Auseinandergebrochene Pflastersteine knirschten unter den Hufen der Pferde, als Lan sie in die Stadt führte. Die gesamte Stadt lag in Ruinen, jedenfalls soweit Rand blicken konnte, und war so verlassen, wie Perrin es gleich behauptet hatte. Nicht einmal eine Taube flog auf, und in den Rissen der Mauern und Straßen wucherte Unkraut, das nach diesem Winter aber auch schon alt und abgestorben war. Bei mehr als der Hälfte aller Gebäude war das Dach eingefallen. Aus zusammengebrochenen Mauern waren Ziegel und Bausteine in die Straßen gestürzt. Türme ragten mit zerfransten Spitzen wie abgebrochene Zahnstummel in den Himmel. Unregelmäßig geformte Schutthaufen, an deren Hängen ein paar verkrüppelte Bäume wuchsen, konnten wohl die Überreste von Palästen oder vollständigen Wohnblocks darstellen.
Doch das, was noch stand, war genug, um Rand den Atem zu rauben. Auch das größte Gebäude Baerlons würde im Schatten beinahe jeden Gebäudes hier verschwinden. Blasse Marmorpaläste mit riesigen Kuppeln obenauf waren überall zu sehen. Jedes Gebäude schien zumindest eine Kuppel zu haben; manche hatten vier oder fünf, und jede hatte eine andere Form. Lange Säulengänge zogen sich Hunderte von Schritten bis zu Türmen hin, die in den Himmel zu greifen schienen. An jeder Kreuzung stand ein Bronzebrunnen oder die Alabastersäule eines Denkmals oder eine Statue auf einem Sockel. Obwohl die Brunnen ausgetrocknet, die meisten Denkmäler umgestürzt und viele der Statuen abgebröckelt waren, waren die Überreste noch immer so großartig, daß Rand nur staunen konnte.
Und ich habe Baerlon für eine Stadt gehalten! Versengen soll mich das Licht, aber Thom muß sich ganz schön über uns amüsiert haben. Moiraine und Lan natürlich auch.
Er war so in seine Betrachtungen versunken, daß es ihn überraschte, als Lan plötzlich vor einem weißen Steingebäude anhielt, das einst doppelt so groß wie der Hirsch und Löwe gewesen war. Man konnte nicht mehr sagen, was es einst dargestellt hatte, als die Stadt bewohnt und groß gewesen war — vielleicht sogar eine Schenke. Von den oberen Stockwerken existierte nur noch ein hohles Gerüst. Durch die leeren Fensterlöcher — Holz und Glas waren lange schon verschwunden — konnte man den Nachmittagshimmel sehen, doch das Erdgeschoß schien stabil genug. Wie alt mag das alles sein? dachte Rand.
Moiraine, die ihre Hände immer noch auf dem Sattelhorn liegen hatte, betrachtete das Gebäude eingehend, bevor sie nickte. »Das wird gehen.«
Lan sprang aus dem Sattel und hob die Aes Sedai von ihrem Pferd herunter. »Bringt die Pferde hinein«, kommandierte er. »Sucht Euch einen Raum weiter hinten als Stall heraus. Los, Bauernjungen. Das ist nicht der Dorfplatz zu Hause!« Er verschwand mit der Aes Sedai auf den Armen nach drinnen. Nynaeve kletterte herunter und lief ihm nach. Sie hielt ihren Beutel mit Kräutern und Salben fest in der Hand. Egwene kam ihr sogleich nach. Sie ließen ihre Reittiere einfach stehen.
»Bringt die Pferde hinein«, äffte Thom spöttisch nach und pustete die Enden seines Schnurrbarts von seinen Lippen. Er kletterte steif und langsam herab, rieb sich den Rücken und seufzte lang. Dann nahm er Aldiebs Zügel. »Na?« sagte er und zog eine Augenbraue hoch, wobei er Rand und seine Freunde auffordernd anblickte.
Sie beeilten sich beim Absteigen und trieben die restlichen Pferde zusammen. Der Torbogen, an dem kein Rest einer früheren Tür mehr hing, war mehr als groß genug, um die Tiere hindurchzubringen, sogar immer zwei nebeneinander.
Drinnen fanden sie einen riesigen Saal, so breit wie das ganze Gebäude, mit einem schmutzigen, geplättelten Fußboden und ein paar zerfetzten Wandbehängen, zu einem stumpfen, gleichmäßigen Braun verblaßt, die aussahen, als würden sie bei einer Berührung gleich zerfallen. Sonst nichts. Lan hatte in der nächstgelegenen Ecke für sich und Moiraine einen Lagerplatz mit ihren Umhängen als Unterlagen gerichtet. Nynaeve schimpfte über den Staub, kniete neben der Aes Sedai nieder und kramte in ihrem Beutel herum, den ihr Egwene aufhielt.
»Ich kann sie vielleicht nicht leiden, das mag schon stimmen«, sagte Nynaeve zu dem Behüter, als Rand, der Bela und Wolke führte, hinter Thom eintrat, »aber ich helfe jedem, der meine Hilfe braucht, ob ich ihn mag oder nicht.«
»Ich habe mich nicht beklagt, Seherin. Ich habe nur gesagt, Ihr sollt mit Euren Kräutern vorsichtig umgehen.«
Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Es ist nun mal so, daß sie meine Kräuter braucht, und Ihr ebenfalls.« Zu Beginn klang ihre Stimme bitter, doch dann nahm sie einen eher beißenden Tonfall an. »Es ist nun mal so, daß sie eben auch nur soviel und nicht mehr tun kann, selbst mit Ihrer Einen Macht, und sie hat schon soviel getan, wie sie nur konnte, ohne zusammenzubrechen. Es ist nun mal so, Herr der Sieben Türme, daß Euer Schwert ihr jetzt nicht helfen kann, wohl aber meine Kräuter.«
Moiraine legte eine Hand auf Lans Arm. »Entspanne dich, Lan. Sie meint es nicht böse. Sie weiß es einfach nicht besser.« Der Behüter schnaubte verächtlich. Nynaeve hörte mit dem Herumkramen in ihrem Beutel auf und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann aber sprach sie Moiraine an. »Es gibt viele Dinge, die ich nicht weiß. Worum geht es hier?«
»Zum einen«, antwortete Moiraine, »brauche ich wirklich nur etwas Ruhe. Zum anderen stimme ich Euch zu. Eure Fähigkeiten und Euer Wissen werden uns mehr nützen, als ich dachte. Wenn Ihr nun noch etwas habt, was mich eine Stunde lang schlafen läßt, ohne daß ich einen schweren Kopf bekomme...?«
»Ein schwacher Tee aus Fuchsschwanzgras, Marisin und... «
Rand versäumte den Rest, als er Thom in einen zweiten Raum folgte, der genauso groß und noch leerer war als der erste. Hier gab es nur Staub, dicht und unberührt, bis sie kamen. Nicht einmal die Spuren von Vögeln oder Kleintieren waren auf dem Fußboden zu sehen.
Rand nahm Bela und Wolke die Sättel ab, Thom sattelte Aldieb und seinen Wallach ab und Perrin sein Pferd und Mandarb. Alle außer Mat. Er ließ seine Zügel mitten im Raum einfach fallen. Es gab außer der Tür, durch die sie eingetreten waren, noch zwei Ausgänge. »Eine Straße«, verkündete Mat, nachdem er den Kopf zum ersten hinausgestreckt hatte. Das konnten sie alle von ihren Standpunkten aus sehen. Die zweite Tür war nur ein schwarzes Rechteck in der hinteren Wand. Mat ging langsam durch und kam viel schneller wieder zurück, wobei er sich lebhaft alte Spinnweben vom Haar streifte.
»Da ist nichts drin«, sagte er und beäugte wieder die Gasse.
»Wirst du dich vielleicht mal um dein Pferd kümmern?« fragte Perrin. Er war bereits mit seinem fertig und hob gerade Mandarbs Sattel ab. Es war seltsam, aber der Hengst mit den wilden Augen machte bei ihm überhaupt keine Schwierigkeiten, obwohl er Perrin genau beobachtete. »Keiner wird das für dich erledigen.«
Mat blickte noch einmal zu der Gasse hinüber und wandte sich dann seufzend seinem Pferd zu. Als Rand Belas Sattel auf den Boden legte, bemerkte er, daß Mat nur trübsinnig in die Luft stierte. Seine Augen schienen tausend Meilen weit weg, und er bewegte sich nur ganz mechanisch.
»Bist du in Ordnung, Mat?« sagte Rand. Mat hob den Sattel von seinem Pferd und stand gedankenverloren da. »Mat? Mat!«
Mat erschrak und ließ beinahe den Sattel fallen. »Was? Oh! Ich... Ich habe nur nachgedacht.«
»Nachgedacht?« höhnte Perrin von drüben her, wo er gerade Mandarbs Geschirr abschnallte. »Du hast geschlafen!«
Mat machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe darüber nachgedacht, was... was da hinten geschehen ist. Über diese Worte, die ich... « Alle wandten sich ihm zu, nicht nur Rand, und er trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Also, ihr habt ja gehört, was Moiraine sagte. Es ist, als habe irgendein toter Mann mit meiner Zunge gesprochen. Es gefällt mir nicht.« Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, als Perrin lachte.
»Aemons Schlachtruf, sagte sie — richtig? Vielleicht ist in dir Aemon wiedergeboren. So wie du immer über Emondsfeld herziehst, wie langweilig es dort ist, denke ich, das würde dir gefallen — ein König und wiedergeborener Held zu sein.«
»Sagt so etwas nicht!« Thom holte tief Luft. Jetzt sah jeder ihn an. »Das ist gefährliches, dummes Gerede! Die Toten können wiedergeboren werden oder einen lebenden Körper übernehmen, und das ist nichts, worüber man so leichthin sprechen darf.« Er holte noch mal tief Luft, um sich zu beruhigen, bevor er fortfuhr: »Das alte Blut, hat sie gesagt. Das Blut und kein toter Mann. Ich habe gehört, daß so was manchmal geschehen kann. Gehört, wie gesagt, aber ich dachte niemals im Ernst daran... Es waren deine Wurzeln, Junge. Das geht zurück über deinen Vater zu deinem Großvater und geradewegs zu Manetheren und vielleicht noch weiter. Na ja, jetzt weißt du, daß deine Familie alt ist. Damit solltest du es bewenden lassen und einfach froh sein. Die meisten Leute wissen nicht viel mehr, als daß sie einen Vater hatten.«
Manche von uns können nicht einmal da sicher sein, dachte Rand bitter. Vielleicht hatte die Seherin recht. Licht, ich hoffe, sie hatte recht.
Mat nickte zu den Worten des Gauklers. »Ja, das denke ich auch. Nur... glaubt Ihr, daß es etwas mit dem zu tun hat, was mit uns geschehen ist? Die Trollocs und alles? Ich meine... ach, ich weiß gar nicht, was ich meine.«
»Ich glaube, du solltest es vergessen und dich darauf konzentrieren, heil aus allem rauszukommen.« Thom zog seine langstielige Pfeife aus einer Innentasche seines Umhangs. »Und ich glaube, ich werde ein wenig rauchen.« Er winkte mit der Pfeife in ihre Richtung und verschwand im vorderen Saal.
»Wir stecken alle gemeinsam in dieser Sache, und nicht einzeln«, sagte Rand zu Mat.
Mat schüttelte sich und lachte kurz und hart auf.
»Richtig. Also, wenn wir schon von gemeinsamen Dingen reden: Jetzt sind wir ja mit den Pferden fertig, warum sollten wir dann nicht herumlaufen und ein bißchen mehr von dieser Stadt sehen? Eine richtige Stadt und keine Menschenmengen, wo man ständig angerempelt und getreten wird. Keiner, der uns von oben herab anschaut. Das Tageslicht wird sich noch eine, vielleicht auch zwei Stunden lang halten.«
»Vergißt du nicht die Trollocs?« fragte Perrin.
Mat schüttelte verächtlich den Kopf. »Lan sagte, sie kämen nicht hierher; erinnerst du dich nicht mehr? Du mußt auf das hören, was die Leute sagen.«
»Ich erinnere mich«, sagte Perrin. »Und ich pflege zuzuhören. Diese Stadt — Aridhol? — war ein Verbündeter von Manetheren. Siehst du? Ich höre zu.«
»Aridhol muß wohl während der Trolloc-Kriege die größte Stadt gewesen sein«, sagte Rand, »wenn die Trollocs sie immer noch fürchten. Sie hatten keine Angst, die Zwei Flüsse zu betreten, und Moiraine sagte, daß Manetheren — wie hat sie das ausgedrückt? — ein Dorn im Fuße des Dunklen Königs war.«
Perrin hob die Hände. »Erwähne bitte den Schäfer der Nacht nicht. Bitte!«
»Was meint ihr?« lachte Mat. »Gehen wir!«
»Wir sollten Moiraine erst fragen«, sagte Perrin, und Mat hob nun die Hände in einem Anfall von Verzweiflung. »Moiraine fragen? Denkst du, sie wird uns aus ihrer Sichtweite lassen? Und wie steht's mit Nynaeve? Blut und Asche, Perrin, warum willst du nicht auch noch Frau Luhhan fragen, wenn du schon dabei bist?«
Perrin nickte zögernd, und Mat wandte sich grinsend an Rand. »Wie steht's mit dir? Eine richtige Stadt? Mit Palästen!« Er lachte hinterhältig. »Und keine Weißmäntel, die uns anstarren.«
Rand warf ihm einen spöttischen Blick zu, zögerte aber nur kurz. Diese Paläste hätten aus einer Gauklergeschichte stammen können. »Geht klar!«
Sie bewegten sich ganz leise, damit man sie in dem vorderen Saal nicht hören konnte, und verließen das Gebäude über die Gasse. Sie folgten ihr von der Vorderfront des Gebäudes bis zu einer Straße auf der anderen Seite. Sie gingen schnell, und als sie sich einen Häuserblock weit von dem weißen Steingebäude entfernt hatten, begann Mat plötzlich zu hüpfen und zu tanzen.
»Frei.« Er lachte. »Frei!« Er ging langsamer, bis er schließlich einen Kreis beschrieb und dabei alles um sich herum betrachtete und immer weiter lachte. Die Nachmittagsschatten erstreckten sich lang und gezackt, und die sinkende Sonne färbte die in Ruinen liegende Stadt golden. »Habt ihr euch je einen solchen Ort erträumt? Habt ihr das?«
Perrin lachte auch, aber Rand zuckte nur unangenehm berührt die Achseln. Das glich in nichts der Stadt aus seinem ersten Traum, doch trotzdem... »Wenn wir noch etwas sehen wollen«, sagte er, »dann sollten wir losmarschieren. Es wird nicht mehr lange Tag sein.«
Mat wollte einfach alles sehen, so schien es jedenfalls, und er riß mit seiner Begeisterung die anderen mit. Sie kletterten über verstaubte Brunnen, deren Wasserbecken groß genug waren, um alle Emondsfelder auf einmal unterzubringen, liefen in Gebäude hinein und wieder heraus, die sie ohne irgendein System per Zufall auswählten, aber es waren immer die größten, die sie finden konnten. Einiges verstanden sie, anderes nicht. Ein Palast war immer noch ein Palast, aber was konnte man mit einem Gebäude anfangen, das nur aus einer runden, weißen Kuppel bestand, außen so groß wie ein ganzer Hügel und mit einem riesenhaften Saal im Inneren? Und was sollte dieser von Mauern begrenzte Platz ohne Dach, groß genug, um ganz Emondsfeld darin unterzubringen, mit Reihe auf Reihe auf Reihe von Steinbänken außenherum?
Mat wurde ungeduldig, als sie nichts außer Staub, Schutt und farblosen Wandbehängen fanden, die bei der leisesten Berührung zerfielen. Einmal waren Holzstühle an einer Mauer aufgestapelt, doch als Perrin versuchte, einen davon aufzuheben, zerfielen sie alle.
Die Paläste mit ihren riesigen leeren Sälen — in einigen davon hätte man gut die Weinquellenschenke unterbringen können, und es wäre auf allen Seiten und nach oben hin noch genug Platz geblieben — ließen Rand oft an die Menschen denken, die sie einst bewohnt hatten. Er glaubte, daß alle Einwohner der Zwei Flüsse unter dieser runden Kuppel Platz gefunden hätten, und was den Ort mit den Steinbänken betraf... Er konnte sich beinahe plastisch vorstellen, die Menschen in den Schatten zu erkennen, wie sie mißbilligend den drei Eindringlingen zusahen, die ihre Ruhe störten.
Schließlich wurde selbst Mat müde, auch wenn die Gebäude noch so beeindruckend waren, und er erinnerte sich daran, daß er in der Nacht zuvor nur eine Stunde lang geschlafen hatte. Alle begannen, sich daran zu erinnern. Gähnend saßen sie auf den Stufen vor einem hohen Gebäude, an dessen Vorderseite viele Reihen hoher Steinsäulen aufgestellt waren, und stritten sich darüber, was sie als nächstes machen sollten.
»Zurückgehen«, sagte Rand, »und etwas schlafen.« Er hielt sich den Handrücken vor den Mund. Als er wieder zu sprechen in der Lage war, sagte er: »Schlafen. Das ist alles, was ich will.«
»Du kannst doch immer schlafen«, sagte Mat zielbewußt. »Schau mal, wo wir uns hier befinden. Eine Ruinenstadt. Schätze.«
»Schätze?« Perrins Kiefer knackten. »Hier gibt es keinen Schatz. Es gibt nichts als Staub.«
Rand hob die Hand an die Stirn, damit er nicht von der Sonne geblendet wurde, die wie ein roter Ball über den Dächern hing. »Es wird spät, Mat. Bald ist es dunkel.«
»Es könnte Schätze geben«, beharrte Mat tapfer. »Auf jeden Fall möchte ich auf einen der Türme steigen. Schaut mal den dort drüben an. Er ist unversehrt geblieben. Ich wette, von dort droben kann man meilenweit sehen. Was meint ihr?«
»Die Türme sind nicht sicher«, sagte eine Männerstimme hinter ihnen.
Rand sprang auf die Füße und wirbelte herum, wobei er sein Schwert am Griff packte. Die anderen waren genauso schnell. Ein Mann stand im Schatten unter den Säulen oben an der Treppe. Er trat einen halben Schritt vor, hob die Hand, um seine Augen zu schützen, und trat wieder zurück. »Vergebt mir«, sagte er weich. »Ich bin eine ganze Zeit drinnen im Dunkeln gewesen. Meine Augen sind noch nicht an das Licht gewöhnt.«
»Wer seid Ihr?« Rand hielt den Akzent des Mannes für eigenartig, sogar nach dem, was sie in Baerlon gehört hatten; er betonte einige Worte so seltsam, daß Rand sie kaum verstehen konnte. »Was macht Ihr hier? Wir dachten, die Stadt sei leer.«
»Ich heiße Mordeth.« Er legte eine Pause ein, als erwarte er, daß sie den Namen erkannten. Als keiner von ihnen ein Anzeichen dafür zeigte, murmelte er etwas vor sich hin und fuhr fort: »Ich könnte Euch dasselbe fragen.
Es ist schon lange niemand mehr in Aridhol gewesen. Lange, lange Zeit. Ich hätte nicht gedacht, daß ich auf der Straße drei junge Männer finde.«
»Wir sind auf dem Weg nach Caemlyn«, sagte Rand. »Wir sind hier geblieben, um uns ein Nachtquartier zu suchen.«
»Caemlyn«, sagte Mordeth langsam und rollte den Namen um seine Zunge herum. Dann schüttelte er den Kopf. »Ein Nachtquartier, sagt Ihr? Vielleicht schließt Ihr Euch mir an?«
»Ihr habt noch immer nicht gesagt, was Ihr hier macht«, sagte Perrin.
»Also, ich bin natürlich Schatzsucher.«
»Habt Ihr einen gefunden?« wollte Mat aufgeregt wissen.
Rand glaubte, Mordeth lächeln zu sehen, aber er konnte im Schatten nicht sicher sein. »Habe ich«, sagte der Mann. »Mehr als ich erwartete. Viel mehr. Mehr als ich wegtragen kann. Ich habe nicht erwartet, drei kräftige, gesunde junge Männer zu finden. Wenn Ihr mir helft, das, was ich wegtragen kann, zu meinen Pferden zu schleppen, könnt Ihr alle einen Teil des Rests bekommen. Soviel Ihr tragen könnt. Was ich auch zurücklasse, wird schnell weg sein, von einem anderen Schatzsucher weggeschleppt, bevor ich zurückkommen und es holen kann.«
»Ich habe euch gesagt, daß es an einem solchen Ort Schätze geben muß«, rief Mat. Er schoß die Treppe hoch. »Wir werden Euch helfen, ihn zu tragen. Bringt uns nur dorthin.« Er und Mordeth gingen tiefer in die Schatten unter den Säulen hinein. Rand sah Perrin an. »Wir können ihn nicht allein lassen.« Perrin sah hinüber zu der sinkenden Sonne und nickte.
Sie gingen mißtrauisch die Treppe hoch. Perrin lockerte die Axt in seiner Gürtelschlaufe. Rand spannte die Hand um den Griff seines Schwertes. Mat und Mordeth warteten zwischen den Säulen. Mordeth hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während Mat ungeduldig nach innen spähte.
»Kommt«, sagte Mordeth. »Ich zeige Euch den Schatz.« Er schlüpfte hinein, und Mat folgte ihm. Den anderen blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls nachzukommen.
In dem Saal drinnen herrschte Düsternis, aber Mordeth wandte sich sofort zur Seite und betrat eine enge Treppe, die sich in vielen Windungen durch immer tiefere Dunkelheit nach unten zog. Schließlich ertasteten sie sich den Weg durch pechschwarze Nacht. Rand tastete mit einer Hand an der Wand entlang und war sich nie sicher, ob eine weitere Stufe kommen würde, bis sein Fuß sie schließlich fand. Selbst Mat fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Man hörte es seiner Stimme an, als er sagte: »Es ist schrecklich dunkel hier unten.«
»Ja, ja«, antwortete Mordeth. Der Mann schien in der Dunkelheit überhaupt keine Probleme zu haben. »Unten gibt es Lichter. Kommt.«
Tatsächlich mündete die Wendeltreppe plötzlich in einen Korridor, der durch verstreute, qualmende Fackeln in Eisenhaltern an den Wänden trübe beleuchtet wurde. Im Licht der flackernden Fackeln hatte Rand erstmals Gelegenheit, Mordeth, der ohne Unterbrechung weiterhastete, genauer zu betrachten. Er winkte ihnen zu, ihm zu folgen.
Er hatte etwas Eigenartiges an sich, dachte Rand, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Mordeth war ein gepflegter, etwas molliger Mann. Seine Augenlider waren halb geschlossen, und so schien es, als verstecke er sich hinter irgend etwas und blicke dahinter hervor. Er war klein und hatte eine vollständige Glatze, doch er ging einher, als sei er größer als sie alle. Seine Kleidung sah ganz sicher anders aus als jede, die Rand zuvor gesehen hatte. Enge schwarze Kniebundhosen und weiche rote Stiefel, deren Stulpen an den Knöcheln heruntergeschlagen waren. Eine lange, rote, mit Gold reich bestickte Weste und ein schneeweißes Hemd mit weiten Ärmeln. Die Enden seiner Manschetten hingen beinahe in Kniehöhe. Ganz bestimmt keine Kleidung, in der man eine Ruinenstadt nach Schätzen durchsucht. Aber das war es noch nicht einmal, was ihn so fremdartig wirken ließ. Dann mündete der Korridor in einen gekachelten Raum, und er vergaß alles Eigenartige, was er an Mordeth entdeckt hatte. Sein Keuchen glich dem seiner Freunde. Auch hier stammte das Licht von einigen Fackeln, die die Decke des Zimmers mit Ruß schwärzten und von jedem mehr als einen Schatten erzeugten, aber dieses Licht wurde tausendmal reflektiert von den Edelsteinen und dem Gold, die am Boden aufgehäuft lagen: Hügel von Münzen und Schmuck, Pokale und Teller und Platten, vergoldete, mit Edelsteinen verzierte Schwerter und Dolche, alles unachtsam hüfthoch aufgehäuft. Mit einem Aufschrei rannte Mat vor und fiel vor einem der Stapel auf die Knie nieder. »Säcke«, sagte er atemlos und steckte die Hände in all das Gold. »Wir werden Säcke brauchen, um all das zu tragen.«
»Wir können nicht alles tragen«, sagte Rand. Er blickte sich hilflos um; alle Schmuckhändler, die während eines Jahres nach Emondsfeld kamen, hätten nicht ein Tausendstel auch nur eines dieser Stapel zusammenbringen können. »Nicht jetzt. Es ist fast dunkel.«
Perrin zog eine Axt heraus und warf nichtachtend die Goldketten zurück, die sich darum verwickelt hatten.
Juwelen glitzerten an ihrem glänzendschwarzen Griff, und die Doppelschneide war mit feinen Goldgravuren verziert. »Also morgen«, sagte er und schwang grinsend die Axt. »Moiraine und Lan werden uns verstehen, wenn wir ihnen das zeigen.«
»Ihr seid nicht allein?« fragte Mordeth. Er hatte sie an sich vorbeigelassen, als sie in die Schatzkammer stürzten, doch nun folgte er ihnen. »Wer ist noch bei Euch?«
Mat, dessen Arme tief in den Reichtümern vor ihm steckten, antwortete abwesend: »Moiraine und Lan. Und dann noch Nynaeve und Egwene und Thom. Er ist Gaukler. Wir reiten nach Tar Valon.«
Rand hielt die Luft an. Dann ließ ihn Mordeths Schweigen den Mann anblicken. Wut und Angst verzerrten Mordeths Gesicht. Seine Lippen öffneten sich und gaben die Zähne frei. »Tar Valon!« Er schüttelte geballte Fäuste nach ihnen. »Tar Valon! Ihr habt gesagt, Ihr wolltet nach diesem... diesem... Caemlyn reiten! Ihr habt mich angelogen!«
»Wenn Ihr immer noch wollt«, sagte Perrin zu Mordeth, »dann kommen wir morgen zurück und helfen Euch.« Vorsichtig legte er die Axt auf den Stapel juwelengeschmückter Schalen und Ringe und Ketten zurück. »Wenn Ihr wollt.«
»Nein. Das heißt... « Schwer atmend schüttelte Mordeth den Kopf, als könne er sich nicht entscheiden. »Nehmt, was Ihr wollt. Außer... außer... «
Plötzlich war Rand klar, was ihn die ganze Zeit an dem Mann gestört hatte. Die verstreuten Fackeln in dem Korridor hatten jedem von ihnen einen Ring von Schatten verliehen, genau wie die Fackeln in der Schatzkammer. Nur... Er war so entsetzt, daß er es laut aussprach: »Ihr habt keinen Schatten!«
Ein Pokal fiel mit lautem Krach aus Mats Hand.
Mordeth nickte, und zum erstenmal öffneten sich seine fleischigen Augenlider ganz. Sein schmales Gesicht erschien auf einmal eingefallen und hungrig. »Also.« Er richtete sich auf. Er schien nun größer als zuvor. »Die Entscheidung ist gefallen.« Plötzlich war aller Schein verschwunden. Mordeth schwoll wie ein Ballon an, verzerrte sich, der Kopf stieß an die Decke, die Schultern wurden von den Wänden aufgehalten, und so füllte er das eine Ende des Raums und schnitt ihnen den Fluchtweg ab. Mit eingefallenen Wangen und in einem starren Fauchen gebleckten Zähnen streckte er Hände nach ihnen aus, die groß genug waren, um den Kopf eines Mannes in ihnen zu halten.
Mit einem Schrei sprang Rand zurück. Seine Füße verfingen sich in einer Goldkette, und er stürzte zu Boden. Die Luft blieb ihm weg. Er versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und gleichzeitig griff er nach seinem Schwert, wobei er seinen Umhang wegreißen mußte, der sich um die Scheide gewickelt hatte. Die Schreie seiner Freunde erfüllten den Raum, und dazu ertönte das Klappern von Goldtellern und Pokalen, die über den Fußboden rollten. Plötzlich gellte ein Schmerzensschrei in Rands Ohren.
Fast schon schluchzend brachte er es endlich fertig, tief Luft zu holen, gerade in dem Augenblick, als er auch das Schwert aus der Scheide gezogen hatte. Vorsichtig stand er auf und fragte sich, von welchem seiner Freunde der Schrei hergerührt hatte. Perrin sah ihn mit weit aufgerissenen Augen von der anderen Seite des Raums her an, wo er mit der Axt in seiner Hand kauerte, als wolle er einen Baum fällen. Mat blickte hinter der Seite eines Schatzhaufens hervor, und seine Hand umklammerte einen Dolch, den er aus dem Schatz herausgezogen hatte.
Etwas bewegte sich dort, wo der Schatten, den die Fackeln übriggelassen hatten, am tiefsten war. Sie fuhren alle herum. Es war Mordeth, der seine Knie an die Brust gezogen hatte und sich so weit wie möglich in die entfernteste Ecke drückte.
»Er hat uns betrogen«, keuchte Mat. »Es war alles eine Falle.«
Mordeth warf den Kopf zurück und schrie jammernd auf. Die Wände zitterten, und Staub rieselte herunter. »Ihr seid alle tot!« rief er. »Alle tot!« Und er sprang auf und hechtete durch den Raum.
Rands Unterkiefer klappte herab, und beinahe hätte er das Schwert fallen lassen. Als Mordeth durch die Luft schoß, streckte und verdünnte sich sein Körper wie eine Rauchfahne. So dünn wie ein Finger traf er auf einen Spalt zwischen den Kacheln an der Wand und verschwand darin. Ein letzter Schrei wehte noch durch den Raum, als er verschwand, und wurde langsam immer leiser, nachdem er weg war.
»Ihr seid alle tot!«
»Wir müssen hier raus«, sagte Perrin schwach. Er festigte seinen Griff um den Axtstiel und bemühte sich, gleichzeitig in alle Richtungen zu sehen. Goldzierat und Edelsteine knirschten unbeachtet unter seinen Füßen.
»Aber der Schatz«, protestierte Mat. »Wir können ihn nicht einfach so liegen lassen.«
»Ich will nichts davon«, sagte Perrin, der sich immer noch von einer Seite zur anderen drehte. Er erhob die Stimme und schrie die Wände an:
»Es ist Euer Schatz, hört Ihr mich? Wir nehmen nichts davon mit!«
Rand sah Mat zornig an. »Willst du, daß er uns nachkommt? Oder willst du hier warten und dir die Taschen vollstopfen, bis er mit zehn anderen von seiner Sorte zurückkommt?«
Mat deutete auf all das Gold und die Edelsteine. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, packte Rand einen seiner Arme und Perrin den anderen. Sie zerrten ihn aus dem Raum. Mat wehrte sich und rief etwas über den Schatz.
Bevor sie auch nur zehn Schritte den Gang hinunter getan hatten, erlosch das sowieso trübe Licht hinter ihnen allmählich. Die Fackeln in der Schatzkammer gingen aus. Mat hörte auf zu schreien. Sie beschleunigten ihre Schritte. Die erste Fackel außerhalb der Schatzkammer ging aus, dann die nächste. Als sie die Wendeltreppe erreicht hatten, mußten sie Mat nicht mehr zerren. Sie rannten alle, und hinter ihnen schloß sich die Dunkelheit. Sogar die pechschwarze Dunkelheit an der Treppe ließ sie keinen Moment zögern. Dann rannten sie hoch und schrien mit aller Kraft. Sie schrien, um alles wegzuscheuchen, was dort auf sie warten mochte, und um sich selbst daran zu erinnern, daß sie noch immer lebten.
Sie rannten in den Saal oben, rutschten und stürzten auf dem staubigen Marmorboden, krabbelten zwischen den Säulen hindurch nach draußen und landeten in einem aufgeschürften Gewirr auf der Straße. Rand befreite sich und hob Tams Schwert vom Pflaster auf, wobei er sich mißtrauisch umblickte. Weniger als die halbe Sonnenscheibe zeigte sich noch über den Dächern. Schatten griffen wie dunkle Hände nach ihnen, erschienen im noch vorhandenen Licht noch dunkler. Sie füllten die Straße. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die Schatten sahen wie Mordeth aus, als griffe er nach ihnen. »Wenigstens sind wir draußen.« Mat stand auf und klopfte sich in einer zittrigen Imitation seiner üblichen Geste den Staub aus der Kleidung. »Und zumindest ich... «
»Tatsächlich?« fragte Perrin.
Rand wußte, daß es diesmal nicht seine Einbildung war. Sein Nacken prickelte. Irgend etwas beobachtete sie aus dem Schatten der Säulen heraus. Er fuhr herum und betrachtete die Gebäude auf der anderen Straßenseite. Auch von dort her konnte er Blicke auf sich ruhen fühlen. Sein Griff um den Schwertknauf festigte sich, obwohl er sich fragte, was das wohl bringen würde. Von überall her schienen sie beobachtet zu werden. Die anderen sahen sich mißtrauisch um; er wußte, daß auch sie dasselbe fühlten.
»Wir bleiben in der Straßenmitte«, sagte er heiser. Sie suchten seinen Blick und sahen dabei genauso verängstigt aus, wie er sich fühlte. Er schluckte schwer. »Wir bleiben in der Straßenmitte, halten uns soweit wie möglich von den Schatten fern und gehen schnell.«
»Gehen sehr schnell«, stimmte ihm Mat leidenschaftlich zu.
Die Beobachter folgten ihnen. Oder aber es gab große Mengen an Beobachtern, denn aus beinahe jedem Gebäude wurden sie von vielen Augen angestarrt. Rand konnte beim besten Willen keine Bewegung entdecken, aber er fühlte die Augen, gierige, hungrige Augen. Er wußte nicht, was schlimmer war: Tausende von Augen oder nur wenige, die ihnen folgten.
An offenen Stellen, wo der Sonnenschein sie noch erreichte, gingen sie etwas langsamer, allerdings nur ein wenig, und blinzelten nervös in die Dunkelheit, die fortwährend vor ihnen lag. Keiner von ihnen hatte es eilig, in die Schatten zu treten; keiner war sich ganz sicher, ob nicht doch etwas dort auf sie lauerte. Wann immer Schatten die ganze Straße bedeckten und ihren Weg versperrten, war die Vorfreude der Beobachter beinahe greifbar zu spüren. Sie rannten schreiend über diese dunklen Stellen. Rand bildete sich ein, trockenes, raschelndes Lachen zu hören.
Endlich — die Dämmerung neigte sich schon ihrem Ende zu — kam das weiße Steingebäude in Sicht, das sie scheinbar vor Tagen verlassen hatten. Plötzlich waren die Augen der Beobachter weg. Von einem Schritt auf den anderen verschwanden sie in einem Wimpernschlag.
Wortlos begann Rand zu laufen, von seinen Freunden gefolgt, und dann rannten sie aus Leibeskräften, bis sie durch die Tür hetzten und schnaufend zusammensanken.
Mitten auf dem geplättelten Fußboden brannte ein kleines Feuer. Der Rauch verschwand durch ein Loch in der Decke, und zwar auf solche Weise, daß es Rand unangenehm an Mordeth erinnerte. Alle außer Lan waren da und um das Feuer herum versammelt. Ihre Reaktionen unterschieden sich allerdings erheblich. Egwene, die sich die Hände am Feuer wärmte, erschrak, als die drei in den Raum platzten. Sie umklammerte erschrocken ihren Hals, aber als sie sah, wer es war, verdarb ein Seufzer der Erleichterung ihren Versuch eines tödlich wirkenden Blickes. Thom murmelte nur etwas mit der Pfeife im Mund, doch Rand konnte das Wort ›Narren‹ heraushören, bevor der Gaukler wieder dazu zurückkehrte, mit einem Stock in den Flammen herumzustochern.
»Ihr wollköpfigen Nichtsnutze!« schimpfte die Seherin. Sie schien von Kopf bis Fuß Funken zu sprühen, ihre Augen glitzerten, und auf ihren Wangen glühten dicke rote Flecken. »Warum, zum Licht noch mal, seid ihr so davongerannt? Stimmt's bei euch noch da oben? Habt ihr überhaupt kein Hirn mehr? Lan sucht jetzt nach euch, und ihr habt mehr Glück, als ihr verdient, wenn er euch bei seiner Rückkehr nicht die Vernunft in eure dicken Schädel prügelt!«
Das Gesicht der Aes Sedai verriet überhaupt keine Erregung, aber bei ihrem Anblick hatten sich die in ihr Kleid verkrampften Hände gelöst. Was Nynaeve ihr auch gegeben haben mochte, hatte geholfen, denn sie war wieder auf den Beinen. »Das hättet ihr nicht tun sollen«, sagte sie mit einer Stimme, die so klar und ruhig klang wie Oberfläche eines Sees im Wasserwald. »Wir werden später darüber sprechen. Dort draußen muß etwas geschehen sein, denn sonst würdet ihr nicht so über die eigenen Füße stolpern. Was war los?«
»Ihr habt gesagt, wir seien in Sicherheit«, beklagte sich Mat, wobei er sich wieder hochrappelte. »Ihr sagtet, Aridhol war ein Verbündeter von Manetheren und die Trollocs würden nicht in die Stadt kommen und... «
Moiraine trat so unvermittelt einen Schritt vor, daß Mat seinen Redefluß mit offenem Mund abbrach und Rand und Perrin mitten in der Bewegung des Aufstehens innehielten, der eine noch gebückt und der andere auf den Knien. »Trollocs? Habt ihr Trollocs innerhalb der Mauern gesehen?«
Rand schluckte. »Keine Trollocs«, sagte er, und dann begannen alle drei auf einmal, aufgeregt durcheinanderzusprechen.
Jeder begann an einem anderen Punkt. Mat erzählte zuerst davon, wie sie den Schatz gefunden hatten, und es klang fast so, als sei es allein sein Verdienst gewesen. Perrin erklärte zuerst, warum sie sich anfangs davongestohlen hatten, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Rand kam gleich zu dem Punkt, der ihm wichtig erschien. Er berichtete von ihrem Treffen mit dem Fremden unter den Säulen. Aber sie waren alle derart erregt, daß keiner die richtige Reihenfolge einhielt. Wann immer einem von ihnen etwas einfiel, sprudelte er es heraus, ohne darauf zu achten, was davor oder danach kam oder wer was sagte. Die Beobachter. Sie stammelten alle etwas von Beobachtern.
Die ganze Erzählung wirkte ziemlich zusammenhanglos, aber ihre Furcht wurde trotzdem deutlich. Egwene begann, unsicher zu den leeren Fenstern an der Straßenseite hinüberzublicken. Dort draußen verblaßten die letzten Reste der Dämmerung; das Feuer erschien ihnen nun sehr klein und düster. Thom nahm die Pfeife aus dem Mund und lauschte mit düsterer Miene und geneigtem Kopf. Moiraines Augen sahen besorgt drein, aber nicht zu sehr. Bis...
Plötzlich zischte die Aes Sedai und packte Rands Ellenbogen ganz fest. »Mordeth! Bist du sicher, daß er so hieß? Ihr müßt euch alle jetzt ganz sicher sein. Mordeth?«
Sie murmelten im Chor ihr ›Ja‹, durch die Erregung der Aes Sedai erschreckt.
»Hat er euch berührt?« fragte sie. »Hat er euch irgend etwas gegeben, oder habt ihr etwas für ihn getan? Ich muß das wissen!«
»Nein«, sagte Rand. »Niemand. Nichts von alledem.«
Perrin nickte zustimmend und fügte hinzu: »Alles, was er versuchte, war, uns umzubringen. Ist das nicht genug? Er schwoll an, bis er den halben Raum ausfüllte, schrie, wir seien alle tote Männer, und verschwand dann.« Er zeigte es mit einer Handbewegung an. »Wie Rauch.« Egwene kreischte auf. Mat drehte sich gereizt ab. »Sicher, habt Ihr gesagt! All das Gerede, die Trollocs kämen nicht hierher. Was sollten wir denn sonst denken?«
»Offensichtlich habt ihr überhaupt nicht gedacht«, sagte sie wieder ganz kühl und beherrscht. »Jeder mit ein bißchen Verstand würde sich an einem Ort vorsehen, den selbst Trollocs aus Angst nicht zu betreten wagen.«
»Mats Verdienst«, sagte Nynaeve mit Sicherheit in der Stimme. »Er überredet sie immer zu irgendwelchem Blödsinn, und die anderen schalten das bißchen Verstand, das sie haben, ab, wenn sie bei ihm sind.«
Moiraine nickte kurz, doch ihre Augen ruhten weiter auf Rand und seinen beiden Freunden. »Gegen Ende der Trolloc-Kriege lagerte eine Armee in diesen Ruinen -Trollocs, Schattenfreunde, Myrddraal, Schattenlords, viele Tausende. Als sie nicht mehr herauskamen, schickte man Kundschafter hinter die Mauern. Die Kundschafter fanden Waffen, Teile von Rüstungen und überall Blutspritzer. Und Botschaften in der Trolloc-Sprache, die in die Wände gekratzt waren, Gebete an den Dunklen König, er möge ihnen in ihrer letzten Stunde helfen. Männer, die später dorthin kamen, fanden keine Spur mehr von Blut oder von den Botschaften. Alles war entfernt worden. Halbmenschen und Trollocs denken noch immer daran. Das hält sie von diesem Ort fern.«
»Und den habt Ihr erwählt, um uns zu verstecken?« fragte Rand ungläubig. »Wir wären sicherer dort draußen bei dem Versuch, ihnen davonzulaufen.«
»Wenn ihr nicht davongerannt wärt«, sagte Moiraine geduldig, »hättet ihr erfahren, daß ich um dieses Gebäude herum Amulette plaziert habe. Ein Myrddraal würde noch nicht einmal wissen, daß sich diese Amulette hier befinden, denn sie sollen eine andere Form des Bösen aufhalten, aber was sich hier in Shadar Logoth befindet, wird sie nicht überschreiten oder ihnen auch nur nahe kommen. Am Morgen wird es sicher genug sein, daß wir gehen können — diese Dinge können das Sonnenlicht nicht ertragen. Sie werden sich tief in der Erde verstecken.«
»Shadar Logoth?« sagte Egwene unsicher. »Ich glaubte, Ihr hättet gesagt, diese Stadt hieße Aridhol.«
»Einst wurde sie Aridhol genannt«, antwortete Moiraine, »und war eine der Zehn Nationen, der Länder des Zweiten Paktes, der Länder, die sich von den ersten Tagen nach der Zerstörung der Welt an gegen den Dunklen König stellten. In den Tagen, da Thorin al Toren al Ban König von Manetheren war, war Balwen Mayel, Balwen Eisenhand, König von Aridhol. Im Aufdämmern der Verzweiflung während der Trolloc-Kriege schien es, daß der Vater der Lügen sicher gewinnen würde, und in jener Zeit kam ein Mann namens Mordeth an Balwens Hof.«
»Derselbe Mann?« rief Rand, und Mat sagte: »Das kann nicht sein!« Ein Blick Moiraines brachte sie zum Schweigen. Stille erfüllte den Raum, und die Stimme der Aes Sedai erklang wieder. »Mordeth war noch nicht lange in der Stadt, da lieh ihm der König sein Ohr, und bald war er der zweite Mann im Staat nach Balwen. Mordeths Stimme war wie Gift für Balwen, und Aridhol veränderte sich allmählich. Aridhol zog sich in sich selbst zurück und verhärtete. Man sagte, viele sähen noch lieber Trollocs kommen als die Männer aus Aridhol. Der Sieg des Lichts ist alles, was zählt. Das war der Schlachtruf, den Mordeth ihnen mitgab, und die Männer von Aridhol schrien ihn hinaus, während ihre Taten dem Licht Hohn sprachen.
Die Geschichte ist zu lang, um sie ganz zu erzählen, und auch zu grausig. Nur Bruchstücke davon sind bekannt, sogar in Tar Valon. Wie Thorins Sohn Caar kam, um Aridhol wieder für den Zweiten Pakt zurückzugewinnen, und wie Balwen auf seinem Thron saß, eine ausgelaugte Hülle mit dem Licht des Wahnsinns, das aus den Augen leuchtete, wie er lachte und Mordeth an seiner Seite lächelte und den Tod Caars und der Abgesandten als Freunde der Dunkelheit befahl. Wie Prinz Caar den Namen Caar Einhand erhielt. Wie er aus den Verließen von Aridhol entkam und allein in die Grenzlande flüchtete mit Mordeths unnatürlichen Mördern auf den Fersen. Wie er dort Rhea traf, die nicht wußte, wer er war, und sie heiratete und damit den Faden in das Muster verwebte, der zu seinem Tod durch ihre Hand und zu ihrem eigenen durch ihre Tat vor seiner Gruft führte, und zum Fall von Aleth-Loriel. Wie die Armee von Manetheren anrückte, um Caar zu rächen, und die Tore von Aridhol niedergerissen fand, kein Leben mehr in seinen Mauern, aber dafür etwas, das schlimmer war als der Tod. Kein Feind war nach Aridhol gekommen, Aridhol hatte sich selbst zerstört. Aus Mißtrauen und Haß war etwas geboren worden, das die verzehrte, die es erschaffen hatten, und das im Muttergestein unter der Stadt lebte. Mashadar wartet immer noch dort und ist hungrig. Die Menschen sprachen nicht mehr von Aridhol. Sie nannten es Shadar Logoth, den Ort An-Dem-Der-Schatten-Wartet, oder einfacher: Wartende Schatten.
Nur Mordeth wurde nicht von Mashadar verzehrt, doch er wurde von ihm in die Falle gelockt, und so hat auch er in diesen Mauern jahrhundertelang gewartet. Andere haben ihn gesehen. Einige hat er durch Geschenke beeinflußt, die den Verstand verdrehen und den Geist verderben. Diese Verderbnis nimmt zu und scheint wieder zu verschwinden, wieder und wieder, bis sie herrscht... oder tötet. Wenn er jemanden dazu bringt, ihn zu den Mauern zu begleiten, zur Grenze von Mashadars Machtbereich, ist er in der Lage, die Seele dieser Person zu verzehren. Mordeth kann dann die Stadt im Körper dessen verlassen, den er nicht nur einfach getötet hat, um wieder Unheil in der Welt anzurichten.«
»Der Schatz«, stammelte Perrin, als sie schwieg. »Er wollte, daß wir ihm helfen, den Schatz zu seinen Pferden zu tragen.« Sein Gesicht trug einen gequälten Ausdruck. »Ich wette, sie sollten irgendwo außerhalb der Stadt angeblich auf ihn warten.« Rand lief es kalt den Rücken hinunter. »Aber jetzt sind wir sicher, nicht wahr?« fragte Mat. »Er hat uns nichts gegeben und uns auch nicht berührt. Wir sind durch die Amulette, die Ihr hinterlassen habt, in Sicherheit, ja?«
»Wir sind sicher«, stimmte Moiraine zu. »Er kann die Abwehrlinie nicht überschreiten, genau wie die anderen Bewohner dieses Orts. Und sie müssen sich vor dem Sonnenlicht hüten, so daß wir hier gefahrlos weg können, sobald es Tag ist. Versucht jetzt zu schlafen. Die Amulette werden uns beschützen, bis Lan zurückkehrt.«
»Er ist aber schon lange weg.« Nynaeve blickte besorgt in die Nacht hinaus. Es war jetzt vollkommen dunkel -pechschwarz.
»Lan geht es gut«, sagte Moiraine beruhigend und breitete ihre Decken beim Sprechen neben dem Feuer aus. »Für ihn wurde ein Gelübde abgelegt, daß er gegen den Dunklen König kämpfen müsse, noch bevor er die Wiege verließ. Ein Schwert wurde in seine Kinderhände gelegt. Außerdem wüßte ich es im selben Augenblick, wenn er stirbt, und auch, wie er ums Leben kommt. Genauso wüßte er es von mir. Ruhe dich jetzt aus, Nynaeve. Alles wird gut.« Doch als sie sich in die Decken rollte, hielt sie einen Moment lang inne und blickte auf die Straße hinaus, als hätte auch sie gern gewußt, was den Behüter so lange aufhielt.
Rands Arme und Beine waren bleischwer, und seine Augen wollten sich immer wieder von allein schließen, und doch dauerte es eine Weile, bis er einschlief, und als es soweit war, träumte er, redete im Schlaf und strampelte seine Decken weg. Er erwachte dann ganz unvermittelt und sah sich einen Augenblick lang um, bevor er sich daran erinnerte, wo er sich befand. Der Mond stand am Himmel. Es war die letzte dünne Sichel vor dem Neumond. Die Nacht besiegte seinen schwachen Schein. Alle anderen schliefen noch, wenn auch manche recht unruhig. Egwene und seine beiden Freunde wälzten sich herum und murmelten kaum hörbar im Schlaf. Thoms Schnarchen, ausnahmsweise einmal leise, wurde von Zeit zu Zeit durch halbgeformte Worte unterbrochen. Es war immer noch keine Spur von Lan zu sehen.
Plötzlich hatte er ein Gefühl, als seien die Amulette überhaupt kein Schutz. Alles konnte sich dort draußen in der Dunkelheit herumtreiben. Er sagte sich, das sei närrisch, und legte frisches Holz auf die letzten Kohlen des Feuers. Es war zu klein, um viel Wärme abzugeben, aber es erzeugte mehr Licht.
Er hatte keine Ahnung, was ihn aus seinem unangenehmen Traum gerissen hatte. Er war wieder ein kleiner Junge gewesen, der Tams Schwert trug und dem man eine Wiege auf den Rücken geschnallt hatte, und er rannte durch leere Straßen, von Mordeth verfolgt, und der schrie, er wolle nur seine Hand. Und dann war da noch ein alter Mann gewesen, der hatte sie beobachtet und die ganze Zeit wie ein Verrückter gelacht.
Er zog seine Decken zurecht, legte sich wieder hin und blickte die Decke an. Er hätte so gerne geschlafen, selbst auf die Gefahr hin, noch mehr solche Träume wie den letzten zu erleben, doch er konnte einfach die Augen nicht schließen.
Plötzlich trat der Behüter leise aus der Dunkelheit in den Saal. Moiraine erwachte und setzte sich auf, als habe er eine Glocke geläutet. Lan öffnete die Hand; drei kleine Gegenstände fielen vor ihr auf die Fußbodenplatten. Das Klicken ihres Aufpralls hörte sich nach Eisen an. Es waren drei blutrote Abzeichen in Form gehörnter Schädel.
»Es sind Trollocs innerhalb der Stadtmauern«, sagte Lan. »Sie werden in wenig mehr als einer Stunde hier sein. Und die Dha'vol sind die schlimmsten unter ihnen.« Er weckte die anderen auf.
Moiraine fing ungerührt an, ihre Decken zusammenzufalten. »Wie viele? Wissen sie, daß wir hier sind?« Sie klang, als habe sie es gar nicht eilig.
»Ich glaube nicht«, antwortete Lan. »Es sind gut hundert, und sie haben solche Angst, daß sie alles töten würden, was sich bewegt, einschließlich anderer Trollocs. Die Halbmenschen müssen sie mühsam vorwärts treiben -vier, um nur eine Handvoll zu befehligen -, und selbst die Myrddraal scheinen sich nichts sehnlicher zu wünschen, als die Stadt so schnell wie möglich zu durchqueren und dann wieder zu verlassen. Sie weichen nicht von ihrem eingeschlagenen Weg ab, um nach uns zu suchen, und sie sind so nachlässig! Wenn sie nicht geradewegs auf uns zumarschierten, würde ich sagen, wir müßten uns keinerlei Sorgen machen.« Er zögerte.
»Gibt es noch etwas?«
»Nur soviel«, sagte Lan bedächtig. »Die Myrddraal zwangen die Trollocs in die Stadt hinein. Was hat die Myrddraal gezwungen?«
Alle hatten schweigend gelauscht. Jetzt fluchte Thom leise vor sich hin, und Egwene hauchte eine Frage: »Der Dunkle König?«
»Sei kein Narr, Mädchen«, fauchte Nynaeve. »Der Dunkle König liegt in Shayol Ghul in Ketten, wo ihn der Schöpfer gefangennahm.«
»Im Augenblick jedenfalls«, stimmte Moiraine zu. »Nein, der Vater der Lügen ist nicht dort draußen, aber wir müssen in jedem Fall fort.«
Nynaeve blickte sie scharf an. »Den Schutz der Amulette verlassen und Shadar Logoth bei Nacht durchqueren.«
»Oder hier bleiben und uns den Trollocs stellen«, sagte Moiraine. »Sie von hier fernzuhalten, das könnte nur mit Hilfe der Einen Macht geschehen. Das würde die Amulette zerstören und genau das anlocken, wogegen sie uns schützen sollen. Außerdem könnten wir dann gleich auf einem der Türme ein Leuchtfeuer entzünden, das jeder Halbmensch auf zwanzig Meilen Umkreis sieht. Ich renne nicht gern weg, doch wir sind die Hasen, und die Hunde bestimmen die Jagd.«
»Was ist, wenn außerhalb der Mauern noch mehr warten?« fragte Mat. »Was machen wir dann?«
»Wir werden uns an meinen ursprünglichen Plan halten«, sagte Moiraine. Lan sah sie an. Sie hob eine Hand und fügte hinzu: »Ich war nur zu müde, um mich vorher schon daran zu halten. Aber nun bin ich dank der Seherin ausgeruht. Wir machen uns auf den Weg zum Fluß. Dort wird uns das Wasser den Rücken decken, und ich kann ein kleineres Amulett anfertigen, das die Trollocs und Halbmenschen abhält, bis wir Flöße gebaut und den Fluß überquert haben. Oder was noch besser wäre: Vielleicht können wir uns einem Händlerboot bemerkbar machen, das von Saldaea herunterkommt, und mitfahren.«
Die Gesichter der Emondsfelder drückten Unverständnis aus. Lan bemerkte das.
»Trollocs und Myrddraal verabscheuen tiefes Wasser. Trollocs haben schreckliche Angst davor. Keiner von ihnen allen kann schwimmen. Ein Halbmensch watet höchstens durch hüfthohes Wasser, vor allem, falls eine Strömung herrscht. Trollocs machen noch nicht einmal das, wenn sie es vermeiden können.«
»Also sind wir in Sicherheit, sobald wir über den Fluß kommen«, sagte Rand, und der Behüter nickte.
»Die Myrddraal werden beinahe genauso große Schwierigkeiten damit haben, die Trollocs Flöße bauen zu lassen, wie damit, sie nach Shadar Logoth hineinzubringen, und wenn sie trotzdem versuchen, sie auf diesem Weg über den Arinelle zu bringen, dann läuft ihnen die Hälfte weg, und der Rest wird vermutlich ertrinken.«
»Auf die Pferde«, sagte Moiraine. »Wir sind noch nicht über den Fluß.«