23 Wolfsbruder

Gleich von Beginn an war Perrin klar, daß die Reise nach Caemlyn alles andere als bequem werden würde. Das begann schon damit, daß Egwene darauf bestand, sich mit ihm beim Reiten auf Bela abzuwechseln.

Sie wußten nicht, wie weit es war, sagte sie, aber es war auf jeden Fall zu weit, um sie als einzige reiten zu lassen. Das Kinn vorgestreckt, sah sie ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ich bin zu groß, um auf Bela zu reiten«, sagte er. »Ich bin ans Laufen gewöhnt, und deshalb werde ich lieber zu Fuß gehen.«

»Bin ich vielleicht nicht ans Laufen gewöhnt?« fragte Egwene in scharfem Ton. »Das habe ich nicht... «

»Ich bin diejenige, die einen wunden Hintern abbekommen soll, wie? Und wenn du so lange läufst, bis dir die Füße abfallen, dann soll ich dich wohl pflegen.«

»Ach, hör auf!« meinte er seufzend, als er den Eindruck hatte, sie wolle so weitermachen. »Jedenfalls bist du als erstes dran.« Ihr Gesicht wirkte noch sturer, doch er ließ sie nicht mehr zu Wort kommen. »Falls du nicht von allein aufsteigst, hebe ich dich hinauf.«

Sie warf ihm einen überraschten Blick zu, und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Wenn das so ist...« Sie hörte sich an, als wolle sie lachen, aber sie kletterte hinauf.

Er wandte dem Fluß den Rücken zu und brummelte vor sich hin. Die Anführer in den Abenteuergeschichten hatten sich nie mit solchen Problemen herumzuschlagen.

Egwene bestand darauf, daß er immer wieder dran kam und wenn er versuchte, es zu vermeiden, dann schimpfte sie. Als Schmied hatte man nicht unbedingt einen zarten Körperbau und Bela war auch nicht gerade ein großes Pferd. Jedesmal, wenn er seinen Fuß in den Steigbügel steckte, hätte er schwören können, daß ihn die zottige Stute vorwurfsvoll anblickte. Eine Kleinigkeit vielleicht, aber es ärgerte ihn. Bald zuckte er jedesmal zusammen, wenn Egwene ankündigte: »Du bist dran, Perrin.«

In den Abenteuergeschichten zuckten die Anführer selten zusammen, und sie ließen sich nicht herumschubsen Allerdings, überlegte er sich, hatten sie es auch nicht mit Egwene zu tun.

Sie hatten ja von Beginn an nur kleine Rationen von Brot und Käse zur Verfügung, und das wenige war am Ende des ersten Tages aufgebraucht. Perrin stellte Fallen entlang einiger mutmaßlicher Kaninchenspuren auf — sie sahen alt aus, aber es war immerhin eine Möglichkeit -während Egwene Feuer machte. Als er fertig war, entschloß er sich, es mit der Schleuder zu versuchen, bevor das letzte Tageslicht verschwunden war. Sie hatten bisher noch nichts Lebendiges gesehen, aber... Zu seiner Überraschung scheuchte er im Nu ein mageres Kaninchen auf. Er war so verblüfft, als es aus einem Busch direkt vor seinen Füßen heraushoppelte, daß er es beinahe entkommen ließ, doch dann traf er es auf etwa vierzig Fuß Entfernung, gerade als es hinter einem Baum verschwinden wollte.

Als er mit dem Kaninchen zum Lager zurückkehrte, hatte Egwene abgebrochene Zweige für das Feuer zurechtgelegt und kniete mit geschlossenen Augen neben dem Stapel. »Was tust du da? Du kannst ein Feuer nicht herbeiwünschen.«

Egwene erschrak, als er sie ansprach, drehte sich um und blickte ihn an, die Hand an der Kehle an. »Du... du hast mich erschreckt.«

»Ich hatte Glück«, sagte er und hielt das Kaninchen hoch. »Hol deinen Feuerstein und den Zunder. Heute abend können wir wenigstens mal gut essen.«

»Ich habe keinen Feuerstein«, sagte sie zögernd. »Er war in meiner Tasche, und ich habe ihn im Fluß verloren.«

»Aber wie hast du dann...?«

»Es war so leicht dort hinten am Ufer, Perrin. Genauso, wie es mir Moiraine Sedai gezeigt hat. Ich habe das Holz nur im Geist berührt, und... « Sie gestikulierte, als greife sie nach etwas, ließ dann aber seufzend die Hand fallen. »Jetzt kann ich es nicht mehr.«

Perrin leckte sich unsicher die Lippen. »Die... die Macht?« Sie nickte, und er starrte sie entgeistert an. »Bist du verrückt? Ich meine... Die Eine Macht? Du kannst doch mit so was nicht einfach herumspielen!«

»Es war so leicht, Perrin. Ich kann das. Ich kann die Macht lenken.«

Er atmete tief durch. »Ich werde einen Feuerbogen machen, Egwene. Versprich mir, daß du dieses — dieses Ding nicht wieder ausprobierst.«

»Das werde ich nicht tun.« Ihr Kinn stand wieder auf eine gewisse Art vor, die Perrin aufseufzen ließ. »Würfest du deine Axt weg, Perrin Aybara? Liefest du herum mit einer hinter dem Rücken festgebundenen Hand? Ich jedenfalls nicht!«

»Ich werde den Feuerbogen machen«, sagte er müde. »Versuch es wenigstens heute abend nicht mehr. Bitte!«

Sie stimmte ihm unwillig zu, und sogar als das Kaninchen an einem geschnitzten Spieß über dem Feuer brutzelte, hatte er das Gefühl, sie glaube es besser machen zu können. Sie gab es nicht auf und versuchte es jeden Abend aufs neue, doch das beste, was sie erreichte, war ein dünner Rauchfaden, der sofort wieder verschwand. Ihre Augen rieten ihm, er solle es ja nicht wagen, ein Wort zu sagen, und so hielt er in weiser Entscheidung den Mund.

Nach dieser einen Mahlzeit mußten sie sich wieder auf zähe wildwachsende Knollen und ein paar junge Schößlinge beschränken. Ohne ein einziges Anzeichen für den kommenden Frühling gab es selbst davon nicht viel, und diese Kost schmeckte auch nicht gerade gut. Sie beklagten sich nicht, aber es gab keine Mahlzeit, bei der nicht der eine oder andere bedauernd seufzte, und beide wußten, der andere sehnte sich genauso nach dem Geschmack von Käse und wenigstens dem Duft von Brot. Als sie eines Nachmittags in einem schattendunklen Teil des Waldes eine ganze Menge Pilze fanden — KöniginKronen, die besten von allen -, erschien ihnen das als ein großer Fund. Sie schlangen die Pilze hinunter, lachten und erzählten sich Geschichten, von zu Hause in Emondsfeld, Geschichten die so begannen: »Erinnerst du dich noch daran, als... « Aber die Pilze wie das Lachen hielten nur kurze Zeit vor. Hunger reizt kaum zum Lachen.

Derjenige, der zu Fuß ging, trug immer eine Schleuder, bereit, auf jedes Kaninchen oder Eichhörnchen zu schießen, das in Sicht kam, und das einzige Mal, als einer von beiden schoß, geschah es aus Langeweile. Die am Abend so sorgfältig ausgelegten Fallen waren am Morgen noch immer leer, und sie wagten es nicht, einen ganzen Tag am selben Fleck zu bleiben und die Fallen draußen zu lassen. Keiner von beiden wußte, wie weit es nach Caemlyn war, und beide fühlten sich nicht sicher, solange sie nicht dort waren. Perrin fragte sich allmählich, ob sein Magen bald so weit schrumpfen würde, daß er schließlich ein Loch in der Körpermitte bildete.

Sie kamen gut vorwärts, soweit er das beurteilen konnte, doch als sie sich weiter und weiter vom Arinelle entfernten, ohne auf ein Dorf oder wenigstens einen Bauernhof zu stoßen, wo sie nach dem Weg hätten fragen können, da wuchsen seine Zweifel an ihrem Plan. Egwene machte nach außen hin den gleichen selbstbewußten Eindruck wie zu Beginn, aber er war sicher, früher oder später würde sie ihm vorwerfen, es wäre besser gewesen, ein Zusammentreffen mit den Trollocs zu riskieren, als den Rest ihres Lebens verirrt herumwandernd zu verbringen. Sie sagte es nicht, aber er erwartete es weiterhin.

Zwei Tagesmärsche vom Fluß entfernt änderte sich der Charakter der Landschaft. Sie kamen in ein dicht bewaldetes Hügelgebiet, das immer vom kalten Griff des Winters umklammert war. Einen Tag später wurden die Hügel niedriger, und der dichte Wald wurde durch Lichtungen unterbrochen, die manchmal eine Meile oder noch breiter waren. In verborgenen Senken lag immer noch Schnee, die Luft war morgenfrisch und der Wind immer kalt. Sie sahen nirgends eine Straße, ein gepflügtes Feld, Rauch aus einem Schornstein in der Ferne oder irgendein anderes Zeichen menschlicher Besiedlung -jedenfalls nichts, was noch bewohnt gewesen wäre.

Einmal fanden sie die Überreste mächtiger steinerner Befestigungen, die sich um die Spitze eines Hügels herumzogen. Innerhalb des Rings umgestürzter Steine standen Teile von Häusern, deren Dächer eingefallen waren. Der Wald hatte alles längst geschluckt; Bäume wuchsen überall, und spinnwebengleich bedeckten alte Ranken die großen Steinblöcke. An einem anderen Tag entdeckten sie einen steinernen Turm, braun von altem Moos und mit eingestürztem Dach, der schräg an eine riesigen Eiche gelehnt stand, deren dicke Wurzeln ihn langsam zum Kippen brachten. Aber sie fanden keinen Ort, an dem zu ihren Lebzeiten noch Menschen gehaust hatten. Erinnerungen an Shadar Logoth hielten sie von den Ruinen fern und beschleunigten ihren Schritt, bis sie sich wieder tief im Wald in Gegenden befanden, die noch nie eines Menschen Fuß betreten zu haben schienen.

Träume peinigten Perrin im Schlaf, Angstträume. Ba'alzamon war darin, jagte ihn durch Labyrinthe, verfolgte ihn, aber soweit er sich später erinnern konnte, stand er ihm nie Auge in Auge gegenüber. Und ihre Reise war ja nun auch derart verlaufen, daß man davon ein paar schlimme Träume bekommen konnte. Egwene klagte über Alpträume von Shadar Logoth, besonders in den beiden Nächten, nachdem sie die verfallene Festung und den verlassenen Turm gefunden hatten. Perrin behielt alles für sich, wenn er schwitzend und zitternd in der Dunkelheit erwachte. Sie erwartete von ihm, daß er sie sicher nach Caemlyn führte und nicht, daß er seine Sorgen, gegen die sowieso nichts zu machen war, mit ihr teilte.

Er ging vorn neben Bela her und fragte sich, ob sie heute abend irgend etwas zu essen finden würden, da fiel ihm zum ersten Mal dieser Geruch auf. Die Stute blähte die Nüstern und drehte im nächsten Moment den Kopf. Er packte ihr Zaumzeug, bevor sie wiehern konnte.

»Das ist Rauch«, sagte Egwene aufgeregt. Sie beugte sich im Sattel vor und holte tief Luft. »Ein Lagerfeuer. Jemand brät gerade sein Abendessen. Kaninchen.«

»Vielleicht«, sagte Perrin vorsichtig, und ihr erfreutes Lächeln schwand. Er tauschte seine Schleuder gegen den bösartig schimmernden Halbmond der Axt aus. Seine Hände schlossen sich und lösten sich unsicher wieder von ihrem dicken Schaft. Es war eine Waffe doch weder seine heimlichen Übungsstunden hinter der Schmiede noch der Unterricht Lans hatten ihn wirklich darauf vorbereitet, sie als solche zu benützen. Selbst der Kampf vor Shadar Logoth war in seiner Erinnerung zu verschwommen, um ihm Selbstvertrauen einzuflößen. Und er konnte auch nie richtig mit dieser Leere arbeiten, über die Rand und auch der Behüter gesprochen hatten. Sonnenschein fiel schräg zwischen den Ästen hinter ihnen durch, und der Wald war immer noch eine ruhige Masse fleckiger Schatten. Der schwache Geruch eines Holzfeuers umgab sie, gewürzt mit dem Aroma bratenden Fleisches. Es könnte Kaninchen sein, dachte er, und sein Magen knurrte. Es könnte auch etwas anderes sein, rief er sich in den Sinn. Er sah Egwene an, und sie beobachtete ihn. Anführer zu sein bedeutete Verantwortung.

»Warte hier«, sagte er sanft. Sie zog die Stirn kraus, aber kaum hatte sie den Mund geöffnet, da schnitt er ihr das Wort ab. »Und sei leise! Wir wissen noch nicht, wer es ist.« Sie nickte — zögernd zwar, aber immerhin. Perrin fragte sich, warum das nicht auch so sein konnte, wenn er versuchte, sie dazu zu überreden, daß nur sie auf dem Pferd ritt. Er holte tief Luft und ging los, auf die Quelle des Rauchs zu.

Er hatte nicht soviel Zeit in den Wäldern um Emondsfeld herum verbracht wie Rand und Mat, aber er hatte durchaus auch eine Menge Kaninchen gejagt. Er schlich von Baum zu Baum, ohne auch nur ein winziges Ästchen zu zertreten. Es dauerte nicht lang, und er spähte hinter dem Stamm einer hohen Eiche mit weit ausladenden, gekrümmten Zweigen, die sich zum Boden hin senkten und dann wieder nach oben wuchsen, hervor. Dahinter befand sich ein Lagerfeuer, und ein großer, von der Sonne gebräunter Mann lehnte nicht weit von den Flammen entfernt an einem der Eichenzweige.

Wenigstens war es also kein Trolloc, doch es war wohl der eigenartigste Bursche, den Perrin je gesehen hatte. Zum einen schienen seine Kleidungsstücke ausnahmslos aus Tierhäuten genäht, mitsamt dem Fell darauf, selbst seine Stiefel und die seltsame runde, abgeflachte Kappe auf seinem Kopf. Sein Umhang zeigte ein verrücktes Muster aus Kaninchen- und Eichhörnchenfellen; die Hose schien er aus dem Fell langhaariger brauner und weißer Ziegen gefertigt zu haben. Sein bereits graufleckiges braunes Haar hing ihm bis auf die Hüften hinunter und war im Nacken mit einem Lederstrick zusammengebunden. Ein dichter Bart reichte bis auf die halbe Brust herunter. An seinem Gürtel hing ein langes Messer, schon fast ein Schwert zu nennen, und Bogen und Köcher hatte er in Reichweite an einen Ast gelehnt.

Der Mann hatte sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnt und schlief anscheinend, doch Perrin rührte sich nicht in seinem Versteck. Sechs Stöcke hatte der Bursche über das Feuer gehängt, und an jedem Stock hing ein abgehäutetes Kaninchen. Sie waren bereits braun geröstet, und manchmal tropfte Saft herunter, der in den Flammen aufzischte. Der Geruch, noch dazu aus dieser Nähe, ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Hast du dich sattgesehen?« Der Mann öffnete ein Auge und sah zu Perrins Versteck herüber. »Du und deine Freundin, ihr könnt euch genausogut hersetzen und etwas essen. Ich habe die letzten Tage über nicht gesehen, daß ihr viel gegessen hättet.«

Perrin zögerte und stand dann langsam auf, wobei er seine Axt mit festem Griff hielt. »Habt Ihr mich etwa zwei Tage lang beobachtet?«

Der Mann lachte kehlig. »Ja, ich habe dich beobachtet. Und dieses hübsche Mädchen. Sie schubst dich herum wie einen jungen Gockel, nicht wahr? Habe euch vor allem gehört. Das Pferd ist das einzige von euch, das nicht so laut herumtrampelt, daß man es auf fünf Meilen Entfernung noch hören kann. Willst du sie herbitten, oder möchtest du alle Kaninchen allein essen?«

Perrin war empört; er wußte, daß er keineswegs viel Lärm verursachte. Man konnte im Wasserwald nicht nahe genug an ein Kaninchen herankommen, um es mit der Schleuder zu erlegen, wenn man Lärm machte. Aber der Geruch der brutzelnden Kaninchen erinnerte ihn daran, daß Egwene auch hungrig war, ganz davon zu schweigen, daß sie darauf wartete zu erfahren, ob es denn nun ein Trolloc-Feuer sei, das sie gerochen hatten. Er steckte den Schaft seiner Axt in die Gürtelschlaufe und hob die Stimme: »Egwene! Alles klar! Es ist tatsächlich Kaninchen!« Er streckte dem Mann die Hand hin und fügte in normaler Lautstärke hinzu: »Ich heiße Perrin. Perrin Aybara.«

Der Mann blickte die Hand an, bevor er sie ungeschickt ergriff, als sei er nicht daran gewöhnt, Hände zu schütteln. »Man nennt mich Elyas«, sagte er und blickte auf. »Elyas Machera.«

Perrin schnappte nach Luft und ließ Elyas Hand beinahe los. Die Augen des Mannes waren gelb, wie hellglänzendes Gold. Irgendeine Erinnerung kitzelte Perrins Verstand ganz kurz und war dann wieder verflogen. Alles, woran er in dem Moment denken konnte war, daß sämtliche Trolloc-Augen, die er gesehen hatte, fast schwarz gewesen waren.

Egwene erschien, vorsichtig Bela am Zügel hinter sich herziehend. Sie band die Zügel der Stute an einen der kleineren Äste der Eiche und sprach ein paar höfliche Worte, als Perrin sie vorstellte, doch ihre Augen kehrten immer wieder zu den Kaninchen zurück. Sie schien die Augen des Mannes nicht zu bemerken. Als Elyas sie zum Essen aufforderte, machte sie sich mit Eifer darüber her. Perrin zögerte noch ein wenig, doch dann folgte er ihrem Beispiel. Elyas wartete schweigend, während sie aßen. Perrin hatte solchen Hunger, daß er ganze Fleischstücke losriß, doch sie waren so heiß, daß er sie von Hand zu Hand jongliertes bis er sie in den Mund stecken konnte. Selbst Egwene zeigte diesmal nicht ihre sonst so einwandfreien Manieren; fettiger Saft rann ihr am Kinn herunter. Der Tag neigte sich zur Dämmerung, bis ihre Gier endlich ein wenig nachließ. Eine mondlose Dunkelheit senkte sich über sie, und dann sprach Elyas.

»Was macht ihr hier draußen? Es gibt auf fünfzig Meilen in der Umgebung kein einziges Haus!«

»Wir gehen nach Caemlyn«, sagte Egwene. »Vielleicht könntet Ihr...« Ihre Augenbrauen hoben sich kühl, als Elyas den Kopf zurückwarf und schallend lachte. Perrin starrte ihn an; mit einem Kaninchenbein hielt er auf halbem Weg zum Mund inne.

»Caemlyn?« Elyas Atem pfiff, als er wieder zu sprechen in der Lage war. »Der Weg, den ihr eingeschlagen habt, die Richtung, in der ihr die letzten beiden Tage gelaufen seid, werden euch zweihundert Meilen oder mehr nördlich an Caemlyn vorbeiführen.«

»Wir wollten nach dem Weg fragen«, sagte Egwene rechtfertigend. »Aber wir haben noch kein Dorf und keinen Bauernhof gefunden.«

»Das werdet ihr auch nicht«, sagte Elyas lachend. »Wenn ihr so weitergeht, dann könnt ihr bis zum Rückgrat der Welt laufen, ohne einen anderen Menschen zu treffen. Natürlich, falls ihr es fertigbringt, das Rückgrat zu erklimmen — an ein paar Stellen kann man das schaffen -, findet ihr in der Aiel-Wüste Menschen, aber es würde euch dort nicht gefallen. Ihr würdet bei Tag vor Hitze vergehen und bei Nacht erfrieren und zu jeder Zeit verdursten. Man muß schon ein Aielmann sein, um in der Wüste Wasser zu finden, und die mögen Fremde nicht besonders. Nein, ganz bestimmt nicht, würde ich sagen.« Er brach erneut in noch schallenderes Lachen aus und wälzte sich dabei doch tatsächlich am Boden. »Bestimmt nicht sehr«, brachte er heraus.

Perrin verlagerte unsicher sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Essen wir hier mit einem Wahnsinnigen?

Egwene runzelte die Stirn, aber sie wartete, bis Elyas Lachanfall schwächer wurde, und sagte dann: »Vielleicht könnt Ihr uns den Weg zeigen? Ihr scheint sehr viel mehr über die Lage der Ortschaften zu wissen als wir.«

Elyas hörte auf zu lachen. Er hob den Kopf, setzte seine runde Fellkappe wieder auf, die ihm heruntergefallen war, als er sich herumwälzte, und sah sie etwas finsterer als vorher an. »Ich mag Menschen nicht besonders«, sagte er mit tonloser Stimme. »Die Städte sind voll von Menschen. Ich nähere mich nur selten Dörfern oder auch Bauernhöfen. Dorfbewohner oder Bauern mögen meine Freunde nicht. Ich hätte auch euch nicht geholfen, wenn ihr nicht so hilflos und unschuldig wie neugeborene Welpen herumgestolpert wärt.«

»Aber wenigstens könnt Ihr uns sagen, in welcher Richtung wir weitergehen sollen«, beharrte sie. »Wenn Ihr uns den Weg zum nächsten Dorf zeigt, und sei es fünfzig Meilen entfernt, wird man uns dort sicher sagen, wie wir nach Caemlyn kommen.«

»Seid still!« sagte Elyas. »Meine Freunde kommen.«

Bela wieherte plötzlich angstvoll und zerrte an ihren Zügeln. Perrin stand halb auf, als überall um sie herum im düsteren Wald dunkle Gestalten erschienen. Bela bäumte sich auf und verdrehte sich laut wiehernd.

»Beruhigt die Stute«, sagte Elyas. »Sie werden ihr nichts tun. Euch auch nicht, wenn ihr ruhig seid.«

Vier Wölfe traten in den Feuerschein, zerzauste hüfthohe Gestalten mit Gebissen, die ein Männerbein brechen konnten. Als seien die Menschen nicht vorhanden, gingen sie zum Feuer und legten sich zwischen ihnen hin. In der Dunkelheit unter den Bäumen spiegelte sich der Feuerschein auf allen Seiten in den Augen weiterer Wölfe.

Gelbe Augen, dachte Perrin. Wie Elyas Augen. Das war es, was ihm vorher nicht mehr eingefallen war. Er beobachtete die Wölfe zwischen ihnen scharf und griff nach seiner Axt.

»Das würde ich nicht tun«, sagte Elyas. »Wenn sie glauben, du wolltest ihnen etwas tun, werden sie sich nicht mehr so freundlich verhalten.«

Perrin bemerkte, daß ihn alle vier Wölfe anblickten. Er hatte sogar das Gefühl, daß ihn alle Wölfe, auch die zwischen den Bäumen hinten, anstarrten. Seine Haut juckte. Vorsichtig bewegte er die Hände von der Axt weg. Er bildete sich ein, daß er fühlen konnte, wie die Anspannung unter den Wölfen nachließ. Langsam setzte er sich wieder hin. Seine Hände zitterten, und er umfaßte seine Knie, um das Zittern zu beenden. Egwene saß so steif da, daß auch sie vor Anspannung beinahe zu beben schien. Ein Wolf, fast schwarz mit einem helleren, grauen Fleck am Kopf, lag so nahe bei ihr, daß er sie beinahe berührte.

Bela hatte aufgehört zu wiehern und sich aufzubäumen. Statt dessen stand sie jetzt zitternd und in ständiger nervöser Bewegung da und bemühte sich, alle Wölfe gleichzeitig im Blickfeld zu behalten. Manchmal schlug sie ein wenig aus, um den Wölfen zu beweisen, daß sie das konnte und ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen würde. Die Wölfe schienen sie und die Menschen gar nicht zu beachten. Die Zungen hingen ihnen aus den Schnauzen, und sie warteten ganz entspannt.

»Jawohl«, sagte Elyas. »So ist es besser.«

»Sind sie zahm?« fragte Egwene leise und hoffnungsvoll. »Sind sie so was wie... Haustiere?«

Elyas schnaubte. »Wölfe kann man nicht zähmen, Mädchen, jedenfalls nicht so gut wie Menschen. Sie sind meine Freunde. Wir leisten uns gegenseitig Gesellschaft, jagen miteinander und unterhalten uns in gewisser Weise. Wie eben unter Freunden üblich. Stimmt's, Scheckie?« Eine Wölfin mit einem Fell, das ein Dutzend verschiedener heller und dunkler Grautöne aufwies, hob den Kopf und wandte ihn Elyas zu.

»Ihr sprecht mit ihnen?« staunte Perrin.

»Es ist eigentlich kein Sprechen«, erwiderte Elyas bedächtig. »Die Worte spielen keine Rolle, und sie stimmen auch nicht ganz, wenn man es genau nimmt. Sie heißt nicht wirklich Scheckie. In Wirklichkeit drückt ihr Name etwa aus, wie die Schatten an einem Mitwinterabend über einen Waldteich spielen, dessen Oberfläche sich im Wind kräuselt, und dazu den Geschmack von Eis, wenn das Wasser die Zunge berührt, und eine Andeutung von Schnee in der Luft, bevor die Nacht anbricht. Aber auch das drückt es nicht vollständig aus. Man kann es nicht in Worte fassen. Es ist mehr ein Gefühl. So sprechen die Wölfe. Die anderen hier sind Brand, Springer und Wind.« Brand hatte eine alte Narbe an der Schulter, von der sein Name herrühren mochte, aber an den beiden anderen Wölfen war nichts, was auf die Herkunft ihrer Namen hätte schließen lassen.

Obwohl Elyas so barsch wirkte, glaubte Perrin, er sei dennoch froh über die Gelegenheit, mit anderen Menschen zu sprechen. Er schien es auf jeden Fall zu genießen. Perrin beäugte die im Feuerschein schimmernden Wolfszähne und entschied, es sei auf jeden Fall besser, Elyas durch ihr Gespräch bei Laune zu halten. »Wie... wie habt Ihr gelernt, mit den Wölfen zu sprechen, Elyas?«

»Sie haben das herausgefunden«, antwortete Elyas, »nicht ich. Jedenfalls nicht zuerst. Wie ich jetzt weiß, geht das immer so. Die Wölfe finden dich, nicht umgekehrt. Einige Leute glaubten, ich sei vom Dunklen König besessen, weil immer Wölfe dort auftauchten, wo ich mich aufhielt. Ich glaube, manchmal dachte ich das auch. Die meisten anständigen Leute mieden mich, und diejenigen, die den Kontakt mit mir suchten, waren so oder so nicht gerade solche Leute, wie ich sie eigentlich kennenlernen wollte. Dann bemerkte ich, daß die Wölfe manchmal zu wissen schienen, was ich dachte, und auf das reagierten, was in meinem Kopf vorging. Das war der echte Beginn. Sie waren neugierig in bezug auf mich. Die Wölfe fühlen normalerweise das Herannahen von Menschen, aber nicht auf diese Weise. Sie waren froh, mich gefunden zu haben. Sie sagen, es sei lange Zeit her, seit sie mit Menschen zusammen jagten. Und wenn sie von ›langer Zeit‹ reden, dann fühlt sich das an wie ein kalter Wind, der seit dem Ersten Tag her die ganze Zeit über heult.«

»Ich habe noch nie davon gehört, daß Menschen zusammen mit Wölfen jagen«, sagte Egwene. Ihre Stimme klang nicht sehr fest, aber schon die Tatsache, daß die Wölfe einfach nur so dalagen, schien ihr Mut zu verleihen.

Elyas zeigte durch nichts, daß er sie gehört hatte. »Die Wölfe erinnern sich auf andere Art als die Menschen«, sagte er. Seine fremdartigen Augen blickten in die Ferne, als treibe er selbst auf dem Strom der Erinnerungen davon. »Jeder Wolf erinnert sich an die Geschichte aller Wölfe, oder zumindest an den ungefähren Verlauf. Wie ich schon sagte: Man kann das schlecht in Worte fassen. Sie erinnern sich daran, Seite an Seite mit Menschen Beute gejagt zu haben, aber das war vor so langer Zeit, daß es eher schon der Schatten eines Schattens ist und keine unmittelbare Erinnerung.«

»Das ist sehr interessant«, sagte Egwene, und Elyas sah sie mit forschendem Blick an. »Wirklich, ich meine es so. Es ist interessant.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Könntet... äh... könntet Ihr uns beibringen, mit ihnen zu sprechen?«

Elyas schnaubte wieder. »Das kann man niemandem beibringen. Einige können es, andere nicht. Sie sagen, daß er es kann.« Er deutete auf Perrin.

Perrin blickte auf Elyas Finger, als sei es ein Messer. Er ist wirklich verrückt. Die Wölfe starrten ihn wieder an. Er rutschte unruhig hin und her.

»Ihr sagt, ihr geht nach Caemlyn«, sagte Elyas, »aber das erklärt noch nicht, was ihr hier draußen treibt, Tage entfernt von irgendwo.« Er warf seinen aus Fellstücken genähten Umhang von den Schultern und legte sich hin. Er lag auf der Seite, hatte sich mit einem Ellenbogen aufgestützt und wartete gespannt.

Perrin sah hinüber zu Egwene. Zuvor hatten sie sich eine Geschichte ausgedacht, die sie Leuten erzählen wollten, wenn sie welche fanden, um zu erklären, was sie hier machten, ohne sich damit in Schwierigkeiten zu bringen. Ohne irgend jemanden wissen zu lassen, woher sie wirklich kamen oder wohin sie tatsächlich wollten. Wer konnte wissen, welches unvorsichtig ausgesprochene Wort das Ohr eines Blassen erreichte? Sie hatten jeden Tag daran gearbeitet, die Einzelheiten zusammengetragen und Fehlerquellen beseitigt. Und sie hatten beschlossen, daß Egwene erzählen sollte. Sie konnte besser mit Worten umgehen als er, und sie behauptete, sie könne ihm immer am Gesicht ablesen, wann er log.

Egwene begann sofort, flüssig zu erzählen. Sie kamen aus dem Norden, aus Saldaea, von Bauernhöfen in der Nähe eines winzigen Dorfes. Keiner von ihnen war zuvor mehr als zwanzig Meilen weit von zu Hause weg gewesen. Aber sie hatten den Geschichten der Gaukler und der Kauffahrer gelauscht, und sie wollten etwas von der Welt sehen. Caemlyn und Illian. Das Meer der Stürme und vielleicht sogar die sagenhaften Inseln des Meervolkes.

Perrin hörte zufrieden zu. Nicht einmal Thom Merrilin hätte aus dem wenigen, was sie über die Welt außerhalb der Zwei Flüsse wußten, eine bessere Geschichte machen können, oder eine, die diesem Zweck besser entsprochen hätte.

»Aus Saldaea, eh?« sagte Elyas, als sie fertig war.

Perrin nickte. »Das stimmt. Wir dachten daran, zuerst Maradon zu besuchen. Ich würde gern den König sehen. Aber die Hauptstadt ist natürlich der erste Ort, an dem unsere Väter suchen wurden.«

Das war sein Beitrag, um klarzustellen, daß sie nie in Maradon gewesen waren. Dann konnte nämlich niemand von ihnen erwarten, daß sie etwas über diese Stadt wußten, falls sie jemandem begegneten, der wirklich schon dort gewesen war. Das war alles weit weg von Emondsfeld und den Ereignissen der Winternacht. Niemand, der diese Geschichte hörte, würde dabei an Tar Valon oder die Aes Sedai denken.

»Eine ganz nette Geschichte.« Elyas nickte. »Ja, wirklich eine feine Geschichte. Ein paar Sachen daran stimmen nicht, aber die Hauptsache ist natürlich, daß Scheckie sagt, es sei alles ein Haufen Lügen. Jedes Wort erlogen.«

»Lügen!« rief Egwene. »Warum sollten wir wohl lügen?«

Die vier Wölfe hatten sich nicht bewegt, doch nun schienen sie nicht mehr einfach nur so am Feuer zu liegen.

Statt dessen kauerten sie dort, und ihre gelben Augen starrten die Emondsfelder unverwandt an. Perrin sagte nichts, aber seine Hände verirrten sich zu der Axt an seiner Hüfte. Die vier Wölfe erhoben sich mit einer schnellen Bewegung, und seine Hände erstarrten. Sie gaben keinen Laut von sich, doch die dichten Nackenhaare sträubten sich. Einer der Wölfe unter den Bäumen schickte ein grollendes Heulen in den Nachthimmel. Andere antworteten, fünf, zehn, zwanzig, bis die Dunkelheit unter ihrem Heulen erzitterte. Dann schwiegen sie unvermittelt. Kalter Schweiß lief Perrin übers Gesicht.

»Wenn Ihr glaubt...« Egwene unterbrach sich, um zu schlucken. Trotz der kalten Luft stand auch auf ihr Schweiß im Gesicht. »Wenn Ihr glaubt, daß wir lügen, dann ist es euch wohl lieber, daß wir uns für die Nacht unser eigenes Lager bereiten, von Eurem ein Stück entfernt.«

»Das wäre mir normalerweise schon lieber, Mädchen. Aber jetzt möchte ich endlich etwas von den Trollocs und den Halbmenschen hören.« Perrin bemühte sich, das Gesicht nicht zu verziehen, und er hoffte, daß es ihm besser gelang als Egwene. Elyas fuhr im leichten Plauderton fort: »Scheckie sagt, sie habe in euren Köpfen Halbmenschen und Trollocs gewittert, als ihr diese närrische Geschichte erzählt habt. Alle haben es gespürt. Ihr seid auf irgendeine Weise mit den Trollocs und den Augenlosen verwickelt. Die Wölfe hassen Trollocs und Halbmenschen noch mehr als einen Waldbrand, mehr als alles auf der Welt, genau wie ich.

Brand möchte euch loshaben. Es waren Trollocs, die ihm diese Verwundung beibrachten, als er noch ein Jährling war. Er sagt, daß Beute im Moment rar sei, und ihr seid fetter als alle Hirsche, die er in letzter Zeit gesehen hat; er schlägt vor, wir sollten euch auffressen.

Aber Brand ist immer ungeduldig. Warum erzählt ihr mir nicht die Wahrheit? Ich hoffe, Ihr seid keine Schattenfreunde. Es gefällt mir nicht, Leute zu töten, die ich zuvor gefüttert habe. Denkt nur daran, daß sie wissen werden, wann ihr lügt, und sogar Scheckie ist mittlerweile fast genauso aufgebracht wie Brand.« Seine Augen, gelb wie die der Wölfe, starrten sie ebenfalls ohne Zwinkern an. Das sind die Augen eines Wolfs, dachte Perrin.

Egwene sah ihn an. Er bemerkte, daß sie auf seine Entscheidung wartete, was zu tun sei. Aha, plötzlich bin ich wieder der Anführer. Sie hatten gleich zu Beginn beschlossen, daß sie es einfach nicht riskieren konnten, jemandem die wahre Geschichte zu erzählen, aber er sah keine Möglichkeit, so davonzukommen, selbst wenn er es schaffte, seine Axt zu ziehen, bevor...

Scheckie grollte tief in der Kehle, und die anderen drei am Feuer und danach auch die Wölfe in der Dunkelheit schlossen sich dem Laut an. Das bedrohliche Grollen erfüllte die Nacht.

»In Ordnung«, sagte Perrin schnell. »In Ordnung!« Das Grollen brach scharf und schnell ab. Egwene entspannte die verkrampften Hände und nickte. »Es begann alles ein paar Tage vor Winternacht«, fing Perrin an, »als unser Freund Mat einen Mann mit einem schwarzen Umhang sah... «

Elyas hörte mit gleichbleibendem Gesichtsausdruck zu und veränderte auch seine Lage am Boden nicht, doch da war etwas an der Neigung seines Kopfes, das ein Ohrenspitzen andeutete. Die vier Wölfe setzten sich hin, als Perrin erzählte; er hatte den Eindruck, daß auch sie lauschten. Die Geschichte war lang, und er berichtete fast alles. Allerdings behielt er den Traum, den er und die anderen in Baerlon gehabt hatten, für sich. Er wartete darauf, daß die Wölfe mit irgendeinem Anzeichen zu erkennen gaben, daß sie das Auslassen bemerkt hatten, aber sie beobachteten ihn nur. Scheckie erschien ihm freundlich, während Brand zornig war. Als er schließlich geendet hatte, war er heiser.

»... und wenn sie uns in Caemlyn nicht findet, gehen wir weiter nach Tar Valon. Wir haben keine andere Wahl, als die Hilfe der Aes Sedai in Anspruch zu nehmen.«

»Trollocs und Halbmenschen so weit im Süden«, grübelte Elyas laut. »Das ist nun etwas, worüber man sich Gedanken machen muß.« Er griff nach hinten und warf Perrin einen ledernen Wasserbeutel zu, ohne ihn dabei anzusehen. Er schien nachzudenken. Er wartete, bis Perrin getrunken hatte, und steckte den Stöpsel wieder hinein, bevor er weitersprach: »Ich halte nicht viel von den Aes Sedai. Die Roten Ajah, das sind diejenigen, die nach Männern suchen, die mit der Einen Macht herumspielen. Sie wollten sich einst mit mir anlegen. Ich sagte ihnen ins Gesicht, sie seien Schwarze Ajah und dienten dem Dunklen König, und das gefiel ihnen gar nicht. Sie konnten mich aber nicht fangen, als ich einmal im Wald war. Doch sie taten ihr Bestes. Allerdings, wenn ich richtig überlege, bezweifle ich, daß mich irgendwelche Aes Sedai noch freundlich behandeln wurden. Die Roten Ajah haben ein paar Behüter verloren. War keine schöne Geschichte, Behüter zu töten. Ich mag das nicht.«

»Dieses Mit-den-Wölfen-Sprechen«, sagte Perrin gedrückt. »Hat... hat das mit der Macht zu tun?«

»Natürlich nicht!« grollte Elyas. »Sie hätten mich niemals von etwas abbringen können, aber daß sie es versuchten, hat mich wild gemacht. Das hier ist eine alte Sache, Junge. Älter als die Aes Sedai. Älter als alle, die je die Eine Macht benutzten. So alt wie die Menschheit. So alt wie die Wölfe. Auch das gefällt den Aes Sedai nicht. Daß alte Dinge wiederkehren. Ich bin nicht der einzige.

Es gibt noch andere Dinge, andere Leute. Das macht die Aes Sedai nervös; sie schimpfen, daß die alten Barrieren immer schwächer werden. Alles bricht auseinander, behaupten sie. Sie haben Angst, daß der Dunkle König freikommt, ganz bestimmt. So wie ein paar von denen mich ansahen, hätte man denken können, es sei alles meine Schuld. Natürlich die Roten Ajah, aber auch ein paar andere. Der Amyrlin-Sitz... Aaaah! Ich halte mich von ihnen und den Freunden der Aes Sedai fern. Das solltet ihr auch, wenn ihr schlau seid.«

»Nichts lieber als das«, sagte Perrin.

Egwene blickte ihn durchdringend an. Er hoffte, sie werde nicht damit herausplatzen, daß sie eine Aes Sedai werden wolle. Aber sie sagte nichts, auch wenn sich ihre Mundpartie straffte, und Perrin fuhr fort: »Aber wir haben eben keine Wahl. Trollocs haben uns gejagt, ebenso Blasse und Draghkar. Alle außer den Schattenfreunden. Wir können uns nicht verstecken, und wir können nicht allein dagegen ankämpfen. Also, wer hilft uns dann? Wer sonst wäre stark genug, außer eben den Aes Sedai?«

Elyas schwieg eine Weile und betrachtete die Wölfe -vor allem Scheckie und Brand. Perrin rutschte nervös hin und her und bemühte sich, nicht hinzusehen. Wenn er hinblickte, hatte er das Gefühl, er könne beinahe hören, was sich Elyas und die Wölfe zu sagen hatten. Selbst wenn es nichts mit der Macht zu tun hatte, wollte er nichts davon wissen. Er muß sich da einen verrückten Scherz erlaubt haben. Ich kann nicht mit Wölfen sprechen. Einer der Wölfe, Springer, glaubte er, sah ihn an und schien zu grinsen. Er fragte sich, woher er den richtigen Namen gewußt hatte. »Ihr könntet bei mir bleiben«, sagte Elyas schließlich. »Bei uns.« Egwenes Augenbrauen schossen nach oben, und Perrins Mund klappte auf. »Na ja, wo könntet ihr wohl sicherer sein?« sagte Elyas herausfordernd. »Die Trollocs benützen jede Gelegenheit, einen einzelnen Wolf zu töten, aber sie machen einen meilenweiten Umweg, um ein ganzes Rudel zu meiden. Und ihr braucht euch auch keine Gedanken über die Aes Sedai zu machen. Sie kommen nicht oft in diese Wälder.«

»Ich weiß nicht.« Perrin vermied es, die Wölfe an seiner Seite anzublicken. Die eine war Scheckie, und er konnte ihren Blick auf sich ruhen fühlen. »Es geht nicht nur um die Trollocs.«

Elyas lachte kalt. »Ich habe schon gesehen, wie ein Rudel sogar einen der Augenlosen zerrissen hat. Wir haben das halbe Rudel verloren, aber sie gaben nicht auf, sobald sie seine Witterung hatten. Trollocs, Myrddraal, das ist für die Wölfe alles dasselbe. Du bist es, den sie wirklich wollen, Junge. Sie haben von anderen Männern gehört, die mit den Wölfen sprechen können, aber du bist der erste außer mir, den sie je getroffen haben. Sie werden auch deine Freundin akzeptieren, und hier seid ihr sicherer als in jeder Stadt. In den Städten gibt es Schattenfreunde.«

»Hört mal«, sagte Perrin nachdrücklich. »Ich wünschte, Ihr würdet aufhören, so was zu sagen. Ich kann nicht das tun was Ihr tut, wie Ihr sagt.«

»Wie du willst, Junge. Spiele ruhig den Esel, wenn es dir gefällt. Willst du nicht in Sicherheit sein?«

»Ich betrüge mich doch nicht selbst. Es gibt nichts, womit ich mich selbst betrügen könnte. Alles, was wir wollen... «

»Wir gehen nach Caemlyn«, sagte Egwene mit fester Stimme. »Und dann nach Tar Valon.«

Er schloß den Mund, und dann sah Perrin sie genauso ärgerlich an, wie sie ihn. Er wußte, daß sie seiner Führung folgte, wenn sie wollte, und wenn sie nicht wollte, dann eben nicht, aber sie konnte ihn wenigstens für sich selbst sprechen lassen. »Wie steht's mit dir, Perrin?« sagte er und antwortete dann gleich selbst: »Ich? Na ja, laß mich mal überlegen. Ja. Ich denke, ich werde mitgehen.« Er warf ihr ein Lächeln zu. »Also Egwene, dann sind wir schon zu zweit. Ich schätze, ich werde wohl mit dir zusammenbleiben. Gut, so was auszudiskutieren, bevor man sich entscheidet, nicht wahr?« Sie wurde rot, doch ihr Kinn blieb unverändert vorgestreckt.

Elyas brummte. »Scheckie hat gesagt, daß ihr euch so entscheiden würdet. Sie sagte, das Mädchen sei fest in der Welt der Menschen verankert, während du« — er nickte Perrin zu — »zur Hälfte zwischen den Welten stehst. Unter den gegebenen Umständen denke ich, wir gehen besser mit euch zusammen in den Süden. Sonst verhungert ihr vielleicht noch oder verirrt euch oder... «

Plötzlich stand Brand auf, und Elyas drehte den Kopf, um den großen Wolf anzublicken. Einen Moment später stand auch Scheckie auf. Sie stellte sich dicht neben Elyas, so daß auch sie Brands Blick erwidern konnte. Die Szene erstarrte minutenlang. Dann wirbelte Brand herum und verschwand in der Nacht. Scheckie schüttelte sich und nahm dann ihren Platz wieder ein. Sie ließ sich zu Boden fallen, als sei nichts geschehen.

Elyas sah in Perrins fragende Augen. »Scheckie ist Anführerin dieses Rudels«, erklärte er. »Ein paar von den Männchen könnten sie besiegen, wenn sie sie herausforderten, aber sie ist klüger als alle anderen, und das wissen sie alle. Sie hat mehr als einmal das Rudel gerettet. Aber Brand glaubt, das Rudel verschwende nur seine Zeit mit euch dreien. Alles, woran er denken kann, ist sein Haß auf die Trollocs, und wenn sich schon Trollocs so weit im Süden befinden, dann will er los und sie töten.«

»Wir verstehen das schon«, sagte Egwene, die erleichtert klang. »Wir können wirklich unseren eigenen Weg finden... wenn Ihr uns nur die Richtung zeigt.«

Elyas wehrte mit einer Handbewegung ab. »Ich sagte, daß Scheckie dieses Rudel führt, oder? Am Morgen breche ich mit euch in den Süden auf, und sie gehen mit.« Egwene sah aus, als sei das nicht unbedingt die beste Nachricht, die sie je erhalten hatte.

Perrin hüllte sich in Schweigen. Er konnte fühlen, wie Brand weglief. Und der Rüde mit der Narbe war nicht der einzige; ein Dutzend andere, alles junge Rüden, sprang ihm nach. Er wollte gern glauben, daß er das nur Elyas Überzeugungskraft und seiner eigenen Einbildung verdankte, doch es war umsonst. Bevor die aufbrechenden Wölfe aus seinem Geist verschwanden, fühlte er noch einen Gedanken, von dem er wußte, daß er von Brand stammte, so scharf und klar, als sei es sein eigener. Haß. Haß und den Geschmack von Blut.

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