7 Aus dem Wald hinaus

Während Rand immer noch durch den Wald stolperte, färbte sich der Himmel zur ersten Morgendämmerung. Zuerst bemerkte er es gar nicht. Als er es schließlich merkte, blickte er voller Erstaunen zum heller werdenden Himmel auf. Gleichgültig, was seine Augen ihm nun zeigten — er konnte kaum glauben, daß er die ganze Nacht damit verbracht hatte, die Entfernung vom Hof nach Emondsfeld zurückzulegen. Natürlich konnte man die Haldenstraße bei Tag, trotz Steinen und Schlaglöchern, nicht mit dem Wald bei Nacht vergleichen. Andererseits schien es Tage her zu sein, seit er den schwarzgekleideten Reiter auf der Straße gesehen hatte, und Wochen, seit Tam und er sich zum Abendessen hinsetzen wollten. Er fühlte den Deckenstreifen nicht mehr, der ihm in die Schultern schnitt, aber er fühlte ja überhaupt nichts mehr außer einer Taubheit, die bis zu den Füßen vorgedrungen war. Allerdings betraf das nicht die Körpermitte. Er atmete schwer und stoßartig, Hals und Lunge brannten, und der im Magen wühlende Hunger erzeugte ihm Schwindelgefühle. Ihm war schlecht.

Tam war schon vor einer Weile verstummt. Rand war sich nicht sicher, wie lange es her war, daß Tams Fiebergemurmel aufgehört hatte, aber er wagte nicht, stehenzubleiben und nach Tam zu sehen. Wenn er jetzt innehielt, wäre er nicht mehr in der Lage, erneut aufzubrechen. Außerdem konnte er für Tam im Moment nichts weiter tun, gleichgültig, in welchem Zustand er sich befand. Die einzige Hoffnung lag vor ihnen: das Dorf. Er bemühte sich unter Qualen, schneller zu gehen, doch die Beine staksten hölzern weiter wie bisher. Den Wind und die Kälte bemerkte er kaum noch.

Der schwache Geruch eines Holzfeuers drang ihm in die Nase. Also war er fast da, wenn er den Rauch aus den Schornsteinen des Dorfs riechen konnte. Ein müdes Lächeln wollte sich gerade auf seinem Gesicht abzeichnen, als ihm ein Gedanke kam und er die Stirn runzelte. Der Rauch ballte sich dicht zusammen dort vorn, zu dicht. Bei diesem kalten Wetter konnte es schon sein, daß jeder Schornstein im Dorf gleichzeitig rauchte, aber sogar dafür war die Rauchdecke zu dicht. Das Bild der Trollocs auf der Straße kam ihm ins Gedächtnis. Trollocs, die von Osten her kamen, aus der Richtung von Emondsfeld. Er blickte angestrengt nach vorn und versuchte, die ersten Häuser zu erkennen. Er war bereit, um Hilfe zu rufen, sobald er nur irgend jemanden sah, selbst wenn es Cenn Buie war oder einer der Coplins. Eine leise Stimme in seinem Innern sagte ihm, er solle froh sein, wenn dort noch jemand imstande sei, ihm zu helfen. Plötzlich sah er zwischen den letzten kahlen Bäumen hindurch ein Haus stehen. Das brachte seine Beine dazu, sich weiterzubewegen. Doch die Hoffnung wandelte sich zu tiefer Verzweiflung, als er ins Dorf hineintaumelte.

Die Hälfte der Häuser von Emondsfeld bestand nur noch aus verkohlten Trümmerhaufen. Rußgeschwärzte gemauerte Kamine ragten wie schmutzige Finger aus Haufen angekohlter Balken hervor. Dünne Rauchfäden kräuselten sich aus den Ruinen. Dorfbewohner mit schmutzverkrusteten Gesichtern, viele noch in Nachtgewändern, suchten in der Asche herum, bargen hier einen Kochtopf oder stocherten dort einsam mit einem Stock in den Trümmern herum. Die wenigen aus den Flammen geretteten Besitztümer säumten die Straßen: Hohe Spiegel und lackierte Kommoden und Schränkchen standen da im Staub zwischen Stühlen und Tischen, waren unter Bettwäsche und Kochgeschirr und dürftigen Kleidungshaufen und persönlicher Habe begraben.

Der Streifen der Zerstörung zog sich planlos durch das Dorf. Fünf Häuser hintereinander waren unversehrt geblieben, während anderswo nur ein einziges inmitten der Ruinen stand.

Jenseits des Weinquellenbaches schlugen die Flammen der drei riesigen Bel-Tine-Freudenfeuer hoch, von einigen Männern überwacht. Dicke schwarze Rauchsäulen beugten sich im Wind nach Norden zu, mit Funkenschauern durchsetzt. Einer der Dhurranhengste von Meister al'Vere schleifte etwas, das Rand nicht erkennen konnte, über den Boden auf die Wagenbrücke und die Flammen zu. Bevor er noch die Deckung der Bäume verlassen hatte, eilte Haral Luhhan mit rußigem Gesicht auf ihn zu, eine Holzfälleraxt in der kräftigen Faust. Das ascheverkrustete Nachthemd des bulligen Schmieds hing bis auf seine Stiefel hinunter, und durch einen Riß erkannte Rand die bösartigrote Schwellung einer Brandwunde auf seiner Brust. Er kniete neben der Bahre nieder. Tams Augen waren geschlossen, seine Atmung ging flach und röchelnd.

»Trollocs, Junge?« fragte Meister Luhhan mit rauchheiserer Stimme. »Hier auch. Hier auch. Na ja, vielleicht hatten wir sogar noch mehr Glück als Verstand bei der ganzen Sache. Jedenfalls muß Tam zur Seherin. Wo bei allem Licht steckt sie nur? Egwene!«

Egwene, die gerade mit einer Ladung zu Binden zerrissener Bettücher vorbeikam, sah sich nach ihnen um, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Ihre Augen blickten in eine unbestimmte Ferne; dunkle Ringe ließen sie noch größer erscheinen, als sie sowieso schon waren. Dann sah sie Rand und blieb stehen. Sie atmete zittrig ein.

»O nein, Rand! Dein Vater? Ist er... ? Komm, ich bringe dich zu Nynaeve.«

Rand war zu müde und zu entsetzt, um auch nur ein Wort herauszubringen. Die ganze Nacht über war Emondsfeld für ihn ein Zufluchtsort gewesen, wo Tam und er in Sicherheit sein würden. Und nun brachte er es lediglich fertig, entsetzt auf ihr vom Rauch fleckiges Kleid zu starren. Er bemerkte einige Kleinigkeiten am Rande, die ihm im Moment sehr wichtig erschienen. Die Knöpfe am Rücken ihres Kleides waren schief zugeknöpft. Und ihre Hände waren sauber. Er fragte sich, wieso ihre Hände sauber waren, obwohl ihre Wangen von Ruß verschmiert waren.

Meister Luhhan schien zu verstehen, was ihn bewegte. Er legte seine Axt auf die Bahre, nahm ihr hinteres Ende auf und rückte einmal kurz damit, um ihn aufzufordern, Egwene zu folgen. Rand stolperte wie ein Schlafwandler hinter ihr her. Kurz tauchte in ihm die Frage auf, ob Meister Luhhan wußte, daß die Kreaturen Trollocs waren, doch der Impuls verflog sofort wieder. Wenn Tam sie erkannte, gab es keinen Grund, warum Haral Luhhan das nicht auch tat.

»All die Geschichten sind wahr«, murmelte er.

»Es scheint so, Junge«, sagte der Schmied. »Es scheint so.«

Rand hörte nur halb hin. Er konzentrierte sich darauf, Egwenes schlanker Gestalt zu folgen. Er hatte sich so weit zusammengerissen, daß er wünschte, sie würde sich etwas beeilen, obwohl sie in Wirklichkeit ja langsam genug ging, damit ihr die beiden Männer mit ihrer Last folgen konnten. Sie führte sie über das Grün bis zum Haus der Calders. Die Kanten des Strohdachs waren verkohlt und die weißgetünchten Wände rußverschmiert. Von den Häusern zu beiden Seiten waren nur die Grundmauern und zwei Haufen mit Asche und verkohlten Balken übriggeblieben. Eines davon hatte Berin Thane gehört, einem der Brüder des Müllers. Das andere gehörte Abell Cauthon, Mats Vater. Sogar die Schornsteine waren umgestürzt.

»Wartet hier!« bat Egwene und sie sah sie an, als erwarte sie eine Antwort. Als sie einfach nur stehenblieben, murmelte sie etwas in sich hinein und eilte ins Haus.

»Mat«, sagte Rand, »ist er...?«

»Er lebt«, sagte der Schmied. Er setzte sein Ende der Bahre ab und richtete sich langsam auf. »Ich habe ihn vor kurzem gesehen. Es ist erstaunlich, daß überhaupt noch welche von uns leben. So, wie sie mein Haus und die Schmiede angriffen, hätte man denken können, ich habe dort Gold und Edelsteine versteckt. Alsbet hat einem mit einer Bratpfanne den Schädel eingeschlagen. Heute morgen hat sie einen Blick auf die Asche unseres Hauses getan, sich dann den größten Hammer aus den Überresten der Schmiede geschnappt und ist auf die Jagd gegangen, für den Fall, daß sich einer versteckt hat und nicht mit den anderen fortgerannt ist. Ich habe fast Mitleid mit so einem Wesen, falls sie eines findet.« Er nickte in Richtung auf das Haus der Calders. »Frau Calder und ein paar andere haben einige der Verletzten aufgenommen, deren Häuser zerstört worden sind. Wenn die Seherin sich um Tam gekümmert hat, werden wir ihm ein Bett suchen. Vielleicht in der Schenke. Der Bürgermeister hat das schon angeboten, aber Nynaeve meint, die Verwundeten würden schneller gesund, wenn nicht so viele zusammen lägen.«

Rand sank auf die Knie. Er schüttelte die Deckengurte ab und überprüfte erschöpft Tams Decke. Tam bewegte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich, selbst dann, als Rands Hände ihn zur Seite schoben. Aber wenigstens atmete er noch. Mein Vater. Das andere war nur Fiebergeschwätz. »Was wird, wenn sie zurückkommen?« fragte er schwerfällig. »Das Rad webt, wie das Rad es wünscht«, sagte Meister Luhhan unsicher. »Falls sie zurückkommen... Na ja, jetzt sind sie erst mal weg. Also sammeln wir auf, was übriggeblieben ist, und bauen wieder neu, was sie niedergerissen haben.« Er seufzte. Sein Gesicht erschlaffte, als er sich den Nacken rieb Jetzt erst erkannte Rand, daß dieser schwere Brocken von Mann genauso erschöpft war wie er, vielleicht sogar noch mehr. Der Schmied sah sich um und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß das heute noch ein tolles Bel-Tine-Fest wird. Aber wir werden durchkommen. Wir haben's immer geschafft.« Plötzlich hob er seine Axt wieder auf und machte ein entschlossenes Gesicht. »Auf mich wartet Arbeit. Mach dir keine Sorgen, Junge. Die Seherin wird sich um ihn kümmern, und das Licht hilft uns allen. Und wenn das Licht nicht hilft, dann helfen wir uns eben selbst. Denk daran, wir sind die Menschen der Zwei Flüsse!«

Immer noch auf Knien sah Rand das Dorf an, während der Schmied wegging. Er sah es eigentlich zum erstenmal richtig an. Meister Luhhan hatte recht, dachte er und war überrascht, daß er von diesem Anblick nicht überrascht war. Die Menschen wühlten immer noch in den Ruinen ihrer Häuser herum, aber sogar nach der kurzen Zeit, die er hier verbracht hatte, war es ersichtlich, daß sich viele von ihnen nun zielbewußt bewegten. Er fühlte förmlich ihre wachsende Entschlossenheit. Aber er fragte sich eines: Sie hatten Trollocs gesehen, hatten sie aber auch den schwarzgekleideten Reiter sehen können? Hatten sie seinen Haß gefühlt?

Nynaeve und Egwene traten aus dem Calder-Haus, und er sprang auf die Füße. Oder vielmehr: Er versuchte aufzustehen, aber es glich mehr einem Vorwärtsfallen, und er landete beinahe mit dem Gesicht im Staub.

Die Seherin kniete sich sofort neben die Bahre, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ihr Gesicht und Kleid waren noch schmutziger als bei Egwene, und um ihre Augen lagen die gleichen schwarzen Ringe. Doch auch ihre Hände waren sauber. Sie legte die Hände auf Tams Gesicht und zog mit den Daumen seine Augenlider hoch. Mit einem Stirnrunzeln entfernte sie die Decken und schob die Bandage zur Seite, um die Wunde zu untersuchen. Bevor Rand erkennen konnte, wie die Verletzung aussah, hatte sie das zusammengefaltete Tuch schon wieder darübergezogen. Seufzend zog sie Decke und Umhang bis zu Tams Kinn hoch und strich sie glatt. Sie war dabei so sanft, als brächte sie ein Kind zu Bett.

»Ich kann nichts tun«, sagte sie. Sie mußte die Hände auf die Knie stützen, um sich aufzurichten. »Es tut mir leid, Rand.«

Einen Moment lang stand er verständnislos da, als sie sich wieder dem Haus zuwandte, dann jedoch rannte er ihr nach und riß sie herum, damit sie ihn ansah.

»Er stirbt!« schrie er.

»Ich weiß«, sagte sie einfach, und die Selbstverständlichkeit in ihrem Tonfall warf ihn um. »Du mußt etwas tun! Du mußt! Du bist die Seherin!«

Schmerz verzerrte ihr Gesicht, aber nur einen Moment lang. Dann strahlte sie wieder hohlwangige Entschlossenheit aus, und ihre Stimme klang fest und gefühllos. »Ja, das bin ich. Ich weiß, was ich mit meinen Medikamenten anfangen kann, und ich weiß, wann es zu spät ist. Glaubst du, ich täte nichts, wenn es noch eine Möglichkeit gäbe? Aber ich kann nicht. Ich kann nicht, Rand. Und es gibt noch andere, die mich brauchen. Menschen, denen ich helfen kann.«

»Ich habe ihn so schnell wie möglich zu dir gebracht«, murmelte er. Obwohl das Dorf in Ruinen lag, hatte er immer noch auf die Seherin gehofft. Diese Hoffnung war nun gestorben, und er fühlte sich ausgebrannt.

»Ich weiß«, sagte sie sanft. Sie berührte seine Wange mit der Hand. »Du bist nicht schuld daran. Mehr als du konnte niemand tun. Es tut mir leid, Rand, aber ich muß mich um andere kümmern. Unsere Schwierigkeiten beginnen gerade erst, fürchte ich.«

Blicklos starrte er ihr nach, bis sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte. Er konnte keinen anderen Gedanken fassen als den, daß sie nicht half.

Plötzlich taumelte er einen Schritt zurück, als sich Egwene ihm an die Brust warf und ihn umarmte. Sonst war ihre Umarmung schon fest genug, um ihm ein gelegentliches Ächzen zu entlocken, diesmal jedoch blickte er nur still zur Tür hinüber, hinter der seine Hoffnungen verschwunden waren.

»Es tut mir so leid, Rand«, sagte sie an seiner Brust. »Licht, ich wollte, ich könnte irgend etwas tun!«

Betäubt schlang er die Arme um sie. »Ich weiß. Ich... ich muß etwas tun, Egwene. Ich weiß nicht, was, aber ich kann ihn nicht so...« Seine Stimme brach, und sie umarmte ihn noch fester.

»Egwene!« Bei Nynaeves Ruf vom Haus her fuhr Egwene zusammen. »Egwene, ich brauche dich! Und wasch dir die Hände noch einmal!«

Sie befreite sich aus Rands Umarmung. »Sie braucht meine Hilfe, Rand.«

»Egwene!«

Er glaubte, ein Schluchzen zu hören, als sie wegrannte. Dann war sie fort, und er stand allein neben der Bahre. Er blickte einen Augenblick lang hinunter auf Tam und fühlte nichts als leere Hilflosigkeit. Plötzlich wurde sein Gesicht hart. »Der Bürgermeister wird wissen, was zu tun ist«, sagte er und hob die Bahre erneut an. »Der Bürgermeister weiß es.« Bran al'Vere wußte immer einen Rat. Mit müder Hartnäckigkeit machte er sich auf zur Weinquellenschenke.

Ein Dhurran-Hengst trabte an ihm vorbei. Die Enden der Zugriemen seinen Geschirrs waren an den Knöcheln einer großen Gestalt festgemacht, die in eine schmutzige Decke gehüllt war. Mit steifen Haaren bedeckte Arme wurden hinter der Decke hergeschleift, und an einer Ecke der Decke lugte ein Ziegenhorn hervor. Die Zwei Flüsse waren kein Ort, wo Legenden zu schrecklicher Wirklichkeit würden. Wenn Trollocs irgendwohin paßten, dann in die Welt dort draußen, an Orte, wo es Aes Sedai gab und falsche Drachen, und das Licht allein wußte, was noch aus den Erzählungen der Gaukler zum Leben erwachte. Nicht die Zwei Flüsse. Nicht gerade Emondsfeld.

Als er über das Grün ging, sprachen ihn Leute an, einige aus den Ruinen ihrer Häuser heraus, und fragten ihn, ob sie helfen könnten. Er hörte sie nur als Hintergrundgeräusche, selbst wenn sie ein Stück neben ihm hergingen, als sie ihn ansprachen. Ohne zu denken, brachte er Worte hervor, die ihnen mitteilten, er benötige keine Hilfe, und für alles werde schon gesorgt. Als sie ihn mit sorgenvollen Blicken verließen und einige noch versicherten, sie würden Nynaeve Bescheid geben, bemerkte er auch das kaum. Er gestattete sich nur einen bewußten Gedanken, und der galt dem Zweck seines Marsches. Bran al'Vere konnte etwas tun, um Tam zu helfen. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, was das sein mochte. Aber der Bürgermeister wäre in der Lage, etwas zu tun, sich etwas einfallen zu lassen.

Die Schenke war fast vollständig von der Zerstörung des Dorfes unberührt geblieben. An den Wänden konnte man ein paar Brandspuren erkennen, aber die roten Dachziegel schimmerten im Sonnenschein so hell wie immer. Alles, was vom Wagen des Händlers übriggeblieben war, waren die rußigen eisernen Reifen um die Räder, die gegen den verkohlten, am Boden liegenden Kasten gelehnt waren. Die großen Halbringe, die die Plane getragen hatten, ragten schief, jeder in einem anderen Winkel, daraus hervor.

Thom Merrilin saß mit übergeschlagenen Beinen auf den Steinen der alten Grundmauer und schnippelte sorgfältig mit einer kleinen Schere angesengte Enden von den Flicken auf seinem Umhang. Als Rand in seine Nähe kam, legte er Umhang und Schere beiseite. Ohne zu fragen, ob Rand Hilfe brauche, hüpfte er herunter und nahm das hintere Ende der Bahre auf.

»Rein? Natürlich, natürlich. Mach dir keine Sorgen, Junge. Eure Seherin wird sich seiner schon annehmen. Ich habe sie bei der Arbeit seit letzter Nacht beobachtet, und sie packt das richtig an und hat einige Fähigkeiten. Es könnte wirklich viel schlimmer sein. Letzte Nacht sind einige ums Leben gekommen. Vielleicht nicht viele, aber jeder ist für mich einer zuviel. Der alte Fain ist einfach verschwunden, und das ist für mich am schlimmsten. Die Trollocs essen alles. Du solltest dem Licht danken, daß dein Vater noch hier ist und lebt und die Seherin ihn heilen kann.«

Rand blockte die Stimme ab — Er ist mein Vater -, so daß die Worte zu bedeutungslosen Lauten wurden, die er genausowenig beachtete wie das Summen einer Fliege. Er konnte nicht noch mehr Sympathie und keine weiteren Versuche ertragen, seine Stimmung zu heben. Nicht jetzt. Nicht, bis Bran al'Vere ihm gesagt hatte, wie man Tam helfen konnte.

Plötzlich stand er vor der Tür der Schenke, und da war etwas mit einem angekohlten Stock draufgekritzelt: eine schwarze Träne, die auf ihrer Spitze stand. So viel war geschehen, daß es ihn kaum überraschte, die Tür der Weinquellenschenke mit dem Drachenzahn markiert zu finden. Warum jemand den Wirt oder seine Familie des Bösen beschuldigte oder daß sie Unglück brächten, verstand er nicht, doch die Nacht hatte ihn von einem überzeugt: Alles war möglich. Wirklich alles.

Als der Gaukler ihn mit der Bahre anstieß, hob er den Türriegel und trat ein.

Der Schankraum war bis auf Bran al'Vere leer und kalt, denn niemand hatte Zeit gefunden, Feuer zu machen. Der Bürgermeister saß an einem der Tische und stippte seine Schreibfeder mit konzentrierter Miene in ein Tintenfaß. Sein graumelierter Kopf war über eine Schriftrolle gebeugt. Sein Nachthemd hatte er nachlässig in die Hose gesteckt — es beulte sich um die breiten Hüften kräftig aus -, und er kratzte unbewußt einen nackten Fuß mit den Zehen des anderen. Seine Füße waren schmutzig, als sei er mehr als einmal draußen gewesen, ohne sich die Mühe zu machen, Stiefel anzuziehen, und das trotz des kalten Wetters. »Was habt Ihr für Probleme?« wollte er wissen, ohne aufzublicken. »Macht schnell! Ich muß zwei Dutzend Dinge auf einmal erledigen und noch mehr, was schon vor einer Stunde hätte erledigt werden sollen. Also habe ich wenig Zeit und Geduld. Also? Raus damit!«

»Meister al'Vere?« sagte Rand. »Es ist mein Vater.«

Der Kopf des Bürgermeisters fuhr hoch. »Rand? Tam?« Er warf die Feder auf den Tisch und sprang so schnell auf, daß er den Stuhl umstieß. »Vielleicht hat uns das Licht doch nicht ganz verlassen. Ich fürchtete, ihr wäret beide tot. Bela galoppierte eine Stunde, nachdem die Trollocs weg waren, ins Dorf, schaumbedeckt und schnaufend, als sei sie den ganzen Weg vom Hof hierher so galoppiert, und ich dachte... Keine Zeit jetzt. Wir bringen ihn hinauf.« Er packte das Ende der Bahre und schob den Gaukler mit der Schulter zur Seite. »Ihr holt die Seherin, Meister Merrilin. Und sagt ihr, ich habe Euch aufgetragen, sie ganz schnell zu holen! Sei beruhigt, Rand. Du kommst bald in ein gutes, weiches Bett. Geht, Gaukler, geht schon!«

Thom Merrilin verschwand durch die Tür, bevor Rand etwas sagen konnte. »Nynaeve hat nichts getan. Sie sagt, sie könne ihm nicht helfen. Ich wußte... Ich hoffte, Ihr hättet eine Idee.«

Meister al'Vere sah Rand scharf an und schüttelte dann den Kopf. »Wir werden sehen, Junge. Wir werden sehen.« Aber er hörte sich nicht mehr so selbstbewußt an. »Bringen wir ihn zu Bett. Zumindest kann er dort angenehmer liegen.«

Rand ließ sich auf die Treppe am Ende des Schankraums zuschieben. Er bemühte sich sehr, die Hoffnung zu bewahren, daß Tam wieder gesund würde, aber er hatte sich damit von Anfang an auf dünnem Eis bewegt, das erkannte er jetzt, und die plötzlichen Zweifel in der Stimme des Bürgermeisters erschütterten ihn vollends.

Im zweiten Stock der Schenke befand sich ein halbes Dutzend sauberer, gut eingerichteter Zimmer mit Blick auf das Grün. Sie wurden meist von den Händlern oder von Leuten aus Wachhügel oder Devenritt benutzt, und die Kaufleute, die jedes Jahr kamen, waren oft überrascht, hier solch gemütliche Zimmer vorzufinden. Drei davon waren belegt, und der Bürgermeister drängte Rand zu einem der leerstehenden Räume.

Schnell wurden der Bettüberwurf und die Decke auf dem breiten Bett zurückgezogen, und Tam wurde auf die dicke Federmatratze gelegt. Ein Gänsedaunenkissen kam unter seinen Kopf. Er gab keinen Laut von sich, als er umgebettet wurde, außer seinem heiseren Atmen — nicht einmal ein Stöhnen -, aber der Bürgermeister tat Rands Ängste mit einer Handbewegung ab und trug ihm auf, Feuer zu machen, um die Kälte aus dem Raum zu vertreiben. Während Rand Holz und Zunder aus der Kiste neben dem Kamin nahm, zog Bran die Vorhänge zurück und ließ das Morgenlicht herein. Dann wusch er sanft Tams Gesicht. Als der Gaukler zurückkehrte, erwärmte das lodernde Feuer im Kamin bereits den Raum.

»Sie kommt nicht«, verkündete Thom Merrilin, als er in das Zimmer stolzierte. Er sah Rand böse an. Seine buschigen weißen Brauen zogen sich zusammen. »Du hast mir nicht gesagt, daß sie ihn schon gesehen hat. Sie hat mir fast den Kopf abgerissen.«

»Ich dachte... Ich weiß nicht... Vielleicht konnte der Bürgermeister etwas ausrichten, ihr möglicherweise klarmachen... « Die Hände zu zitternden Fäusten geballt, wandte sich Rand vom Kamin ab und Bran zu. »Meister al'Vere, was kann ich tun?« Der füllige Mann schüttelte hilflos den Kopf. Er legte ein frisch befeuchtetes Tuch auf Tams Stirn und vermied es, Rand in die Augen zu sehen. »Ich kann nicht einfach zuschauen, wie er stirbt, Meister al'Vere! Ich muß etwas tun.« Der Gaukler machte eine Bewegung, als wolle er etwas sagen. Rand ging eifrig darauf ein. »Habt Ihr eine Idee? Ich versuche alles!«

»Ich habe mich nur gefragt«, sagte Thom und stopfte die langstielige Pfeife mit seinem Daumen, »ob der Bürgermeister weiß, wer den Drachenzahn an seine Tür gekritzelt hat.« Er starrte in den Pfeifenkopf, sah dann Tam an und steckte die Pfeife zwischen die Zähne, ohne sie anzuzünden. Er seufzte. »Jemand scheint ihn nicht mehr leiden zu können. Oder vielleicht kann dieser Jemand seine Gäste nicht leiden.«

Rand sah ihn enttäuscht an und wandte sich ab, um ins Feuer zu starren. Seine Gedanken tanzten wie die Flammen, und wie die Flammen drehten sie sich immer nur um eines. Er würde nicht aufgeben. Er konnte nicht einfach nur herumstehen und zuschauen, wie Tam starb. Mein Vater, dachte er grimmig. Mein Vater. Wenn das Fieber einmal unterdrückt war, konnte man das auch noch aufklären. Aber zuerst das Fieber. Nur — wie?

Bran al'Veres Mund verzog sich, als er auf Rands Rücken blickte, und der Blick, den er dem Gaukler zuwarf, hätte gereicht, um einen Bären zurückschrecken zu lassen. Aber Thom sah ihn nur erwartungsvoll an, als habe er nichts bemerkt.

»Vielleicht hat das einer der Congars getan oder ein Coplin«, sagte der Bürgermeister schließlich, »nur das Licht allein weiß, wer. Das ist eine große Brut, und wenn die jemandem etwas Übles nachsagen können oder auch nicht, dann tun sie es. Im Gegensatz zu denen redet Cenn Buie, als hätte er Honig auf der Zunge.«

»Die Wagenkolonne, die kurz vor Sonnenaufgang ankam«, meinte der Gaukler. »Die hatten noch nicht einmal einen Trolloc aus der Ferne gerochen und wollten nur wissen, wann das Fest anfange. Als ob die nicht sehen konnten, daß das halbe Dorf niedergebrannt war.«

Meister al'Vere nickte erbittert. »Ein Zweig der Familie. Aber der Rest ist auch nicht viel besser. Dieser Narr Darl Coplin verbrachte die halbe Nacht damit, von mir zu verlangen, ich solle Moiraine und Meister Lan aus dem Dorf weisen, als ob ohne sie überhaupt noch ein Dorf hier stünde.«

Rand war der Unterhaltung ohne besondere Aufmerksamkeit gefolgt, aber die letzte Bemerkung reizte ihn zu einer Frage. »Was haben sie getan?«

»Also, sie hat aus klarem Himmel einen Kugelblitz herabgerufen«, erwiderte Meister al'Vere. »Hat ihn direkt in die Trollocs hineinzischen lassen. Der kann Bäume zerschmettern. Den Trollocs ging es nicht anders.«

»Moiraine?« fragte Rand ungläubig, und der Bürgermeister nickte.

»Frau Moiraine. Und Meister Lan gebrauchte sein Schwert wie einen Wirbelwind. Sein Schwert? Der ganze Mann ist eine Waffe und schien sich an zehn Orten gleichzeitig aufzuhalten. Versengen soll mich das Licht, aber ich würde es immer noch nicht glauben, wenn ich nicht rausgegangen wäre und gesehen hätte... « Er rieb sich mit der Hand über die kahle Kopfhaut. »Die Winternachtbesuche fangen gerade an, wir haben die Hände voll von Geschenken und Honigkuchen und die Köpfe voll Wein, und dann knurren die Hunde, und plötzlich rasen die beiden aus der Schenke, rennen durch das Dorf und schreien etwas von Trollocs. Ich dachte, sie hätten zuviel getrunken. Schließlich — Trollocs? Und dann, bevor irgend jemand wußte, was eigentlich geschah, waren diese — Dinger plötzlich neben uns auf den Straßen, hieben mit ihren Schwertern nach Menschen, warfen Fackeln in Häuser und heulten, daß einem das Blut gefrieren konnte.« Er stieß einen Laut des Ekels aus. »Wir rannten herum wie Hühner, wenn der Fuchs auf dem Hühnerhof ist, bis Meister Lan uns dazu brachte, uns zu wehren.«

»Kein Grund, so hart mit Euch selbst ins Gericht zu gehen«, sagte Thom. »Ihr habt Euch wacker geschlagen. Nicht jeder Trolloc, der jetzt dort draußen liegt, ist von den Händen der beiden gefallen.«

»Mmmm... ja, stimmt schon.« Meister al'Vere nahm sich sichtlich zusammen. »Ich kann es trotzdem kaum glauben. Eine Aes Sedai in Emondsfeld. Und Meister Lan ist ein Behüter.«

»Eine Aes Sedai?« flüsterte Rand. »Das kann nicht sein. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist keine... Sie scheint nicht... «

»Glaubst du, sie tragen Abzeichen?« fragte der Bürgermeister sarkastisch. »Aes Sedai vielleicht, und zwar quer über den Rücken gemalt? Und vielleicht noch ›Gefahr. Wegbleiben!‹« Plötzlich klatschte er sich gegen die Stirn. »Aes Sedai. Ich bin ein alter Narr und gebrauche meinen Verstand nicht mehr. Es gibt eine Möglichkeit, Rand, falls du sie wahrnehmen willst. Ich kann es dir nicht befehlen, und wenn es um mich ginge, weiß ich nicht, ob ich mich trauen würde.«

»Eine Möglichkeit?« fragte Rand. »Ich werde jede Möglichkeit nutzen, wenn es hilft.«

»Aes Sedai können heilen, Rand. Versengen soll mich das Licht, Junge, aber du hast doch die Geschichten auch gehört. Sie können heilen, wo Medikamente versagen. Gaukler, Ihr hättet Euch noch eher daran erinnern sollen als ich. Gauklergeschichten sind voll von Aes Sedai. Warum habt Ihr nichts gesagt und mich statt dessen herumrätseln lassen?«

»Ich bin hier fremd«, sagte Thom, wobei er seine unangezündete Pfeife sehnsuchtsvoll ansah, »und Herr Coplin ist nicht der einzige, der mit Aes Sedai nichts zu tun haben will. Ich habe nichts dagegen, daß der Vorschlag von Euch kommt.«

»Eine Aes Sedai«, murmelte Rand und versuchte, sich die Frau, die ihn angelächelt hatte, als Figur in einer dieser Geschichten vorzustellen. Hilfe von einer Aes Sedai sei manchmal schlimmer als überhaupt keine Hilfe, erzählten die Geschichten, wie Gift in einer Pastete, und wie die Köder beim Angeln, so hatten ihre Geschenke immer einen Haken. Plötzlich erschien ihm die Münze in seiner Tasche, die ihm Moiraine gegeben hatte, so heiß wie brennende Kohle. Er konnte sich gerade noch beherrschen, sie nicht aus seinem Mantel zu reißen und aus dem Fenster zu werfen.

»Niemand will etwas mit Aes Sedai zu tun haben, Junge«, sagte der Bürgermeister langsam. »Es ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe, und die Entscheidung ist nicht leicht. Ich kann sie nicht für dich treffen, aber ich habe von Frau Moiraine — ich sollte sie wohl besser Moiraine Sedai nennen, denke ich — bisher nur Gutes erlebt. Manchmal«, — er sah Tam bedeutungsvoll an -»muß man ein Risiko eingehen, auch wenn es nur eine kleine Hoffnung bedeutet.«

»Einige Geschichten sind auf ihre Art ziemlich übertrieben«, fügte Thom hinzu, als reiße man die Worte aus ihm heraus. »Jedenfalls manche. Und schließlich, Junge: Du hast gar keine andere Wahl.«

»Ja«, seufzte Rand. Tam hatte immer noch keinen Muskel bewegt; seine Augen waren eingesunken, als läge er bereits die ganze Woche über krank danieder. »Ich... Ich gehe und suche sie.«

»Auf der anderen Seite der Brücke«, sagte der Gaukler, »wo sie — die toten Trollocs beseitigen. Aber sei vorsichtig, Junge! Aes Sedai haben ihre eigenen Gründe, etwas zu tun, und das sind manchmal ganz andere Gründe, als wir glauben.«

Das letztere rief er Rand durch die geöffnete Tür nach. Der mußte den Schwertgriff festhalten, damit ihm die Scheide nicht zwischen die Beine geriet und ihn beim Rennen zu Fall brachte, doch er nahm sich nicht die Zeit, es abzuschnallen. Er polterte die Treppe hinunter und stürzte aus der Schenke. Seine Erschöpfung war in diesem Augenblick vergessen. Eine Chance für Tam, wie klein sie auch sein mochte, war genug, um dafür die Folgen einer schlaflosen Nacht zu überwinden, wenigstens für eine Weile. Er wollte nicht daran denken, daß eine Aes Sedai ihm diese Chance bot und was wohl der Preis dafür sein würde. Und tatsächlich einer echten Aes Sedai gegenüberzustehen... Er atmete tief ein und versuchte noch schneller zu rennen.

Die Bel-Tine-Feuer befanden sich ein gutes Stück jenseits der letzten Häuser im Norden des Dorfes an der Westwaldseite der Straße nach Wachhügel. Der Wind trieb die öligschwarzen Qualmsäulen immer noch vom Dorf weg, aber trotzdem lag ein ekelhaft süßer Gestank in der Luft, als habe man einen Braten um Stunden zu lange am Spieß geröstet. Rand würgte, als er es roch, und schluckte dann schwer, als er die Quelle des Gestanks erkannte. Ein schöne Bescherung, so etwas mit Bel-Tine-Feuern anzustellen! Die Männer, die sich um die Feuer kümmerten, hatten sich Tücher über Nase und Mund gebunden, aber ihren Grimassen konnte man ansehen, daß der Essig, in den sie die Tücher getaucht hatten, nicht ausreichte. Und wenn er auch den Gestank besiegte, so wußten sie doch, daß er da war und sie wußten auch, was sie taten.

Zwei Männer schnallten die Beine eines Trollocs von den Zugleinen eines der großen Dhurrans ab. Lan, der neben der Leiche kauerte, hatte die Decke weit genug zurückgezogen, um die Schultern und den ziegenbockähnlichen Kopf des Trollocs freizulegen. Als Rand sich näherte, löste der Behüter gerade ein Metallabzeichen — einen blutrot emaillierten Dreizack -von einer dornenversehenen Schulter der schwarzen Trolloc-Rüstung.

»Ko'bal«, verkündete er. Er warf das Abzeichen mit der Handfläche in die Luft und fing es mit einem Knurren wieder auf. »Damit sind es jetzt schon sieben Horden.«

Moiraine, die mit übereinandergeschlagenen Beinen am Boden saß, schüttelte müde den Kopf. Quer über den Knien lag ihr ein Wanderstock, der von einem Ende zum anderen mit geschnitzten Ranken und Blumen bedeckt war, und ihr Kleid sah so zerknittert aus, als habe sie es zu lange getragen. »Sieben Horden. Sieben! So viele haben sich seit den Trolloc-Kriegen nicht mehr zusammengetan. Eine schlechte Nachricht nach der anderen. Ich habe Angst, Lan. Ich dachte, wir hätten einen Tagesmarsch aufgeholt, aber vielleicht sind wir noch weiter zurückgefallen als vorher.«

Rand sah sie an und war nicht in der Lage, ein Wort herauszubringen. Eine Aes Sedai. Er hatte versucht, sich selbst zu überzeugen, daß sie nun, da er wußte, wer... was sie war, auch nicht anders als zuvor aussah, und zu seiner Überraschung war es auch so. Sie wirkte nicht mehr so frisch — das Haar war wirr, und über die Nase zog sich ein dünner Rußstreifen -, aber auch nicht allzu sehr verändert. Sicher mußte es irgendein Anzeichen geben, was sie als Aes Sedai kennzeichnete. Andererseits — wenn das äußere Erscheinungsbild das innere widerspiegelte und die Geschichten recht hatten, dann sollte sie eher wie ein Trolloc aussehen als wie eine schöne Frau, die nichts von ihrer Würde verlor, während sie im Schmutz saß. Und sie konnte Tam helfen. Was es auch immer kosten sollte, das war wichtiger als alles andere.

Er holte tief Luft. »Frau Moiraine... Ich meine, Moiraine Sedai.« Beide drehten sich um und sahen ihn an. Er erstarrte unter ihren Blicken. Das war nicht der ruhige, lächelnde Blick, an den er sich vom Grün her erinnerte. Ihr Gesicht war müde, doch ihre dunklen Augen gehörten einem Falken. Aes Sedai. Zerstörer der Welt. Marionettenspieler, die an Fäden zogen und daran Throne und Völker tanzen ließen — nach welcher Melodie, das wußten nur die Frauen von Tar Valon.

»Ein wenig Licht in der Dunkelheit«, murmelte die Aes Sedai. Sie erhob die Stimme. »Wie steht es mit deinen Träumen, Rand al'Thor?«

Er starrte sie verständnislos an. »Meine Träume?«

»Eine Nacht wie diese kann einem Mann zu Alpträumen verhelfen, Rand. Wenn du Alpträume hast, mußt du mir davon erzählen. Manchmal habe ich ein Mittel gegen schlimme Träume.«

»Es ist alles in Ordnung mit meinen... Es ist mein Vater. Er ist verletzt. Es ist nicht viel mehr als ein Kratzer, aber das Fieber verzehrt ihn. Die Seherin hilft nicht. Sie sagt, sie kann nicht helfen. Aber die Geschichten... « Sie zog eine Augenbraue hoch, und er hielt inne und schluckte. Licht, gibt es eigentlich eine Geschichte über eine Aes Sedai, in der sie nicht die Bösewichtin ist? Er sah den Behüter an, aber Lan schien sich mehr für den toten Trolloc zu interessieren als für Rands Worte. Er stammelte unter ihrem Blick weiter: »Ich... äh... man sagt; Aes Sedai könnten heilen. Wenn Ihr ihm helfen könnt... Was Ihr auch für ihn tun könnt... Was es auch kostet... Ich meine... « Er atmete tief ein und rasselte den Rest herunter. »Ich bezahle jeden Preis, der in meiner Macht steht, wenn Ihr ihm helft. Alles.«

»Jeden Preis«, überlegte Moiraine laut und mehr zu sich selbst. »Über den Preis sprechen wir später, Rand, wenn überhaupt. Ich kann dir nichts versprechen. Eure Seherin weiß schon, was sie tut. Ich werde mein Möglichstes tun, aber meine Macht reicht nicht aus, um das Rad am Drehen zu hindern.«

»Früher oder später holt der Tod jeden von uns«, sagte der Behüter ernst, »außer, sie dienen dem Dunklen König, und nur Narren sind bereit, den Preis dafür zu zahlen.«

Moiraine gab ein Glucksen von sich. »Verbreite keine solche Weltuntergangsstimmung, Lan! Wir haben Grund zum Feiern. Einen kleinen wohl nur, aber immerhin.« Sie nahm den Stock, um auf die Beine zu kommen. »Bring mich zu deinem Vater, Rand! Ich werde ihm helfen, so gut ich es vermag. Zu viele hier haben meine Hilfe von vornherein abgelehnt. Auch sie haben die Geschichten gehört«, fügte sie trocken hinzu.

»Er ist in der Schenke«, sagte Rand. »Hier entlang. Und ich danke Euch. Danke!«

Sie folgten, doch sein schneller Schritt holte rasch einen Vorsprung heraus. Ungeduldig verhielt er, damit sie aufholen konnten, und lief dann wieder voraus, so daß er erneut warten mußte.

»Bitte beeilt Euch!« spornte er sie an. Er war so davon besessen, Tam endlich Hilfe zu bringen, daß er die eigene Tollkühnheit nicht bemerkte: zu versuchen, eine Aes Sedai anzutreiben. »Das Fieber verzehrt ihn.«

Lan sah ihn zornig an. »Kannst du nicht sehen, wie müde sie ist? Selbst mit einem Angreal glich das, was sie letzte Nacht tat, dem Umherlaufen mit einem Sack voller Steine auf dem Rücken. Ich weiß nicht, ob du das wert bist, Schäfer, gleichgültig, was sie sagt.«

Rand schluckte und hielt den Mund.

»Nur ruhig, mein Freund«, sagte Moiraine. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, hob sie den Arm und klopfte dem Behüter auf die Schulter. Seine Gestalt ragte schützend über ihr auf, als könne er ihr durch seine Nähe allein Kraft verleihen. »Du denkst immer nur an mein Wohl. Warum sollte er nicht genauso in bezug auf seinen Vater denken?« Lan blickte finster drein, schwieg aber. »Ich komme, so schnell ich kann, Rand, das verspreche ich dir.«

Angesichts der Härte ihrer Augen und der Sanftheit ihrer Stimme wußte Rand nicht, was er ihr glauben konnte. Vielleicht paßte beides zusammen. Aes Sedai. Jetzt hatte er den Kopf in der Schlinge. Er paßte seinen Schritt dem ihren an und bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, über welchen Preis sie später verhandeln würden.

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