53 Das Rad dreht sich

In der Morgendämmerung zeigte sich das Ausmaß der Zerstörung im Garten des Grünen Mannes. Eine dichte, an einzelnen Stellen kniehohe Schicht abgefallener Blätter bedeckte den Boden. Alle Blumen waren verschwunden, abgesehen von einigen wenigen, die sich verzweifelt am äußersten Rand der Lichtung hielten. In der Erde unter einer Eiche konnte wohl nicht viel wachsen, aber um den dicken Stamm über dem Grab des Grünen Mannes herum wuchs ein dünner Ring von Blumen und Gras. Die Eiche selbst besaß vielleicht noch die Hälfte ihrer Blätter, und das war weit mehr als jeder andere Baum in der Umgebung. Es war, als kämpfe an diesem Fleck immer noch ein Überrest des Grünen Mannes um das Überleben. Die kühle Brise hatte sich gelegt und wurde von immer stärker werdender stickiger Hitze abgelöst. Die Schmetterlinge waren weg, die Vögel verstummt. Es war eine stille Gruppe, die sich da auf den Aufbruch vorbereitete.

Rand kletterte bedrückt in den Sattel des Braunen. Es sollte nicht so sein. Blut und Asche, wir haben doch gewonnen!

»Ich wünschte, er hätte seinen neuen Ort gefunden«, sagte Egwene, als sie sich auf Belas Rücken setzte. Lan hatte eine Bahre für Moiraine gebaut, und diese war zwischen der zerzausten Stute und Aldieb befestigt. Nynaeve würde nebenher reiten und die Zügel der weißen Stute halten. Die Seherin schlug jedesmal die Augen nieder, wenn sie bemerkte, daß Lan sie ansah. Sie mied seinen Blick. Der Behüter seinerseits blickte sie immer dann an, wenn ihr Blick abgewandt war, aber er sprach sie nicht an. Niemand mußte erst fragen, auf wen sich Egwenes Aufmerksamkeit konzentrierte.

»Es ist nicht richtig«, sagte Loial und betrachtete die Eiche. Der Ogier war der einzige, der noch nicht aufgestiegen war. »Es ist einfach nicht richtig, daß der Baumbruder der Fäule zum Opfer fallen soll.« Er gab Rand die Zügel seines großen Pferdes in die Hand. »Nicht richtig.«

Lan öffnete den Mund, als der Ogier zu der mächtigen Eiche hinüberging. Moiraine auf ihrer Bahre hob schwach die Hand, und der Behüter sagte nichts.

Loial kniete vor der Eiche nieder, schloß die Augen und streckte die Arme aus. Die Haarbüschel an seinen Ohren sträubten sich, als er das Gesicht zum Himmel erhob. Und er sang.

Rand war nicht in der Lage festzustellen, ob es Worte waren, die Loial sang, oder einfach eine wortlose Melodie. Bei dieser tiefen, grollenden Stimme klang es, als singe die Erde unter ihnen, und dann war er sicher, die Vögel wieder zwitschern und die Frühlingsbrise seufzen und die Schmetterlinge flattern zu hören. Er verlor sich in diesem Lied und glaubtet es habe nur Minuten lang gedauert, doch als Loial die Arme senkte und die Augen öffnete, war er überrascht, daß die Sonne bereits ein gutes Stück über dem Horizont stand. Als der Ogier begann, hatte sie gerade die Bäume geküßt. Die an der Eiche verbliebenen Blätter schienen nun grüner und fester mit ihren Zweigen verbunden als vorher. Die Blumen, die den Baum umringten, standen straffer aufrecht, die Morgensternchen leuchteten weiß und frisch, die Liebesknoten in kräftigem Scharlachrot.

Loial erhob sich, wischte sich den Schweiß von seinem breiten Gesicht und nahm Rand die Zügel wieder ab. Seine langen Augenbrauen hingen zerknirscht herunter, als könnten sie glauben, daß er hätte angeben wollen. »Ich habe niemals zuvor so stark gesungen. Das hätte ich auch nicht geschafft, wenn nicht ein Rest des Baumbruders noch hier zurückgeblieben wäre. Meine Baumlieder haben nicht seine Urgewalt.« Als er sich in den Sattel setzte, lag Befriedigung in dem Blick, mit dem er die Eiche und die Blumen musterte. »Wenigstens dieser kleine Fleck wird der Fäule nicht zum Opfer fallen. Die Fäule bekommt den Baumbruder nicht.«

»Ihr seid ein guter Mann, Ogier«, sagte Lan.

Loial grinste. »Ich nehme das als Kompliment, aber ich weiß nicht, was der Älteste Haman dazu sagen würde.«

Sie ritten in einer Linie los, Mat hinter dem Behüter, wo er seinen Bogen, falls notwendig, wirksam einsetzen konnte, und Perrin ganz hinten mit seiner Axt, die er quer über den vorderen Teil des Sattels gelegt hatte. Sie überquerten einen Hügel, und kaum waren sie über den Kamm, da befanden sie sich wieder mitten in der Fäule mit ihren gequälten, faulenden Pflanzen in giftigen Regenbogenfarben. Rand sah nach hinten, doch man konnte den Garten des Grünen Mannes nirgends mehr erkennen. Nur die Fäule, die sich hinter ihnen genau wie vor ihnen erstreckte. Und doch glaubte er, einen kurzen Moment lang den mächtigen Wipfel der Eiche — grün und üppig — aufragen zu sehen, bevor er verschwamm und endgültig weg war. Dann gab es nur noch die Fäule.

Er erwartete so halb, daß sie sich ihren Weg hinaus genauso erkämpfen müßten wie den hinein, aber die Fäule lag ruhig und totenstill da. Nicht ein einziger Ast zitterte, als wolle er nach ihnen schlagen, nichts schrie oder heulte, weder in ihrer Nähe, noch in der Ferne. Die Fäule schien sich zu ducken, nicht über sie herzufallen, als sei sie von einem schweren Schlag getroffen worden und erwarte den nächsten. Sogar die Sonne schien weniger rot.

Als sie an der Halskette von Seen vorbeikamen, stand die Sonne nicht weit hinter dem Zenith. Lan ließ sie in einer guten Entfernung an den Seen vorbeireiten und blickte nicht einmal hin, aber Rand schien es, als seien die sieben Türme höher als beim ersten Mal, wo sie sie erblickt hatten. Er war sicher, daß sich die zerklüfteten Turmspitzen höher über dem Boden befanden, und über ihnen konnte man fast die fugenlosen Türme in der Sonne schimmern sehen, wie sie einst gewesen waren, und Flaggen mit dem Goldenen Kranich wehten darüber im Wind. Er blinzelte und sah noch mal hin, aber die Türme verschwanden nicht ganz. Sie befanden sich dort an der Sichtbarkeitsgrenze und verblieben auch dort, bis die Fäule das Seengebiet wieder verbarg.

Vor dem Sonnenuntergang suchte der Behüter einen Lagerplatz aus, und Moiraine ließ sich von Nynaeve und Egwene dabei helfen, Amulette als Wächter rundherum aufzustellen. Die Aes Sedai flüsterte den anderen Frauen etwas ins Ohr, bevor sie damit anfing. Nynaeve zögerte, aber als Moiraine dann die Augen schloß, taten sie es ihr gleich.

Rand bemerkte, wie Mat und Perrin gafften, und fragte sich, wieso sie eigentlich so überrascht waren. Jede Frau ist eine Aes Sedai, dachte er — ohne einen Anflug von Heiterkeit. Licht hilf mir, ich bin es ja auch. Der trübe Gedanke ließ ihn den Mund halten.

»Warum ist jetzt alles anders?« fragte Perrin, während Egwene und die Seherin Moiraine auf ihr Bett halfen. »Es ist ein Gefühl...« Er zuckte seine mächtigen Schultern, als fehlten ihm die richtigen Worte.

»Wir haben dem Dunklen König einen gewaltigen Schlag versetzt«, antwortete Moiraine und ließ sich mit einem Seufzer nieder. »Der Schatten wird lange brauchen, um sich zu erholen.«

»Wie?« wollte Mat wissen. »Was haben wir denn getan?«

»Schlaft«, sagte Moiraine. »Wir sind noch nicht aus der Fäule heraus.«

Aber am nächsten Vormittag änderte sich auch nichts, soweit Rand erkennen konnte. Natürlich war die Fäule auf dem Weg nach Süden langsam schwächer ausgeprägt. Verkrüppelte Bäume wurden durch gerade gewachsene abgelöst. Die erdrückende Hitze wurde geringer. Fauliges Laub machte anderem — lediglich kränklichen — Platz; und schließlich gesundem, wie ihm bald klar wurde. Der sie umgebende Wald färbte sich rot mit neuen Trieben. Die Äste waren dicht belaubt. Am Unterholz waren Knospen zu sehen, grüne Ranken bedeckten die Steine, und frische Blumen bildeten kräftige, leuchtende Farbflecken im dichten Gras, ebenso schön wie dort, wo der Grüne Mann gewandelt war. Es schien, als wolle der bisher vom Winter abgehaltene Frühling nun alles auf einmal aufholen.

Er war nicht der einzige, der das verwundert feststellte. »Ein harter Schlag«, murmelte Moiraine. Mehr wollte sie nicht sagen.

Kletterrosen umrankten die Steinsäule an der Grenze. Männer traten aus den Wachtürmen und begrüßten sie. Ihr Lachen klang irgendwie überwältigt, und ihre Augen leuchteten überrascht, als könnten sie nicht glauben, daß unter ihren stahlgeschützten Füßen neues Gras wuchs.

»Das Licht hat den Schatten besiegt!«

»Ein großer Sieg am Tarwin-Paß! Wir haben die Botschaft erhalten! Sieg!«

»Das Licht ist uns wieder gnädig!«

»König Easar steht voll im Licht«, antwortete Lan auf alle ihre Rufe.

Die Wächter wollten sich um Moiraine kümmern oder ihnen wenigstens eine Eskorte mitschicken, aber das lehnte sie alles ab. Selbst im Liegen auf der Bahre war die Persönlichkeit der Aes Sedai so stark, daß die bewaffneten Männer einen Schritt zurücktraten, sich verbeugten und ihrem Wunsch Folge leisteten. Ihr Lachen folgte ihnen, als Rand und die anderen weiterritten.

Am Spätnachmittag erreichten sie Fal Dara und fanden die von trutzigen Mauern geschützte Stadt im Taumel einer Siegesfeier vor. Es läutete überall. Rand bezweifelte, daß irgendeine Glocke in der Stadt stillstand. Sie erklangen alle — vom kleinsten Silberglöckchen am Pferdegeschirr bis zu dem großen Bronzegong auf der Spitze jedes Turms. Die Stadttore standen weit offen, und Menschen rannten lachend und singend durch die Straßen. Die Männer hatten sich Blumen in die Haarknoten und die Scharniere ihrer Rüstungen gesteckt. Die übrigen Bewohner der Stadt waren noch nicht aus Fal Moran zurückgekehrt, aber die Soldaten waren gerade vom Tarwin-Paß her angekommen, und ihr Jubel reichte aus, um die Straßen zu füllen.

»Sieg am Paß! Wir haben gewonnen!«

»Ein Wunder am Paß! Das Zeitalter der Legenden ist zurückgekehrt!«

»Frühling«, lachte ein ergrauter alter Soldat, als er eine Girlande aus Morgensternchen um Rands Hals hängte. Sein Haarknoten war ein einziges Bündel der kleinen Blümchen. »Das Licht segnet uns wieder mit einem Frühling!«

Als sie hörten, daß sie zur Festung unterwegs waren, umringte sie eine Gruppe von Männern, die in Stahl und Blumen gekleidet waren, und bahnten ihnen einen Weg durch die Feiernden.

Rand erblickte zum erstenmal ein Gesicht, das nicht lachte, als er Ingtar erspähte. »Ich kam zu spät«, sagte Ingtar enttäuscht und ernst zu Lan. »Eine lumpige Stunde zu spät, um alles mit anzusehen. Friede!« Seine Zähne knirschten hörbar, doch dann entspannte sich sein Gesichtsausdruck. »Vergebt mir. Der Schmerz läßt mich meine Pflichten vergessen. Willkommen, Erbauer. Ein Willkommen Euch allen. Es ist gut, zu sehen, daß Ihr der Fäule heil entkommen seid. Ich werde die Heilerin zu Moiraine Sedai in ihre Räume schicken und Lord Agelmar informieren... «

»Bringt mich zu Lord Agelmar«, befahl Moiraine. »Uns alle.« Ingtar öffnete den Mund, um zu protestieren, aber dann verbeugte er sich unter ihrem dominierenden Blick.

Agelmar war in seinem Arbeitszimmer. Schwert und Rüstung standen wieder in ihrem Gestell, und sein Gesicht war das zweite, das nicht lächelte. Er trug eine besorgte Miene zur Schau, und das verstärkte sich noch, als er sah, daß Moiraine von livrierten Dienern auf einer Bahre hereingetragen wurde. Frauen in Schwarz und Gold regten sich darüber auf, daß die Aes Sedai zu ihm gebracht wurde, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, sich vorher zu erfrischen und von der Heilerin behandeln zu lassen. Loial trug die goldene Truhe herein. Die Stücke des Siegels befanden sich noch in Moiraines Tasche. Lews Therin Telamons Flagge war in ihre Decken eingerollt und noch hinter Aldiebs Sattel geschnallt. Der Stallbursche, der die weiße Stute weggeführt hatte, hatte den strikten Befehl erhalten, dafür zu sorgen, daß die Deckenrolle unversehrt in die der Aes Sedai zugewiesenen Gemächer gebracht wurde.

»Friede!« knurrte der Herr von Fal Dara. »Seid Ihr verwundet, Moiraine Sedai? Ingtar, warum hast du nicht dafür gesorgt, daß die Aes Sedai in ihr Bett kommt und die Heilerin zu ihr gebracht wird?«

»Haltet ein, Lord Agelmar«, sagte Moiraine. »Ingtar hat mir lediglich gehorcht. Ich bin nicht so krank, wie jeder hier zu glauben scheint.« Sie bedeutete zweien der Frauen, ihr auf einen Stuhl zu helfen. Einen Augenblick lang rangen sie die Hände und riefen, sie sei zu schwach dafür, sie solle in einem warmen Bett liegen und ein heißes Bad nehmen und die Heilerin solle kommen. Dann hoben sich Moiraines Augenbrauen, und die Frauen hielten den Mund und beeilten sich, ihr in einen Stuhl zu helfen. Sobald sie bequem saß, gab sie einen Wink, daß die Frauen verschwinden sollten. »Ich muß mit Euch sprechen, Lord Agelmar.«

Agelmar nickte, und Ingtar schickte die Diener aus dem Raum. Der Herr von Fal Dara musterte die Verbliebenen erwartungsvoll, besonders, wie Rand zu bemerken glaubte, Loial und die goldene Truhe.

»Wir haben gehört«, sagte Moiraine, sobald sich die Tür hinter Ingtar geschlossen hatte, »daß Ihr am Tarwin-Paß einen großen Sieg errungen habt.«

»Ja«, sagte Agelmar bedächtig, und seine besorgte Miene kehrte zurück. »Ja, Aes Sedai, und nein. Die Halbmenschen und ihre Trollocs wurden bis zum letzten vernichtet, aber wir haben kaum gekämpft. Meine Männer nennen es ein Wunder. Die Erde verschlang sie: die Berge begruben sie. Nur ein paar Draghkar blieben übrig, und sie waren zu verängstigt, um irgend etwas anderes zu versuchen, als geradewegs und so schnell wie möglich nach Norden zu fliehen.«

»Also wirklich ein Wunder«, sagte Moiraine. »Und der Frühling ist auch eingekehrt.«

»Ein Wunder«, sagte Agelmar kopfschüttelnd, »aber...

Moiraine Sedai, die Männer erzählen sich vielerlei darüber, was am Paß geschah. Das Licht habe menschliche Gestalt angenommen und für uns gekämpft. Der Schöpfer sei zum Paß gekommen, um den Schatten zu schlagen. Aber ich habe einen Mann gesehen, Moiraine Sedai. Ich habe einen Mann gesehen, und was er tat, das kann nicht sein, das darf nicht sein.«

»Das Rad webt, wie es das Rad will, Herr von Fal Dara.«

»Wie Ihr meint, Moiraine Sedai.«

»Und Padan Fain? Ist er sicher verwahrt? Ich muß mit ihm sprechen, wenn ich ausgeruht bin.«

»Er wird verwahrt, wie Ihr es befahlt, Aes Sedai. Die Hälfte der Zeit jammert er seinen Wächtern etwas vor, und die andere Hälfte über versucht er, sie herumzukommandieren, aber... Friede, Moiraine Sedai, was war mit Euch in der Fäule? Habt Ihr den Grünen Mann gefunden? Ich sehe sein Werk in den neuen Dingen, die jetzt wachsen.«

»Wir fanden ihn«, sagte sie tonlos. »Der Grüne Mann ist tot, Lord Agelmar, und das Auge der Welt ist weg. Es wird keine jungen Männer mehr geben, die es aus Ehrgeiz suchen können.«

Der Herr von Fal Dara runzelte die Stirn und schüttelte verwirrt den Kopf. »Tot? Der Grüne Mann? Er kann doch nicht... Dann wurdet Ihr besiegt? Aber was ist mit den Blumen und den anderen Dingen, die jetzt wachsen?«

»Wir haben gesiegt, Lord Agelmar. Wir haben gesiegt, und der Beweis ist ein Land, das vom Winter befreit ist, doch ich fürchte, die letzte Schlacht ist noch lange nicht geschlagen.« Rand rührte sich, und die Aes Sedai blickte ihn scharf an, so daß er sich ruhig verhielt. »Die Fäule existiert immer noch und die Schmieden von Thakan'dar rauchen immer noch, unter Shayol Ghul. Es gibt noch viele Halbmenschen und unzählige Trollocs. Glaubt niemals, daß es in den Grenzlanden nicht mehr notwendig sei, Wachsamkeit zu üben.«

»Das habe ich auch nicht geglaubt, Aes Sedai«, sagte er verletzt.

Moiraine bedeutete Loial, die goldene Truhe zu ihren Füßen abzustellen, und als er das getan hatte, öffnete sie den Behälter und enthüllte das Horn. »Das Horn von Valere«, sagte sie, und Agelmar schnappte nach Luft. Rand glaubte beinahe, der Mann wolle auf die Knie niederfallen.

»Damit, Moiraine Sedai, spielt es keine Rolle mehr, wie viele Halbmenschen und Trollocs übrig sind. Wenn die Helden der alten Zeit aus ihren Gräbern steigen, um uns zu helfen, marschieren wir in das Versengte Land und walzen Shayol Ghul platt.«

»NEIN!« Agelmar öffnete überrascht den Mund, aber Moiraine fuhr ruhiger fort: »Ich habe Euch das nicht gezeigt, um Euch in Versuchung zu bringen, sondern um Euch wissen zu lassen, daß unsere Macht genauso groß sein wird wie die des Schattens, wenn wir vor neuen Schlachten stehen. Sein Platz ist jedoch nicht hier. Das Horn muß nach Illian gebracht werden. Dort muß es im Fall neuer Schlachten die Kräfte des Lichts zusammenrufen. Ich werde Euch um eine Eskorte Eurer besten Männer bitten, um dafür zu sorgen, daß es sicher nach Illian kommt. Es gibt immer noch Schattenfreunde und Halbmenschen und Trollocs, und diejenigen, die dem Ruf des Horns folgen, werden demjenigen gehorchen, der es bläst. Es muß nach Illian.«

»Es wird geschehen, wie Ihr sagt, Aes Sedai.« Aber als sich der Deckel der Truhe schloß, sah der Herr von Fal Dara aus wie ein Mann, dem man einen letzten Blick auf das Licht verweigert.

Sieben Tage später läuteten immer noch die Glocken in Fal Dara. Die Bewohner waren aus Fal Moran zurückgekehrt und feierten mit den Soldaten. Von dem langen Balkon aus, auf dem Rand stand, vermischte sich das Läuten der Glocken mit den Rufen und dem Singen der Menschen. Der Balkon befand sich über dem privaten Garten Agelmars, der kräftig grünte und blühte, aber Rand schenkte dem Garten keine Aufmerksamkeit. Obwohl die Sonne hoch am Himmel stand, war der Frühling in Schienar kühler, als er es gewohnt war, und doch glänzten seine nackte Brust und Schultern vor Schweiß, als er die Klinge mit dem Reiherzeichen schwang. Jede Bewegung war ganz präzise, doch er betrachtete sie aus einiger Entfernung, wo er im Nichts schwebte. Selbst hier aber fragte er sich, ob in der Stadt wohl genausoviel Jubel herrschen würde, wenn die Menschen die Flagge zu sehen bekämen, die Moiraine immer noch versteckte.

»Gut, Schafhirte.« Der Behüter lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen am Geländer und beobachtete ihn kritisch. »Du machst es gut, aber treibe dich selbst nicht so! Man kann nicht in ein paar Wochen zum Schwertmeister heranreifen.«

Das Nichts zerplatzte wie eine angestochene Blase. »Ich will doch gar kein Schwertmeister werden.«

»Es ist das Schwert eines Meisters, Schafhirte.«

»Ich will nur, daß mein Vater stolz auf mich ist.« Seine Hand verkrampfte sich um das rauhe Leder des Schwertgriffs. Ich will doch nur, daß Tam mein Vater ist. Er schob das Schwert klatschend in die Scheide. »Und außerdem habe ich nicht einmal ein paar Wochen Zeit.«

»Dann bist du nicht von deinem Entschluß abgewichen?«

»Würdet Ihr das?« Lans Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert — die Flächen seines Gesichts wirkten, als könne sich da gar nichts verändern. »Ihr werdet nicht versuchen, mich aufzuhalten? Oder wird Moiraine Sedai es versuchen?«

»Du kannst machen, was du willst, Schafhirte, oder was das Muster für dich webt.« Der Behüter richtete sich auf. »Ich werde dich jetzt verlassen.«

Rand drehte sich um, damit er Lan beim Weggehen beobachten konnte, und sah, daß Egwene dort stand.

»Von deinem Entschluß abgewichen — worum geht es denn, Rand?«

Er schnappte sich sein Hemd und den Mantel, da er mit einem Mal die Kälte spürte. »Ich gehe fort, Egwene.« »Wohin?«

»Irgendwo hin. Ich weiß nicht.« Er mied ihren Blick, konnte aber auch nicht aufhören, sie anzusehen. Sie hatte sich rote Heckenrosen ins Haar gebunden, das ihre Schultern umschmeichelte. Sie hielt ihren Umhang mit der Hand zu. Er war dunkelblau und am Saum entlang mit einer feinen Linie weißer Blumen umhäkelt, wie es in Schienar Mode war. Die Blumen zeigten in einer geraden Linie auf ihr Gesicht. Sie waren auch nicht blasser als ihre Wangen. Ihre Augen waren groß und dunkel. »Fort.«

»Ich bin sicher, daß Moiraine Sedai etwas dagegen haben wird, wenn du so einfach weggehst. Nach dem... nach dem, was du getan hast, hast du eine Belohnung verdient.«

»Moiraine weiß nicht einmal, daß ich überhaupt ein lebendiger Mensch bin. Ich habe getan, was sie wollte, und damit Schluß. Sie spricht nicht einmal mit mir, wenn ich zu ihr gehe. Nicht, daß ich versucht hätte, in ihrer Nähe zu bleiben, aber sie hat mich gemieden. Es wird ihr gleich sein, wenn ich gehe, und es interessiert mich nicht, was sie davon hält.«

»Moiraine ist immer noch nicht ganz gesund, Rand.« Sie zögerte. »Ich muß nach Tar Valon gehen, meiner Ausbildung wegen. Nynaeve kommt auch mit. Und Mat muß immer noch von dem geheilt werden, was ihn an diesen Dolch fesselt, und Perrin möchte Tar Valon sehen, bevor er... irgendwo hingeht. Du könntest mit uns kommen.«

»Und darauf warten, daß eine andere Aes Sedai herausfindet, was ich bin, und mir Beschränkungen auferlegt?« Seine Stimme klang rauh und beinahe höhnisch; er konnte es nicht ändern. »Willst du das?«

»Nein.«

Er wußte, er würde nie in der Lage sein, ihr zu sagen, wie dankbar er dafür war, daß sie geantwortet hatte, ohne zu zögern.

»Rand, hast du keine Angst... « Sie waren allein, aber sie blickte sich trotzdem um und senkte die Stimme. »Moiraine Sedai sagt, du mußt die Wahre Quelle nicht unbedingt berühren. Wenn du Saidin nicht berührst, wenn du nicht versuchst, die Macht anzuwenden, dann bist du sicher.«

»Oh, ich werde sie ganz gewiß nie mehr berühren. Und wenn ich mir zuerst die Hand abhacken muß.« Und was ist, wenn ich nicht damit aufhören kann? Ich habe mich niemals bemüht, sie zu lenken, nicht mal am Auge. Was ist, wenn ich nicht aufhören kann?

»Wirst du heimgehen, Rand? Dein Vater wartet bestimmt sehnsüchtig darauf, dich wiederzusehen. Selbst Mats Vater dürfte nun wohl allmählich Sehnsucht nach seinem Sohn haben. Ich werde nächstes Jahr nach Emondsfeld zurückkommen. Jedenfalls für kurze Zeit.«

Er rieb mit der Handfläche über den Griff seines Schwerts und fühlte deutlich den Bronzereiher. Mein

Vater. Heimat. Licht, wie gern würde ich... »Nicht nach Hause.« Irgendwo hin, wo es keine Menschen gibt, denen ich weh tun kann, falls ich mich nicht beherrsche. Ich muß allein sein. Plötzlich war es winterkalt auf dem Balkon. »Ich gehe fort, aber nicht nach Hause.« Egwene, Egwene, warum mußtest du zu denen gehören, die... ? Er legte die Arme um sie und flüsterte in ihr Haar: »Niemals mehr nach Hause.«

In Agelmars privatem Garten unter einer Laube, die von weißen Blüten übersät war, drehte sich Moiraine auf ihrer Liege herum. Die Bruchstücke des Siegels lagen auf ihrem Schoß, und der kleine Edelstein, den sie manchmal im Haar trug, glitzerte und drehte sich an seiner Goldkette, die sie mit den Fingerspitzen hielt. Das schwache blaue Glühen verging in dem Stein, und ein Lächeln berührte ihre Lippen. Der Stein hatte an sich keine besonderen Kräfte, aber das erste, was sie in bezug auf die Anwendung der Einen Macht als Mädchen im Königspalast von Cairhien gelernt hatte, war, den Stein dazu zu benützen, Leute zu belauschen, die glaubten, zu weit entfernt zu sein, als daß man sie noch hören könne. »Die Prophezeiungen werden eintreffen«, flüsterte die Aes Sedai. »Der Drache ist wiedergeboren worden.«

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