Der Wind peitschte Lans Umhang, so daß er manchmal sogar im Sonnenschein kaum zu erkennen war. Ingtar und die hundert Lanzen, die Lord Agelmar mitgeschickt hatte, um sie für den Fall eines Trolloc-Überfalls bis an die Grenze zu begleiten, sahen prachtvoll aus, wie sie in einer Doppelreihe in glänzenden Rüstungen mit roten Wimpeln und ihren stahlbewehrten Pferden einherritten, angeführt von Ingtars Banner mit der Grauen Eule. Sie sahen genauso gut aus wie hundert Reiter aus der königlichen Garde, doch Rand sah nicht sie an, sondern die Türme, die gerade vor ihnen in Sicht kamen. Er hatte schon den ganzen Vormittag Zeit gehabt, die Lanzenträger aus Schienar zu betrachten.
Jeder Turm stand hoch aufragend und massiv auf einer Hügelspitze, eine halbe Meile vom nächsten entfernt. Im Osten und im Westen erhoben sich weitere, und dahinter noch mehr. Um jeden Steinzylinder herum zog sich spiralförmig eine breite Rampe mit einer Außenmauer. Sie wand sich einmal ganz herum, bevor sie das schwere Tor auf halber Höhe unter der zinnenbewehrten Turmspitze erreichte. Ein Ausfall aus der Garnison würde durch die Mauer bis unten hin zum Boden geschützt, doch die Feinde, die versuchten, das Tor zu erreichen, müßten unter einem Hagel von Pfeilen und Steinen und heißem Öl aus den großen Kesseln, die über ihnen auf nach außen gerichteten Plattformen standen, emporklimmen. Ein großer Stahlspiegel, im Moment vorsichtigerweise von der Sonne weggerichtet, schimmerte auf jeder Turmspitze unter der auf einem Sockel angebrachten Eisenschüssel, in der man Signalfeuer entzünden konnte, wenn die Sonne nicht schien. Das Signal würde von Turm zu Turm weitergespiegelt, weg von der Grenze und immer weiter zu den Festungen im Herzland, von wo aus die Lanzen losreiten würden, um den Überfall abzuwehren. Jedenfalls würden sie das in normalen Zeiten schaffen.
Männer beobachteten ihren Anmarsch von den beiden nächsten Turmspitzen aus. Nur ein paar Posten standen auf jeder und spähten neugierig über die Zinnen. In den besten Zeiten waren die Türme nur wenig bemannt, eben genug zur Selbstverteidigung, da man sich mehr auf die starken Mauern verließ als auf die starken Arme, doch jetzt ritt jeder Mann, den man entbehren konnte, zum Tarwin-Paß. Der Fall der Türme würde keine Rolle mehr spielen, falls die Lanzen den Paß nicht halten konnten.
Rand schauderte, als sie zwischen den Türmen hindurchritten. Es war beinahe, als sei er durch eine Wand aus kühler Luft geritten. Das hier war die Grenze. Das Land jenseits sah nicht anders aus als in Schienar, doch dort draußen, irgendwo jenseits der kahlen Bäume, lag die Fäule.
Ingtar hob eine stählerne Faust, um die Lanzen kurz vor einem einfachen Steinpfosten in Sichtweite der Türme anhalten zu lassen. Es war ein Grenzpfosten, der die Grenze zwischen Schienar und dem, was einst Malkier gewesen war, markierte. »Verzeiht, Moiraine Aes Sedai. Verzeiht, Dai Shan. Verzeiht, Erbauer. Lord Agelmar befahl mir, nicht weiter zu reiten.« Er klang, als sei er unglücklich und überhaupt vom Leben angewidert.
»Das planten wir so, Lord Agelmar und ich«, sagte Moiraine.
Ingtar brummte verdrießlich. »Verzeiht, Aes Sedai«, entschuldigte er sich, auch wenn es nicht ernsthaft klang. »Euch hierher zu begleiten bedeutet, daß wir möglicherweise den Paß nicht erreichen werden, bevor der Kampf vorüber ist. Ich habe keine Gelegenheit, mit den anderen zu kämpfen, und andererseits habe ich den Befehl, keinen Schritt weiter als bis zum Grenzpfosten zu reiten, als ob ich noch nie in der Fäule gewesen sei. Und Lord Agelmar verschweigt mir den Grund.« Hinter den Gitterstäben seines Visiers blickten seine Augen bei den letzten Worten die Aes Sedai fragend an. Er weigerte sich, Rand und die anderen anzublicken, da er erfahren hatte, daß sie Lan in die Fäule begleiten würden.
»Er kann an meiner Statt gehen«, murmelte Mat Rand zu. Lan sah sie beide scharf an. Mat schlug die Augen nieder und wurde knallrot.
»Jeder von uns hat seinen Anteil am Muster, Ingtar«, sagte Moiraine mit fester Stimme. »Von hier aus müssen wir unseren Faden allein weben.«
Ingtars Verbeugung fiel steifer aus, als es selbst die Rüstung zuließ. »Wie Ihr wünscht, Aes Sedai. Ich muß Euch nun verlassen und scharf reiten, um den Tarwin-Paß zu erreichen. Zumindest dort ist es mir... gestattet..., gegen Trollocs zu kämpfen.«
»Seid Ihr wirklich so kampfbegierig?« fragte Nynaeve. »Um gegen Trollocs zu kämpfen?«
Ingtar sah sie verblüfft an und blickte dann zu Lan hinüber, als solle der Behüter die Erklärung abgeben. »Das ist meine Aufgabe, Lady«, sagte er dann bedächtig. »Das ist Sinn und Zweck meines Daseins.« Er erhob eine Hand in ihrem schweren Kampfhandschuh grüßend in Richtung Lan. Die offene Handfläche war dem Behüter zugewandt. »Suravye ninto manshima taishite, Dai Shan. Der Friede begleite Euer Schwert.« Dann riß er sein Pferd herum und ritt mit seinem Bannerträger und seinen hundert Lanzen nach Osten. Sie ritten in ruhigem, gleichmäßigem Tempo, so schnell die gepanzerten Pferde konnten, wenn man die große Entfernung berücksichtigte, die sie noch zurückzulegen hatten.
»Welch eigenartiger Gruß«, meinte Egwene. »Warum sagen sie so was? Friede!«
»Wenn man etwas bisher nur im Traum erlebt hat«, sagte Lan und trieb Mandarb an, »dann bedeutet es schon etwas mehr als nur ein gutes Omen.«
Als Rand dem Behüter an dem steinernen Grenzpfosten vorbei folgte, drehte er sich im Sattel um und blickte zurück. Ingtar und seine Lanzen verschwanden hinter kahlen Bäumen, dann verschwanden der Grenzpfosten und zuletzt die Türme auf ihren Hügelspitzen, die bis dahin noch über den Baumwipfeln sichtbar gewesen waren. Nur zu bald waren sie ganz allein und ritten unter den entlaubten Wipfeln des Waldes einher. Rand gab sich einem wachsamen Schweigen hin, und endlich einmal wußte auch Mat nichts zu sagen.
An diesem Morgen hatten sich die Tore von Fal Dara mit der Morgendämmerung geöffnet. Lord Agelmar, nun wie seine Soldaten gerüstet, ritt vor den Bannern mit dem Schwarzen Falken und den Drei Füchsen aus dem Osttor auf die Sonne zu, die immer noch nur als roter Schein über den Bäumen sichtbar war. Wie eine stählerne Schlange, die sich zu den Wirbeln der an Pferde gehängten Kesselpauken wand, schob sich die vier Glieder tiefe Reihe der Soldaten aus der Stadt heraus. Agelmar, der an der Spitze ritt, war bereits im Wald verborgen, bevor noch der Schwanz der Schlange die Festung von Fal Dara verlassen hatte. Es gab keine Hurrarufe auf den Straßen, um sie zu verabschieden. Nur ihre eigenen Pauken und das Knattern der Wimpel im Wind begleiteten sie, und ihre Augen blickten ganz bewußt hin zur aufgehenden Sonne. Im Osten würden sie sich anderen stählernen Schlangen anschließen, die aus Fal Moran kamen, geführt von König Easar selbst mit seinen Söhnen an der Seite, und aus Ankor Dail, das die Östlichen Moore und das Rückgrat der Welt bewachte; aus Mos Shirare und Fal Sion und Camron Caan und all den anderen Festungen von Schienar, groß oder klein. Zu einer noch größeren Schlange vereint würden sie sich nach Norden wenden, auf den Tarwin-Paß zu.
Zur gleichen Zeit hatte ein anderer Auszug begonnen, und zwar vom Königstor aus, das auf die Straße nach Fal Moran führte. Karren und Wagen, Berittene und Fußgänger, sie trieben ihr Vieh, trugen die Kinder auf dem Rücken, und ihre Gesichter waren so lang wie die Morgenschatten. Zögern, ihre Heimat — vielleicht für immer — zu verlassen, verlangsamte ihre Schritte, doch die Angst vor dem, was kommen mochte, trieb sie an, so daß sie stoßweise vorwärtsmarschierten, einmal mit schleppenden Schritten, dann rannten sie ein Dutzend Schritte weit, nur um gleich wieder langsam durch den Staub zu schlurfen. Ein paar von ihnen blieben außerhalb der Stadt stehen und beobachteten, wie sich die gepanzerte Schlange von Soldaten in den Wald hineinwand. In einigen Augen glimmte Hoffnung auf, und es wurden Gebete gemurmelt, Gebete für die Soldaten, Gebete für das eigene Leben. Dann wandten sie sich wieder mühselig stapfend nach Süden.
Der kleinste Zug kam aus dem Malkier-Tor. Zurückgelassen wurden nur wenige, die bleiben wollten, Soldaten und vereinzelte ältere Männer, deren Frauen gestorben waren und deren erwachsene Kinder sich auf dem langsamen Weg nach Süden befanden. Eine letzte Handvoll, damit unabhängig von dem, was am Tarwin-Paß geschah, Fal Dara nicht ungeschützt in die Hände des Gegners fallen würde. Ingtars Graue Eule führte sie an, doch es war Moiraine, die sie nach Norden brachte. Der wichtigste von all diesen Zügen und zugleich der verzweifeltste.
Mindestens eine Stunde lang, nachdem sie den Grenzpfosten hinter sich gelassen hatten, blieben Landschaft und Wald unverändert. Der Behüter schlug ein scharfes Tempo an, so schnell die Pferde eben gehen konnten, aber Rand fragte sich die ganze Zeit, wann sie wohl die Fäule erreichten. Die Hügel wurden ein wenig höher, doch die Bäume und die Ranken und das Unterholz unterschieden sich in nichts von denen, die sie in Schienar gesehen hatten. Alles war grau und fast völlig kahl. Allmählich fühlte er sich wärmer, warm genug, um seinen Umhang über das Sattelhorn zu legen.
»Das ist das beste Wetter, das wir dieses Jahr erlebt haben«, sagte Egwene und wand sich aus ihrem eigenen Umhang.
Nynaeve schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn, als lausche sie dem Wind. »Ich fühle, daß es irgendwie schlecht ist.«
Rand nickte. Auch er konnte es fühlen, auch wenn er nicht hätte sagen können, was er eigentlich genau fühlte. Das Gefühl der Verderbtheit, das er empfand, bezog sich nicht nur auf die erste Wärme im Freien, an die er sich dieses Jahr erinnern konnte — es war auch mehr als die einfache Tatsache, daß es so weit im Norden nicht so warm sein dürfte. Es mußte die Fäule sein, aber die Landschaft war unverändert.
Die Sonne stieg höher, ein roter Ball, der trotz des wolkenlosen Himmels nicht so viel Wärme abgeben konnte. Eine kleine Weile später knöpfte er seinen Mantel auf. Schweiß lief ihm über das Gesicht.
Er war nicht der einzige. Mat zog den Mantel aus und stellte offen den Gold-und-Rubin-Dolch zur Schau. Er wischte sich mit dem Ende seines Schals über das Gesicht. Zwinkernd wickelte er sich den Schal neu als schmales Band um die Stirn. Nynaeve und Egwene fächerten sich Luft zu; sie ritten zusammengesunken, als verwelkten sie. Loial knöpfte seine Jacke mit dem hohen Stehkragen von oben bis unten auf und auch noch sein Hemd. Der Ogier hatte mitten auf der Brust einen schmalen Haarstreifen, so dicht wie Fell. Er murmelte nach allen Seiten hin Entschuldigungen.
»Ihr müßt mir vergeben. Stedding Schangtai liegt in den Bergen und es ist dort kühl.« Seine breiten Nasenflügel bebten und sogen Luft ein, die ständig wärmer wurde. »Ich mag diese feuchte Hitze nicht.«
Es war feucht, das bemerkte auch Rand jetzt. Er hatte ein Gefühl wie im Sumpf mitten im Sommer, daheim in den Zwei Flüssen. In diesem mit großen Lachen durchsetzten Sumpf atmete man wie durch eine mit heißem Wasser durchtränkte Wolldecke. Hier gab es keinen schlammigen Boden — nur ein paar Teiche und Bäche, Rinnsale für jemanden, der an den Wasserwald gewöhnt war -, aber die Luft war genauso wie in jenem Sumpf. Nur Perrin, der seinen Mantel noch an hatte, atmete frei. Perrin und der Behüter.
Man sah nun auch einige Blätter, auch an Bäumen, die nicht das ganze Jahr über Laub trugen. Rand streckte die Hand aus, um einen Ast anzufassen, und hielt inne, kurz bevor er die Blätter berührte. Das Rot des neuen Wuchses war von krankhaftem Gelb und schwarzen Flecken durchsetzt. »Ich sagte doch, daß du nichts anfassen sollst.« Die Stimme des Behüters klang ausdruckslos. Er trug immer noch seinen farbverändernden Umhang, als könne ihn die Hitze genausowenig beeindrucken wie die Kälte. Sein kantiges Gesicht schien beinahe frei über Mandarbs Rücken zu schweben. »In der Fäule können Blumen töten und Blätter Wunden schlagen. Es gibt da ein kleines Ding, das man Stock nennt. Das verbirgt sich gern dort, wo die Blätter am dichtesten stehen, und sieht so aus, wie es heißt. Es wartet darauf, daß jemand es anfaßt. Wenn das geschieht, beißt es zu. Kein Gift. Der Saft beginnt, das Opfer des Stocks zu verdauen. Das einzige, was dich dann retten kann, ist, den gebissenen Arm oder das Bein abzuschneiden. Aber ein Stock beißt nicht, wenn er nicht berührt wird. Andere Dinge in der Fäule dagegen tun es.«
Rand riß seine Hand zurück, bevor er ein Blatt berührt hatte, und dann wischte er sie an einem Hosenbein ab.
»Dann sind wir jetzt in der Fäule?« fragte Perrin. Seltsamerweise hörte er sich nicht ängstlich an.
»Nur am Rand«, sagte Lan ernst. Sein Hengst bewegte sich weiter, und er sprach nach hinten gewandt: »Die wirkliche Fäule liegt noch vor uns. Es gibt Dinge in der Fäule, die nach dem Gehör jagen, und einige davon könnten auch so weit nach Süden gewandert sein. Manchmal überqueren sie die Berge des Verderbens. Viel schlimmer als die Stöcke. Verhaltet euch leise und bleibt auf den Pferden, wenn Ihr am Leben hängt.« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern ritt stramm weiter.
Mit jeder zurückgelegten Meile wurde der Verfall des Landes in der Fäule deutlicher. Die Bäume wiesen einen immer üppigeren Blattwuchs auf, doch sie waren fleckig, gelb und schwarz verunziert, und Streifen lebhaften Rotes zogen sich wie die Streifen bei einer Blutvergiftung über sie hinweg. Jedes Blatt und jede Ranke schien aufgeschwemmt, als könnten sie bei einer leichten Berührung bereits platzen. Blüten hingen in einer Parodie von Frühling von den Bäumen und Unkräutern, kränklich, blaß und fleischig, Wachsblumen, die unter Rands Augen zu verfaulen schienen. Wenn er durch die Nase einatmete, dann machte ihn der süßliches schwere Verwesungsgeruch krank; wenn er durch den Mund atmete, würgte er beinahe. Die Luft schmeckte wie ein Mundvoll verdorbenen Fleisches. Unter den Hufen der Pferde platschte es leise, wenn überreife Früchte bei jedem Schritt zerplatzten.
Mat beugte sich aus dem Sattel und übergab sich, bis sein Magen leer war. Rand beschwor das Nichts herauf, doch Ruhe half wenig gegen die ätzende Säure, die ihm ständig die Kehle hoch kam. Leer oder nicht — Mat würgte eine Meile weiter schon wieder, doch es kam nichts mehr. Trotzdem wiederholte sich das später. Egwene machte ebenfalls den Eindruck, als wolle sie sich übergeben, so wie sie ständig schluckte, und Nynaeves Gesicht war eine bleiche Maske, doch voller Entschlossenheit. Ihr Kinn war vorgeschoben, und sie sah unverwandt Moiraines Rücken an. Die Seherin würde nie zugeben, daß ihr schlecht war, wenn die Aes Sedai es nicht auch zugab, aber Rand glaubte nicht, daß sie darauf lange warten müsse. Moiraines Augen waren zusammengekniffen und ihre Lippen blaß.
Trotz der feuchten Hitze wickelte Loial sich einen Schal um Nase und Mund. Als sein Blick den Rands traf, standen Zorn und Ekel in den Augen des Ogiers. »Ich hatte gehört...«, begann er, die Stimme durch die Wolle gedämpft, und dann hielt er inne, um das Gesicht zu verziehen und sich dabei zu räuspern. »Pfui! Es schmeckt wie... Pfui! Ich hatte von der Fäule gehört und gelesen, aber nichts entsprach... « Seine Geste umfaßte irgendwie sowohl den Gestank als auch den krankhaften Pflanzenwuchs. »Daß selbst der Dunkle König Bäumen so etwas antun kann! Pfui!«
Der Behüter war natürlich von alledem nicht betroffen, jedenfalls nicht für Rand sichtbar, aber zu seiner Überraschung zeigte sich auch Perrin unbeeindruckt.
Oder jedenfalls nicht so, wie die anderen alle. Der großgewachsene Jüngling blickte den Wald der Verderbnis, durch den sie ritten, so böse wie einen Feind an oder das Banner eines Feindes. Er streichelte die Axt an seinem Gürtel, als sei ihm nicht bewußt, was er da tat, und führte Selbstgespräche. Dabei knurrte er ein wenig, und zwar auf eine Art, die Rand die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Selbst im prallen Sonnenschein glühten seine Augen golden und wild.
Die Hitze legte sich nicht, als die blutige Sonne dem Horizont entgegenfiel. In einiger Entfernung erhoben sich im Norden Berge, höher als die Verschleierten Berge. Sie hoben sich schwarz vom Himmel ab. Manchmal fauchte eine eisige Böe von den scharfumrissenen Gipfeln bis herunter zu ihnen. Die stickige Feuchtigkeit schluckte fast alle Gebirgsfrische, doch was an Kühle spürbar war, war winterkalt, verglichen mit der Schwüle, die sie nur einen Moment lang verdrängte. Der Schweiß auf Rands Stirn fror geschwind zu Eiskörnern, und wenn der Wind erstarb, schmolz das Eis wieder und rann ihm in gezackten Linien die Wangen hinunter. Die drückende Hitze kehrte noch stärker zurück, als er sie vorher empfunden hatte. Wenn der Wind auffrischte, wurde der Gestank vertrieben, doch er hätte auf den Wind gern verzichtet. Seine Kälte war die Kühle des Grabes, und er wehte ihm den dumpfen Modergeruch einer soeben geöffneten Gruft in die Nase.
»Wir können die Berge nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen«, sagte Lan, »und es ist gefährlich, bei Nacht weiterzureiten, selbst für einen Behüter allein.«
»Es gibt einen Platz, der nicht sehr weit weg ist«, sagte Moiraine. »Es wird ein gutes Omen für unsere Aufgabe, wenn wir dort unser Lager aufschlagen.«
Der Behüter warf ihr einen ausdruckslosen Blick zu und nickte zögernd. »Ja. Irgendwo müssen wir ja lagern. Es kann genausogut dort sein.«
»Das Auge der Welt lag jenseits der Paßhöhe, als ich es fand«, sagte Moiraine. »Es ist besser, die Berge des Verderbens bei hellem Tageslicht zu überqueren, am Mittag, wenn die Macht des Dunklen Königs auf dieser Welt am schwächsten ist.«
»Ihr sprecht, als sei das Auge nicht immer am selben Fleck.« Egwene hatte die Aes Sedai angesprochen, doch es war Loial, der antwortete: »Keine zwei Ogier haben es jemals an genau dem gleichen Fleck gefunden. Man kann offensichtlich den Grünen Mann dort finden, wo man ihn braucht. Aber es war immer jenseits der Paßhöhe. Die Pässe dort oben sind trügerisch und werden von Kreaturen des Dunklen Königs bevorzugt.«
»Wir müssen die Pässe erst einmal erreichen, bevor wir uns darüber Gedanken machen«, sagte Lan. »Morgen kommen wir endgültig in die Fäule hinein.«
Rand sah sich in dem sie umgebenden Wald um, wo jedes Blatt und jede Blüte krank war, wo jede Ranke verfaulte, während sie noch wuchs, und er konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Wenn das noch nicht die echte Fäule ist, was dann?
Lan ließ sie nach Westen reiten, in einem Winkel zur sinkenden Sonne. Der Behüter behielt das zuvor eingeschlagene Tempo bei, aber in der Haltung seiner Schultern lag ein Zögern.
Die Sonne war nur noch ein düsterroter Ball, der gerade die Baumwipfel berührte, als sie den Kamm eines Hügels erreichten und Lan sein Pferd anhielt. Im Westen unter ihnen lag ein Labyrinth von Seen. Das Wasser glitzerte dunkel im Schein der tiefstehenden Sonne. Es wirkte wie Perlen unterschiedlicher Größe an einer mehrfach um den Hals geschlungenen Kette. In der Entfernung lagen, von den Seen eingerahmt, Hügel mit gezackten Spitzen, die sich in den kriechenden Abendschatten zusammendrängten. Einen kurzen Moment lang erfaßten die Sonnenstrahlen die zerrissenen Spitzen, und Rand stockte der Atem. Keine Hügel. Die zerfetzten Überreste von sieben Türmen. Er war sich nicht sicher, ob einer der anderen das auch gesehen hatte; der Anblick war so schnell vorüber, wie er gekommen war. Der Behüter stieg vom Pferd. Sein Gesicht zeigte so wenig Gefühlsregung wie ein Stein.
»Könnten wir unser Lager nicht unten bei den Seen aufschlagen?« fragte Nynaeve, die ihr Gesicht mit einem Taschentuch abtupfte. »Drunten am Wasser muß es doch kühler sein.«
»Licht«, sagte Mat, »ich würde so gern meinen Kopf in einen davon stecken. Vielleicht würde ich ihn nie wieder herausnehmen.«
In diesem Moment bewegte etwas das Wasser im nächstgelegenen See. Das dunkle Wasser phosphoreszierte, als sich ein riesiger Körper unter der Oberfläche herumwälzte. Länger und immer länger zeigte sich der Koloß. Wellenringe breiteten sich aus. Immer noch wälzte er sich herum, und schließlich erhob sich ein Schwanz, der in einem Stachel wie dem einer Wespe auslief, einen Moment lang in die Dämmerung hinein. Er war mindestens fünf Spannen lang. An der ganzen Länge des Schwanzes zeigten sich dicke Tentakel, die sich wie monströse Würmer wanden — so viele, wie ein Tausendfüßler Beine hat. Dann glitt er langsam unter die Oberfläche zurück und war verschwunden. Nur die ausrollenden Wellen zeugten davon, daß er jemals dagewesen war.
Rand klappte den Mund zu und wechselte einen Blick mit Perrin. Perrins gelbe Augen blickten genauso ungläubig drein, wie seine eigenen wirken mußten. Nichts derart Großes konnte in einem See dieser Größe leben. Das können doch keine Hände gewesen sein, am Ende dieser Tentakel! Das kann nicht sein.
»Auf den zweiten Blick«, sagte Mat schwach, »gefällt es mir hier oben doch recht gut.«
»Ich werde rund um diesen Hügel Amulette als Wächter aufstellen«, sagte Moiraine. Sie war bereits von Aldieb abgestiegen. »Eine stärkere Abwehr würde unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, so wie Fliegen vom Honig angezogen werden, aber auf diese Weise werde ich es wissen, falls irgendeine Schöpfung des Dunklen Königs oder etwas, das dem Schatten dient, auf eine Meile an uns herankommt.«
»Ich wäre über eine magische Sperre froh«, sagte Mat, als seine Stiefel den Boden berührten, »wenn sie nur dieses... dieses Ding abhalten könnte.«
»Ach, sei endlich ruhig, Mat«, sagte Egwene kurz angebunden zur gleichen Zeit, als Nynaeve bemerkte: »Und dann warten sie auf uns, wenn wir am Morgen aufbrechen? Du bist ein Narr, Matrim Cauthon.« Mat funkelte die beiden Frauen an, während sie abstiegen, aber er hielt den Mund.
Als er Belas Zügel ergriff, grinsten sich Rand und Perrin an. Einen Augenblick lang war es fast wie zu Hause, wenn Mat zum unmöglichsten Zeitpunkt etwas sagte, das er besser nicht gesagt hätte. Dann verflog das Lächeln auf Perrins Gesicht. In der Dämmerung glühten seine Augen wirklich, als schiene ein gelbes Licht hinter ihnen. Auch Rands Grinsen verschwand. Es ist doch überhaupt nicht wie zu Hause.
Rand und Mat und Perrin halfen Lan beim Absatteln und legten den Pferden Fußfesseln an, während die anderen sich daran machten, das Lager herzurichten.
Loial führte schon wieder Selbstgespräche, als er den winzigen Herd des Behüters aufstellte, aber seine dicken Hände langten kräftig zu. Egwene summte vor sich hin, während sie den Teekessel aus einem bauchigen Wasserschlauch füllte. Rand wunderte sich nicht mehr, warum der Behüter so viele volle Wasserschläuche mitgebracht hatte.
Er legte den Sattel des Braunen neben die anderen, schnallte seine Satteltaschen und die Deckenrolle von der Hinterpausche ab und hielt, von plötzlicher Angst gepackt, inne. Der Ogier und die Frauen waren verschwunden, genauso wie der Herd und all die Korbbehälter, die das Packpferd getragen hatte. Die Hügelspitze war bis auf die abendlichen Schatten leer.
Mit einer tauben Hand griff er nach seinem Schwert. Er hörte undeutlich, wie Mat fluchte. Perrin hatte die Axt gezückt, und sein zerzauster Kopf drehte sich, um die Gefahr auszumachen.
»Schafhirten«, knurrte Lan. Unbeirrt schlenderte der Behüter über den Kamm des Hügels, und beim dritten Schritt verschwand er.
Rand wechselte Blicke aus weit aufgerissenen Augen mit Mat und Perrin, und dann rannten sie plötzlich alle auf den Fleck zu, an dem der Behüter verschwunden war. Rand kam schlitternd zum Stehen, machte noch mal einen Schritt, und dann prallte Mat auf seinen Rücken. Egwene blickte auf. Sie stellte gerade den Kessel auf den winzigen Herd. Nynaeve schloß den Zylinder einer zweiten entzündeten Laterne. Sie waren allesamt anwesend. Moiraine saß mit übergeschlagenen Beinen da, Lan stützte sich auf einen Ellenbogen, und Loial nahm gerade ein Buch aus seiner Tasche.
Vorsichtig blickte sich Rand um. Der Abhang des Hügels lag so da wie vorher, genau wie die im Schatten liegenden Bäume und die Seen, die dahinter in der Dunkelheit versanken. Er fürchtete sich davor zurückzutreten, fürchtete, alle würden dann wieder verschwinden, und diesmal wäre er vielleicht nicht mehr in der Lage, sie wiederzufinden. Perrin atmete erleichtert auf und schob sich vorsichtig um Rand herum.
Moiraine bemerkte, daß sie alle drei mit offenem Mund dastanden. Perrin blickte reumütig drein und steckte die Axt zurück in die schwere Gürtelschlaufe, als glaube er, daß sie dort von niemandem bemerkt würde. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Es ist eine ganz einfache Sache«, sagte sie. »Das Licht wird gebeugt, so daß jedes Auge, das uns anschaut, statt dessen um uns herum blickt. Wir können es nicht zulassen, daß die Augen, die sich dort draußen befinden werden, heute abend unsere Lichter sehen. Doch die Fäule ist kein Ort, an dem man sich im Dunkeln aufhalten kann.«
»Moiraine Sedai meint, ich könne es schaffen.« Egwenes Augen strahlten. »Sie sagt, ich beherrsche jetzt schon genug von der Einen Macht.«
»Nicht ohne gezielte Übung, Kind«, warnte Moiraine. »Auch die einfachste Sache kann für Ungeübte gefährlich werden, wenn es um die Eine Macht geht — und auch für Menschen aus ihrer Umgebung.« Perrin schnaubte, und Egwene blickte so betrübt drein, daß Rand sich fragte, ob sie nicht vielleicht ihre Fähigkeiten bereits ausprobiert habe.
Nynaeve stellte die Laterne zu Boden. Die winzige Flamme des Herdes und dazu die beiden Laternen — das ergab doch einen relativ großen Lichtkreis. »Wenn du nach Tar Valon gehst, Egwene«, sagte sie bedächtig, »gehe ich vielleicht auch mit.« Sie warf Moiraine einen seltsam trotzigen Blick zu. »Es wird gut für sie sein, zwischen all den Fremden ein bekanntes Gesicht zu sehen.
Sie wird jemanden brauchen, der ihr mal einen Rat gibt und keine Aes Sedai ist.«
»Vielleicht ist es das Beste, Seherin«, sagte Moiraine schlicht.
Egwene lachte und klatschte in die Hände. »Oh, das wäre wirklich wundervoll. Und du, Rand. Du kommst doch auch mit, oder?« Er wollte sich gerade auf der anderen Seite des Herdes ihr gegenüber niederlassen, hielt bei ihrer Frage kurz inne und setzte sich dann langsam. Er hatte ihre Augen noch nie als größer empfunden oder strahlender als jetzt. Sie waren wie Seen, in denen er sich verlieren konnte. Rote Flecken erschienen auf ihren Wangen, und sie lachte ein wenig zurückhaltender. »Perrin, Mat, ihr beide kommt auch mit, ja? Wir werden alle vereint sein.« Mat knurrte undeutlich etwas, das alles bedeuten konnte, und Perrin zuckte nur die Achseln. Sie nahm es als Zustimmung. »Siehst du, Rand? Wir werden alle zusammen sein.«
Licht, ein Mann könnte in diesen Augen mit Wonne ertrinken. Verlegen räusperte er sich. »Gibt es in Tar Valon Schafe? Ich kann doch sonst nichts und verstehe nur etwas von Schafzucht und Tabakanbau.«
»Ich denke«, sagte Moiraine, »man wird in Tar Valon etwas für dich zu tun finden. Für euch alle. Nicht gerade Schafehüten, aber doch etwas Interessantes.«
»Seht ihr?« sagte Egwene, als alle saßen. »Ich weiß schon. Wenn ich eine Aes Sedai bin, mache ich dich zu meinem Behüter. Du wärst doch gern ein Behüter, nicht wahr? Mein Behüter?« Sie klang selbstbewußt, doch er sah die Frage, die in ihren Augen stand. Sie wollte eine Antwort haben, brauchte eine Antwort.
»Ich wäre gern dein Behüter«, sagte er. Sie ist nicht für dich bestimmt und du nicht für sie. Warum mußte Min mir das sagen?
Die Dunkelheit senkte sich schwer über sie, und alle waren müde. Loial war der erste, der sich zur Seite rollte und einschlief, doch die anderen folgten bald seinem Beispiel. Keiner benützte die Decken, außer als Kopfkissen. Moiraine hatte etwas in das Öl der Lampen getan, das den Gestank der Fäule auf der Spitze des Hügels zerstreute, aber nichts konnte die Hitze vertreiben. Der Mond gab einen ungleichmäßigen, wäßrigen Lichtschein ab, aber was die Kühle einer Nacht betraf, so hätte genausogut die Sonne im Zenith stehen können.
Rand fand keinen Schlaf, obwohl die Aes Sedai sich keine Spanne weit entfernt ausgestreckt hatte, um seine Träume zu beschützen. Die erdrückend schwüle Luft hielt ihn wach. Loials leichtes Schnarchen wurde zum Donnern, das Perrins Schnarchen übertönte, aber die anderen wurden trotzdem von der Erschöpfung übermannt. Der Behüter war noch wach und hatte sich unweit von ihm hingesetzt, das Schwert auf den Knien. Er blickte in die Nacht hinein. Zu Rands Überraschung hatte sich Nynaeve ihm angeschlossen.
Die Seherin betrachtete Lan schweigend eine Weile lang, dann goß sie ihm eine Tasse Tee ein und brachte sie ihm hinüber. Als er sie ihr mit einem gemurmelten Dankeschön aus der Hand nahm, wandte sie sich nicht gleich wieder ab. »Ich hätte wissen müssen, daß Ihr ein König seid«, sagte sie leise. Ihre Augen blickten dem Behüter ruhig ins Gesicht, doch ihre Stimme zitterte etwas.
Lan blickte sie genauso eingehend an. Es erschien Rand, als wiese sein Gesicht jetzt sanftere Züge auf. »Ich bin kein König, Nynaeve. Nur ein Mann. Ein Mann, der weniger sein eigen nennen kann, als selbst der erbärmlichste kleine Bauer, der wenigstens einen Hof besitzt.«
Nynaeves Stimme klang nun fester. »Manche Frauen fragen nicht nach Land oder Gold. Nur nach dem Mann.«
»Und der Mann, der von ihr verlangt, daß sie sich mit so wenig bescheidet, wäre ihrer nicht würdig. Ihr seid eine bemerkenswerte Frau, so schön wie der Sonnenaufgang, so wild wie ein Krieger. Ihr seid eine Löwin, Seherin.«
»Eine Seherin ist nur in seltenen Fällen verheiratet.« Sie schwieg einen Moment und holte tief Luft, als bereite sie sich innerlich auf etwas vor. »Doch wenn ich nach Tar Valon gehe, werde ich etwas anderes sein als eine Seherin.«
»Aes Sedai heiraten genauso selten wie Seherinnen. Kaum ein Mann kann mit einer so mächtigen Frau leben, die ihn mit ihrer Ausstrahlung derartig in den Schatten stellt, ob sie nun will oder nicht.«
»Einige Männer sind stark genug. Ich kenne einen solchen.« Falls noch irgendein Zweifel blieb, so wurde er durch ihren Blick ausgeräumt, der bewies, wen sie meinte.
»Alles, was ich habe, ist ein Schwert und ein Krieg, den ich nicht gewinnen kann, aber ich kann doch nicht aufhören, zu kämpfen.«
»Ich habe Euch gesagt, daß das für mich keine Rolle spielt. Licht, Ihr habt mich bereits mehr sagen lassen, als schicklich ist. Werdet Ihr mich so weit beschämen, daß ich Euch fragen muß?«
»Ich werde Euch niemals beschämen.« Der sanfte Tonfall, wie eine Liebkosung, klang für Rands Ohren ganz eigenartig, brachte aber Nynaeves Augen zum Strahlen. »Ich werde den Mann hassen, den Ihr erwählt, weil er es ist und nicht ich, und ich werde ihn lieben, wenn er Euch zum Lächeln bringt. Keine Frau verdient es, sicher sein zu können, daß sie statt des Brautschleiers einen Witwenschleier tragen wird — Ihr am wenigsten von allen.« Er stellte den unberührten Tee zu Boden und erhob sich. »Ich muß nach den Pferden sehen.«
Nynaeve kniete noch immer am gleichen Fleck, nachdem er längst weg war.
Schlaf oder nicht, jedenfalls schloß Rand die Augen. Er glaubte, die Seherin werde nicht wünschen, daß sie jemand beim Weinen beobachtete.