Nachdem die Seherin weg war, ging Rand in den Schankraum. Er brauchte den Klang von Lachen in den Ohren, um zu vergessen, was Nynaeve gesagt hatte und welche Schwierigkeiten sie ihnen damit bereiten konnte.
Der Raum war tatsächlich voll, aber niemand lachte, obwohl jeder Stuhl und jede Bank besetzt war und andere Leute an den Wänden standen. Thom trat gerade auf. Er stand auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand. Seine Gesten waren umfassend genug, um den ganzen Raum zu füllen. Es war wieder einmal Die Wilde Jagd nach dem Horn, aber natürlich beklagte sich niemand darüber. Es gab so viel über jeden der Jäger zu erzählen und so viele Jäger waren auf der Suche nach dem Horn, daß die Geschichte jedesmal anders klang. Es hätte sowieso eine Woche oder mehr gedauert, die ganze Geschichte auf einmal zu erzählen. Der einzige Laut, der neben Stimme und Harfe des Gauklers erklang, war das Prasseln der Feuer in den Kaminen.
»... Zu den acht Ecken der Welt reiten die Jäger, zu den acht Säulen des Himmels, wo der Wind der Zeit weht und das Schicksal die Kleinen wie die Großen bei der Stirn packt. Nun ist Rogosch von Talmour, Rogosch Adlerauge, berühmt am Hof des Hochkönigs, gefürchtet an den Hängen des Shayol Ghul, der größte aller Jäger...« Die Jäger waren immer gefürchtete Helden — allesamt.
Rand machte seine beiden Freunde aus und quetschte sich neben Perrin an das Ende einer Sitzbank.
Küchengerüche, die durch den Raum zogen, erinnerten ihn an seinen Hunger, doch sogar die Leute, die ihr Essen vor sich stehen hatten, beachteten es kaum. Die Kellnerinnen, die eigentlich hätten bedienen sollen, standen verzaubert da, die Hände in die Schürzen verkrampft, und sahen den Gaukler an. Niemand schien etwas dagegen zu haben. Zuhören war besser als essen, ganz gleich, wie gut das Essen auch sein mochte.
›... seit dem Tag ihrer Geburt hat der Dunkle König Blaes als sein eigen betrachtet, aber nie wird er ihre Zustimmung gewinnen. Blaes von Matuchin ist kein Schattenfreund! Stark wie eine Esche steht sie da, biegsam wie der Zweig einer Weide, schön wie eine Rose. Goldhaarige Blaes. Bereit, zu sterben, um nicht nachgeben zu müssen. Doch lauscht! Von den Türmen der Stadt klingt das Schmettern von Trompeten, ehern und kühn. Ihre Herolde verkünden die Ankunft eines Helden an ihrem Hof. Trommelklang rollt, und Beckenschläge erklingen! Rogosch Adlerauge kommt, um ihr zu huldigen...‹ ›Rogosch Adlerauges Handel‹ neigte sich dem Ende zu, aber Thom unterbrach die Erzählung nur, um seine Kehle aus einem Bierkrug zu befeuchten, und dann erklang ›Lians Wehr‹. Dem folgte dann ›Der Fall von Aleth-Loriel‹ und ›Gaidal Cains Schwert‹ und ›Der letzte Ritt von Buad von Albhain‹. Als sich der Abend hinzog, wurden die Pausen länger, und als Thom schließlich die Harfe weglegte und zur Flöte griff, wußte jeder, daß die Erzählung für diesen Abend beendet war. Zwei Männer begleiteten Thom auf einer Trommel und einem Hackbrett, aber sie saßen neben dem Tisch, während er noch immer auf ihm stand.
Die drei jungen Männer aus Emondsfeld begannen bei den ersten Tönen von ›Der Wind, der die Weide beugt‹ mitzuklatschen, und sie waren nicht die einzigen. Es war ein besonders beliebtes Lied, sowohl in den Zwei Flüssen, wie auch in Baerlon, schien es. Hier und da fielen Stimmen ein, und sie klangen nicht so falsch, daß man sie hätte zum Schweigen bringen müssen.
»Meine Liebe ist fort, weggeweht, vom Wind, der die Weide beugt, und alles Land wird niedergedrückt vom Wind, der die Weide beugt. Doch will ich sie halten, fest und treu, in meiner Erinnerung, ihre Kraft macht meine Seele stark, ihre Liebe wärmt mein Herz. So steh ich, wo wir einst uns liebten, trotz des Winds, der die Weide beugt.«
Das zweite Lied war nicht so traurig. ›Nur einen Eimer Wasser‹ schien im Gegensatz dazu sogar noch fröhlicher als sonst üblich, und das hatte der Gaukler ja vielleicht auch bezweckt. Die Leute beeilten sich, Tische wegzuschieben und eine Tanzfläche freizumachen. Bald warfen sie die Beine im Takt, bis die Wände wackelten von all dem Stampfen und Wirbeln. Der erste Tanz endete. Lachende Tänzer verließen die Tanzfläche und hielten sich die Seiten. Neue Tänzer nahmen ihre Plätze ein.
Thom spielte die ersten Takte von ›Der Flug der Wildgänse‹ und wartete dann, bis die Leute ihre Plätze in den Reihen eingenommen hatten.
»Ich glaube, ich probier's auch mal«, sagte Rand und stand auf. Perrin schoß sofort auch hoch. Mat bewegte sich als letzter, und so mußte er zurückbleiben und auf die Umhänge, Rands Schwert und Perrins Axt aufpassen.
»Denkt daran, daß ich auch mal tanzen will!« rief Mat ihnen nach.
Die Tänzer stellten sich in zwei langen Reihen gegenüber auf, die Frauen auf der einen und die Männer auf der anderen Seite. Zuerst gab die Trommel den Rhythmus an, dann fiel das Hackbrett ein, und alle Tänzer begannen, im gleichen Takt die Knie zu beugen. Das Mädchen gegenüber Rand — sie trug die dunklen Haare in Zöpfen und erinnerte ihn an die Heimat — lächelte ihn erst schüchtern an und dann zwinkerte sie ihm gar nicht mehr schüchtern zu. Thoms Flöte schwang sich in die Melodie hinein, und Rand ging vorwärts auf das dunkelhaarige Mädchen zu. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte, als er sie herumwirbelte und an den nächsten Mann in der Reihe weiterreichte.
Jeder im Saal lachte, zumindest bildete er sich das ein, während er um seine nächste Partnerin herumtanzte, eine der Kellnerinnen, deren Schürze wild flatterte. Das einzige ernste Gesicht, das er sah, gehörte einem Mann, der an einem der Kamine kauerte, und dieser Bursche hatte eine Narbe quer übers ganze Gesicht, von einer Schläfe bis an die gegenüberliegende Kante seines Unterkiefers. Sie ließ seine Nase schräg erscheinen und zog einen Mundwinkel herunter. Der Mann sah ihm in die Augen und verzog das Gesicht. Rand schaute verlegen zur Seite. Vielleicht konnte der Bursche mit einer solchen Narbe nicht mehr lächeln.
Er fing seine nächste Partnerin im Drehen auf und wirbelte sie im Kreis herum, bevor er sie weiterreichte. Drei weitere Frauen tanzten mit ihm, während die Musik immer schneller wurde, und dann hatte er wieder das erste dunkelhaarige Mädchen am Arm, als sie in einer kurzen Promenade die Reihen komplett tauschten. Sie lachte immer noch und zwinkerte ihm wieder zu.
Der narbengesichtige Mann sah ihn finster an. Sein Schritt wurde unsicher, und seine Wangen erhitzten sich. Er hatte den Burschen nicht beschämen wollen; er glaubte wirklich nicht, ihn auffällig angestarrt zu haben. Er drehte sich nach seiner nächsten Partnerin um und vergaß den Mann. Die nächste Frau, die in seine Arme tanzte, war Nynaeve.
Er stolperte in die nächsten Tanzschritte hinein und fiel fast über die eigenen Füße. Beinahe wäre er ihr noch auf die Füße getreten. Sie tanzte leichtfüßig genug, um seine Unbeholfenheit auszugleichen, und lächelte auch noch dabei. »Ich dachte, du seist ein besserer Tänzer«, lachte sie beim Partnerwechsel.
Ihm blieb nur ein Augenblick, sich wieder zusammenzureißen, dann wechselten sie wieder, und er tanzte auf einmal mit Moiraine. Wenn er sich schon bei der Seherin unbeholfen angestellt hatte, dann war das nichts gegen sein Gefühl jetzt beim Tanz mit der Aes Sedai. Sie glitt elegant über den Tanzboden. Ihr langes Kleid schwang um ihre Beine. Er fiel dagegen zweimal beinahe hin. Sie lächelte ihn mitleidsvoll an, doch das half nicht — im Gegenteil. Es war eine Erleichterung, die nächste Partnerin weitergereicht zu bekommen, selbst wenn es sich um Egwene handelte.
Er gewann wieder etwas an Haltung. Schließlich hatte er jahrelang mit ihr getanzt. Ihr Haar hing immer noch offen herunter, doch sie hatte es hinten mit einem roten Band zusammengebunden. Konnte sich vielleicht nicht entscheiden, ob sie es Moiraine oder Nynaeve recht machen sollte, dachte er mürrisch. Ihre Lippen waren geöffnet, und sie wirkte, als wolle sie etwas sagen, aber sie sprach nicht, und er wollte nicht zuerst sprechen. Nicht, nachdem sie seinen früheren Versuch im Speisesaal so schroff abgewürgt hatte. Sie sahen einander ernüchtert an und bewegten sich wortlos wieder voneinander weg.
Er war froh, als der Tanz zu Ende war und er auf die Bank zurückkehren konnte. Die Musik zum nächsten Tanz, einer Gigue, begann, als er sich gerade setzte. Mat eilte auf die Tanzfläche, und Perrin setzte sich auf die freigewordene Bank. »Hast du sie gesehen?« begann Perrin, der noch nicht einmal richtig saß. »Hast du?«
»Welche?« fragte Rand. »Die Seherin oder Frau Alys? Ich habe mit beiden getanzt.«
»Mit der Ae... mit Frau Alys auch?« rief Perrin. »Ich habe mit Nynaeve getanzt. Ich wußte nicht einmal, daß sie tanzt. Zu Hause tut sie das nie.«
»Ich frage mich«, sagte Rand nachdenklich, »was der Frauenzirkel wohl davon hielte, wenn die Seherin tanzt? Vielleicht tut sie's deswegen nicht.«
Dann waren Musik und Klatschen und Singen zu laut, um sich weiter zu unterhalten. Rand und Perrin klatschten mit, als die Tänzer um den Tanzboden kreisten. Mehrmals wurde ihm bewußt, daß der Mann mit der Narbe ihn anstarrte. Der Mann hatte ein Recht darauf, wegen der Narbe empfindlich zu sein, aber Rand fiel nun nichts ein, was er hätte tun können, ohne alles noch schlimmer zu machen. Er konzentrierte sich ganz auf die Musik und vermied es, den Burschen anzusehen.
Tanz und Gesang gingen bis tief in die Nacht hinein weiter. Die Kellnerinnen erinnerten sich schließlich ihrer Pflichten; Rand war froh, ein wenig heißen Eintopf und Brot herunterschlingen zu können. Jeder aß, wo er gerade saß oder stand. Rand tanzte noch dreimal, und er beherrschte sich besser, wenn er dabei auf Nynaeve und auch auf Moiraine traf. Diesmal lobten beide seine Fähigkeiten als Tänzer, und er stammelte verwirrt seinen Dank. Er tanzte auch wieder mit Egwene. Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen an und schien immer etwas auf der Zunge zu haben, doch sie sagte kein Wort. Er war genauso still wie sie, aber er war sich sicher, daß er sie nicht irgendwie böse angesehen hatte, auch wenn Mat das behauptete, als er zur Bank zurückkehrte.
Gegen Mitternacht ging Moiraine. Egwene bemerkte den resignierenden Blick, den Moiraine in Richtung Nynaeve schickte, und eilte ihr nach. Die Seherin beobachtete beide mit ausdruckslosem Gesicht und tanzte dann mit voller Absicht noch einmal, bevor auch sie den Saal verließ. Sie wirkte, als habe sie einen Punktsieg über die Aes Sedai errungen.
Bald legte Thom seine Flöte in den Kasten und debattierte freundlich mit denen, die noch weitermachen wollten. Lan kam und holte Rand und die anderen ab.
»Wir müssen früh aufbrechen«, sagte der Behüter, der sich des Lärms wegen ganz nah zu ihnen hinbeugen mußte, »und wir müssen uns so gut wie möglich ausruhen.«
»Ein Kerl hat mich angestarrt«, sagte Mat. »Ein Mann mit einer Narbe im Gesicht. Glaubt Ihr, er könnte einer der... Freunde sein, vor denen Ihr uns gewarnt habt?«
»So eine Narbe?« sagte Rand und fuhr sich mit dem Finger über die Nase bis zum Mundwinkel. »Er hat mich auch angestarrt.« Er blickte sich im Saal um. Die Leute gingen langsam hinaus, und die meisten derer, die immer noch blieben, hatten sich um Thom versammelt. »Er ist jetzt nicht mehr da.«
»Ich habe den Mann gesehen«, sagte Lan. »Laut Meister Fitch ist er ein Spion der Weißmäntel. Der sollte uns kein Kopfzerbrechen bereiten.« Vielleicht nicht, aber Rand bemerkte, daß irgend etwas den Behüter störte.
Rand sah Mat an, der wieder diesen unbeweglichen Gesichtsausdruck zeigte, der immer bedeutete, daß er etwas verbarg. Ein Spion der Weißmäntel. Konnte es sein, daß Bornhald sich unbedingt an ihnen rächen wollte? »Wir brechen früh auf?« sagte er. »Wirklich früh?«
Vielleicht könnten sie schon weg sein, bevor etwas in der Hinsicht geschah?
»Beim ersten Tageslicht«, antwortete der Behüter.
Als sie den Schankraum verließen, sang Mat leise Bruchstücke von Liedern, und Perrin blieb manchmal stehen, um einen neuen Tanzschritt auszuprobieren, den er gelernt hatte. Thom gesellte sich in bester Laune zu ihnen. Lans Gesicht zeigte keinen Ausdruck, als sie zur Treppe gingen.
»Wo schläft Nynaeve?« fragte Mat. »Meister Fitch sagte, er habe uns die letzten Zimmer gegeben.«
»Sie hat ein Bett«, sagte Thom trocken, »bei Frau Alys und dem Mädchen.«
Perrin pfiff durch die Zähne, und Mat knurrte: »Blut und Asche! Ich möchte nicht in Egwenes Haut stecken, selbst wenn sie mir alles Gold in Caemlyn böten!«
Nicht zum ersten Mal wünschte sich Rand, Mat könnte einmal ernsthaft mehr als zwei Minuten lang über dieselbe Sache nachdenken. Sie fühlten sich im Moment nicht gerade wohl in ihrer Haut. »Ich gehe und hole Milch«, sagte er. Vielleicht würde ihm das beim Einschlafen helfen. Vielleicht werde ich heute nacht nicht träumen.
Lan sah ihn scharf an. »Irgend etwas stimmt heute abend nicht. Geh nicht weit weg. Und denk daran: Wir reiten los, gleich, ob du wach genug bist, um aufrecht im Sattel zu sitzen, oder ob wir dich festbinden müssen.«
Der Behüter ging die Treppe hinauf, und die anderen folgten ihm mit unterdrückter Fröhlichkeit. Rand stand allein im Flur. Nachdem die ganze Zeit so viele Menschen um ihn herum gewesen waren, fühlte er sich nun wirklich einsam.
Er eilte in die Küche, wo eines der Küchenmädchen immer noch bei der Arbeit war. Sie goß ihm einen Krug Milch aus einer großen Steinkanne ein. Als er trinkend aus der Küche kam, bewegte sich eine Gestalt in stumpfem Schwarz durch den Flur auf ihn zu. Sie erhob blasse Hände und warf die dunkle Kapuze zurück, die das Gesicht darunter verborgen hatte. Der Umhang hing regungslos herunter, während sich die Gestalt bewegte, und das Gesicht... war das Gesicht eines Mannes, doch totenbleich wie eine Larve unter einem Felsblock. Es hatte keine Augen. Vom fettigschwarzen Haar bis zu den runden Wangen war es glatt wie eine Eierschale. Rand verschluckte sich und verschüttete Milch.
Rand ließ den Krug fallen und trat vorsichtig zurück. Er wollte rennen, aber alles, was er fertigbrachte, war, seine Füße zu einem zögernden Schritt nach dem anderen zu bewegen. Er konnte sich nicht von diesem augenlosen Gesicht befreien; sein Blick wurde davon angezogen, und sein Magen drehte sich um. Er versuchte, um Hilfe zu rufen, zu schreien, doch seine Kehle war wie ein Stein. Jeder rauhe Atemzug schmerzte.
Der Blasse glitt ohne Eile näher. Seine Schritte zeigten eine sinnlichtödliche Eleganz, wie bei einer Schlange, wobei die Ähnlichkeit noch durch die überlappenden Schuppen des Brustpanzers betont wurde. Dünne, blutleere Lippen verzogen sich in einem grausamen Lächeln. Der Hohn des Lächelns wirkte unter der glatten, blassen Haut, wo die Augen sein sollten, besonders einprägsam. Gegen diese Stimme wirkte die Bornhalds warm und sanft. »Wo sind die anderen? Ich weiß, daß sie hier sind. Rede, Junge, und ich werde dich am Leben lassen.«
Rands Rücken berührte Holz, eine Wand oder eine Tür; er konnte sich nicht dazu bringen, sich danach umzusehen. Nun, da seine Füße einmal stehengeblieben waren, konnte er sie nicht wieder zum Gehen bringen. Er schauderte und beobachtete, wie der Myrddraal näher glitt. Bei jedem langsamen Schritt wurde sein Zittern stärker.
»Sprich, sage ich, oder... «
Von oben kam das schnelle Trampeln von Stiefeln, von der Treppe weiter hinten im Flur her, und der Myrddraal unterbrach sich und wirbelte herum. Der Umhang hing bewegungslos herunter. Einen Augenblick lang beugte der Blasse den Kopf zur Seite, als könne dieser augenlose Blick die Holzwand durchbohren. Ein Schwert erschien in der totenblassen Hand. Die Schneide war genauso schwarz wie der Umhang. Das Licht im Flur trübte sich in der Gegenwart dieser Klinge. Das Stiefelgetrampel wurde lauter, und der Blasse fuhr mit einer knochenlosweichen Bewegung wieder zu Rand herum. Die schwarze Klinge hob sich; dünne Lippen zogen sich in einem tierischen Knurren hoch. Zitternd wurde Rand klar, daß er sterben mußte. Mitternachtsstahl zuckte auf seinen Kopf zu... und verhielt.
»Du gehörst dem Großen Herren der Dunkelheit an.« Das von rauhem Atmen durchsetzte Krächzen dieser Stimme klang, als kratzten Fingernägel über eine Schieferplatte. »Du gehörst ihm.«
Der Blasse wirbelte verschwommen schwarz herum und eilte den Flur hinunter — weg von Rand. Die Schatten am Ende des Flurs streckten Arme aus und zogen ihn an sich, und dann war er verschwunden.
Lan sprang die letzten Stufen herunter und landete mit einem Krachen, das Schwert in der Hand.
Rand rang um Worte. »Ein Blasser«, keuchte er. »Er war... «
Plötzlich erinnerte er sich an sein Schwert. Solange der Myrddraal ihm gegenübergestanden hatte, war ihm dieser Gedanke überhaupt nicht gekommen. Nun zog er unbeholfen die Klinge mit dem Reiherzeichen heraus, und es war ihm gleich, ob es nun zu spät war. »Er ist dort hinunter gerannt!«
Lan nickte abwesend; er schien nach etwas anderem zu lauschen. »Ja. Es geht fort, es verschwindet langsam. Keine Zeit zur Verfolgung. Wir reisen ab, Schafhirte.«
Weitere Stiefel polterten die Treppe herunter: Mat und Perrin und Thom mit Decken und Satteltaschen beladen. Mat schnürte im Laufen noch seine Bettrolle; den Bogen hatte er quer unter den Arm geklemmt.
»Abreisen?« fragte Rand. Er steckte das Schwert wieder in die Scheide und nahm Thom seine Sachen ab. »Jetzt? In der Nacht?«
»Willst du warten, bis der Halbmensch zurückkommt, Schafhirte?« sagte der Behüter ungeduldig. »Auf ein halbes Dutzend von ihnen? Es weiß jetzt, wo wir sind.«
»Ich werde wieder mit Euch reiten«, sagte Thom zu dem Behüter, »falls Ihr nichts dagegen habt. Zu viele Leute erinnern sich daran, daß ich mit Euch gekommen bin. Ich fürchte, noch vor Anbruch des Tages wird es sich als schlecht erweisen, als Euer Freund zu gelten.«
»Ihr könnt mit uns oder auch zum Shayol Ghul reiten, Gaukler.« Lans Scheide dröhnte, so heftig rammte er sein Schwert hinein.
Ein Stallbursche rannte von der Hintertür her an ihnen vorbei, und dann erschien Moiraine mit Meister Fitch und dahinter Egwene mit ihrem zusammengerollten Schal auf den Armen. Und Nynaeve. Egwene sah beinahe zu Tränen verängstigt aus, doch das Gesicht der Seherin war eine Maske aus beherrschtem Zorn.
»Ihr müßt das ernst nehmen«, sagte Moiraine zu dem Wirt. »Es wird hier spätestens gegen Morgen Ärger geben. Vielleicht Schattenfreunde, vielleicht auch noch Schlimmeres. Wenn es beginnt, dann macht ihnen ganz schnell klar, daß wir fort sind. Leistet keinen Widerstand. Laßt nur denjenigen, wer es auch sein mag, wissen, daß wir in der Nacht abgereist sind, dann wird man Euch nicht weiter belästigen. Sie sind hinter uns her.«
»Macht Euch keine Sorgen in bezug auf Ärger, wie Ihr es nennt«, antwortete Meister Fitch jovial. »Keine Angst. Wenn jemand in meine Schenke kommt und meinen Gästen ans Leder will... dann machen meine Burschen und ich kurzen Prozeß mit ihnen. Kurzen Prozeß. Und wir werden ihnen kein Wort darüber sagen, wohin Ihr geritten oder wann Ihr aufgebrochen seid und noch nicht einmal, daß Ihr überhaupt hier wart. Ich kann so was nicht ausstehen. Hier wird keiner ein Wort über Euch verlieren. Kein Wort!«
»Aber... «
»Frau Alys, ich muß mich jetzt wirklich um Eure Pferde kümmern, wenn Ihr schnell abreisen wollt.« Er entzog seinen Ärmel ihrem Griff und trabte in Richtung Stall.
Moiraine seufzte bedrückt. »Ein schrecklich sturer Mann. Er hört einfach nicht auf mich.«
»Glaubt Ihr, daß hier Trollocs nach uns suchen werden?« fragte Mat.
»Trollocs!« fuhr Moiraine ihn an. »Natürlich nicht! Es gibt andere Dinge, vor denen wir uns fürchten müssen! Nicht zuletzt, weil man uns hier aufgespürt hat.« Sie mißachtete Mats Verärgerung und fuhr gleich fort: »Der Blasse wird nicht glauben, daß wir hier bleiben, nachdem wir nun wissen, daß er uns gefunden hat. Aber Meister Fitch nimmt die Schattenfreunde nicht ernst genug. Er glaubt, sie sind erbärmliche Kriecher, die sich in den Schatten verstecken, aber Schattenfreunde findet man in den Läden und in den Straßen einer jeden Stadt und manchmal auch in den höchsten Ratsversammlungen. Der Myrddraal schickt sie vielleicht aus, um herauszufinden, was wir planen.« Sie drehte sich auf der Stelle um und ging, dicht gefolgt von Lan.
Als sie zu den Ställen weitergingen, lief Rand neben Nynaeve her. Auch sie trug ihre Satteltaschen und Decken. »Also kommst du nun doch mit«, sagte er. Min hatte recht.
»War da wirklich etwas hier unten?« fragte sie ruhig. »Sie behauptete, es sei... « Sie schwieg plötzlich und sah ihn an.
»Ein Blasser«, antwortete er. Es überraschte ihn selbst, daß er so ruhig darüber sprechen konnte. »Er war im Flur bei mir, und dann kam Lan.«
Nynaeve zog ihren Umhang zurecht, um sich vor dem Wind zu schützen, als sie die Schenke verließen. »Vielleicht ist etwas hinter euch her. Aber ich bin gekommen, um euch sicher nach Emondsfeld zurückzubringen, euch alle, und ich werde nicht gehen, bevor ich das nicht erreicht habe. Ich lasse euch nicht mit einer von ihrer Art allein.« In den Ställen bewegten sich Laternen, wo die Stallburschen ihre Pferde sattelten.
»Mutch!« rief der Wirt von der Stalltür her, wo er mit Moiraine stand. »Beweg deine Knochen!« Er wandte sich wieder ihr zu. Dabei schien er zu versuchen, sie zu beruhigen, anstatt ihr richtig zuzuhören, auch wenn er es auf sehr ehrerbietige Art tat. Zwischen den Befehlen an die Stallknechte verbeugte er sich immer wieder.
Die Pferde wurden herausgeführt. Die Stallknechte beschwerten sich leise über die Eile und die späte Abreise. Rand hielt Egwenes Bündel und reichte es ihr hinauf, als sie auf Belas Rücken Platz genommen hatte. Sie sah ihn mit großen, angsterfüllten Augen an. Wenigstens glaubt sie jetzt nicht mehr, daß es bloß ein Abenteuer ist.
Er schämte sich, kaum daß ihm dieser Gedanke gekommen war. Sie befand sich seinetwegen und der anderen wegen in Gefahr. Selbst allein nach Emondsfeld heimzureiten wäre sicherer, als mit ihnen weiterzuziehen. »Egwene, ich... «
Die Worte erstarben ihm im Mund. Sie war zu halsstarrig, um jetzt zurückzukehren, nicht, nachdem sie gesagt hatte, sie werde bis Tar Valon dabei sein. Wie ist es mit dem, was Min gesehen hat? Sie ist ein Teil des Ganzen. Licht, wovon eigentlich?
»Egwene«, sagte er, »es tut mir leid. Ich kann einfach nicht mehr klar denken.«
Sie beugte sich herunter und drückte ihm fest die Hand. Im Licht vom Stall her konnte er ihr Gesicht ganz deutlich sehen. Sie sah nicht mehr so verängstigt aus wie vorher.
Als sie alle aufgesessen waren, bestand Meister Fitch darauf, sie selbst zum Tor zu führen, während die Stallburschen den Weg mit ihren Laternen beleuchteten. Der rundliche Wirt verabschiedete sich unter Verbeugungen und versicherte ihnen, er werde ihr Geheimnis wahren, und er lud sie ein wiederzukommen. Mutch beobachtete ihren Abschied genauso mürrisch, wie er ihre Ankunft beobachtet hatte.
Das war einer, dachte Rand, der keineswegs kurzen Prozeß mit jemandem machen oder überhaupt jemanden abweisen würde. Mutch würde dem ersten, der ihn fragte, erzählen, wann sie losgeritten waren und alles andere außerdem, was sie betraf. Ein kleines Stück die Straße hinunter blickte er zurück. Eine Gestalt stand noch da, die Laterne hoch erhoben, und sah ihnen nach. Er mußte das Gesicht nicht sehen, um zu wissen, daß es sich um Mutch handelte.
Zu dieser Nachtstunde lagen die Straßen Baerlons verlassen da. Den geschlossenen Fensterläden entkamen nur hier und da schwache Lichtstrahlen, und der Mondschein veränderte seine Helligkeit ständig durch die vom Wind getriebenen Wolkenfetzen. Gelegentlich bellte ein Hund, wenn sie an einer Einfahrt vorbeikamen, aber ansonsten störte kein anderer Laut die Nachtruhe, bis auf das Hufegeklapper ihrer Pferde und den Wind, der über die Dächer pfiff. Die Reiter schwiegen. Jeder war in seinen Umhang gehüllt und hing seinen eigenen Gedanken nach.
Wie gewöhnlich führte der Behüter sie an, und Moiraine und Egwene ritten dicht hinter ihm. Nynaeve hielt sich nahe bei dem Mädchen, während die anderen eng zusammengedrückt den Schluß bildeten. Lan ließ die Pferde eine schnelle Gangart anschlagen.
Rand beobachtete die Straßen um sie herum mißtrauisch, und er bemerkte, daß seine Freunde es ihm gleichtaten. Die sich verschiebenden Schatten, die der Mond warf, erinnerten ihn an die Schatten am Ende des Flurs und wie sie scheinbar nach dem Blassen gegriffen hatten. Bei jedem gelegentlichen Geräusch in der Ferne, wie einem heruntergefallenen Faß oder dem Bellen eines weiteren Hundes, fuhren alle Köpfe ruckartig herum. Langsam und beinahe unmerklich rückten sie bei ihrem Weg durch die Stadt immer näher an Lans schwarzen Hengst und Moiraines weiße Stute heran.
Am Caemlyn-Tor stieg Lan ab und hämmerte mit der Faust an die Tür eines kleinen, viereckigen Steingebäudes, das an die Stadtmauer angebaut war. Ein müder Wächter erschien. Er rieb sich schläfrig die Augen. Als Lan sprach, verschwand seine Schlaftrunkenheit, und er sah an dem Behüter vorbei und betrachtete die anderen. »Ihr wollt die Stadt verlassen?« rief er. »Jetzt? Mitten in der Nacht? Ihr müßt verrückt geworden sein!«
»Wenn es keinen Befehl des Statthalters gibt, der unsere Abreise verbietet...?« sagte Moiraine. Sie war ebenfalls abgestiegen, aber sie blieb von der Tür weg und mied das aus ihr auf die dunkle Straße fallende Licht. »Nicht direkt, Herrin.« Der Wächter sah angestrengt nach ihr und verzog das Gesicht bei dem Versuch, ihres zu erkennen. »Aber die Tore sind zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang geschlossen. Man kann nur bei Tageslicht hereinkommen. So lautet der Befehl. Außerdem gibt es dort draußen Wölfe. Letzte Woche haben sie ein Dutzend Kühe gerissen. Könnten auch einen Menschen ganz leicht töten.«
»Keiner darf hereinkommen, aber der Befehl sagt nichts vom Verlassen der Stadt«, sagte Moiraine, als sei damit das letzte Wort gesprochen. »Seht Ihr? Wir verlangen nicht, daß Ihr dem Befehl des Statthalters zuwiderhandelt.«
Lan drückte dem Wächter etwas in die Hand. »Für Eure Mühe«, murmelte er.
»Ich schätze«, sagte der Wächter bedächtig. Er sah auf seine Hand hinunter; Gold glänzte darin, und er steckte den Inhalt hastig in seine Tasche. »Ich schätze, der Befehl sagt nichts über das Verlassen der Stadt aus. Einen Moment, bitte.« Er steckte den Kopf durch die Tür. »Arin! Dar! Kommt heraus und helft mir, das Tor zu öffnen. Da sind Leute, die hinaus wollen. Widersprecht nicht! Tut's einfach!«
Zwei weitere Wächter kamen aus dem Haus, blieben stehen und betrachteten in schläfriger Überraschung die Reisegesellschaft von acht Leuten, die darauf wartete, hinausgelassen zu werden. Unter den Anweisungen des ersten Wächters schlurften sie hinüber und drehten das große Rad, mit dem der dicke Riegel heruntergelassen wurde. Dann konzentrierten sie ihre Anstrengungen darauf, das Tor aufzuschieben. Das Sperrad klickte schnell beim Mitdrehen, aber die gut geölten Torflügel schwangen ansonsten lautlos auf. Bevor sie allerdings auch nur ein Viertel geöffnet waren, sprach eine kalte Stimme aus der Dunkelheit: »Was soll das bedeuten? Muß dieses Tor nicht bis Sonnenaufgang geschlossen bleiben?«
Fünf in weiße Mäntel gehüllte Gestalten traten in den Lichtschein aus der Tür des Wachhauses. Ihre Schals waren hochgezogen und verbargen die Gesichter, aber jeder der Männer hatte eine Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt, und die goldenen Sonnen auf ihrer linken Brustseite zeigten deutlich, wer sie waren. Mat fluchte leise vor sich hin. Die Wächter hörten auf zu drehen und sahen sich unentschlossen an.
»Das geht Euch nichts an«, sagte der erste Wächter grob. Fünf weiße Kapuzen drehten sich zu ihm hin und er endete mit kläglicher Stimme: »Die Kinder haben hier nichts zu sagen. Der Statthalter... «
»Die Kinder des Lichts«, sagte der Mann im weißen Mantel, der zuerst gesprochen hatte, sanft, »haben etwas zu sagen, wo auch immer Menschen im Licht wandeln. Nur dort, wo der Schatten des Dunklen Königs regiert, lehnt man die Kinder ab, ja?« Er drehte sich vom Wächter weg Lan zu, und dann plötzlich sah er sich den Behüter genauer und aufmerksamer an.
Der Behüter hatte sich nicht bewegt; im Gegenteil, er wirkte völlig entspannt. Doch nicht viele Menschen waren in der Lage, die Kinder so unbeachtet zu lassen. Lans steinernes Gesicht hätte genausogut einen Schuhputzer anblicken können. Als der Weißmantel weitersprach, klang es mißtrauisch.
»Welche Art von Menschen will die Mauern einer Stadt zu dieser Nachtzeit und in solchen Zeiten verlassen? Wenn Wölfe in der Dunkelheit lauern und das Geschöpf des Dunklen Königs über die Stadt fliegt?« Er betrachtete das geflochtene Lederband um Lans Stirn, das seine langen Haare zurückhielt. »Einer aus dem Norden, ja?«
Rand machte sich im Sattel kleiner. Ein Draghkar. Es mußte einer sein, außer der Mann hätte irgend etwas, das er nicht verstand, einfach als ein Geschöpf des Dunklen Königs bezeichnet. Wenn schon ein Blasser im Hirsch und Löwen war, dann sollte man auch einen Draghkar erwarten, doch im Moment wollte er darüber nicht nachdenken. Er glaubte, die Stimme des Weißmantels zu erkennen.
»Reisende«, erwiderte Lan ruhig. »Unwichtig, was Euch und die Euren betrifft.«
»Für die Kinder des Lichts ist niemand unwichtig.«
Lan schüttelte leicht den Kopf. »Wollt Ihr wirklich noch mehr Schwierigkeiten mit dem Statthalter bekommen? Er hat Eure Anzahl in der Stadt beschränkt, auch wenn Ihr seinen Befehlen hier gehorcht. Was wird er tun, wenn er feststellt, daß Ihr ehrliche Bürger an seinen Toren belästigt?« Er wandte sich dem Wächter zu. »Warum habt Ihr aufgehört?« Sie zögerten, legten die Hände auf die Winde und zögerten doch wieder, als der Weißmantel sprach.
»Der Statthalter weiß nicht, was unter seiner eigenen Nase geschieht. Es gibt Böses, das er nicht sieht oder riecht. Aber die Kinder des Lichts sehen es.« Die Wächter sahen sich an; ihre Hände öffneten und schlossen sich, als bedauerten sie, ihre Speere im Wachhaus gelassen zu haben. »Die Kinder des Lichts riechen das Böse.« Die Augen des Weißmantels kehrten zu den Berittenen zurück. »Wir riechen es und jäten es, wo immer wir das Böse finden.«
Rand versuchte, sich noch kleiner zu machen, aber die Bewegung erregte die Aufmerksamkeit des Mannes. »Was haben wir denn hier? Jemand, der nicht gesehen werden möchte? Was wollt Ihr...? Ah!« Der Mann streifte die Kapuze seines weißen Mantels zurück, und Rand blickte in das Gesicht, von dem er gewußt hatte, daß es da war. Bornhald nickte in offensichtlicher Befriedigung. »Ganz eindeutig, Wächter, habe ich Euch vor einer großen Katastrophe bewahrt. Dies sind Schattenfreunde, denen Ihr beinahe geholfen hättet, vor dem Licht zu entfliehen. Ihr solltet dem Statthalter zur Bestrafung gemeldet werden, oder vielleicht sollte man Euch den Folterknechten zur Befragung überstellen, um herauszufinden, was Ihr heute nacht wirklich geplant hattet.« Er unterbrach sich und sah den Wächter scharf an. Seine Worte schienen jedoch keine Wirkung gehabt zu haben. »Das wollt Ihr doch nicht, oder? Statt dessen werde ich diese Schurken in unser Lager bringen, damit man sie im Licht befragen kann — statt Eurer, ja?«
»Ihr wollt mich in Euer Lager bringen, Weißmantel?«
Moiraines Stimme kam plötzlich aus allen Richtungen gleichzeitig. Beim Näherkommen der Kinder hatte sie sich in die Nacht zurückgezogen, und sie war von dichten Schatten eingehüllt. »Ihr wollt mich verhören?« Die Dunkelheit verzerrte ihre Gestalt, als sie einen Schritt vorwärts tat; sie ließ sie größer erscheinen. »Ihr wollt meinen Weg versperren?«
Ein weiterer Schritt, und Rand schnappte nach Luft. Sie war größer. Ihr Kopf befand sich auf einer Höhe mit seinem, obwohl er auf dem Rücken des Grauen saß. Schatten hingen wie Gewitterwolken um ihr Gesicht herum.
»Aes Sedai!« rief Bornhald, und fünf Schwerter fuhren aus ihren Scheiden. »Stirb!« Die anderen vier zögerten, doch er hieb in Fortführung der Bewegung, mit der er sein Schwert gezogen hatte, bereits nach ihr. Rand schrie auf, als Moiraines Stab sich hob, um die Klinge abzufangen. Dieser fein geschnitzte Holzstab konnte wohl kaum den mit voller Kraft geschwungenen Stahl aufhalten. Schwert und Stab berührten einander, und eine Funkenfontäne sprühte auf. Ein Zischen und Dröhnen, und Bornhald wurde auf seine weißgekleideten Begleiter geschleudert. Alle fünf fielen übereinander. Aus Bornhalds Schwert erhoben sich Rauchfäden. Das Schwert lag neben ihm am Boden. Die Klinge war im rechten Winkel verbogen und beinahe in zwei Teile geschmolzen. »Ihr wagt es, mich anzugreifen?« Moiraines Stimme rollte wie Donner. Schatten wand sich um sie und verhüllte sie wie ein Kapuzenmantel. Sie ragte so hoch auf wie die Stadtmauer. Ihre Augen glühten auf sie hinunter: ein Riese, der Insekten anblickte.
»Weg!« schrie Lan. In einer blitzschnellen Bewegung riß er die Zügel von Moiraines Stute an sich und sprang in seinen eigenen Sattel. »Jetzt!« kommandierte er. Seine Schultern streiften die Torflügel, als sein Hengst wie ein geworfener Stein durch die enge Öffnung sauste. Einen Moment lang saß Rand wie angewurzelt da und stierte Moiraine an. Ihr Kopf und ihre Schultern ragten nun über die Mauer hinaus. Wächter genauso wie Kinder duckten sich und kauerten mit dem Rücken zur Wand an der Vorderseite des Wachhauses. Das Gesicht der Aes Sedai verlor sich in der Nacht, doch ihre Augen, so groß wie Vollmonde, zeigten Ungeduld und Ärger, als ihr Blick auf ihn fiel. Er schluckte schwer, rammte Wolke die Fersen in die Flanken und galoppierte hinter den anderen her.
Fünfzig Schritte von der Mauer entfernt ließ Lan sie noch einmal anhalten, und Rand blickte zurück. Moiraines schattenhafte Gestalt ragte hoch über der Palisadenwand auf. Kopf und Schultern bildeten ein Stück noch tieferer Dunkelheit vor dem Nachthimmel und waren vom Schein des dahinter verborgenen Mondes wie von einer silbernen Aura umrahmt. Als er mit offenem Mund auf die Gestalt starrte, schritt die Aes Sedai über die Mauer hinweg. Die Torflügel schlossen sich hastig. Sobald ihre Füße den Boden außerhalb der Stadt berührten, hatte sie plötzlich wieder ihre normale Größe.
»Haltet ein!« rief eine unsichere Stimme hinter der Mauer. Rand glaubte, es sei Bornhald. »Wir müssen sie verfolgen und gefangennehmen!« Aber die Wächter verlangsamten ihr Arbeitstempo keineswegs. Die Torflügel schlugen zu, und Augenblicke später krachte der Riegel herunter und verschloß das Tor. Vielleicht haben einige der anderen Weißmäntel ein geringeres Bedürfnis, sich einer Aes Sedai zum Kampf zu stellen, als Bornhald.
Moiraine eilte zu Aldieb und streichelte der Stute über die Nase, bevor sie ihren Stab hinter den Sattelgurt schob. Diesmal mußte Rand gar nicht erst hinsehen, um zu wissen, daß der Stab noch nicht einmal eine Kerbe aufwies.
»Ihr wart größer als ein Riese«, sagte Egwene atemlos und rutschte auf Belas Sattel hin und her. Keiner der anderen sagte etwas, obwohl Mat und Perrin ihre Pferde ein wenig von der Aes Sedai wegtänzeln ließen. »Tatsächlich?« sagte Moiraine abwesend, als sie sich in ihren Sattel schwang.
»Ich habe Euch gesehen«, beharrte Egwene.
»Der Verstand spielt einem in der Nacht manchen Streich; das Auge sieht etwas, das nicht da ist.«
»Das ist nicht die richtige Zeit für Spiele«, begann Nynaeve wütend, aber Moiraine unterbrach sie sofort.
»Wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für Spiele. Der Vorsprung, den wir im Hirsch und Löwen gewonnen haben, ist nun vielleicht wieder verloren.« Sie sah zum Tor zurück und schüttelte den Kopf. »Wenn ich nur glauben könnte, daß sich der Draghkar im Moment auf dem Boden befindet.« Mit einem Schnüffeln, das nach Selbstmitleid klang, fügte sie hinzu: »Wenn nur der Myrddraal wirklich blind wäre. Wenn ich mir schon etwas wünsche, kann es doch auch gleich das Unmögliche sein. Ach, spielt keine Rolle. Sie wissen, welchen Weg wir nehmen müssen, aber mit etwas Glück können wir ihnen immer einen Schritt voraus sein. Lan!«
Der Behüter ritt los — die Straße nach Caemlyn in östlicher Richtung hinunter. Die anderen folgten dicht hinter ihm. Die Hufe trommelten in gleichmäßigem Rhythmus auf die festgetrampelte Erde.
Sie behielten ein gleichmäßiges Tempo bei, einen schnellen Trab, den die Pferde stundenlang auch ohne die Hilfe einer Aes Sedai durchhalten konnten. Bevor sie jedoch nur eine Stunde unterwegs waren, stieß Mat einen Schrei aus und zeigte nach hinten. »Seht dort!«
Sie ließen die Pferde anhalten und blickten zurück. Flammen erhellten die Nacht über Baerlon, als habe jemand ein Freudenfeuer von der Größe eines Hauses angelegt. Die Unterseite der Wolken war rot gefärbt. Der Wind wirbelte Funkenströme durch die Luft.
»Ich habe ihn gewarnt«, sagte Moiraine, »aber er wollte es nicht ernst nehmen.« Aldieb tänzelte zur Seite. Die Bewegung spiegelte die Enttäuschung der Aes Sedai wider. »Er wollte es nicht ernst nehmen.«
»Die Schenke?« fragte Perrin. »Das ist der Hirsch und Löwe? Wie könnt Ihr so sicher sein?«
»Wie lange wirst du noch an Zufälle glauben?« fragte Thom. »Es könnte auch das Haus des Statthalters sein, aber das ist es nicht. Und es ist kein Lagerhaus oder irgendein Herd, der eine Küche in Brand setzte, und auch nicht der Heustadel deiner Großmutter.«
»Vielleicht leuchtet uns das Licht ein wenig heute nacht«, sagte Lan, und Egwene fuhr ihn zornig an: »Wie könnt Ihr so etwas sagen? Die Schenke des armen Meister Fitch steht in Flammen! Menschen könnten verletzt werden!«
»Wenn sie die Schenke angegriffen haben«, sagte Moiraine, »dann blieb möglicherweise unser Ritt aus der Stadt und mein... Kunststück unbemerkt.«
»Oder das ist genau das, was uns der Myrddraal glauben machen will«, fügte Lan hinzu.
Moiraine nickte in der Dunkelheit. »Vielleicht. Auf jeden Fall müssen wir schnell weiter. Diese Nacht wird sich keiner von uns ausruhen können.«
»Ihr sagt das so leichthin, Moiraine«, rief Nynaeve.
»Was ist mit den Menschen in der Schenke? Es muß Verwundete geben, und der Wirt hat seinen Lebensunterhalt Euretwegen verloren! Mit all Eurem Geschwätz darüber, im Licht zu wandeln, wollt Ihr bereitwillig weiterreiten, ohne an ihn zu denken. Er hat Euretwegen nun Schwierigkeiten!«
»Wegen diesen dreien«, sagte Lan zornig. »Das Feuer, die Verwundeten, alles geschieht wegen diesen drei Burschen. Die Tatsache, daß ein solcher Preis bezahlt werden muß, zeigt, daß er das Bezahlen wert ist. Der Dunkle König will diese Jungen haben, und alles, wonach er so angestrengt sucht, muß von ihm ferngehalten werden. Oder überlaßt Ihr sie nun dem Blassen?«
»Beruhige dich, Lan«, sagte Moiraine. »Entspanne dich. Seherin, glaubt Ihr, ich könne Meister Fitch und den Leuten in der Schenke helfen? Na ja, Ihr habt recht.« Nynaeve wollte etwas sagen, aber Moiraine wischte es mit einer Handbewegung zur Seite und fuhr fort: »Ich kann allein zurückgehen und helfen. Nicht zu viel natürlich. Das würde die Aufmerksamkeit auf jene lenken, denen ich helfe, und dafür würden sie mir nicht danken, besonders weil die Kinder des Lichts in der Stadt sind. Dann wäre allerdings nur Lan übrig, euch zu schützen. Er ist sehr fähig, aber es wird doch mehr nötig sein, falls ihr von einem Myrddraal und einer Faust Trollocs aufgespürt werdet. Natürlich könnten wir auch alle zurückkehren, obwohl ich bezweifle, daß ich alle unbemerkt wieder nach Baerlon hineinbringen könnte. Das würde euch alle demjenigen aussetzen, der das Feuer gelegt hat, von den Weißmänteln ganz zu schweigen. Welche Möglichkeit würdet Ihr wählen, Seherin, wenn Ihr an meiner Stelle wärt?«
»Ich würde etwas unternehmen«, murmelte Nynaeve undeutlich.
»Und höchstwahrscheinlich dem Dunklen König seinen Sieg schenken«, antwortete Moiraine. »Denkt daran, was -wer — es ist, den er haben will. Wir befinden uns in einem Krieg, genauso wie die Leute in Ghealdan, obwohl dort Tausende kämpfen und hier nur acht von uns. Ich werde Meister Fitch Gold schicken lassen, genug, um den Hirsch und Löwen wieder aufbauen zu lassen, Gold, dessen Weg man nicht nach Tar Valon zurückverfolgen kann. Und natürlich auch Hilfe für alle, die verletzt wurden. Alles weitere würde sie aber nur gefährden. Es ist keineswegs einfach, wie Ihr seht. Lan.« Der Behüter ließ sein Pferd wenden und ritt wieder los.
Von Zeit zu Zeit blickte Rand zurück. Schließlich war alles, was er noch sehen konnte, das Glühen unter den Wolken, und dann verlor sich auch das in der Dunkelheit. Er hoffte, daß Min nichts geschehen war.
Alles war immer noch pechschwarz, als Lan sie endlich von der festgetrampelten Straße wegführte und abstieg. Rand schätzte, daß es nur noch wenige Stunden bis zum Morgen sein konnten. Sie legten den Pferden Fußfesseln an, ließen sie aber voll gesattelt stehen und bereiteten sich ein kaltes Lager. »Eine Stunde«, warnte Lan sie, als sich jeder außer ihm in eine Decke wickelte. Er würde Wache stehen, während sie schliefen. »Eine Stunde, dann müssen wir uns wieder auf den Weg machen.« Stille senkte sich über sie.
Nach ein paar Minuten flüsterte Mat Rand etwas so leise zu, daß er es kaum hören konnte: »Ich frage mich, was Dav mit dem Dachs angefangen hat.« Rand schüttelte schweigend den Kopf, und Mat zögerte. Schließlich sagte er: »Ich dachte, wir seien sicher, weißt du, Rand? Kein Anzeichen einer Verfolgung, seit wir den Taren überquerten, und dann waren wir auch noch in einer befestigten Stadt. Ich dachte, wir seien in Sicherheit. Und dann dieser Traum. Und ein Blasser. Werden wir jemals wieder sicher sein?«
»Nicht, bevor wir Tar Valon erreichen«, sagte Rand. »Das hat sie uns gesagt.«
»Werden wir uns dann in Sicherheit befinden?« fragte Perrin leise, und alle drei schauten hinüber zu der schattenhaften Erhebung am Boden, die von der Aes Sedai zu sehen war. Lan war mit der Dunkelheit verschmolzen; er konnte überall sein.
Rand gähnte plötzlich anhaltend. Die anderen zuckten bei dem Geräusch nervös zusammen. »Ich glaube, wir sollten ein wenig schlafen«, sagte er. »Wach zu bleiben hilft uns auch nicht, Antworten auf unsere Fragen zu finden.«
Perrin sagte ruhig: »Sie hätte etwas tun sollen.« Keiner antwortete.
Rand drehte sich auf die Seite, um eine Wurzel zu meiden, legte sich auf den Rücken, rollte sich von einem Stein weg auf den Bauch und lag schon wieder auf einer Wurzel. Sie hatten nicht gerade an einem guten Lagerplatz Halt gemacht, keinem wie jene, die der Behüter auf seinem Weg vom Taren nach Norden ausgewählt hatte. Er schlief mit dem Gedanken ein, ob ihn die in seine Rippen gebohrten Wurzeln wohl zum Träumen bringen würden, und erwachte, als Lan seine Schulter berührte. Seine Rippen schmerzten, und er war dankbar dafür, daß er sich nicht an irgendwelche Träume erinnern konnte, falls er überhaupt welche gehabt hatte. Es war noch in der Dunkelheit kurz vor Anbruch der Dämmerung, doch als die Decken eingerollt und hinter die Sättel geschnallt waren, ließ Lan sie weiter nach Osten zu reiten. Bei Sonnenaufgang bereiteten sie sich mit rotgeränderten Augen ein Frühstück mit Brot und Käse und Wasser und aßen im Reiten. Ihre Umhänge hatten sie zum Schutz gegen den Wind ganz eng um sich herumgeschlungen. Alle außer Lan natürlich. Er aß, und seine Augen wiesen keine roten Ränder auf, und er duckte sich nicht in den Sattel. Er hatte wieder seinen farbverändernden Umhang angelegt, und der flatterte um seine Gestalt, wechselte von Grau zu Grün, und er achtete nur insofern darauf, als daß er seinen Schwertarm frei hielt. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, aber seine Augen suchten fortwährend, als erwarte er ständig einen Überfall.