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»Ich nehme die hier«, sagte ich.

Der Anführer der kleinen Menschen zerrte daraufhin das blonde Mädchen hoch. »Steh auf!« befahl er.

Vor mir stand die Anführerin der Talunas, einen Lianenkragen am Hals, die Hände auf dem Rücken gefesselt.

Anschließend trat ich vor den weißhäutigen Mann hin, der bei den Talunas gefangen gewesen und von den kleinen Menschen befreit worden war, ehe sie das Taluna-Dorf niederbrannten.

Noch immer trug er die Ketten der Talunas und kniete mitten auf der Lichtung.

»Du hast zu Shabas Expedition gehört«, stellte ich fest.

»Ja«, erwiderte er. »Als Ruderer.«

»Kenne ich dich?« fragte ich.

»Ja«, erwiderte er. »Ich bin Turgus, und Port Kar war einmal meine Heimat. Deinetwegen wurde ich aus der Stadt verbannt.«

Ich lächelte. »Die Schuld dafür dürfte eher bei dir liegen, denn soweit ich mich erinnere, wolltest du mich berauben.«

Er war der Mann, der mich mit seiner Komplizin Sasi am Hafenkanal in Port Kar hatte ausrauben wollen.

Er zuckte die Achseln. »Ich wußte nicht, daß du Angehöriger der Kriegerkaste bist.«

»Wie kommst du auf den Fluß?« fragte ich.

»Nachdem ich aus Port Kar verbannt worden war«, berichtete er, »mußte ich die Stadt vor Sonnenuntergang verlassen. Ich verdingte mich als Ruderer an Bord eines Schiffes, das nach Bazi fuhr. Von Bazi reiste ich nach Schendi. Dort setzte sich ein Agent Shabas mit mir in Verbindung, der insgeheim Ruderer für eine Expedition ins Landesinnere anwarb. Die Bezahlung sah gut aus, also machte ich mit.«

»Wo ist Shaba jetzt?« wollte ich wissen.

»Zweifellos ist er inzwischen vernichtet worden«, sagte er. »Unsere Schiffe wurden laufend überfallen und angegriffen. Es gab Unfälle, ein Schiff ging verloren, und mehrmals kenterten wir. Wir verloren Vorräte. Wir wurden aus dem Dschungel angegriffen. Männer erkrankten.«

»Trotzdem ist Shaba nicht umgekehrt?«

»Er läßt sich nicht entmutigen«, antwortete der Mann. »Er ist ein großer Führer.«

Ich nickte. Diesem Urteil mußte man beipflichten.

»Wie kommt es, daß du von ihm getrennt wurdest?« fragte ich dann.

»Shaba, der in einem Lager krank darniederlag, stellte sämtlichen Begleitern frei, ihn zu verlassen oder zu bleiben.«

»Und du hast dich losgesagt?«

»Natürlich«, sagte er. »Es wäre Wahnsinn gewesen, den Fluß noch weiter zu befahren. Ich und einige andere bauten Flöße und wollten zum Ngao-See zurückkehren.«

»Und?«

»Schon in der ersten Nacht wurden wir angegriffen«, fuhr er fort. »Die Männer meiner Gruppe wurden umgebracht, nur ich kam mit dem Leben davon. Ich wanderte in Richtung Westen durch den Dschungel, parallel zum Fluß.« Er blickte auf die Talunas, die mit gesenkten Köpfen auf der Lichtung knieten. »Ich fiel diesen Frauen in die Hände«, sagte er und hob die gefesselten Hände. »Sie machten mich zu ihrem Arbeitssklaven.«

»Sicher haben sie dich auch gezwungen, ihrem Vergnügen zu dienen«, sagte ich.

»Manchmal schlugen und bestiegen sie mich«, antwortete er.

»Bindet ihn los«, sagte ich.

Ayari hob einen Schlüssel, den er in der Hütte der Taluna-Führerin gefunden hatte, und öffnete die Ketten Turgus’, der in Port Kar geboren war.

»Du befreist mich?« fragte er.

»Ja, du kannst gehen, wohin du willst.«

»Ich möchte aber lieber bei dir bleiben«, sagte er.

»Kämpfe!« forderte ich ihn auf.

»Was?« fragte er.

»Greif mich an«, sagte ich.

»Aber du hast mich eben befreit«, sagte er.

»Schlag zu!«

Er versuchte mich zu treffen, aber ich blockte den Hieb ab und traf ihn mit der Faust in den Magen und anschließend an der Schläfe. Ächzend ging er zu Boden.

Zornig sprang er wieder auf, und ich schlug ihn erneut nieder. Er war kräftig. Noch viermal stand er auf, um zu kämpfen, aber dann schaffte er es nicht mehr. Er gab sich Mühe, sank aber wieder zurück.

Anschließend zog ich ihn hoch. »Wir haben die Absicht, flußaufwärts zu fahren«, sagte ich.

»Das ist Wahnsinn!«

»Du kannst gehen, wohin du willst«, sagte ich.

»Ich bleibe.«

»Kisu und ich«, sagte ich und deutete auf den ehemaligen Mfalme von Ukungu, »stehen im Rang über dir. Du akzeptierst unsere Befehle. Du tust, was wir dir sagen, und zwar schnell und gründlich.«

Kisu hob seinen Speer und schüttelte ihn.

Turgus rieb sich das Kinn und grinste. »Ihr steht im Rang über mir, ihr beide«, sagte er. »Seid unbesorgt. Ich gehorche schnell und gut.«

»Ungehorsam wird mit Tod bestraft«, sagte ich.

»Verstanden«, erwiderte Turgus.

»Wir sind keine sanften Herren wie Shaba«, fügte ich hinzu.

Turgus lächelte. »Auf dem Fluß ist Shaba auch kein sanfter Herr.« Auf dem Fluß, das wußten wir alle, mußte eiserne Disziplin herrschen.

»Wir verstehen einander ganz gut, nicht wahr?« fragte ich.

»In der Tat«, sagte er, »… Kapitän.«

»Schau dir diese Gefangenen an«, sagte ich und deutete auf die knienden Talunas. »Welches dieser Mädchen gefällt dir am besten?«

»Die dort«, antwortete er und deutete auf das dunkelhaarige Mädchen mit den schlanken Beinen, die nach unseren Feststellungen die stellvertretende Anführerin der Talunas gewesen war.

»Du erinnerst dich an sie aus der Zeit deiner Gefangenschaft?« fragte ich.

»Und ob«, antwortete er.

Das Mädchen erschauderte. »Nein!« flehte sie, »bitte gib mich nicht an ihn!«

»Du gehörst ihm«, sagte ich.

»Er wird mich umbringen!« rief sie.

»Wenn er will«, sagte ich.

»Bitte töte mich nicht!« wandte sie sich an Turgus. »Ich will dir auch dienen, wie du willst.«

Wortlos zerrte er sie zum Ufer, während ich mich an den Anführer der kleinen Menschen wandte. »Ich wünsche dir alles Gute«, sagte ich.

»Ich wünsche dir alles Gute«, antwortete er.

Dann verließen Kisu und ich die Lichtung, gefolgt von Turgus und Janice, Alice und Tende. Ich führte das blonde Mädchen mit, das bei den Talunas das Kommando geführt hatte. Unser Ziel war das Kanu, das wir zusammen mit ausreichenden frischen Vorräten in Flußnähe versteckt hatten.

»Was sollen wir mit denen tun?« rief der Anführer der Kleinwüchsigen hinter uns her. Wir drehten uns um und betrachteten die gefesselten Talunas.

»Was ihr wollt!« rief ich. Ich zerrte das blonde Mädchen ins Kanu und hieß sie vor mir niederknien. Turgus folgte mit der dunkelhaarigen Taluna meinem Beispiel.

»Woher kommt ihr?« fragte ich die blonde Anführerin.

»Ich und Fina«, sagte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf das dunkelhaarige Mädchen, »kommen aus Turia. Die anderen Mädchen stammen aus verschiedenen Städten des Südens.«

»Hast du uns weiter unten am Fluß einmal bespitzelt?« fragte ich.

»Ja«, antwortete sie. »Das war ich. Wir waren entschlossen, euch zu Sklaven zu machen.« Ayari hatte also, wie ich schon vermutet hatte, im Wald eine Taluna gesehen, die er für Janice hielt.

»Wie kommt ihr in die Regenwälder?« fragte ich.

»Ich und Fina und die anderen sind vor unerwünschten Gefährtenschaften geflohen«, antwortete sie.

»Jetzt aber werdet ihr als Sklavinnen euer Dasein fristen«, sagte ich.

»Ja, Herr.«

»Und eure Bande wird sicher kein besseres Schicksal erleiden«, fuhr ich fort.

Das Kanu glitt in die Flußmitte hinaus. »Ich weiß nicht, wie man eine gute Sklavin ist«, sagte sie bedrückt und senkte den Kopf.

»Du wirst es bald lernen«, sagte ich.

Sie nickte, und wir setzten unsere Flußreise fort.

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