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Sie kletterten an dem Gerüst herum, das sich bis weit in den Fluß erstreckte. Von ihrer Sprache verstanden wir kaum etwas. Das Gerüst bestand aus einer Doppelreihe entrindeter Baumstämme, etwa zehn Fuß voneinander getrennt, verbunden durch zahlreiche Quer- und Zwischenstreben, mit Ranken zusammengebunden. Das ganze Gebilde war über hundert Meter lang und führte bis tief in die kräftige Strömung. An dem Gebilde hingen zahlreiche Lianenseile, an denen lange konische Flechtkörbe hingen – Fischfallen.

»Fort! Fort!« kreischte einer der Männer, zuerst auf Ushindi, dann auf Ukungu. Er und die anderen schwenkten abwehrend die Arme. Auf dem Gerüst waren nur Männer und Jungen auszumachen. Weiter oben am Ufer, im Dschungel beinahe nicht zu erkennen, befanden sich die Hütten des Dorfes. Auf den palmwedelgedeckten Hüttendächern lagen reihenweise Fische zum Trocknen in der Sonne. Am Ufer waren Frauen zu erkennen, einige trugen Schalen und waren ans Wasser gekommen, um zu sehen, was es da gab.

»Fort mit euch!« wiederholte der Mann in beiden Sprachen.

»Wir sind Freunde!« rief Ayari auf Ushindi.

»Fort!« rief der Mann erneut. Offenbar war er der Linguist des Dorfes. Acht oder neun Männer, begleitet von einigen Jungen unterschiedlichen Alters, bewegten sich auf der Plattform weiter auf den Fluß heraus, wobei sie geschickt über dem dahinströmenden Wasser balancierten.

»Ich möchte erfahren, ob Shaba hier entlanggekommen ist«, sagte ich, »und wann das war.«

Einige der Männer zogen Messer und machten damit drohende Gebärden.

»Sie scheinen uns nicht sonderlich freundlich gesonnen zu sein«, bemerkte Ayari.

»Das ist nicht gut«, sagte Kisu. »Wir brauchen Vorräte, Buschmesser und Tauschwaren.«

»Womit willst du solche Dinge erwerben?« fragte ich.

»Du hast die goldene Kette, die dir von Bila Huruma geschenkt wurde«, sagte er.

Ich berührte die Kette. »Ja, da hast du recht.«

Dann nahm ich die Kette ab und hielt sie den Männern auf dem langen Gerüst hin.

Sie versuchten weiter, uns von einer Landung abzuhalten.

»Sinnlos«, sagte Ayari.

Sogar die Kinder schrien uns an, darin ahmten sie die Älteren nach. Ihnen war es vermutlich egal, ob wir an Land kamen oder nicht. Es war die erste Flußsiedlung, auf die wir stießen. Sie lag nur eine Ahn hinter der ersten Insel, der ersten von mehreren, auf die wir stoßen sollten.

»Fahren wir weiter«, sagte Kisu.

Ich hörte plötzlich einen Schrei. Als ich mich umsah, entdeckte ich einen etwa acht Jahre alten Jungen, der soeben vom Gerüst gefallen war. Beinahe sofort begann ihn die Strömung abzutreiben. Ohne nachzudenken, sprang ich ins Wasser. Als ich an die Oberfläche kam, hörte ich Kisus Ruf, das Kanu zu wenden. Mit kraftvollen Zügen schwamm ich hinter dem Jungen her. Dann erreichte ich die Stelle, an der er meiner Berechnung nach sein mußte, von der ich ihn zumindest sehen mußte. Er war nicht da. Gleich darauf erschien das Kanu neben mir.

»Siehst du ihn?« rief ich Ayari zu.

»Er ist in Sicherheit«, sagte Ayari. »Steig wieder ins Kanu.«

»Wo ist er?« fragte ich und kroch tropfnaß über die Bordwand des leichten Fahrzeugs.

»Sieh selbst!« sagte Kisu.

Ich blickte zurück und sah den Burschen zu meiner Überraschung auf halber Höhe eines Stützpfeilers am Gerüst. Er klammerte sich mit Beinen und Armen fest und stieg wie ein Affe daran empor. Er grinste.

»Er schwimmt wie ein Fisch«, sagte Ayari. »Er war überhaupt nicht in Gefahr.«

Mir fiel auf, daß keiner der Männer von der Plattform gesprungen war. Dabei hatte der Junge geschrien, und es hatte so ausgesehen, als würde er vom Fluß davongetragen.

Einer der Männer auf der Plattform bedeutete uns mit einer Geste näherzukommen. Er hatte sein ungleichmäßig geschliffenes Messer, ein typisches Fischermesser, fortgesteckt. Wir paddelten näher heran. Unterdessen half er dem achtjährigen Jungen wieder auf die Plattform. Ich bemerkte, daß sich die Männer wie auch die Jungen mit sicheren Schritten darauf bewegten. Die Gefahr, daß einer von ihnen ins Wasser fiel, war nicht größer als für einen Bewohner der Erde das Risiko, von einem Bürgersteig zu stürzen. Diese Menschen kannten sich gut damit aus, kletterten sie doch täglich stundenlang darauf herum, um sich den Lebensunterhalt zusammenzufangen.

Der Junge grinste zu uns herab, andere lächelten ebenfalls. Einer der Männer, vielleicht sein Vater, tätschelte ihm den Kopf, eine Geste der Gratulation. Er hatte seine Rolle gut gespielt.

»Kommt an Land!« sagte einer der Männer auf Ushindi – es war der Übersetzer, der schon vorhin sein Sprachtalent an uns ausprobiert hatte. »Ihr hättet den Jungen gerettet«, fuhr er fort. »Somit ist klar, daß ihr unsere Freunde seid. Seid willkommen. Kommt an Land, unsere Freunde, besucht uns in unserem Dorf!«

»Das Ganze war ein Trick«, sagte Kisu.

»Ja«, gab ich zurück.

»Aber ein netter Trick«, meinte Ayari.

»Es gefällt mir nicht, hereingelegt zu werden«, sagte Kisu.

»Vielleicht kann man am Fluß eben nicht vorsichtig genug sein«, warf ich ein.

»Vielleicht«, sagte Kisu.

Wir steuerten das Kanu um die Plattform und hielten auf das Ufer zu. Wir befanden uns mit unseren Sklavinnen in einer aus Reisig bestehenden Hütte mit Palmwedeln als Dach. Ein kleines Feuer in einer Tonschale beleuchtete das Innere kaum. Reisigregale standen an den Wänden, darauf lagen Gefäße und Masken.

Man hatte ausgiebig gesungen und getanzt. Es war spät am Abend. Kisu und ich saßen uns an der Tonschale gegenüber.

»Wo ist Ayari?« fragte ich Kisu.

»Noch immer beim Häuptling. Er ist noch immer nicht zufrieden«, sagte Kisu.

»Was will er denn noch wissen?« fragte ich.

»Das weiß ich nicht genau«, erwiderte Kisu.

Wir hatten erfahren, daß vor mehreren Tagen drei Boote am Dorf vorbeigekommen waren, ohne zu halten. Mehr als hundertundzwanzig Männer hatten darin gesessen, davon einige in blauen Tuniken.

Shaba und seine Männer hatten einen großen Vorsprung.

»Herr«, sagte Tende.

»Ja?«

»Wir sind nackt«, sagte sie.

»Ja«, stimmte ihr Kisu zu.

»Das Stück Seide, das ich um die Hüften tragen durfte, hast du eingetauscht, ebenso die Muscheln an meinem Hals und an meinem Fußgelenk.«

»Ja«, sagte Kisu. Interessanterweise hatten die Muscheln und der Seidenstoff bei den Fischern einen beträchtlichen Wert. Die Muscheln stammten von Thassa-Inseln und waren im Landesinneren unbekannt. Auf ähnliche Weise kannte man hier keine Seide. Gegen die Seidenröcke der Mädchen und ihre Muschelketten hatten wir Nahrungsmittel eingetauscht. Dafür hatten wir die goldene Kette behalten, die mir von Bila Huruma geschenkt worden war. Wir sagten uns, daß sie uns später noch nützen konnte. In der Zivilisation besaß sie natürlich einen beträchtlichen Wert. Hier wußten wir allerdings nicht, ob sie höher bewertet werden würde als Metallmesser oder eine Rolle Kupferdraht. Für die Tauschwaren hatten wir zwei Körbe mit getrocknetem Fisch erhalten, einen Sack mit Mehl und Gemüse, ein Stück rotgefärbtes Rindentuch des Pod-Baums, gefaltet und gegerbt, außerdem eine Handvoll bunter Perlen und, was am wichtigsten war, zwei Pangas, einen Fuß lange, schwere Buschmesser mit gekrümmter Schneide. An diesen beiden Waffen hatte Kisu das größte Interesse gezeigt. Ich zweifelte nicht daran, daß sie uns noch sehr nützen würden.

»Ich bin nicht zufrieden, Kisu«, sagte Tende.

Mit einem Wutschrei sprang er über das Feuer auf sie zu und versetzte ihr einen heftigen Schlag.

»Hast du es gewagt, meinen Namen auszusprechen, Sklavin?« fragte er.

Erschrocken lag sie vor ihm. »Verzeih mir, Herr!« rief sie. »Verzeih mir, Herr!«

»Wie ich sehe, war es ein Fehler, dir Schmuck oder Kleidung zu überlassen«, sagte er.

»Verzeih mir, Herr«, flehte sie.

»Ich hätte nicht übel Lust, dich heute ebenfalls einzutauschen«, fuhr er fort. »Ich wüßte zu gern, was ich für dich bekommen würde.«

»Tausch mich nicht ein, Herr!« flehte sie.

»Als Sklavin taugst du nicht viel«, sagte er.

»Ich will versuchen, mich zu bessern«, sagte sie und mühte sich auf die Knie hoch. »Ich will dir heute nacht gefallen. Ich werde dir Freuden bereiten, von denen du nicht einmal wußtest, daß es sie gab. Ich werde dir so gut dienen, daß du mich morgen früh nicht mehr eintauschen möchtest.«

»Das wird schwer sein«, sagte er. Ich saß nachdenklich neben der Tonschale mit dem kleinen Feuer. Morgen mußten wir weiter. Mit einem kleinen Stock stocherte ich in den Flammen herum. Shaba war uns weit voraus. Warum war er auf den Ua geflohen? Mit dem Ring hätte er sich auf der Oberfläche des weiten Gor tausend sichere Orte suchen können. Aber er hatte sich die gefährliche, unerforschte Route des Ua ausgesucht. Nahm er an, man würde davor zurückschrecken, ihn auf diesem einsamen Gewässer zu verfolgen, das eine so furchtbare, gefährliche, geheimnisvolle Region durchschnitt? Er mußte doch wissen, daß ich und andere ihm um des Ringes willen sogar in die dampfende, blütenübersäte Wildnis des Ua folgen würden. Ich folgerte, daß er einen schlimmen Fehler gemacht, ein Fehlurteil gefällt hatte, das mich bei einem so raffinierten Mann doch sehr überraschte.

»Herr«, sagte eine leise Stimme.

Ich wandte mich um.

Es war das erste blonde Mädchen, nicht Janice Prentiss, die ich bisher stets die blonde Barbarin genannt habe.

»Ich knie hier vor dir«, sagte sie leise.

»Ja?«

Sie senkte den Kopf. »Ich erbitte deine Berührung.«

In meiner Nähe japste die blonde Barbarin entrüstet. Sie schien nicht glauben zu können, daß sich eine Frau offen zu ihren Bedürfnissen bekannte. Wußte diese Dirne nicht, daß keine Frau so etwas tat? War es nicht schrecklich genug, die Sehnsucht in sich zu spüren – ohne sie auch noch offen zuzugeben?

»Sklavin!« rief die blonde Barbarin spöttisch.

»Ja, Sklavin«, sagte die andere zu ihr und wandte sich dann wieder an mich. »Bitte, Herr!«

Ich trat vor sie hin. »Stammst du nicht von einer Welt, die Erde genannt wird?« fragte ich.

»Ja, Herr.«

»Wie lange bist du schon auf Gor?«

»Mehr als fünf Jahre.«

»Und wie bist du hierhergekommen?« wollte ich wissen.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Eines Abends legte ich mich in meinem Zimmer auf meiner Heimatwelt schlafen. Als ich erwachte, mochten Tage vergangen sein, und ich war auf einem goreanischen Sklavenmarkt angekettet.«

Ich nickte. Goreanische Sklavenhändler sorgen in der Regel dafür, daß ihre neuen Mädchen während des Fluges von einer Welt zur anderen besinnungslos sind.

»Wie lautete dein barbarischer Name?« fragte ich.

»Alice«, sagte sie. »Alice Barnes.«

»Interessant«, sagte ich lächelnd. »Nun denn, ich nenne dich ›Alice‹.«

»O danke, Herr.«

»Du trägst diesen Namen jetzt als Sklavennamen«, erklärte ich ihr.

»Danke, Herr!«

»Es heißt, die Frauen der Erde sind natürliche Sklavinnen.«

»Es stimmt, Herr«, flüsterte sie und streckte die Hände nach mir aus.

»Sklavin! Sklavin!« rief das andere blonde Mädchen verächtlich und wandte sich ab, als ich Alice in die Arme nahm. Es war spät, als Ayari in die Hütte zurückkehrte.

Die Mädchen schliefen bereits. Kisu hatte Tende, als er mit ihr fertig war, an den ihr gebührenden Platz zurückgeschickt.

»Hast du noch mehr erfahren?« fragte ich.

»Außer deinem Shaba und seinen Gefolgsleuten sind noch andere Leute hier durchgekommen«, sagte Ayari. »Ich erfuhr dies schließlich von dem Häuptling und zweien seiner Männer, mit denen ich mich unterhalten habe.«

»Sie wollten nur ungern reden?« fragte Kisu.

»Und ob«, erwiderte Ayari. »Sie hatten große Angst, überhaupt nur das zu schildern, was sie sahen.«

»Und das war?« fragte ich.

»Dinge«, antwortete er.

»Was für Dinge?«

»Das wollten sie mir nicht sagen. Sie hatten große Angst.« Er blickte mich an. »Aber ich fürchte, wir sind nicht die einzigen, die deinen Shaba suchen.«

»Andere verfolgen ihn ebenfalls?« fragte Kisu.

»Ich nehme es an«, meinte Ayari.

»Interessant«, bemerkte ich und legte mich ans Feuer. »Ruhen wir uns aus«, fuhr ich fort. »Wir müssen morgen sehr früh weiter.«

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