen uns im Augenblick die besten Chancen bietet?« fragte ich.
»Doch.«
»Man wird nicht damit rechnen, daß wir diese Richtung einschlagen. Außerdem finden wir dort Werkzeuge.«
»Und noch etwas anderes«, sagte er, »das ich dringend haben will.«
»Und das wäre?« erkundigte ich mich.
»Du wirst es sehen.«
»Askaris!« rief Ayari. »Vor uns!«
»Andere Askaris haben uns freigelassen und nach Westen geschickt, damit wir uns in Sicherheit bringen«, sagte ich. »Man hat uns sogar unser Werkzeug gelassen. Es hat einen Überfall gegeben.«
»Wer da? Halt!« rief ein Askari.
Gehorsam hielten wir inne. Nervös erkannte ich, daß sich mehrere Askaris näherten, mehr als ich zunächst gesehen hatte, eine Abteilung von etwa zwanzig Mann mit Schilden und Speeren. Die weißen Federn des Kopfschmucks zeigten an, wo sie sich befanden. Im Kampf nehmen die Askaris ihre Kopfbedeckungen zuweilen ab, die ansonsten in der Dunkelheit dazu dienen können, Freund und Feind auseinanderzuhalten.
»Eingeborene!« rief ich, und Ayari deutete hinter uns. »Askaris haben uns freigelassen und angeordnet, daß wir in den Westen marschieren, um uns in Sicherheit zu bringen.«
»Eingeborene!« rief einer der Askaris.
»Es ist eine günstige Nacht«, meinte ein anderer.
»Ihr beschützt uns doch, oder?« fragte Ayari mit flehender Stimme.
»Wo sind die Askaris, die euch freigelassen haben?« fragte ein Askari.
»Sie kämpfen!« sagte Ayari.
»Laßt die Trommeln erschallen!« sagte der Mann. Ein Askari eilte davon. »Wir werden die angegriffene Sektion entsetzen.«
»In Zweierreihe aufstellen!« rief eine andere Stimme.
Die Askaris gingen in Formation.
»Wer wird uns beschützen?« fragte Ayari.
»Marschiert weiter!« sagte der Offizier. »Dort wird euch nichts geschehen.«
»Das ist natürlich eine große Erleichterung!« sagte Ayari.
»Beeilung!« drängte der Offizier.
Sofort setzten wir unseren Weg fort, während die Askaris ihren Eilmarsch nach Osten begannen. Gleich darauf hörten wir eine Trommel, deren Klang weitere Askaris auf den Plan rufen würde.
»Schnell!« sagte Ayari.
Noch zweimal kamen Einheiten der Askaris an uns vorbei, ebenso zwei Kanus, die mit Bewaffneten gefüllt waren.
»Sie werden bald merken, daß wir gelogen haben«, sagte Kisu.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte ich.
Kurze Zeit später erreichten wir die Insel der Schmiede. Askaris drängten sich an uns vorbei.
»Was ist los?« fragte einer der Schmiede, der mit einer Fackel vor seinem Schlafquartier stand.
Er und seine Kollegen waren im nächsten Augenblick von einer Horde verzweifelter Gefangener eingeschlossen.
»Nehmt uns die Kette ab!« forderte ich.
»Niemals!«
»Wir können das selbst tun«, sagte Ayari. Schaufeln wurden gehoben. Angstvoll eilten die Schmiede zu ihren Ambossen.
Mit sicheren Bewegungen wurden die Metallkragen geöffnet, und die schwere Kette fiel zu Boden. Wir drängten die Schmiede wieder in ihren Schlafschuppen und fesselten und knebelten sie.
»Verlauft euch in alle Winde!« sagte ich schließlich zu den Männern. »Jetzt ist jeder auf sich allein gestellt.«
Die anderen verschwanden in der Dunkelheit.
Kisu, Ayari und ich blieben auf der Insel.
»Wohin willst du?« fragte Kisu.
»Ich muß in den Osten«, sagte ich. »Ich folge einem Mann, der Shaba heißt. Ich suche den Ua-Fluß.«
»Das paßt mir gut«, sagte er ernst.
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich.
»Du wirst es noch verstehen.«
»Ist das eine Drohung?«
Er legte mir die Hände auf die Schultern. »Bei der Ernte Ukungus – nein«, gab er zurück.
»Ich muß los«, sagte ich. »Die Zeit ist knapp.«
»Aber du schaust ja gar nicht in den Osten«, sagte er.
»Ich habe zunächst noch eine Zwischenstation im Sinn«, erwiderte ich.
»Auch ich muß noch etwas erledigen«, sagte er.
»Und das paßt zu Plänen, die du verfolgst?«
»Genau.«
»Ich habe die Absicht, mir eine verlorengegangene Sklavin zurückzuholen«, sagte ich und dachte dabei an die hübsche blonde Barbarin Janice Prentiss, die ich gern wieder zu meinen Füßen gesehen hätte.
»Ah, deshalb hast du also das Schlammfloß mitgenommen«, sagte Kisu lächelnd.
»Natürlich«, sagte ich.
»Ich glaube, ich werde mir ebenfalls eine Sklavin holen«, sagte er.
»Das hatte ich mir fast gedacht.«
»Ich begreife allerdings nicht, warum die Askaris noch nicht zurückgekehrt sind«, meinte Ayari. »Sie müßten doch längst begriffen haben, daß es falscher Alarm war.«
»Das hätte ich auch gedacht«, pflichtete ich ihm bei.
»Beeilen wir uns!« sagte Kisu.
In westlicher Richtung marschierten wir durch die Dunkelheit, das Schlammfloß, auf dem die Schaufeln lagen, vor uns herschiebend. »Warum bist du nicht bei den anderen Askaris, die im Osten kämpfen?« fragte Ayari.
»Ich bewache die Lady Tende. Wer bist du? Was ist das?«
»Wo ist die Gaunerkette?« fragte Ayari.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Wer seid ihr? Was ist das für ein Floß?«
»Ich bin Ayari«, sagte Ayari. »Dies ist das Schlammfloß, das an der Gaunerkette benutzt wird.«
»Die Gaunerkette arbeitet im Osten«, sagte der Mann. »Wir sind heute daran vorbeigekommen.«
»Was geht hier vor?« fragte Mwoga und erschien am Rand der Plankenplattform, die auf den vier Kanus angebracht worden war.
»Hier ist ein Arbeiter, der die Gaunerkette sucht«, antwortete der Askari.
Mwoga starrte in die Dunkelheit. Er konnte Ayari nicht gut erkennen. Offensichtlich war der Mann ein Arbeiter, denn er trug keine Ketten. Wahrscheinlich hatte sich das Schlammfloß irgendwie gelöst, und der Arbeiter hatte die Absicht, es zurückzubringen, auch wenn das bei Dunkelheit ein unkluges Unterfangen war.
»Ein Askari genügt doch nicht, eine so bedeutsame Person wie die Lady Tende zu bewachen!« rief Ayari.
»Sei unbesorgt, Bursche«, sagte Mwoga, »wir haben hier noch einen zweiten Mann.«
»Das wollte ich nur wissen«, sagte Ayari.
Kisu und ich hatten jeder einen Wächter ausgemacht. Die anderen hatten sich anscheinend der Abwehrexpedition in den Osten angeschlossen.
»Was meinst du damit?« fragte Mwoga.
Mit unseren Schaufeln schlugen Kisu und ich die beiden Wächter bewußtlos.
Mwoga hatte uns informiert, daß wir uns nur um zwei Männer kümmern mußten – eine Aufgabe, die wir sofort in Angriff nehmen konnten. Er hatte uns damit sehr geholfen.
Mwoga blickte nach links und nach rechts. Ohne noch etwas zu sagen, ohne überhaupt den Versuch zu machen, seinen Dolch zu ziehen, sprang er von den Planken ins Wasser, eilig in der Dunkelheit verschwindend.
Die angeketteten Sklaven, die die Plattform hatten ziehen müssen und die zusammengekauert am Rand der Konstruktion saßen, folgten Ayaris Zeichen und hielten Ruhe.
Die Dunkelheit war angefüllt mit dem Dröhnen der Trommeln.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte Lady Tende und trat aus dem kleinen Seidenunterstand, den man für sie und ihre Sklaven errichtet hatte. Ein zweiter war achtern für Mwoga bestimmt.
Dann erblickte sie Kisu.