Der letzte unsichere Ton dessen, was man kaum noch als ›Der Wind, der die Weide beugt‹ hatte erkennen können, verklang zur Erleichterung der Zuhörer, und Mat senkte Thoms mit Gold und Silber verzierte Flöte. Rand nahm die Hände von den Ohren. Ein Matrose, der nebenan auf dem Deck ein Seil zusammenrollte, seufzte laut vor Erleichterung. Einen Augenblick lang hörte man nur das Klatschen des Wassers an die Bordwand, das rhythmische Quietschen der Ruder und von Zeit zu Zeit das Summen der vom Wind gezupften Takelage. Der Wind drückte schnurgerade auf den Bug der Gischt, und die nutzlosen Segel waren eingerollt.
»Ich denke, ich sollte dir dankbar sein«, murmelte Thom Merrilin schließlich, »daß du den Beweis geliefert hast, wie wahr das alte Sprichwort ist: Wie auch immer du es unterrichtest, ein Schwein wird niemals lernen, Flöte zu spielen.« Der Matrose lachte schallend auf, und Mat hob die Flöte, als wolle er sie nach ihm werfen. Energisch entriß Thom das Instrument Mats Hand und legte es in seinen festen Lederbehälter. »Ich dachte immer, ihr Schäfer verbringt die Zeit damit, der Herde auf dem Dudelsack oder der Flöte vorzuspielen. Das wird mir eine Lehre sein, nie wieder etwas zu glauben, was ich nicht aus eigener Anschauung weiß.«
»Rand ist der Schäfer«, grollte Mat. »Er spielt Dudelsack, nicht ich.«
»Ja, nun, er zeigt ein wenig Talent. Vielleicht sollten wir besser das Jonglieren üben, Junge. Wenigstens scheinst du dafür etwas Talent zu besitzen.«
»Thom«, sagte Rand, »ich weiß gar nicht, warum Ihr Euch immer noch so bemüht.« Er blickte zu dem Matrosen hinüber und senkte die Stimme. »Schließlich wollen wir ja nicht wirklich Gaukler werden. Das geben wir doch nur vor, bis wir Moiraine und die anderen gefunden haben.«
Thom zupfte an einem Schnurrbartende herum und schien das glatte, braune Leder des Flötenkastens auf seinen Knien einer genauen Betrachtung zu unterziehen. »Was wird, wenn du sie nicht findest, Junge? Es gibt keinen Hinweis darauf, daß sie überhaupt noch am Leben sind.«
»Sie leben«, sagte Rand überzeugt. Er wandte sich, um Unterstützung heischend, an Mat, aber Mats Augenbrauen waren fast bis zur Nase heruntergezogen, sein Mund bildete eine schmale Linie, und seine Augen waren auf das Deck gerichtet. »Jetzt sag doch was!« forderte Rand ihn auf. »Du kannst doch nicht so wütend sein, nur weil du nicht Flöte spielen kannst. Ich kann's auch nicht sehr gut. Du hast bisher auch nie Flöte spielen wollen.«
Mat blickte mit gerunzelter Stirn auf. »Was ist, wenn sie tot sind?« fragte er leise. »Wir müssen mit den Tatsachen leben, oder?«
In diesem Moment meldete der Mann im Ausguck: »Weißbrücke! Weißbrücke voraus!«
Eine ganze Weile lang sah Rand seinem Freund in die Augen, obwohl um sie herum die Matrosen damit beschäftigt waren, den Kahn auf das Anlegemanöver vorzubereiten. Rand konnte nicht glauben, daß Mat so etwas so beiläufig sagen konnte. Mat stierte ihn mit eingezogenem Kopf an. Es gab so vieles, was Rand in dem Moment sagen wollte, doch er brachte es nicht fertig, seine Gefühle in Worte zu fassen. Sie mußten einfach daran glauben, daß ihre Freunde noch lebten. Sie mußten. Warum? bohrte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Damit es alles so kommt wie in einer von Thoms Geschichten? Die Helden finden den Schatz und besiegen den Bösewicht, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute? Ein paar seiner Geschichten enden nicht auf diese Weise. Manchmal sterben sogar die Helden. Bist du ein Held, Rand al'Thor? Bist du ein Held, Schafhirte?
Plötzlich wurde Mat rot und wandte sich ab. Befreit sprang Rand auf und ging durch das geschäftige Treiben zur Reling hinüber. Mat kam ihm langsam nach und bemühte sich nicht einmal, den Matrosen auszuweichen, die ihm über den Weg liefen.
Männer hasteten auf dem Kahn herum. Ihre bloßen Füße klatschten auf dem Deck. Die einen zogen Taue ein, andere lösten oder befestigten welche. Einige schleppten große Säcke aus Ölzeug an, die bis zum Bersten mit Wolle vollgestopft waren, während andere Kabel von der Stärke von Rands Handgelenken bereithielten. Trotz aller Eile bewegten sie sich mit der Sicherheit von Männern, die dies alles schon tausendmal zuvor getan hatten. Nur Kapitän Domon stampfte auf dem Deck herum, schrie Befehle und verfluchte diejenigen, die sich seiner Meinung nach nicht schnell genug bewegten.
Rand konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das, was vor ihnen lag und klar in Sicht kam, als sie eine sanfte Kurve des Arinelle durchfahren hatten. Er hatte in Liedern und Geschichten und den Erzählungen von Händlern davon gehört, doch nun konnte er die Legende in Wirklichkeit sehen.
Die Weiße Brücke schwang sich in hohem Bogen über den breiten Fluß; doppelt so hoch wie der Mast der Gischt, und sie glänzte von einem Ende zum anderen milchweiß im Sonnenschein, ja, sie schien das Licht in sich zu sammeln, bis sie glühte. Dünne Pfeiler aus dem gleichen Material stemmten sich der starken Strömung entgegen. Sie erschienen fast zu zerbrechlich, um das Gewicht und die Breite der Brücke zu halten. Es wirkte alles wie aus einem Stück gefertigt, als sei sie von der Hand eines Riesen aus einem einzigen Stein gehauen oder geformt worden, breit und hoch, und sie überspannte den Fluß mit einer luftigen Eleganz, die beinahe ihre Größe vergessen machte. Alles in allem überragte sie die Stadt, die sich am Ostufer zu ihren Füßen ausbreitete, obwohl Weißbrücke viel größer als Emondsfeld war, mit Naturstein- und Backsteinhäusern, so groß wie die in Taren-Fähre, und mit hölzernen Landestegen, die wie dünne Finger in den Fluß hinausgriffen. Der Arinelle war von kleinen Booten übersät, und Fischer holten ihre Netze ein. Und über allem ragte die Weiße Brücke auf und glänzte.
»Sie sieht aus, als sei sie aus Glas«, sagte Rand zu niemand Bestimmtem.
Kapitän Domon blieb hinter ihm stehen und hakte den Daumen in seinem Gürtel ein. »Nein, Junge. Was immer es sein, es sein nicht Glas. So stark es auch regnen, es sein nicht rutschig, und der beste Meißel und stärkste Arm nicht machen Kerbe hinein.«
»Ein Überrest aus dem Zeitalter der Legenden«, sagte Thom. »Ich habe sie jedenfalls immer schon dafür gehalten.«
Der Kapitän knurrte mürrisch: »Möglich. Aber immer noch nützlich sein. Könnte sein, jemand anders sie gebaut haben. Muß nicht sein Aes Sedai Werk. Es nicht muß sein so alt wie das alles. Streng dich gefälligst an! Du sein verdammter Narr!« Er hastete das Deck hinunter.
Rand betrachtete die Brücke noch staunender als vorher. Aus dem Zeitalter der Legenden. Also von den Aes Sedai gebaut. Deshalb hatte Kapitän Domon so seine Bedenken, auch wenn er immer von der Großartigkeit und dem Zauber der Welt sprach. Ein Werk der Aes Sedai. Es war eine Sache, davon zu hören, aber eine ganz andere, es tatsächlich zu sehen und zu berühren. Das weißt du doch, nicht wahr? Einen Augenblick lang schien es Rand, als fließe ein Schatten durch das milchweiße Bauwerk. Er wandte die Augen ab und sah die näher kommenden Landestege an, doch am Rand seines Gesichtsfeldes ragte immer noch die Brücke auf. »Wir haben es geschafft, Thom«, sagte er und lachte dann gezwungen. »Und das sogar ohne Meuterei.«
Der Gaukler räusperte sich nur und pustete seine Schnurrbartenden weg, aber zwei Matrosen, die in Rands Nähe ein Tau bereithielten, sahen Rand scharf an, wandten sich aber schnell wieder ihrer Arbeit zu. Er lachte nicht mehr und bemühte sich, die beiden während ihrer Ankunft in Weißbrücke nicht mehr anzusehen.
Die Gischt drehte elegant am ersten Landesteg bei -dicke Planken auf schweren, mit Teer bestrichenen Stützbalken — und verhielt unter einem Rückwärtsschlag der Ruder, bei dem das Wasser um die Blätter aufschäumte. Als die Ruder eingezogen wurden, warfen die Matrosen Männern auf dem Landesteg Taue zu, und die Männer befestigten sie schwungvoll, während andere Besatzungsmitglieder die mit Wolle gefüllten Säcke über die Reling warfen, damit sie den Schiffsrumpf vor Beschädigungen durch die Stützbalken des Landestegs schützten. Bevor der Kahn noch an den Landesteg herangezogen war, erschienen an dessen Ende bereits Kutschen, hoch und glänzend schwarz lackiert, und auf jede Tür war in großen goldenen oder roten Lettern ein Name aufgemalt. Die Passagiere der Kutschen eilten die Laufplanke hinauf, kaum daß sie ausgelegt war: Männer mit glatten Gesichtern in langen Samtmänteln und mit Seide verbrämten Umhängen und Stoffschuhen, jeder gefolgt von einem Diener in einfacher Kleidung, der seine mit Eisen beschlagene Geldkassette trug.
Sie gingen mit aufgesetztem Lächeln auf Kapitän Domon zu, doch ihr Lächeln verschwand, als er ihnen plötzlich ins Gesicht brüllte: »Du!« Er zeigte mit einem dicken Finger an ihnen vorbei und brachte Floran Gelb am anderen Ende des Kahns damit zum Stehen. Die Beule auf Gelbs Stirn, die Rands Stiefel hinterlassen hatte, war mittlerweile verschwunden, doch er griff sich von Zeit zu Zeit an diese Stelle, wohl um sich selbst daran zu erinnern. »Du haben zum letztemal auf meinem Schiff auf Wache geschlafen! Oder auch auf irgendein anderes Schiff, wenn es gehen nach mir! Wähle eine Seite, den Steg oder den Fluß, aber runter von mein Schiff, und zwar sofort!«
Gelb zog die Schultern ein, und seine Augen versprühten Haß auf Rand und seine Freunde; Rand im besonderen bekam noch einen giftigen Blick ab. Der drahtige Mann sah sich an Deck nach Unterstützung um, aber es lag wenig Hoffnung in seinem Gesichtsausdruck. Einer nach dem anderen richteten sich alle Besatzungsmitglieder von ihrer Arbeit auf und sahen ihn kalt an. Gelb schrumpfte sichtbar zusammen, doch dann kehrte sein haßerfüllter Blick zurück — doppelt so stark wie vorher. Mit einem leisen Fluch eilte er hinunter zu den Mannschaftsquartieren. Domon schickte ihm zwei Männer nach, um sicherzugehen, daß er nichts anstellte, und wandte sich dann mit einem Knurren ab. Als sich der Kapitän ihnen wieder zuwandte, kehrte das Lächeln der Kaufleute zurück, und sie verbeugten sich, als seien sie nicht unterbrochen worden.
Auf ein Wort Thoms hin begannen Mat und Rand, ihre Sachen zusammenzusuchen. Sie alle besaßen kaum etwas außer den Kleidern, die sie am Leib trugen. Rand nannte seine Deckenrolle und die Satteltaschen sowie das Schwert seines Vaters sein eigen. Er nahm das Schwert eine Minute in die Hand, und das Heimweh überkam ihn so stark, daß seine Augen brannten. Er fragte sich, ob er Tam jemals wiedersehen würde. Oder die Heimat. Heimat. Du wirst den Rest deines Lebens mit Weglaufen verbringen, mit Weglaufen und der Angst vor deinen eigenen Träumen. Mit einem zittrigen Seufzer schnallte er sich den Gürtel um die Taille über seinen Mantel.
Gelb kam zurück an Deck, gefolgt von seinen beiden Schatten. Er blickte geradeaus, aber Rand konnte Wellen von Haß spüren, die von ihm ausgingen. Kerzengerade aufgerichtet und mit dunkel angelaufenem Gesicht schritt Gelb steifbeinig die Laufplanke hinunter und bahnte sich grob einen Weg durch die kleine Menschenansammlung hinter dem Landesteg. Nach einer Minute war er aus ihrem Blickfeld hinter den Kutschen der Kaufleute verschwunden.
Es waren nicht viele Leute am Landesteg, und die Wartenden waren ein Gemisch aus einfach gekleideten Arbeitern, Fischern, die ihre Netze flickten, und ein paar Zuschauern aus der Stadt, die gekommen waren, um das erste Schiff zu bestaunen, das dieses Frühjahr aus Saldaea herunterkam. Keines der Mädchen war Egwene, und niemand sah auch nur ein klein wenig nach Moiraine oder Lan oder sonst jemand aus, den Rand zu finden hoffte. »Vielleicht sind sie nur nicht herunter zur Anlegestelle gekommen«, sagte er.
»Vielleicht«, erwiderte Thom kurz angebunden. Er hängte sich sorgfältig die Instrumentenkästen auf den Rücken. »Ihr zwei haltet die Augen offen in bezug auf Gelb. Wenn er kann, wird er uns Schwierigkeiten bereiten. Wir wollen so unauffällig Weißbrücke durchqueren, damit sich fünf Minuten nach unserer Abreise niemand mehr daran erinnert, daß wir hier waren.«
Ihre Umhänge flatterten im Wind, als sie zur Laufplanke gingen. Mat trug seinen Bogen quer vor der Brust. Selbst nach all diesen Tagen an Bord zog das noch immer die Blicke der Besatzungsmitglieder an; ihre Bogen waren im Vergleich dazu ziemlich kurz.
Kapitän Domon ließ die Kaufleute stehen und fing Thom vor der Laufplanke ab. »Ihr mich jetzt verlassen, Gaukler? Kann ich nicht überzeugen Euch zu bleiben hier? Ich gehen den ganzen Weg hinunter nach Illian, wo die Leute Gaukler wirklich sehr schätzen. Es sein kein besserer Ort auf der Welt für Eure Kunst. Ihr werden kommen zu richtige Zeit mit mir für Fest von Sefan. Der Wettkampf, ja? Hundert Goldmark für den, der erzählt am besten Die wilde Jagd nach dem Horn.«
»Ein toller Preis, Kapitän«, antwortete Thom mit einer schwungvollen Verbeugung und einem kurzen Schwenk seines Umhangs, so daß die Flicken ins Flattern kamen. »Und ein großartiger Wettbewerb, der zu Recht Gaukler aus der ganzen Welt anzieht. Aber«, fügte er trocken hinzu, »ich fürchte, wir könnten uns Eure Fahrpreise nicht leisten.«
»Ja, also, was das betrifft...« Der Kapitän holte einen Lederbeutel aus seiner Manteltasche und warf ihn Thom zu. Es klimperte darin, als Thom ihn fing. »Euer Fahrgeld zurück und noch etwas mehr dazu. Der Schaden sein nicht so groß wie ich denken, und Ihr für Eure Passage gearbeitet mit Euren Geschichten und Eurer Harfe. Ich vielleicht können noch einmal soviel zahlen, wenn Ihr bleiben an Bord bis zum Meer der Stürme. Und ich würden Euch setzen an Land in Illian. Ein guter Gaukler kann machen sein Glück dort, sogar ohne den Wettbewerb.«
Thom zögerte und wog den Beutel in seiner Hand, doch Rand äußerte sich: »Wir werden hier Freunde treffen, Kapitän, und dann zusammen nach Caemlyn reisen. Wir müssen unseren Besuch in Illian auf ein andermal verschieben.«
Thoms Mund verzog sich sarkastisch, doch dann pustete er seine langen Schnurrbartenden vom Mund weg und steckte den Beutel in die Tasche. »Vielleicht, wenn die Leute, die wir treffen wollen, nicht hier sind, Kapitän.«
»Na ja«, sagte Domon säuerlich. »Ihr Euch überlegen. Zu schlimm ich kann nicht Gelb behalten an Bord, um Ärger der anderen an ihm auslassen, aber ich tun, was ich sagen ich tun werden. Ich schätze, ich müssen jetzt mehr locker lassen, selbst wenn das heißen, wir brauchen dreimal so lang wie nötig nach Illian. Na ja, vielleicht die Trollocs wirklich waren her hinter Euch drei.«
Rand blinzelte, hielt aber den Mund. Mat war nicht so vorsichtig.
»Warum glaubt Ihr so etwas?« wollte er wissen. »Sie suchten den gleichen Schatz wie wir!«
»Vielleicht«, knurrte der Kapitän, aber es klang nicht überzeugt. Er fuhr sich mit den dicken Fingern durch den Bart und zeigte dann auf die Tasche, in die Thom den Beutel gesteckt hatte. »Zweimal das Geld, wenn Ihr kommen zurück und lenken ab die Männer, damit nicht merken, wie hart ich sie arbeiten lassen. Überlegt es Euch. Ich segeln bei erstem Tageslicht morgen früh.« Er machte eine Kehrtwendung und ging zurück zu den Kaufleuten, die Arme weit gespreizt, während er sich dafür entschuldigte, daß er sie hatte warten lassen.
Thom zögerte noch, doch Rand schob ihn die Laufplanke hinunter, ohne ihm eine Möglichkeit zum Widersprechen zu geben, und der Gaukler ließ es sich gefallen. Ein Raunen ging durch die Menschenansammlung an der Anlegestelle, als sie den mit Flicken bedeckten Umhang Thoms bemerkten, und einige sprachen ihn an, um herauszufinden, wo er auftreten werde. Und wir wollten unbemerkt bleiben, dachte Rand bestürzt. Bis Sonnenuntergang würde ganz Weißbrücke wissen, daß ein Gaukler in der Stadt war. Trotzdem schob er Thom schnell weiter, und dieser — in trübes Schweigen gehüllt — versuchte nicht einmal, die Eile zu bremsen, um die Aufmerksamkeit zu genießen. Die Kutscher schauten interessiert von ihren hohen Böcken auf Thom hinunter, doch offensichtlich verbot ihnen die Würde ihrer Stellung jegliche Zurufe. Rand hatte keine Ahnung, wo er genau hingehen sollte, und so bog er in die Straße ein, die am Fluß entlang unter der Brücke hindurchführte. »Wir müssen Moiraine und die anderen finden«, sagte er. »Und das schnell. Wir hätten daran denken sollen, Thom einen anderen Umhang anziehen zu lassen.«
Thom schüttelte sich plötzlich und blieb unvermittelt stehen. »Ein Wirt dürfte in der Lage sein, uns zu sagen, ob sie hier sind oder zumindest durchgekommen sind. Der richtige Wirt. Wirte hören alle Neuigkeiten und allen Klatsch. Wenn sie nicht hier sind... « Er blickte zwischen Rand und Mat hin und her. »Wir müssen miteinander sprechen, wir drei.« Mit flatterndem Umhang ging er los, in die Stadt hinein und weg vom Fluß. Rand und Mat mußten schnell laufen, um mit ihm Schritt zu halten.
Der breite, milchweiße Bogen, der dieser Stadt ihren Namen verliehen hatte, beherrschte Weißbrücke hier aus der Nähe genauso, wie er aus der Ferne gewirkt hatte, aber nun, da Rand durch die Straßen schritt, erkannte er, daß die Stadt genauso groß wie Baerlon war, wenn auch nicht so dicht bevölkert. Ein paar Karren bewegten sich durch die Straßen, von Pferden oder Ochsen oder Eseln oder Männern gezogen, aber keine Kutschen. Die gehörten höchstwahrscheinlich alle den Kaufleuten und waren jetzt drunten am Anlegeplatz abgestellt.
Läden aller Art säumten die Straßen, und viele der Handwerker arbeiteten vor ihren Geschäften unter den im Wind pendelnden Schildern. Sie kamen an einem Mann vorbei, der gerade Töpfe reparierte, und an einem Schneider, der für einen Kunden Stoffbahnen gegen das Licht hielt. Ein Schuster, der in seiner Tür saß, hämmerte auf einem Stiefelabsatz herum. Marktschreier schrien Schilderungen ihres Könnens im Schärfen von Messern und Scheren hinaus oder versuchten, die Passanten für ihr spärliches Angebot an Obst und Gemüse zu interessieren, doch sie stießen nicht auf viel Gegenliebe. Lebensmittelgeschäfte zeigten genauso erbarmungswürdig wenige ausgestellte Waren, wie es Rand aus Baerlon noch im Gedächtnis hatte. Selbst die Fischhändler hatten nur kleine Häufchen kleiner Fische auf ihren Tischen, trotz der vielen Boote auf dem Fluß. Die Zeiten waren noch nicht wirklich schlecht, aber jeder konnte sehen, wie es kommen würde, sollte sich das Wetter nicht bald ändern, und die Gesichter, die keine permanenten Sorgenfalten zeigten, schienen etwas Unsichtbares anzustarren, etwas Unangenehmes.
Wo die Weiße Brücke in der Ortsmitte endete, befand sich ein großer Platz, der mit generationenalten Spuren von Füßen und Wagen versehenen Steinplatten gepflastert war. Schenken umgaben den Platz sowie Läden und hohe, rote Backsteinhäuser mit Schildern, die die gleichen Namen zeigten, wie Rand sie auf den Kutschen am Anlegeplatz gesehen hatte. In den Eingang einer dieser Schenken, scheinbar willkürlich ausgewählt, drückte sich Thom. Das im Wind pendelnde Schild über der Tür zeigte auf einer Seite einen gehenden Mann mit einem Bündel auf dem Rücken und auf der anderen Seite den gleichen Mann mit dem Kopf auf einem Kissen. Das sollte ›Des Wanderers Ruheplatz‹ darstellen.
Der Schankraum war leer bis auf den fetten Wirt, der Bier aus einem Faß zapfte, und zwei Männer in Arbeitskleidung, die in trüber Stimmung an einem Tisch im Hintergrund in ihre Krüge starrten. Nur der Wirt blickte auf, als sie eintraten. Eine schulterhohe Trennwand teilte den Raum von vorne bis hinten. Auf beiden Seiten standen Tische und jeweils ein Kamin, in dem ein Feuer prasselte. Rand fragte sich beiläufig, ob alle Wirte fett seien und ihnen die Haare ausfielen. Thom rieb sich heftig die Hände, sprach den Wirt auf die erneute Kälte an und bestellte Glühwein. Dann fügte er leise hinzu: »Gibt es hier irgendwo einen Platz, wo meine Freunde und ich uns unterhalten können, ohne gestört zu werden?«
Der Wirt nickte in Richtung auf die Trennwand. »Die andere Seite ist das Beste, was ich Euch dafür anbieten kann, außer Ihr wollt ein Zimmer nehmen. Das ist wegen der Matrosen, die vom Fluß heraufkommen. Es scheint, daß die Hälfte der Besatzungen etwas gegen die andere Hälfte hat. Ich will nicht, daß meine Einrichtung bei Raufereien zerstört wird, also halte ich sie fern voneinander.« Die ganze Zeit über hatte er schon Thoms Umhang beäugt, und nun neigte er den Kopf zur Seite und blickte berechnend drein. »Bleibt Ihr länger? Habe schon lange keinen Gaukler mehr hier drinnen gehabt. Die Leute würden gut für etwas zahlen, das sie von ihren Problemen ablenkt. Ich wurde Euch sogar etwas vom Preis eines Zimmers und Eures Essens nachlassen.«
Unbemerkt, dachte Rand betrübt.
»Ihr seid zu großzügig«, sagte Thom mit einer eleganten Verbeugung. »Vielleicht werde ich Euer Angebot annehmen. Aber jetzt brauchen wir ein ungestörtes Plätzchen.«
»Ich bringe Euren Wein. Gutes Geld hier für einen Gaukler.«
Die Tische auf der gegenüberliegenden Seite der Trennwand waren alle leer, aber Thom wählte einen aus, der gerade in der Mitte lag. »Damit uns niemand belauschen kann, ohne daß wir es merken«, erklärte er. »Habt ihr diesen Burschen gehört? Er läßt uns etwas vom Preis nach. Dabei verdoppele ich die Zahl seiner Gäste allein schon, wenn ich nur hier sitze. Ein ehrlicher Wirt läßt einen Gaukler umsonst wohnen und essen und drückt ihm noch einiges in die Hand dazu.«
Der ungedeckte Tisch war nicht allzu sauber, und der Fußboden war tage- oder vielleicht wochenlang nicht mehr gefegt worden. Rand sah sich um und verzog das Gesicht. Meister al'Vere hätte seine Schenke nie so schmutzig werden lassen, und wenn er aus dem Krankenbett hätte klettern müssen, um dafür zu sorgen. »Wir wollen nur einiges in Erfahrung bringen, ja?«
»Warum gerade hier?« wollte Mat wissen. »Wir sind an anderen Schenken vorbeigekommen, die sauberer aussahen.«
»Von der Brücke weg geradeaus«, sagte Thom, »befindet sich die Straße nach Caemlyn. Jeder, der Weißbrücke durchquert, kommt auch auf diesen Platz, es sei denn, er reist auf dem Fluß weiter, und wir wissen ja, daß eure Freunde das nicht machen. Wenn hier nichts über sie bekannt ist, dann nirgends. Laßt mich nur reden. Das muß hier vorsichtig angepackt werden.«
In diesem Moment erschien der Wirt wieder mit drei verbeulten Zinnkrügen, die er an den Henkeln in der Faust hielt. Der fette Mann wedelte mit einem Handtuch kurz über den Tisch, stellte die Krüge ab und nahm Thoms Geld. »Wenn Ihr bleibt, müßt Ihr nichts für Eure Getränke bezahlen. Guter Wein hier.«
Thoms Lächeln huschte nur kurz um seinen Mund. »Ich werde es mir überlegen, Wirt. Was gibt es Neues hier? Wir waren ziemlich aus der Welt.«
»Große Neuigkeiten gibt es. Große Neuigkeiten.«
Der Wirt legte sich das Handtuch über die Schulter und zog einen Stuhl heran. Er verschränkte die Arme auf dem Tisch, lehnte sich mit einem langen Seufzer zurück und erklärte, wie bequem es sei, sich einmal setzen zu können. Er hieße Bartim, und dann fuhr er fort, von seinen Füßen zu erzählen, von Hühneraugen und entzündeten Ballen und wie lange er immer stehen mußte und worin er sie badete, bis Thom die Neuigkeiten wieder erwähnte, und dann wechselte er übergangslos das Thema.
Die Neuigkeiten waren tatsächlich so wichtig, wie er behauptet hatte. Logain, der falsche Drache, war nach einer großen Schlacht in der Nähe der Grenze nach Lugard gefangengenommen worden, während er versuchte, sein Heer von Ghealdan nach Tear zu führen. Die Prophezeiungen, ob sie verstünden? Thom nickte, und Bartim fuhr fort. Die Straßen nach Süden seien vollgestopft mit Menschen, den Glücklichen, mit allem, was sie nur auf dem Rücken schleppen konnten. Tausende flohen in alle Richtungen.
»Niemand«, Bartim lachte trocken auf, »hat natürlich Logain unterstützt. O nein, da wird man kaum jemanden finden, der das zugäbe, jedenfalls nicht jetzt. Nur Flüchtlinge, die während der Unruhen nach einem sicheren Ort suchen.«
Natürlich waren an der Festnahme Logains Aes Sedai beteiligt gewesen. Bartim spuckte auf den Boden, als er das sagte, und noch einmal, als er erzählte, daß sie den falschen Drachen nach Norden, nach Tar Valon brächten. Bartim sei ein anständiger Mann, behauptete er wenigstens, ein angesehener Mann, und was ihn betraf, konnten die Aes Sedai alle zurück in die Fäule gehen, wo sie hergekommen waren, und auch noch Tar Valon mitnehmen. Wenn es nach ihm ginge, würde er sich nicht näher als tausend Meilen an eine Aes Sedai heranwagen. Natürlich hielten sie bei jedem Dorf und jeder Stadt auf dem Weg nach Norden an, um Logain vorzuführen, wie er gehört hatte. Um den Leuten zu zeigen, daß der falsche Drache gefangen und die Welt wieder sicher sei. Er hätte das schon gerne gesehen, selbst wenn er sich dabei den Aes Sedai nähern müßte. Er sei also halb versucht, nach Caemlyn zu gehen.
»Sie werden ihn dorthin bringen, um ihn Königin Morgase vorzuführen.« Der Wirt berührte respektvoll seine Stirn. »Ich habe die Königin noch nie gesehen. Ein Mann sollte seine eigene Königin kennen, meint Ihr nicht auch?«
Logain konnte Sachen machen, und die Art, wie Bartim die Augen verdrehte und sich mit der Zunge hastig über die Lippen fuhr, machte klar, was er meinte. Er hatte den letzten falschen Drachen vor zwei Jahren gesehen, als er im Land herum vorgezeigt wurde, aber das war nur so ein Bursche, der dachte, er könne sich selbst zum König machen. Damals wurden keine Aes Sedai gebraucht. Soldaten führten ihn in Ketten oben auf einem Wagen mit herum. Ein mürrisch dreinblickender Kerl, der im Inneren des Wagens stöhnte und den Kopf mit den Armen schützte, wenn die Leute Steinchen auf ihn warfen oder ihn mit Stöcken traktierten. Das war ziemlich oft geschehen, und die Soldaten hatten nichts unternommen, um es zu unterbinden, jedenfalls solange niemand versuchte, den Burschen umzubringen. Das Beste war, die Leute selbst sehen zu lassen, daß er letzten Endes nichts Besonderes darstellte. Er konnte keine Sachen machen. Aber diesen Logain zu sehen würde sich lohnen. Etwas, wovon Bartim noch seinen Enkeln erzählen könnte. Wenn die Schenke es ihm nur erlauben würde, wegzukommen!
Rand lauschte mit einem Interesse, das er keineswegs vortäuschen mußte. Als Padan Fain die Nachricht von einem falschen Drachen nach Emondsfeld gebracht hatte, von einem Mann also, der tatsächlich die Macht anwenden konnte, war das die wichtigste Neuigkeit seit Jahren für die Zwei Flüsse gewesen. Was seither geschehen war, hatte das in einen hinteren Winkel seines Gehirns verdrängt, aber es war immer noch die Art von Ereignis, über das die Leute noch in Jahren sprechen und es schließlich auch noch ihren Enkeln einst erzählen würden. Bartim würde seinen vielleicht berichten, er habe Logain gesehen, ob es stimmte oder nicht. Niemand würde je auf die Idee kommen, etwas, das einigen Dorfbewohnern aus den Zwei Flüssen zugestoßen war, könne auch nur der Rede wert sein, außer es waren selbst Menschen aus dieser Region. »Das«, sagte Thom, »ist etwas, woraus man eine Geschichte machen könnte, eine Geschichte, die noch in tausend Jahren erzählt wird. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.« Es klang bei ihm, als sei es ganz einfach die Wahrheit, und Rand glaubte das auch. »Ich werde vielleicht trotzdem versuchen, ihn zu sehen. Ihr habt nicht gesagt, welchen Weg sie nehmen. Vielleicht sind noch ein paar andere Reisende in der Gegend? Sie könnten davon gehört haben und den Weg kennen.«
Bartim machte eine abwertende Geste mit einer schmuddeligen Hand. »Nach Norden, das ist alles, was man hier in der Gegend weiß. Wenn Ihr ihn sehen wollt, dann geht nach Caemlyn. Mehr weiß ich auch nicht, und wenn es irgend etwas Wissenswertes in Weißbrücke gibt, dann weiß ich es.«
»Kein Zweifel«, sagte Thom verbindlich. »Ich schätze, eine Menge Fremde auf der Durchreise bleiben hier hängen. Euer Schild erregte meine Aufmerksamkeit bereits, als ich am Fuß der Weißen Brücke stand.«
»Nicht nur vom Westen her, müßt Ihr wissen. Vor zwei Tagen war ein Bursche hier, ein Illianer mit einer mit Siegeln und Bändern versehenen Proklamation. Hat sie gleich hier draußen auf dem Platz verlesen. Sagte, er reise damit bis hin zu den Verschleierten Bergen, vielleicht sogar zum Aryth-Meer, falls die Pässe offen sind. Sagte, sie hätten Männer in alle Länder der Welt geschickt, um sie zu verlesen.« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Die Verschleierten Berge. Ich habe gehört, daß sie das ganze Jahr über von Nebel verhüllt sind, und es gibt in dem Nebel Dinge, die einem das Fleisch von den Knochen schälen, bevor man wegrennen kann.« Mat kicherte, was ihm einen tadelnden Blick Bartims einbrachte.
Thom beugte sich gespannt vor. »Was beinhaltete diese Proklamation?«
»Ja, natürlich die Jagd nach dem Horn«, rief Bartim. »Habe ich das nicht gesagt? Die Illianer rufen alle auf, die sich der Suche nach dem Horn verschwören wollen, sich in Illian zu treffen. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Euch mit Eurem Leben einer Legende zu verschwören? Ich schätze, sie werden einige Narren finden. Es gibt immer Narren genug. Dieser Bursche behauptete, das Ende der Welt sei nahe. Die letzte Schlacht mit dem Dunklen König.« Er lachte leise, aber es klang hohl, ein Mann, der lacht, um sich selbst davon zu überzeugen, daß eine Sache das Lachen wert sei. »Ich schätze, sie glauben, sie müßten davor noch das Horn von Valere finden. Was haltet Ihr denn von so was?« Er kaute überlegend eine Minute lang an seinem Knöchel herum. »Natürlich, nach diesem Winter wüßte ich auch nicht, was ich dagegen sagen sollte. Der Winter und dieser Kerl Logain und natürlich auch die anderen beiden davor. Warum behaupteten alle diese Kerle in den letzten paar Jahren, sie seien der Drache? Und der Winter. Das muß doch irgend etwas zu bedeuten haben. Was glaubt Ihr?«
Thom schien ihn nicht zu hören. Mit sanfter Stimme begann der Gaukler mehr für sich selbst zu zitieren:
In der letzten, einsamen Schlacht gegen den Anbruch der langen Nacht werden Berge sich beugen und die Toten sind Zeugen, und das Grab kann meinen Ruf nicht verhindern.
»Das ist es.« Bartim grinste, als könne er bereits die Menschenmengen sehen, die ihm ihr Geld aushändigten, während sie Thom lauschten. »Das ist es. Die Wilde Jagd nach dem Horn. Erzählt die Geschichte, und die Zuhörer werden noch in Trauben an den Dachbalken hängen. Alle haben die Proklamation gehört.«
Thom schien sich noch immer tausend Meilen entfernt zu befinden, und so sagte Rand: »Wir suchen ein paar Freunde, die hierher kommen wollten. Aus dem Westen. Sind in den letzten ein, zwei Wochen viele Fremde hier durchgekommen?«
»Ein paar«, sagte Bartim bedächtig. »Es gibt immer welche, sowohl aus dem Westen als auch aus dem Osten.« Er sah sie — plötzlich mißtrauisch geworden — einen nach dem anderen an. »Wie sehen sie denn aus, Eure Freunde?«
Rand öffnete den Mund, doch Thom, der mit einem Schlag wieder voll da war, sah ihn scharf an, um ihn zum Schweigen zu bringen. Mit einem ärgerlichen Seufzer wandte sich der Gaukler an den Wirt. »Zwei Männer und drei Frauen«, sagte er zögernd. »Sie sind möglicherweise beisammen, vielleicht aber auch nicht.« Er gab Kurzbeschreibungen ab, charakterisierte jeden in kurzen Worten, deutlich genug, damit jeder, der sie gesehen hatte, sie auch wiedererkennen konnte, aber ohne etwas darüber zu verraten, wer sie waren.
Bartim rieb sich mit einer Hand über den Kopf, wobei er sein spärliches Haar durcheinanderbrachte, und stand langsam auf. »Vergeßt jeden Auftritt hier, Gaukler. Ich würde es sogar begrüßen, wenn Ihr jetzt Euren Wein austrinkt und geht. Wenn Ihr klug seid, dann verlaßt Ihr Weißbrücke.«
»Hat jemand anders bereits nach ihnen gefragt?« Thom nahm einen Schluck, als sei die Antwort die unwichtigste Sache auf der Welt, und hob lediglich die Augenbrauen. »Wer könnte das sein?«
Bartim fuhr sich noch mal mit der Hand durchs Haar, trat von einem Fuß auf den anderen, bereit wegzugehen, und nickte dann leicht zu sich selbst. »Soweit ich mich erinnern kann, kam vor ungefähr einer Woche ein schmierig aussehender Bursche über die Brücke. Ein Verrückter, dachte jeder. Führte immer Selbstgespräche und bewegte sich ständig, selbst noch im Stehen. Hat nach den gleichen Leuten gefragt... nach ein paar davon jedenfalls. Er fragte, als sei es wichtig, und dann benahm er sich, als sei ihm die Antwort völlig gleichgültig. Einmal sagte er, er müsse hier auf sie warten, und dann wieder, daß er weiter müsse und in Eile sei. In einem Augenblick jammerte und bettelte er, und im nächsten stellte er Forderungen wie ein König. Hätte sich ein oder zweimal beinahe eine Tracht Prügel eingefangen, verrückt oder nicht. Fast hätte ihn die Wache in Gewahrsam genommen, und zwar zu seinem eigenen Schutz. Er brach am selben Tag in Richtung Caemlyn auf. Auch da redete er mit sich selbst und weinte in sich hinein. Verrückt, wie ich schon sagte.«
Rand sah Thom und Mat fragend an, und beide schüttelten den Kopf. Falls dieser schmierige Bursche nach ihnen suchte, war es niemand, den sie kannten.
»Seid Ihr sicher, daß er nach denselben Leuten suchte?« fragte Rand.
»Ein paar davon. Der Kämpfer und die Frau in Seide. Aber die waren es nicht, die ihn so besonders interessierten. Das waren drei Jungen vom Land.« Sein Blick huschte zu Rand und Mat und so schnell wieder weg, daß Rand sich nicht sicher war, ob er den Blick wirklich gesehen oder sich nur getäuscht hatte. »Er wollte sie unbedingt finden. Ein Verrückter, wie ich schon sagte.«
Rand schauderte und fragte sich, wer dieser Verrückte sein mochte und warum er nach ihnen suchte. Ein Schattenfreund? Würde Ba'alzamon einen Wahnsinnigen gebrauchen?
»Er war verrückt, aber der andere... « Bartims Blick wanderte unstet von einem zum anderen, und seine Zunge fuhr immer wieder über die Lippen, als könne er nicht genug Speichel hervorbringen, um sie feucht zu halten. »Am nächsten Tag... am nächsten Tag kam der andere zum erstenmal.« Er schwieg.
»Der andere?« hakte ihn Thom schließlich nach.
Bartim sah sich um, obwohl dieser Teil des Raums immer noch bis auf sie unbesetzt war. Er stellte sich sogar auf die Zehenspitzen und blickte über die niedrige Trennwand hinweg. Als er schließlich sprach, war es ein hastiges Flüstern.
»Er trägt nur Schwarz. Läßt niemals die Kapuze seines Umhangs fallen, damit man sein Gesicht nicht sehen kann, aber man kann fühlen, wie er einen anschaut. Das ist, als ob man einem einen Eiszapfen in das Rückgrat steckt.
Er... er hat mit mir gesprochen.« Er schauderte und kaute an seiner Lippe, bevor er fortfuhr. Es klang, als ob eine Schlange durch abgestorbene Blätter kriecht. »Hat meinen Magen fast in einen Eisklumpen verwandelt. Jedesmal, wenn er zurückkommt, stellt er die gleichen Fragen. Dieselben Fragen, wie der Verrückte sie stellte. Keiner sieht ihn jemals kommen — er ist einfach plötzlich da, am Tag oder bei Nacht, und man erstarrt, wo immer man auch steht. Die Leute fangen schon an, ständig über die Schultern nach hinten zu schauen. Das Schlimmste daran ist, daß die Torwächter behaupten, er sei niemals durch eines der Tore gekommen, weder hinein noch hinaus.«
Rand bemühte sich, ein nichtssagendes Gesicht zu machen; er preßte die Kiefer zusammen, bis sein Gebiß schmerzte. Mat schaute finster drein, und Thom versenkte den Blick in seinen Wein. Das Wort, das keiner von ihnen aussprechen wollte, hing zwischen ihnen in der Luft: Myrddraal.
»Ich glaube, ich würde mich daran erinnern, wenn ich schon einmal jemanden wie den getroffen hätte«, sagte Thom nach einer kurzen Pause.
Bartim nickte energisch. »Versengen soll mich das Licht, ja, das wurdet Ihr. Wahrheit des Lichts, ganz gewiß würdet Ihr das. Er... er sucht die gleichen Leute wie der Verrückte, nur sagt er, es sei auch noch ein Mädchen dabei. Und« — er blickte Thom von der Seite her an — »ein weißhaariger Gaukler.«
Thoms Augenbrauen hoben sich in einer Überraschung, von der Rand sicher war, daß sie nicht gespielt sein konnte. »Ein weißhaariger Gaukler? Na ja, ich bin wohl kaum der einzige Gaukler der Welt, der schon ein wenig Alter zeigt. Ich versichere Euch, daß ich diesen Burschen nicht kenne und er keinen Grund haben kann, nach mir zu suchen.«
»Das kann schon sein«, sagte Bartim bedrückt. »Er hat es nicht so direkt ausgedrückt, aber ich hatte den Eindruck, er sähe es als äußerst unfreundlich an, sollte jemand diesen Leuten helfen oder versuchen, sie vor ihm zu verstecken. Wie auch immer, ich sage Euch, was ich auch ihm gesagt habe. Ich habe keinen von ihnen gesehen und auch nichts über sie gehört, und das ist die Wahrheit. Keinen von ihnen«, betonte er noch einmal. Plötzlich knallte er Thoms Geld auf den Tisch. »Trinkt nur Euren Wein aus und geht. In Ordnung? Klar?« Und damit hastete er fluchtartig weg, wobei er sie über die Schulter hinweg beobachtete.
»Ein Blasser«, hauchte Mat, als der Wirt weg war. »Ich hätte wissen sollen, daß die hier nach uns suchen werden.«
»Und er wird zurückkommen«, sagte Thom, lehnte sich über den Tisch und dämpfte die Stimme. »Ich wurde sagen, wir stehlen uns an Bord des Kahns zurück und nehmen Kapitän Domons Angebot an. Die Suche wird sich auf die Straße nach Caemlyn konzentrieren, während wir auf dem Weg nach Illian sind, tausend Meilen weit weg von dem Gebiet, in dem uns die Myrddraal vermuten.«
»Nein«, sagte Rand mit fester Stimme. »Entweder warten wir in Weißbrücke auf Moiraine und die anderen, oder wir gehen weiter nach Caemlyn. Entweder oder, Thom. Das hatten wir beschlossen.«
»Das ist verrückt, Junge. Die Lage hat sich geändert. Hört doch auf mich. Gleich, was dieser Wirt sagt, wenn ihn ein Myrddraal anschaut, wird er alles über uns ausplaudern, bis zu unseren Getränken und wieviel Staub wir auf unseren Stiefeln hatten.« Rand schauderte, als er sich an den augenlosen Blick des Blassen erinnerte. »Was Caemlyn betrifft... Glaubt Ihr, die Halbmenschen wüßten nicht, daß wir nach Tar Valon wollen? Dies ist die richtige Zeit, um sich auf einem Schiff in Richtung Süden abzusetzen.«
»Nein, Thom.« Rand zwang sich zu diesen Worten, nachdem er sich vorgestellt hatte, tausend Meilen weit weg von dem Gebiet zu sein, wo ihn die Blassen suchten, aber er holte tief Luft, und seine Stimme klang wieder entschlossen. »Nein!«
»Stell dir doch vor, Junge: Illian! Es gibt keine großartigere Stadt auf dieser Welt! Und die Wilde Jagd nach dem Horn. Es hat beinahe vierhundert Jahre lang keine Jagd nach dem Horn mehr gegeben. Ein ganz neuer Geschichtenzyklus kann darüber gemacht werden. Denk doch nach! Du hast dir so etwas nie erträumt. Bis die Myrddraal herausbekommen, wo du bist, wirst du alt und grau sein und die Nase so voll davon haben, auf deine Enkel aufzupassen, daß es dir gleich ist, ob sie dich finden.«
Rands Gesichtsausdruck wurde unnachgiebig. »Wie oft soll ich noch nein sagen? Sie werden uns finden, wohin wir auch gehen. Dann warten eben Blasse in Illian auf uns. Und wie sollen wir den Träumen entkommen? Ich will wissen, was mit mir los ist, Thom, und warum. Ich gehe nach Tar Valon. Mit Moiraine, wenn es sich machen läßt, aber auch ohne sie, falls es sein muß. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, auch allein. Ich muß es wissen.«
»Aber Illian, Junge! Es gibt nur einen sicheren Weg hier hinaus — flußabwärts, während sie uns in einer ganz anderen Richtung vermuten. Blut und Asche, ein Traum kann dich nicht verletzen!«
Rand schwieg. Ein Traum kann nicht verletzen? Können Traumdornen einen Finger zum Bluten bringen? Er wünschte fast, er hätte Thom auch von diesem Traum erzählt. Wagst du es, irgend jemandem davon zu erzählen? Ba'alzamon ist in deinen Träumen, aber was steht nun noch zwischen Traum und Wirklichkeit? Wem wagst du zu erzählen, daß der Dunkle König dich berührt?
Thom schien zu verstehen. Das Gesicht des Gauklers nahm einen sanfteren Ausdruck an. »Sogar diese Träume, Junge. Es sind doch immer noch nur Träume, oder? Um des Lichts willen, Mat, sprich mit ihm. Ich weiß, daß zumindest du nicht nach Tar Valon willst.«
Mats Gesicht rötete sich, halb aus Verlegenheit, halb vor Ärger. Er vermied es, Rand anzusehen, und blickte Thom statt dessen böse an. »Warum macht Ihr bloß solches Theater? Ihr wollt zurück zum Schiff? Geht doch zum Schiff zurück! Wir passen schon auf uns auf.«
Die schmalen Schultern des Gauklers zitterten in stummem Lachen, doch seine Stimme klang angespannt wie im Zorn. »Du glaubst, du wüßtest genug über die Myrddraal, um auf eigene Faust zu entkommen, ja? Und du bist so weit, daß du allein nach Tar Valon hineinmarschierst und dich dem Amyrlin-Sitz übergibst? Kannst du wenigstens eine Ajah von der nächsten unterscheiden? Versengen soll mich das Licht, Junge, wenn du glaubst, du könntest Tar Valon überhaupt allein erreichen, dann sag mir, ich solle gehen.«
»Geht«, grollte Mat, und eine Hand glitt unter seinen Umhang. Rand erkannte erschreckt, daß er den Dolch aus Shadar Logoth in der Hand hielt und vielleicht sogar bereit war, ihn zu gebrauchen.
Heiseres Gelächter erklang von der anderen Seite der niedrigen Trennwand her, und eine Stimme sagte laut und verächtlich: »Trollocs? Zieh doch gleich den Umhang eines Gauklers an, Mann! Du bist betrunken! Trollocs! Sagen aus den Grenzlanden!«
Die Worte kühlten den Zorn ab wie eine kalte Dusche. Selbst Mat drehte sich mit großen Augen halb zu der Wand herum.
Rand stand so, daß er gerade über die Wand hinwegblicken konnte, duckte sich dann aber schnell wieder mit einem flauen Gefühl im Magen. Floran Gelb saß auf der anderen Seite der Wand am hinteren Tisch bei den beiden Männern, die schon bei ihrem Eintreten dort gesessen hatten. Sie lachten ihn aus, aber sie hörten doch zu. Bartim wischte einen Tisch ab, der das auch sehr nötig hatte, wobei er Gelb und die beiden Männer wohl nicht ansah, aber auch er lauschte. Er wischte ständig mit seinem Handtuch über den gleichen Fleck und beugte sich zu ihnen hin, bis er beinahe vornüber zu fallen drohte.
»Gelb«, flüsterte Rand, als er sich auf seinen Stuhl zurückfallen ließ, und die anderen strafften sich. Thom unterzog schnell ihren Teil des Schankraumes einer genaueren Betrachtung.
Auf der anderen Seite der Wand fiel die Stimme des anderen Mannes ein: »Nein, nein, es hat mal Trollocs gegeben. Aber sie wurden in den Trolloc-Kriegen alle getötet.«
»Grenzland-Sagen!« wiederholte der erste Mann.
»Es ist wahr, sage ich Euch«, protestierte Gelb laut. »Ich war in den Grenzlanden. Ich habe Trollocs gesehen, und das waren wirklich Trollocs, so wahr, wie ich hier sitze. Diese drei behaupteten, die Trollocs jagten sie, aber das weiß ich besser. Deswegen sind sie nicht auf der Gischt geblieben. Ich habe Bayle Domon schon eine Weile mißtraut, aber diese drei sind ganz sicher Schattenfreunde. Ich sage Euch...« Gelächter und rauhe Scherze erstickten den Rest dessen, was Gelb zu sagen hatte.
Wie lang würde es dauern, fragte sich Rand, bis der Wirt eine Beschreibung dieser drei hörte? Wenn das nicht schon der Fall gewesen war. Wenn er nicht sowieso gleich an die drei Fremden dachte, die er bereits kennengelernt hatte. Der einzige Weg aus ihrer Hälfte des Schankraums würde sie direkt an Gelbs Tisch vorbeiführen.
»Vielleicht ist das Schiff doch keine so schlechte Idee«, murmelte Mat, aber Thom schüttelte den Kopf.
»Jetzt nicht mehr.« Der Gaukler sprach leise und schnell. Er zog den Lederbeutel heraus, den ihm Kapitän Domon gegeben hatte und teilte hastig das Geld in drei Stapel. »Diese Geschichte wird sich in einer Stunde im ganzen Ort verbreitet haben, gleich ob jemand sie glaubt oder nicht, und der Halbmensch kann jederzeit davon erfahren. Domon segelt nicht vor morgen früh. Im besten Fall werden ihn die Trollocs bis nach Illian verfolgen. Na ja, er erwartet das aus irgendeinem Grund ja schon beinahe, aber das nützt uns nichts. Wir haben keine andere Wahl, als wegzurennen, und das schnell.«
Mat steckte rasch die Münzen, die Thom vor ihn hingeschoben hatte, in seine Tasche. Rand nahm seinen Stapel etwas langsamer auf. Die Münze, die ihm Moiraine gegeben hatte, war nicht dabei. Domon hatte ihnen das gleiche Gewicht in Silber gegeben, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund wünschte sich Rand, er hätte statt dessen die Münze der Aes Sedai. Er steckte das Geld in seine Tasche und sah den Gaukler fragend an.
»Falls wir getrennt werden«, erklärte Thom. »Wahrscheinlich werden wir das nicht, aber falls es geschieht... na ja, ihr beide werdet es schon auch allein schaffen. Ihr seid gute Jungs. Haltet euch um eures Lebens willen aber von den Aes Sedai fern.«
»Ich dachte, Ihr bleibt bei uns«, sagte Rand.
»Bleibe ich, Junge. Bleibe ich. Aber sie kommen uns jetzt sehr nahe, und das Licht allein weiß, was geschieht. Na ja, es spielt keine Rolle. Wahrscheinlich wird gar nichts passieren.« Thom schwieg einen Moment und sah Mat an. »Ich hoffe, du hast nichts mehr dagegen, wenn ich bei Euch bleibe«, sagte er trocken.
Mat zuckte die Achseln. Er sah sie beide an und zuckte dann noch mal die Achseln. »Ich bin eben nur so nervös. Ich werde die Angst nicht los. Jedesmal, wenn wir Rast machen und Luft holen, sind sie da und jagen uns. Ich fühle mich, als ob mir die ganze Zeit jemand auf den Hinterkopf starrt. Was sollen wir machen?«
Auf der anderen Seite der Wand erklang wieder lautes Lachen, wiederum von Gelb unterbrochen, der laut die beiden Männer zu überzeugen versuchte, daß er die Wahrheit sagte. Wie lange noch, überlegte Rand. Früher oder später mußte Bartim die drei aus Gelbs Erzählung mit ihnen in Verbindung bringen. Thom schob seinen Stuhl zurück und erhob sich, blieb aber gebückt stehen. Niemand, der von der anderen Seite der Wand aus Neugier herüberblickte, konnte ihn sehen. Er bedeutete ihnen, zu folgen und flüsterte: »Seid ganz still.«
Die Fenster zu beiden Seiten des Kamins auf ihrer Seite der Trennwand gingen auf eine Gasse hinaus. Thom betrachtete eines der Fenster ganz genau, bevor er es gerade so weit aufzog, daß sie sich durchquetschen konnten. Sie machten kaum einen Laut, nichts, was man bei dem Lärm des heiteren Streits auf der anderen Seite der niedrigen Wand drei Fuß weiter noch hätte hören können. Sobald er sich in der Gasse befand, wollte Mat zur Straße loslaufen, aber Thom packte ihn am Arm. »Nicht so schnell«, sagte der Gaukler zu ihm. »Wir müssen erst wissen, worauf wir uns einlassen.« Thom zog das Fenster soweit zu, wie er das von der Gasse aus konnte, und drehte sich dann um. Er betrachtete die Gasse.
Rand folgte Thoms Blick. An der Schenke und am nächsten Gebäude, einer Schneiderei, stand ein halbes Dutzend Regentonnen, doch ansonsten war die Gasse leer, der festgetretene Lehmboden trocken und staubig.
»Warum tut Ihr das?« wollte Mat wieder wissen. »Ihr wärt sicherer, wenn Ihr uns verließet! Warum bleibt Ihr bei uns?«
Thom blickte ihn einen Moment lang über an. »Ich hatte einen Neffen, Owyn«, sagte er müde und schälte sich aus seinem Umhang. Er wickelte ihn um seine Bettrolle, während er sprach, und legte vorsichtig seine Instrumentenkästen obenauf. »Der einzige Sohn meines Bruders und mein einziger lebender Verwandter. Er hatte Schwierigkeiten mit den Aes Sedai, doch ich war zu sehr mit... anderen Sachen beschäftigt. Ich weiß nicht, was ich hätte unternehmen können, aber als ich es schließlich versuchte, war es zu spät. Owyn starb ein paar Jahre später. Man könnte sagen, die Aes Sedai töteten ihn.« Er richtete sich auf, sah sie aber nicht an. Seine Stimme klang immer noch ruhig, aber Rand sah Tränen in seinen Augen, bevor Thom den Kopf wegdrehte. »Wenn ich euch zwei aus Tar Valon fernhalten kann, dann kann ich vielleicht aufhören, an Owyn zu denken. Wartet hier.« Er mied immer noch ihre Augen, eilte zum Ausgang der Gasse, verlangsamte aber seinen Schritt, bevor er ihn erreichte. Nach einem schnellen Blick in die Runde schlenderte er gleichmütig auf die Straße hinaus und außer Sicht.
Mat erhob sich halb, um ihm zu folgen, ließ sich dann aber zurückfallen. »Die wird er nicht im Stich lassen«, sagte er und berührte die Lederbehälter der Instrumente. »Nimmst du ihm diese Geschichte ab?«
Rand hockte sich geduldig neben die Regentonnen. »Was ist los mit dir, Mat? Du bist doch sonst nicht so. Ich habe dich tagelang nicht mehr lachen gehört.«
»Ich mag es nicht, wenn man mich wie ein Kaninchen jagt«, fauchte Mat. Er seufzte und lehnte den Kopf an die Backsteinwand der Schenke. Sogar in dieser Stellung erschien er angespannt. Sein Blick huschte aufmerksam hin und her. »Tut mir leid. Das liegt am Wegrennen und all diesen Fremden und... ach, an allem halt. Es macht mich nervös. Ich sehe jemanden an und kann mir nicht helfen: Ich muß mich einfach fragen, ob er den Blassen von uns berichten oder uns betrügen oder ausrauben oder wird... Rand, macht dich das nicht auch nervös?«
Rand lachte, ein kurzes Bellen aus der Tiefe seiner Kehle heraus. »Ich habe zu viel Angst, um nervös zu sein.«
»Was, glaubst du, haben die Aes Sedai seinem Neffen angetan?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Rand unsicher. Es gab nur eine Art von Schwierigkeiten, die ein Mann mit den Aes Sedai bekommen konnte. »Mit uns ist das etwas anderes, schätze ich.«
»Stimmt. Etwas ganz anderes.«
Eine Weile lang lehnten sie schweigend an der Wand. Rand war sich nicht sicher, wie lange sie warteten. Vielleicht nur ein paar Minuten, aber es erschien ihnen wie eine Stunde, als sie so auf Thom warteten und darauf, daß Bartim und Gelb das Fenster öffneten und sie als Schattenfreunde denunzieren würden. Dann bog ein Mann in die Gasse ein, ein hochgewachsener Typ, der seine Kapuze hochgezogen hatte, um sein Gesicht zu verbergen. Sein Umhang war so schwarz wie die Nacht und stand im harten Kontrast zum Licht der Straße. Rand mühte sich auf die Füße, und eine Hand ergriff den Knauf von Tams Schwert so verkrampft, daß seine Knöchel schmerzten. Sein Mund war ausgetrocknet, und da half auch kein Schlucken. Mat erhob sich zu einer gebückten Haltung und hatte eine Hand unter seinem Umhang.
Der Mann kam näher, und mit jedem Schritt zog sich Rands Kehle noch mehr zusammen. Plötzlich blieb der Mann stehen und warf seine Kapuze zurück. Rands Knie wurden ganz weich. Es war Thom.
»Also, wenn Ihr mich schon nicht erkennt« — der Gaukler grinste — »dann denke ich, ist die Verkleidung auch gut genug für die Torwächter.«
Thom streifte an ihnen vorbei und begann, Sachen aus seinem mit Flicken besetzten Umhang in seinen neuen zu stecken, und zwar so geschickt, daß Rand nichts davon erkennen konnte. Der neue Umhang war dunkelbraun, das konnte Rand jetzt sehen. Er atmete tief, wenn auch stockend; seine Kehle schien immer noch von einer Faust umklammert zu werden. Braun, und nicht schwarz. Mat hatte immer noch die Hand unter seinem Umhang, und er starrte Thoms Rücken an, als dächte er tatsächlich daran, den verborgenen Dolch zu gebrauchen.
Thom sah zu ihnen hoch und blickte sie dann etwas schärfer an. »Das ist der falsche Zeitpunkt, um überängstlich zu werden.« Entschlossen machte er sich daran, seinen alten Umhang um die Instrumentenkästen zu wickeln, natürlich mit der Innenseite nach außen, so daß die Flicken verborgen waren. »Wir werden hier einer nach dem anderen hinausgehen, dicht genug, um uns gegenseitig in Sicht zu behalten. Auf diese Art wird man uns kaum bemerken. Kannst du nicht etwas gebückter laufen?« fügte er, an für Rand gewandt, hinzu. »Deine Größe ist genauso schlimm, als trügen wir eine Flagge mit herum.« Er hievte das Bündel auf seinen Rücken und stand auf, wobei er seine Kapuze wieder hochzog. Er sah überhaupt nicht wie ein weißhaariger Gaukler aus. Er war nur irgendein Reisender von vielen, ein Mann, der zu arm war, um sich ein Pferd zu leisten, geschweige denn einen Wagen. »Gehen wir. Wir haben schon zuviel Zeit verschwendet.«
Rand stimmte leidenschaftlich zu, aber trotzdem zögerte er, bevor er aus der Gasse auf den Platz trat.
Keiner der wenigen über den Platz verstreuten Menschen schenkte ihnen gesteigerte Aufmerksamkeit. Die meisten sahen überhaupt nicht her, doch seine Schultern verkrampften sich, und er wartete auf den Schrei ›Schattenfreund‹, der normale Menschen in einen wilden, mordlüsternen Mob verwandeln konnte. Er ließ den Blick über den Platz schweifen, über die Menschen, die ihren täglichen Geschäften nachgingen, und als er sich wieder auf ihre nächste Umgebung konzentrierte, hatte ein Myrddraal bereits den halben Platz überquert. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo der Blasse hergekommen war, aber er schritt tödlich langsam auf die drei zu, ein Raubtier, das die Beute im Blick hatte. Die Menschen traten vor der schwarzgekleideten Gestalt zurück und vermieden es, sie anzublicken. Der Platz leerte sich rasch, als ob die Leute zu der Auffassung kamen, daß sie anderswo benötigt wurden.
Die schwarze Kapuze ließ Rand auf dem Fleck erstarren. Er bemühte sich, das Nichts heraufzubeschwören, aber es war, als griffe er nach Rauch. Der verborgene Blick des Blassen schnitt in seine Knochen und ließ sein Mark zu Eis gefrieren.
»Sieh sein Gesicht nicht an«, zischte Thom. Seine Stimme schwankte und klang, als zwinge er die Worte aus sich heraus. »Das Licht soll dich verbrennen — sieh sein Gesicht nicht an!«
Rand riß den Blick los — er ächzte beinahe; es war ein Gefühl, als reiße er sich einen Blutegel vom Gesicht -, aber auch wenn er die Steinplatten des Platzes anstarrte, konnte er den Myrddraal kommen sehen, eine Katze, die mit Mäusen spielt, sich über ihre schwächlichen Fluchtversuche amüsiert, bis schließlich die Kiefer zuschnappten. Der Blasse hatte die Hälfte der Strecke zwischen ihnen zurückgelegt. »Sollen wir bloß hier herumstehen?« murmelte er. »Wir müssen rennen... entkommen.« Aber er brachte seine Füße nicht dazu, sich zu bewegen.
Mat hielt den Dolch mit dem rubinbesetzten Griff endlich in der zitternden Hand. Seine Lippen waren hochgezogen und gaben den Blick auf seine Zähne frei -ein Fauchen und gleichzeitig Zeichen verkrampfter Angst.
»Denkst du... « Thom unterbrach sich, schluckte und fuhr dann heiser fort: »Denkst du, daß du ihm davonrennen kannst, Junge?« Er begann, leise mit sich selbst zu sprechen. Das einzige Wort, das Rand verstehen konnte, war ›Owyn‹. Plötzlich grollte Thom: »Ich hätte mich nie mit euch Jungen einlassen sollen. Hätte ich nicht.« Er schüttelte das Bündel in dem Gauklerumhang von den Schultern und legte es in Rands Arme. »Paß darauf auf. Wenn ich sage rennt, dann rennt ihr, und haltet nicht an bis Caemlyn. Der Königin Segen. Eine Schenke. Denkt daran, für den Fall... Erinnert euch bloß daran.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Rand. Der Myrddraal war jetzt keine zwanzig Schritte mehr entfernt. Seine Füße fühlten sich an wie Bleigewichte.
»Denkt einfach nur daran!« fauchte Thom. »Der Königin Segen. Jetzt, RENNT!«
Er gab ihnen jeweils einen Schubs auf die Schulter, um sie zum Laufen zu bringen, und Rand stolperte torkelnd mit Mat an der Seite los. »RENNT!« Thom sprang mit einem langen, wortlosen Aufbrüllen los. Nicht hinter ihnen her, sondern auf den Myrddraal zu. Seine Hände bewegten sich flink, wie bei seinen besten Auftritten, und Dolche erschienen in ihnen. Rand blieb stehen, doch Mat zog ihn weiter.
Der Blasse war genauso überrascht. Sein Schlendern brach mitten im Schritt ab. Seine Hand fuhr hinunter zum Griff des schwarzen Schwertes, das an seiner Hüfte hing, aber die langen Beine des Gauklers legten die wenigen Schritte schnell zurück. Thom prallte auf den Myrddraal, bevor die schwarze Klinge zur Hälfte gezogen war, und zusammen stürzten sie um sich schlagend zu Boden. Die wenigen Menschen, die sich noch auf dem Platz befanden, flohen. »RENNT!« Durch die Luft über dem Platz zuckte ein sengendes Blau, und Thom schrie laut auf, aber selbst mitten im Schreien schaffte er es noch, ein Wort hervorzubringen: »RENNT!«
Rand gehorchte. Die Schreie des Gauklers verfolgten ihn.
Er drückte sich Thoms Bündel an die Brust und rannte, so schnell er konnte. Panik breitete sich vom Platz durch die ganze Stadt aus, als Rand und Mat auf der Schaumkrone der Angstwoge flohen. Ladeninhaber ließen ihre Waren im Stich, als die Jungen vorbeikamen. Fensterläden krachten über den Schaufenstern in ihre Halterungen herunter, und in den Fenstern der Wohnhäuser erschienen verängstigte Gesichter und verschwanden wieder. Menschen, die zu weit entfernt gewesen waren, um alles zu sehen, rannten verstört durch die Straßen und beachteten sie nicht. Sie rempelten einander an, und diejenigen, die umgerannt worden waren, mühten sich auf die Füße oder wurden vollends niedergetrampelt. Weißbrücke kochte wie ein Ameisenhaufen nach einem Fußtritt.
Als Mat und er auf die Stadttore zuhasteten, dachte Rand plötzlich daran, was Thom über seine Größe gesagt hatte. Ohne den Schritt zu verlangsamen, duckte er sich, so gut es ging, ohne daß es aussehen durfte, als ducke er sich. Aber das Tor selbst — aus dickem Holz, mit schwarzen Eisenscharnieren — stand offen. Die beiden Torwächter trugen Stahlkappen und Kettenpanzer über billig wirkenden roten Mänteln mit weißen Krägen. Sie tasteten nach ihren Hellebarden und blickten unsicher in die Stadt hinein. Einer von ihnen sah Rand und Mat an, doch sie waren ja nicht die einzigen, die durch das Tor hinausrannten. Ein stetiger Strom hetzte schnaufend hindurch; schwer atmende Männer klammerten sich an ihre Frauen, weinende Mütter trugen Babys und zerrten heulende Kinder hinter sich her; blasse Handwerker in ihren Arbeitsschürzen trugen, ohne es selbst zu bemerken, ihre Arbeitsgeräte mit hinaus.
Niemand würde später sagen können, auf welchem Weg sie die Stadt verlassen hatten, dachte Rand, als er halb betäubt weiterrannte. Thom! O Licht, rette mich, Thom!
Mat taumelte neben ihm, fing sich wieder, und sie rannten, bis die letzten fliehenden Menschen hinter ihnen zurückgeblieben waren, rannten, bis die Stadt und die Weiße Brücke weit hinter ihnen außer Sicht waren. Schließlich fiel Rand im Staub auf die Knie. Er sog in unregelmäßigen Zügen Luft in die schmerzende Kehle. Die Straße hinter ihnen war leer, bis zu den weit entfernten kahlen Bäumen hin. Mat zupfte ihn. »Komm weiter! Komm schon!« sagte Mat schwer atmend. Schweiß und Staub rannen über sein Gesicht, und er sah aus, als werde er gleich zusammenbrechen. »Wir müssen weiter.«
»Thom«, sagte Rand. Er festigte den Griff um das Bündel in Thoms Umhang; die Instrumentenkästen waren harte Klötze darin. »Thom!«
»Er ist tot. Du hast es gesehen. Du hast es gehört. Licht, Rand, er ist tot!«
»Du glaubst, Egwene und Moiraine und die anderen sind auch tot. Wenn sie tot sind, warum jagt der Myrddraal sie dann immer noch? Kannst du mir das beantworten?«
Mat fiel im Staub neben ihm auf die Knie. »In Ordnung. Vielleicht leben sie noch. Aber Thom — du hast es doch gesehen! Blut und Asche, Rand, dasselbe kann auch uns passieren.«
Rand nickte bedächtig. Die Straße hinter ihnen war immer noch leer. Er hatte halb erwartet — oder zumindest gehofft -, Thom auftauchen zu sehen, wie er vorwärtsschritt, die langen Schnurrbartenden hochpustete und ihnen sagte, was für Schwierigkeiten sie ihm bereiteten. Der Königin Segen in Caemlyn. Er stand mühsam auf und warf sich Thoms Bündel neben die Bettrolle über den Rücken. Mat blickte zu ihm auf, die Augen schmal und wachsam. »Gehen wir«, sagte Rand und setzte sich in Bewegung, die Straße hinunter in Richtung Caemlyn. Er hörte, wie Mat etwas in seinen Bart murmelte, und einen Augenblick später holte er Rand ein. Sie stapften mühsam die staubige Straße entlang, schweigend und mit gesenkten Köpfen. Der Wind brachte kleine Wirbel hervor, die über ihren Weg huschten. Manchmal blickte sich Rand um, doch die Straße hinter ihnen blieb leer.