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Das Innere der Palisadenmauern des Mamba-Volkes war hell erleuchtet. Ich hörte Musik und das Dröhnen von Trommeln wie auch den Gesang von Menschen und das Gegeneinanderschlagen von Stöcken beim Tanz.

Ich kannte dieses Palisadendorf, denn von hier waren wir kürzlich bei Nacht geflohen.

Vor zwei Tagen hatte mich der Anführer der kleinen Menschen in den Dschungel geführt, fort von der Lichtung, auf der wir die hübschen Talunas bewachten.

Wir waren erst ein kurzes Stück durch den Dschungel gezogen, als der Anführer der Kleinwüchsigen stilleheischend die Hand hob. Daraufhin hörte ich ein Geräusch, das ich schon einmal wahrgenommen hatte – ein Seufzen wie von einem schwachen Wind, der sich zwischen Blättern bewegt. Am Ufer der Lagune hatte ich diese Wahrnehmung gemacht, ohne sie zu verstehen.

Wir rückten weiter vor, und das Geräusch wurde deutlicher. Es war nun unverwechselbar als Rascheln oder Knistern auszumachen. Allerdings bewegte sich die Luft nicht.

»Die Wanderer«, sagte der Anführer der kleinen Menschen und streckte den Arm aus.

Meine Nackenhaare begannen sich zu sträuben.

Ich erkannte, daß das Geräusch von unzähligen Millionen winziger Füße ausging, die über das herabgefallene Laub und die sonstigen Ablagerungen des Dschungelbodens schritten. In dieses Rascheln mischte sich vermutlich auch das beinahe unhörbare Knacken winziger Beingelenke und das Aneinanderreiben winziger schwarzer Exoskelette – Laute, die nur in der ungeheuren Anhäufung von Lebewesen Bedeutung gewannen.

»Geh nicht zu dicht heran«, sagte der Anführer.

Die Kolonne der Wanderer war etwa einen Meter breit. Wie lang sie war, wußte ich nicht. Die Erscheinung erstreckte sich zu beiden Seiten durch den Dschungel, und zwar weiter, als ich von hier zu schauen vermochte. Solche Wandererkolonnen können viele Pasang lang sein. Die Anzahl der Einzelwesen, die eine solche Formation bilden, läßt sich schwer ermitteln. Vorsichtig geschätzt mögen es Dutzende von Millionen sein. Die Formation erweitert sich nur dann, wenn etwas Freßbares gefunden wird, dann kann sich eine Ausdehnung bis zu fünfhundert Fuß ergeben. Niemand möge versuchen, eine solche Flut zu durchwaten. Die Strömung der dahineilenden Fresser läßt kaum mehr als Knochen zurück.

»Suchen wir die Spitze der Kolonne«, sagte der kleine Mann.

Wir marschierten mehrere Stunden lang parallel zu den Geschöpfen durch den Dschungel. Einmal überquerten wir einen Bach. Die Wanderer, die aus sich selbst lebendige Brücken bildeten und übereinanderkletterten, hatten mit diesem Hindernis keine Probleme. Als schwarz-raschelnde Masse zogen sie über umgestürzte Bäume und um Felsen und Palmen herum. Sie schienen nicht zu ermüden, sie wirkten unerschöpflich. Flankierende Wachen begleiteten die Kolonne. So bewegte sich die Masse wie eine gut gelenkte, endlose, flüsternde schwarze Schlange durch den grünen Regenwald.

»Marschieren diese Wesen auch bei Nacht?« fragte ich.

»Oft«, antwortete der kleine Mann. »Man muß sich vorsehen, wo man schläft.«

Inzwischen hatten wir die Spitzengruppe der Kolonne überholt und waren etwa vierhundert Meter vorausgeeilt.

»Es wird gleich regnen«, sagte ich. »Lassen sie sich dadurch aufhalten?«

»Ein Weilchen schon«, erwiderte er. »Sie laufen auseinander und suchen Unterschlupf unter Blättern und Ästen, unter den Überresten des Waldes. Wenn die Anführer aber rufen, kehren sie in die Formation zurück und marschieren weiter.«

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, da öffnete sich auch schon der Himmel und ließ aus düsteren, dahinwirbelnden Wolken den dunkelsilbernen tropischen Regen auf uns herniederprasseln, während Blitze durch den Himmel zuckten und Äste sich heftig im Wind bewegten.

»Gehen sie auf Jagd?« rief ich dem kleinen Mann zu.

»Eigentlich nicht«, antwortete er. »Sie suchen sich lediglich ihr Futter.«

»Läßt sich die Kolonne lenken?« wollte ich wissen.

»Ja«, sagte er grinsend und rieb sich die Nasenwurzel. Anschließend legte er sich mit seinen Begleitern schlafen. Ich blickte zum Himmel auf, in den Regen. Selten hatte es mich so gefreut, einem solchen Unwetter ausgesetzt zu sein. Im Innern der Palisade des Mamba-Volkes herrschte lebhaftes Treiben.

Die Kolonne der Wanderer wird weniger gelenkt als angelockt.

Heute, am frühen Morgen, hatten die kleinen Menschen mit Netzen und Speeren einen Tarsk getötet.

»Schau«, hatte der Anführer der kleinen Männer zu mir gesagt, »dort siehst du Kundschafter.«

Er hatte ein Stück des getöteten Tarsk auf den Waldboden geworfen. Ich hatte verfolgt, wie fünfzehn oder zwanzig Ameisen, die der Hauptarmee zweihundert Meter voraus waren, auf das Fleisch stießen. Sie hatten die Antennen gehoben und wirkten angespannt, aufgeregt. Sie waren etwa zwei Zoll lang. Wenn sie zubeißen, ist das äußerst schmerzhaft, aber nicht giftig. Wer der Kolonne nicht entkommt, hat keinen schnellen Tod zu erwarten. Mehrere Vorausameisen bildeten nun einen Kreis, steckten die Köpfe zusammen und führten die bebenden Antennen gegeneinander. Wie auf ein geheimes Signal brach der Kreis sodann auseinander, und die Ameisen eilten zur Kolonne zurück.

»Jetzt paß auf«, sagte der kleine Mann.

Entsetzt hatte ich anschließend verfolgen können, wie sich die Masse der Ameisen in Richtung auf das Stück Tarskfleisch in Marsch setzten.

Im weiteren Verlauf des Tages hatten wir die Kolonne mit weiteren Blut- und Fleischgaben auf den richtigen Weg gelockt.

Ich blickte zur Palisadenmauer empor. Mit langsamen Bewegungen rieb ich Tarskblut auf das Holz der Barriere. Hinter mir war, nur noch wenige Meter entfernt, ein Rascheln zu hören.

»Wir erwarten dich im Dschungel«, sagte der Anführer der kleinen Menschen.

»Gut«, erwiderte ich.

Das leise Rascheln war nähergekommen. Die Menschen im Dorf hörten dieses Geräusch natürlich nicht, dazu sangen und tanzten sie zu laut. Ich trat zurück. Ich verfolgte, wie die Kolonne der Ameisen, die im Dunkeln wie ein schwarzer Vorhang wirkte, an der Palisadenmauer emporwogte.

Ich wartete ab.

Drinnen würde sich die Kolonne ausbreiten, würde mit unzähligen Millionen von Einzelwesen schließlich jeden Quadratzoll abdecken, jeden Stock, jeden Strohhalm, auf der Suche nach dem kleinsten Fetttropfen, nach dem winzigsten Fleischbrocken, auch wenn es sich um die Flocken handelte, die am angeworfenen Fell einer Hütten-Urt kleben.

Als ich den ersten Schrei vernahm, schleuderte ich mein Seil zur Palisadenmauer empor und schaffte es, daß die Schlinge sich um das Ende eines Baumstamms legte.

Ein Mann schrie vor Schmerzen auf.

Ich wälzte mich über die Palisadenbarriere. Eine Frau, die mich gar nicht zu sehen schien, so sehr war sie auf ihren Schmerz konzentriert, hastete an mir vorbei. Sie hielt ein Kind in den Armen.

Im Lager wurde entsetztes Geschrei laut. Fackeln wurden zu Boden geworfen. Unvernünftigerweise hieben Männer mit ihren Speeren auf den Boden ein. Andere rissen Palmblätter von Hüttendächern und schlugen damit um sich.

Ich hoffte, daß es im Lager keine angebundenen Tiere gab. Zwischen zwei Hütten rollte ein Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden herum.

Irgend etwas biß mich unangenehm am Fuß. Immer mehr Ameisen ergossen sich über die Palisadenmauer. Unweit der hinteren Mauer, zur Mitte des Dorfes vorrückend, schien ein immer länger und breiter werdender lebendiger Insektenteppich zu liegen. Ich schlug mir gegen den Arm und lief auf die Hütte zu, in der unsere Gruppe beim ersten Besuch untergebracht gewesen war. Mit dem Fuß stieß ich von hinten durch die Astwand.

»Tarl!« rief Kisu, der gefesselt am Boden lag. Ich durchschnitt die Seile. Ebenso befreite ich auch Ayari, Alice und Tende.

Männer, Frauen und Kinder liefen an der Tür der Hütte vorbei. Überall wurde geschrien.

»Ameisen!« rief Ayari.

Alice stieß einen Schmerzensschrei aus.

Wir hörten sie an der Unterseite des Strohdachs. Ein Tier fiel mir auf die Schulter, und ich streifte es ab.

Tende schrie auf. Sie war gebissen worden.

»Hier entlang!« rief ich. »Beeilt euch!«

Wir traten weitere Äste aus der Rückwand der Hütte und hasteten in die raschelnde Dunkelheit hinaus.

Menschen flohen aus dem Dorf. Das Tor war weit geöffnet worden. Eine Hütte brannte.

»Warte, Kisu!« rief ich.

Wie ein Wahnsinniger lief Kisu auf das große Lagerfeuer in der Mitte des Dorfes zu. Dort stürmte er zwischen Leute, die ihn nicht einmal zu bemerken schienen, und stürzte zwei Kessel mit kochendem Wasser um. Dorfbewohner schrien auf, von dem heißen Wasser verbrüht. Das Wasser versickerte in der Erde. Kisus Beine waren von Ameisen bedeckt. Er stieß einen Mann zur Seite und entriß ihm einen Speer.

»Kisu!« rief ich. »Komm zurück!« Und ich lief hinter ihm her. Quiekend galoppierte ein zahmer Tarsk an mir vorbei.

Kisu ergriff plötzlich einen Mann, zerrte ihn herum und spießte ihn mit seinem Speer auf. Von oben bis unten von Ameisen zugedeckt, schreiend, außer sich vor Wut, konnte er nicht von dem Toten lassen, der offenbar der Häuptling des Dorfes gewesen war. »Beeil dich, Kisu!« rief ich. Endlich schien er etwas zu sich zu kommen und folgte mir in die Dunkelheit. Wir blickten nicht zurück.

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