5 Winternacht

Als der Karren den Bauernhof erreichte, hatte die Sonne bereits auf halbem Weg die Mittagshöhe überschritten. Es war kein großes Gebäude, bei weitem nicht so groß wie einige der ausgedehnten Anwesen im Osten, Behausungen, die über die Jahre hinweg gewachsen waren und in denen große Familien wohnten. In der Gegend der Zwei Flüsse lebten oftmals drei oder vier Generationen unter einem Dach, und das schloß Tanten, Onkel, Vetter und Neffen mit ein. Tam und Rand galten als außergewöhnlich in zweierlei Hinsicht: Die beiden Männer lebten allein, und ihr Hof lag im Westwald.

Hier befanden sich die meisten Räume auf ebener Erde. Das Haus bildete ein sauberes Rechteck ohne Seitenflügel oder Anbauten. Zwei Schlafzimmer und ein Speicher fügten sich noch oben unter das steile Strohdach. Obwohl die weiße Tünche nach den Winterstürmen fast ganz von den massiven Holzwänden verschwunden war, befand sich das Haus immer noch in ordentlichem Zustand. Das Strohdach war wieder dicht, Türen und Fensterläden waren gut befestigt und paßten genau.

Haus, Scheune und der von einer Steinmauer eingefaßte Schafpferch bildeten ein Dreieck um den Hof. Dort hatten sich ein paar Hühner hinausgewagt und scharrten im kalten Erdreich herum. Gleich neben dem Schafpferch standen ein offener Schuppen zum Scheren der Schafe und ein steinerner Brunnentrog. Am Rand der Felder zwischen dem Hof und den Bäumen ragte der hohe Kegel eines Trockenraums auf. Nur wenige Bauern der Zwei Flüsse kamen ohne den Tabakanbau aus, der es ihnen ermöglichte, den Kaufleuten, wenn sie endlich kamen, Wolle und Tabak zu verkaufen.

Als Rand in den Steinpferch schaute, blickte der Leithammel zu ihm auf, die meisten Schafe der schwarzgesichtigen Herde blieben aber friedlich dort, wo sie lagen oder standen, die Köpfe im Futtertrog. Ihre Wolle war dicht und lockig, aber es war noch zu kalt zum Scheren.

»Ich glaube nicht, daß der Schwarzgekleidete hierhergekommen ist!« rief Rand seinem Vater zu, der langsam um das Haus herumging, einen Speer kampfbereit in der Hand, und den Boden genau betrachtete. »Die Schafe wären nicht so ruhig, wenn er dagewesen wäre.«

Tam nickte, blieb aber nicht stehen. Als er seine Runde um das Haus beendet hatte, ging er anschließend genauso aufmerksam um die Scheune und den Pferch herum, wobei er immer noch den Boden nach Spuren untersuchte. Er überprüfte sogar die Räucherkammer und den Trockenraum. Er zog einen Eimer Wasser aus dem Brunnen, schöpfte eine Handvoll, roch daran und berührte das Wasser vorsichtig mit der Zungenspitze. Dann lachte er plötzlich laut auf und trank es mit einem schnellen Schluck.

»Ich glaube auch, er war nicht da«, sagte er zu Rand und wischte sich die Hand am Mantel ab. »Das ganze Gerede über Männer und Pferde, die ich nicht sehen oder hören kann, macht mich so nervös, daß ich schon alles schief anschaue.« Er goß das Brunnenwasser in einen anderen Eimer und ging auf das Haus zu, in der einen Hand den Eimer, in der anderen den Speer. »Ich werde einen Eintopf aufsetzen, damit wir etwas zum Essen bekommen. Und wenn wir sowieso schon hier sind, können wir auch mit der Arbeit anfangen.«

Rand schnitt eine Grimasse. Er bedauerte, die Winternacht nicht in Emondsfeld verbringen zu können. Aber Tam hatte recht. Auf einem Bauernhof hörte die Arbeit niemals auf; kaum hatte man eine Sache erledigt, tauchten schon zwei andere auf, um die man sich kümmern mußte. Er zögerte, behielt aber dann Bogen und Köcher doch bei sich. Falls der dunkle Reiter erschien, wollte er ihm nicht nur mit einer Hacke begegnen.

Zuerst mußte Bela in den Stall gebracht und versorgt werden. Sobald er sie ausgespannt und in einer Box in der Scheune gleich neben der Kuh untergebracht hatte, legte er den Umhang ab und rieb die Stute mit trockenem Stroh ab. Anschließend striegelte er sie mit zwei Bürsten. Er kletterte die schmale Leiter zum Heuboden hinauf und warf Heu für Bela hinunter. Er nahm auch einen Scheffel Hafer mit, obwohl nicht mehr viel da war und sie möglicherweise längere Zeit keinen Hafer mehr bekommen würden — es sei denn, es würde endlich warm. Die Kuh hatten sie schon im ersten Morgenlicht gemolken. Sie hatte nur ein Viertel ihrer normalen Menge gegeben; im Verlauf des langen Winters schien sie auszutrocknen.

Sie hatten den Schafen Futter für zwei Tage dagelassen — sie hätten eigentlich längst auf der Weide stehen sollen, doch es gab kaum Gras für sie -, aber er füllte ihren Wassertrog wieder auf. Auch die mittlerweile gelegten Eier mußten eingesammelt werden. Es waren nur drei. Die Hühner wurden anscheinend immer schlauer und versteckten sie zu gut.

Er ging gerade mit einer Hacke auf der Schulter zum Gemüsegarten hinter dem Haus, als Tam herauskam und sich auf eine Bank vor der Scheune setzte, um Belas Geschirr zu reparieren. Der Speer lehnte an seiner Seite. Als Rand das sah, empfand er seinen mitgenommenen Bogen und den Köcher nicht mehr als lächerlich. Beides lag auf seinem Umhang, einen Schritt von seinem Arbeitsplatz entfernt.

In den Beeten zeigte sich nur wenig Unkraut, aber immer noch mehr Unkraut als alles andere. Die Kohlköpfe waren bloße Stümpfe, es war kaum ein Bohnen- oder Erbsenschößling zu sehen und keine einzige Rübe. Sie hatten natürlich nicht alles gepflanzt — nur einen Teil, in der Hoffnung, die kalte Periode werde rechtzeitig enden, so daß sie etwas ernten konnten, bevor der Keller ganz leer war. Er brauchte nicht lange mit seiner Hacke. In früheren Jahren wäre er darüber froh gewesen, aber jetzt fragte er sich, was zu tun sei, wenn dieses Jahr nichts wuchs. Kein angenehmer Gedanke. Und er mußte immer noch Brennholz spalten.

Es schien Rand schon Jahre zurückzuliegen, daß er einmal kein Brennholz spalten mußte. Aber Selbstmitleid würde das Haus nicht wärmen, also holte er die Axt, stellte Bogen und Köcher neben den Hackklotz und machte sich an die Arbeit. Kiefer ergab eine flinke, heiße Flamme, und Eiche brannte dafür länger. Er fühlte sich bald so warm, daß er den Mantel auszog. Als der Haufen Holzscheite groß genug war, stapelte er ihn an der Seitenwand des Hauses neben anderen Stapeln von früher auf. Die meisten reichten hinauf bis zur Traufe. Normalerweise waren zu dieser Jahreszeit die Brennholzstapel klein, und man sah nur wenige; anders in diesem Jahr. Hack und staple, hack und staple, so verlor er sich im Rhythmus der Axthiebe und der Bewegungen beim Aufeinanderlegen der Scheite. Tams Hand auf der Schulter rief ihn in die Wirklichkeit zurück, und einen Augenblick lang blinzelte er überrascht.

Graues Zwielicht hatte sich während seiner Arbeit ausgebreitet, und auch das dämmerte schon der Nacht entgegen. Der Vollmond stand bereits hoch über den Baumwipfeln und schimmerte blaß und aufgedunsen, als wolle er gleich auf ihre Köpfe herunterfallen. Ohne daß er es bemerkt hatte, war der Wind kälter geworden, und Wolkenfetzen trieben über den dunklen Himmel.

»Machen wir den Abwasch, Junge, und dann essen wir zu Abend. Ich habe auch schon Badewasser zum Heißmachen hineingetragen. Dann können wir vor dem Schlafen noch ein Bad nehmen.«

»Alles Heiße hört sich für mich gut an«, sagte Rand. Er hob seinen Umhang auf und warf ihn sich über die Schultern. Sein Hemd war schweißgetränkt, und der Wind, den er in der Hitze des Axtschwingens vergessen hatte, schien sich zu bemühen, das Hemd jetzt, da er mit Arbeiten aufgehört hatte, zu einem steifen Brett zu gefrieren. Er unterdrückte ein Gähnen und las unter Kälteschauern seine übrigen Sachen auf. »Schlaf wäre auch, davon abgesehen, eine feine Sache. Ich könnte das ganze Fest über schlafen.«

»Würdest du darauf wetten?« Tam lächelte, und Rand mußte unwillkürlich zurückgrinsen. Er würde Bel Tine nicht versäumen, und wenn er eine ganze Woche lang nicht mehr geschlafen hätte. Das würde allen so gehen.

Tam hatte besonders viele Kerzen aufgestellt, und in dem großen gemauerten Kamin prasselte ein Feuer, so daß die Wohnstube Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Außer dem Kamin fiel in dem Raum vor allem ein breiter Eichenholztisch auf. Der Tisch war lang genug für ein Dutzend Leute oder mehr, obwohl kaum jemals so viele dort gesessen hatten, nachdem Rands Mutter gestorben war. An den Wänden standen ein paar Kommoden und Truhen, die von Tam kunstvoll angefertigt worden waren. Um den Tisch standen Stühle mit hohen Lehnen. Der Polsterstuhl, den Tam seinen ›Lesestuhl‹ nannte, stand seitlich versetzt vor dem Kamin. Rand zog es vor, ausgestreckt auf dem Läufer vor dem Feuer liegend zu lesen. Das Bücherregal neben der Tür war bei weitem nicht so lang wie das in der Weinquellenschenke, aber Bücher waren schwer zu bekommen. Wenige Händler führten mehr als eine Handvoll mit sich, und die mußten für alle reichen, denen es nach Lektüre verlangte.

Wenn der Raum auch nicht ganz so frisch gescheuert aussah, wie es bei den meisten Bauersfrauen üblich war (Tams Pfeifenständer und Die Reisen von Jain Fernstreicher lagen auf dem Tisch, während ein weiteres in Holz gebundenes Buch auf dem Polster des Lesestuhls lag, ein Stück reparaturbedürftiges Pferdegeschirr lag auf der Bank beim Kamin, und ein paar Hemden, die gestopft werden mußten, häuften sich auf einem Stuhl), wenn der Raum also nicht ganz so fleckenlos rein war, wirkte er doch sehr sauber und ordentlich und so wohnlich, daß es jedem Besucher das Herz wärmte. Hier war es möglich, die beißende Kälte jenseits der Wände zu vergessen. Hier gab es keinen falschen Drachen, keinen Krieg und keine Aes Sedai. Auch keine Männer in schwarzen Mänteln. Der Duft des Eintopfs über dem Feuer erfüllte den Raum, und Rand bekam plötzlich schrecklichen Hunger.

Sein Vater rührte das Essen mit einem langen hölzernen Kochlöffel um und probierte ein wenig. »Noch ein bißchen.«

Rand wusch sich schnell Gesicht und Hände. In der Nähe der Tür standen auf einem Waschgestell ein Krug und eine Schüssel. Was er brauchte, war ein heißes Bad, um den Schweiß abzuwaschen und die Kälte zu vertreiben, aber das mußte warten, bis sie Zeit hatten, den großen Kessel im Hinterzimmer zu erhitzen.

Tam kramte in einer Kommode herum und fand schließlich einen Schlüssel, der so lang war wie seine Hand. Er drehte ihn in dem großen Eisenschloß an der Tür um. Als Rand ihn fragend anblickte, sagte er: »Besser ist besser. Vielleicht spinne ich ein wenig, oder das Wetter drückt meine Stimmung, aber...« Er seufzte und warf den Schlüssel mit der flachen Hand ein Stückchen hoch. »Ich sehe mal nach der Hintertür«, sagte er und verschwand im rückwärtigen Teil des Hauses.

Rand konnte sich nicht daran erinnern, daß eine der beiden Türen jemals abgeschlossen worden war. Keiner im Gebiet der Zwei Flüsse verschloß die Türen. Es war niemals nötig gewesen. Zumindest bisher.

Von oben aus Tams Schlafzimmer erklang ein schleifendes Geräusch, als werde etwas am Boden entlanggezerrt. Rand zog die Augenbrauen hoch. Falls sich Tam nicht soeben entschlossen hatte, die Möbel umzustellen, konnte er nur die alte Truhe hervorgezogen haben, die er unter dem Bett aufbewahrte. Wieder etwas, das noch nie geschehen war, solange sich Rand erinnern konnte.

Er füllte einen kleinen Kessel mit Teewasser, hängte ihn an einen Haken über dem Feuer und deckte den Tisch. Er hatte die Teller und Löffel selbst geschnitzt. Die vorderen Fensterläden waren noch nicht geschlossen, und von Zeit zu Zeit spähte er hinaus. Doch die Nacht war gekommen, und alles, was er sehen konnte, waren Mondschatten. Der dunkle Reiter konnte sehr wohl dort draußen sein, aber er versuchte, nicht daran zu denken.

Als Tam zurückkam, machte Rand vor Überraschung große Augen. Ein breiter Gürtel hing an Tams Hüften, und am Gürtel hing ein Schwert. Ein bronzener Reiher war auf der schwarzen Scheide zu sehen und ein weiterer auf dem langen Knauf. Die einzigen Männer, die Rand jemals ein Schwert hatte tragen gesehen, waren die Leibwächter der Kaufleute. Und natürlich Lan. Er wäre nie darauf gekommen, daß sein Vater überhaupt eines besaß. Abgesehen von den Reihern sah das Schwert dem Schwert Lans ziemlich ähnlich.

»Woher hast du das?« fragte er. »Hast du es von einem Händler gekauft? Was hat es gekostet?«

Langsam zog Tam die Waffe; Feuerschein spiegelte sich auf der schimmernden Schneide. Das war ganz anders als bei den einfachen rohen Klingen, die Rand in den Händen der Leibwächter gesehen hatte. Es war nicht mit Gold oder Edelsteinen verziert, und doch schien es Rand irgendwie groß, bedeutend. Die ganz leicht gekrümmte und nur auf einer Seite geschliffene Schneide trug ebenfalls den Reiher in den Stahl eingeätzt. Die kurzen Querstreben am Knauf waren wie Zöpfe gearbeitet. Verglichen mit den Schwertern der Leibwächter, schien es fast zerbrechlich. Die meisten dieser plumpen Schwerter waren auf beiden Seiten geschärft und dick genug, um einen Baum zu fällen.

»Ich habe es vor langer Zeit erworben«, sagte Tam, »sehr weit entfernt von hier. Und ich habe viel zuviel dafür bezahlt; zwei Kupferpfennige sind zuviel für eine Waffe wie diese. Deine Mutter wollte es nicht, aber sie war immer schon klüger als ich. Ich war jung damals, und es schien den Preis wert zu sein. Sie wollte immer, daß ich es los werden sollte, und mehr als einmal kam mir der Gedanke, daß sie recht hatte und ich es einfach weggeben sollte.«

Reflektierter Feuerschein ließ die Klinge aufflammen.

Rand erschrak. Er hatte oft davon geträumt, ein Schwert zu besitzen. »Es weggeben? Wie könntest du ein Schwert wie dieses weggeben?«

Tam schnaubte. »Kann man wohl kaum zum Schafehüten verwenden, oder? Ich kann auch kein Feld damit umpflügen oder Getreide schneiden.« Eine ewig währende Minute lang starrte er das Schwert an, als überlege er, was er mit solch einem Ding anfangen könne. Schließlich stieß er einen schweren Seufzer aus. »Aber falls ich nicht einfach nur schwarz sehe, falls uns das Glück verläßt, kann es sein, daß ich in den nächsten Tagen noch froh sein werde, es statt dessen in diese alte Truhe gelegt zu haben.« Er ließ das Schwert sanft in die Scheide zurückgleiten und wischte sich mit einer Grimasse die Hand am Hemd ab. »Der Eintopf dürfte fertig sein. Ich fülle die Schüssel, und du machst derweil den Tee.«

Rand nickte und nahm die Teebüchse, aber er wollte schon alles genau wissen. Warum hatte Tam wohl ein Schwert gekauft? Er konnte es sich nicht vorstellen. Und wo hatte es Tam aufgetrieben? Wie weit entfernt? Keiner verließ je die Zwei Flüsse, oder höchstens ganz wenige. Er hatte schon immer vage Vermutungen darüber angestellt, daß sein Vater draußen gewesen sein mußte -seine Mutter war Ausländerin gewesen -, aber ein Schwert... ? Er hatte eine Menge Fragen auf dem Herzen, sobald sie am Tisch saßen.

Das Teewasser kochte, und er mußte ein Tuch um den Kesselgriff wickeln, um ihn vom Haken zu nehmen. Die Hitze drang sofort durch.

Als er sich vom Feuer aufrichtete, ließ ein heftiger Schlag gegen die Tür das Schloß erzittern. Alle Gedanken an das Schwert oder den heißen Kessel in seiner Hand verflogen.

»Einer der Nachbarn«, sagte er unsicher. »Vielleicht will Meister Dautry etwas borgen... « Aber der Hof der Dautrys, ihrer nächsten Nachbarn, war auch bei Tageslicht eine Wegstunde entfernt, und auch wenn Oren Dautry ständig schamlos Sachen auslieh, war es wenig wahrscheinlich, daß er seinen Hof nach Einbruch der Dunkelheit verließ.

Tam stellte leise die mit Eintopf gefüllten Teller auf den Tisch. Langsam bewegte er sich vom Tisch weg. Beide Hände ruhten auf dem Griff seines Schwerts. »Ich glaube nicht...«, begann er, und dann barst die Tür entzwei. Bruchstücke des eisernen Schlosses schlitterten über den Boden.

Eine Gestalt füllte den Türrahmen, größer als jeder Mann, den Rand je gesehen hatte, eine Gestalt in schwarzem Kettenpanzer, der ihr bis zu den Knien reichte, mit Dornen an Handgelenken, Ellbogen und Schultern. Eine Hand hielt ein schweres sichelähnliches Schwert, die andere wurde vor die Augen gehalten, als solle sie vor dem Licht schützen.

Rand fühlte sich auf seltsame Art erleichtert. Wer das auch war, es war nicht der schwarzgekleidete Reiter. Dann bemerkte er die gekrümmten Widderhörner an dem Kopf, der den oberen Teil des Türrahmens streifte, und wo sich Mund und Nase befinden sollten, sah er eine behaarte Schnauze. Er nahm das alles innerhalb eines einzigen tiefen Atemzugs wahr und stieß einen entsetzten Schrei aus. Gleichzeitig warf er den heißen Kessel nach dem halbmenschlichen Kopf.

Die Kreatur brüllte auf. Zum Teil klang es nach einem Schmerzensschrei, zum Teil nach dem Knurren eines Tieres. Kochendes Wasser lief ihm über das Gesicht. In dem Moment, als der Kessel traf, blitzte Tams Schwert auf. Aus dem Brüllen wurde ein Gurgeln, und die riesige Gestalt stürzte rückwärts. Bevor sie noch gefallen war, versuchte eine zweite, sich an der ersten vorbeizuschieben. Rand erspähte einen mit dornenähnlichen Hörnern bewehrten verformten Kopf, bevor Tam erneut zuschlug. Dann blockierten zwei riesige erschlaffte Körper den Eingang. Rand merkte, daß sein Vater ihm etwas zurief.

»Renn weg, Junge! Versteck dich im Wald!« Die Leichen im Eingang zuckten, als andere von draußen versuchten, sie wegzuziehen. Tam bückte sich und hob mit der Schulter unter Stöhnen den schweren Tisch, um ihn vor die Tür zu schieben. »Es sind zu viele! Das hält nicht! Renn hinten raus! Los! Schnell! Ich komme nach!«

Noch während Rand sich zur Flucht wandte, schämte er sich, daß er so schnell gehorchte. Er wollte bleiben und seinem Vater helfen, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie, aber die Angst hatte ihn bei der Gurgel gepackt, und die Beine bewegten sich ohne sein Zutun. Er rannte aus dem Raum in den rückwärtigen Teil des Hauses. So schnell war er noch nie gelaufen. Krachende Geräusche und Schreie aus der Wohnstube verfolgten ihn.

Er hatte die Hände schon auf dem Querbalken, der die Hintertür versperrte, als sein Blick auf das Eisenschloß fiel, das nie verschlossen wurde. Allerdings hatte Tam genau das heute nacht getan. Er ließ den Balken, wo er war, und rannte zu einem Seitenfenster. Er schob das Fenster hoch und öffnete die Fensterläden. Die Nacht hatte die Dämmerung abgelöst. Der Vollmond und die über den Himmel treibenden Wolken erzeugten gefleckte Schatten, und diese jagten sich gegenseitig quer über den Hof.

Schatten, sagte er sich. Nur Schatten. Die Hintertür knarrte, als jemand — oder etwas — versuchte, sie aufzudrücken. Der Mund wurde Tam trocken. Ein Krachen erschütterte die Tür in ihrem Rahmen und machte ihm Beine. Er schlüpfte durch das Fenster und kauerte sich wie ein Hase an die Seitenwand des Hauses. Im Raum drinnen zersplitterte Holz mit donnerndem Getöse.

Er zwang sich hoch und spähte geduckt durch das Fenster, nur mit einem Auge, nur an einer Fensterecke. Im Dunkeln konnte er nicht viel ausmachen, aber immer noch mehr, als ihm lieb war. Die Reste der Tür hingen schief in den Angeln, und schattenhafte Gestalten bewegten sich vorsichtig im Raum. Sie sprachen mit leisen kehligen Stimmen. Rand verstand die Worte nicht, die gesagt wurden. Die Sprache klang hart und für menschliche Zungen ungeeignet. Äxte und Speere und dornige — Dinge reflektierten matt die wenigen Strahlen Mondlicht, die sich dort hinein verirrten. Stiefel scharrten über den Fußboden, und er hörte auch ein rhythmisches Klappern wie von Hufen.

Er versuchte, Speichel zu sammeln und seinen Mund wieder zu befeuchten. Dann zog er tief, wenn auch zitternd, Luft ein und schrie so laut er konnte: »Sie kommen von hinten!« Die Worte kamen mehr als Krächzen heraus, aber wenigstens waren sie gut hörbar. Er war sich da nicht sicher gewesen. »Ich bin draußen! Renn, Vater!« Mit dem letzten Wort rannte er los, weg vom Haus.

Heisere Schreie in der seltsamen Sprache erklangen aus dem Hinterzimmer. Glas splitterte, laut und klirrend, und irgend etwas prallte schwer hinter ihm auf dem Boden auf. Einer von ihnen hatte wahrscheinlich den Weg durch das Fenster einem mühevollen Hinauszwängen durch die Türöffnung vorgezogen, aber er sah nicht nach hinten, um sich zu vergewissern, ob er recht hatte. Wie ein Fuchs vor der Meute, so huschte er von einem Mondschatten in den anderen, als halte er auf den Wald zu, doch dann ließ er sich auf den Bauch fallen und kroch zurück zur Scheune und ihrem größeren, tieferen Schatten. Etwas fiel quer über seine Schultern. Er schlug um sich, nicht sicher, ob er kämpfen oder entkommen sollte, bis er merkte, daß er den Stiel der neuen Hacke gepackt hielt, den Tam bearbeitet hatte.

Idiot! Einen Augenblick lang lag er da und bemühte sich, seinen Atem wieder zu beruhigen. Coplin-Narr-Idiot! Schließlich kroch er am hinteren Teil der Scheune entlang und schleifte den Hackenstiel mit. Es war nicht viel, aber besser als nichts. Vorsichtig lugte er um die Ecke über den Hof zum Haus.

Er sah kein Anzeichen der Kreatur, die ihm nachgesprungen war. Sie konnte überall sein. Sicher jagte sie ihn. Vielleicht schlich sie sich in diesem Moment gerade an.

Verängstigtes Blöken kam aus dem Schafpferch zu seiner Linken; die Herde drängte sich zusammen, als suche sie nach einem Fluchtweg. Schattenhafte Gestalten huschten an den beleuchteten Fenstern im vorderen Teil des Hauses vorbei, und das Klirren von Stahl auf Stahl klang durch die Dunkelheit. Plötzlich wölbte sich eines der Fenster nach außen, und in einem Regen von Scherben und Holz sprang Tam hindurch, das Schwert immer noch in der Hand. Er landete auf den Füßen, aber statt vom Haus wegzurennen, eilte er zum hinteren Teil und achtete nicht auf die monströsen Kreaturen, die hinter ihm aus dem geborstenen Fenster und der Tür drangen. Rand starrte ungläubig hinüber. Warum versuchte er nicht zu entkommen? Dann verstand er. Tam hatte seine Stimme zuletzt vom hinteren Teil des Hauses her vernommen.

»Vater!« schrie er. »Ich bin hier drüben!«

Tam wirbelte herum, rannte dann aber nicht auf Rand zu, sondern in einem Winkel von ihm weg. »Renn, Junge!« schrie er und deutete mit dem Schwert auf etwas vor ihm. »Versteck dich!« Ein Dutzend riesiger Gestalten hetzte ihm nach. Grelle Schreie und schrilles Heulen brachten die Luft zum Erzittern.

Rand zog sich in den Schatten hinter der Scheune zurück. Er konnte dort vom Haus aus nicht gesehen werden, falls noch weitere der Kreaturen sich dort aufhielten. Zumindest im Moment war er sicher. Aber Tam nicht. Tam, der sich bemühte, diese Monster von ihm abzulenken. Seine Hände verkrampften sich um den Stiel der Hacke, und er mußte die Zähne zusammenbeißen, um ein plötzliches Lachen zu verhindern. Ein Hackenstiel. Wenn er einer dieser Kreaturen mit dem Stiel einer Hacke gegenüberstand, ähnelte das nicht mehr seinen Stabkämpfen mit Perrin. Aber er konnte Tam nicht mit seinen Verfolgern alleinlassen.

»Wenn ich mich so vorsichtig bewege, als schliche ich mich an ein Kaninchen an«, flüsterte er in sich hinein, »dann können sie mich niemals hören oder sehen.« Die unheimlichen Schreie hallten in der Dunkelheit wider, und er versuchte zu schlucken. »Klingt eher nach einem Rudel verhungernder Wölfe.« Lautlos glitt er aus dem Schatten der Scheune auf den Wald zu. Sein Griff um den Stiel war so verkrampft, daß die Hände schmerzten. Zuerst fühlte er sich wohler, als die Bäume ihn umgaben. Sie halfen ihm, sich vor den Kreaturen zu verstecken. Als er aber weiter durch den Wald schlich, zerflossen und bewegten sich die Schatten, die der Mond warf, und mit ihnen schien sich die Dunkelheit des Waldes zu verändern und ebenfalls zu bewegen. Bäume ragten bösartig über ihm auf; Äste schienen nach ihm zu greifen. Aber waren das nur Bäume und Äste? Er konnte beinahe das knurrende, glucksende Lachen hören, das sie unterdrückten, während sie auf ihn warteten. Das Heulen von Tams Verfolgern war nicht mehr zu hören, doch in der darauffolgenden Stille schrak er jedesmal zusammen, wenn der Wind einen Zweig gegen den anderen schlug. Tiefer und tiefer duckte er sich und schlich immer langsamer. Er traute sich kaum zu atmen, aus Angst, daß man ihn hören könne.

Plötzlich legte sich eine Hand von hinten über seinen Mund, und ein eiserner Griff umspannte sein Handgelenk. Verzweifelt griff er mit der freien Hand über die Schulter, um den Angreifer irgendwie zu packen.

»Brich mir nicht den Hals, Junge!« kam Tams heiseres Flüstern.

Erleichterung durchflutete ihn und verwandelte seine Muskeln in Pudding. Als sein Vater ihn losließ, fiel er auf Hände und Knie und keuchte, als sei er meilenweit gerannt. Tam legte sich neben ihn, auf einen Ellenbogen gestützt.

»Ich hatte ganz vergessen, wie sehr du in den letzten Jahren gewachsen bist«, sagte Tam leise. Seine Augen bewegten sich beim Sprechen ständig. Er spähte angestrengt in die Dunkelheit hinaus. »Aber ich mußte sichergehen, daß du nicht laut sprichst. Trollocs haben ein fast ebenso gutes Gehör wie Hunde. Vielleicht sogar ein besseres.«

»Aber Trollocs sind nur...« Rand beendete den Satz nicht. Keine Gutenachtgeschichte, seit heute nicht mehr. Die Monster konnten Trollocs sein oder auch der Dunkle König selbst. Er hatte keine Ahnung. »Bist du sicher?« flüsterte er. »Ich meine — Trollocs?«

»Ich bin sicher. Was sie allerdings zu den Zwei Flüssen geführt hat... Vor dem heutigen Abend habe ich noch nie einen gesehen, aber ich habe mit Männern gesprochen, die welche kannten, also weiß ich einiges über sie. Vielleicht genug, um unser Leben zu retten. Hör genau zu! Ein Trolloc kann im Dunkeln besser sehen als ein Mensch, aber helles Licht blendet ihn, jedenfalls für eine Weile. Das war wohl der einzige Grund, warum wir so vielen von ihnen entkommen konnten. Sie können Spuren durch Geruch oder Geräusche verfolgen, aber man sagt, sie seien faul. Wenn wir ihnen lang genug davonlaufen, geben sie wahrscheinlich auf.«

Rand fühlte sich nach diesen Erklärungen kaum besser. »Den Geschichten nach hassen sie Menschen und dienen dem Dunklen König.«

»Wenn irgend etwas zur Herde des Schäfers der Nacht gehört, Junge, dann sind es Trollocs. Man hat mir erzählt, daß sie aus Lust am Töten morden. Aber sonst weiß ich nichts mehr, außer daß man ihnen nicht trauen kann. Nur wenn sie Angst vor dir haben, kannst du ihnen ein bißchen trauen.«

Rand erschauerte. Er wollte nicht unbedingt jemandem begegnen, vor dem selbst Trollocs Angst hatten. »Glaubst du, sie suchen immer noch nach uns?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie kommen mir nicht gerade schlau vor. Sobald wir den Wald erreichten, lockte ich meine Verfolger in Richtung Gebirge. Es war nicht sehr schwer.« Tam faßte sich an die rechte Seite und hielt die Hand nahe vor das Gesicht. »Verhalte dich aber am besten so, als seien sie klug genug.«

»Du bist verletzt.«

»Sprich nicht so laut. Es ist nur ein Kratzer, und im Moment kann ich sowieso nichts tun. Wenigstens scheint das Wetter wärmer zu werden.« Er ließ sich mit einem schweren Seufzer zurückfallen. »Vielleicht wird die Nacht im Freien doch nicht so schlimm.«

Rand hatte sich auch gerade wohlig seinen Mantel und den Umhang vorgestellt. Die Bäume hielten den Wind zum Teil ab, aber was durchkam, schnitt immer noch wie ein gefrorenes Messer in ihn hinein. Zögernd berührte er Tams Gesicht und fuhr zusammen. »Du glühst ja. Ich muß dich zu Nynaeve bringen.«

»Immer mit der Ruhe, Junge.«

»Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Es ist ein langer Weg in dieser Dunkelheit.« Er kam auf die Füße und versuchte den Vater hochzuziehen. Er ließ ihn jedoch schnell zurückgleiten, als Tam ein kaum unterdrücktes Stöhnen ausstieß.

»Laß mich eine Weile ausruhen, Junge. Ich bin müde.«

Rand schlug sich mit der Faust auf die Hüfte. Hätten sie sich in der Sicherheit des Hauses befunden, mit einem Feuer im Kamin, Decken, genug Wasser und Weidenrinde, dann wäre er vielleicht gewillt gewesen, bis zum Tagesanbruch zu warten und dann Bela anzuschirren und Tam ins Dorf zu bringen. Hier gab es kein Feuer, keine Decken, keinen Karren und auch keine Bela. Das alles befand sich noch drüben im Haus. Wenn er Tam nicht hinüber tragen konnte, so konnte er doch zumindest einiges für Tam herausholen. Falls die Trollocs weg waren. Früher oder später mußten sie doch gehen.

Er sah den Hackenstiel an und ließ ihn fallen. Statt dessen zog er Tams Schwert. Die Schneide schimmerte matt im blassen Mondlicht. Der lange Griff fühlte sich in seiner Hand so eigenartig an; Gewicht und Balance waren ungewohnt. Er hieb einige Male in die Luft, bevor er mit einem Seufzer aufhörte. Es war leicht, das Schwert durch die Luft sausen zu lassen. Wenn er statt dessen einen Trolloc vor sich hatte, war die Wahrscheinlichkeit groß, daß er wegrannte oder vor Schreck erstarrte, so daß er sich überhaupt nicht bewegen konnte, bis der Trolloc mit einem dieser alten Schwerter ausholte und... Hör auf! Wem hilft das schon!

Als er sich erhob, packte Tam ihn am Arm. »Wo willst du hin?«

»Wir brauchen den Karren«, sagte er sanft. »Und Decken.« Er erschrak, als er merkte, wie leicht es war, die Hand seines Vaters vom Ärmel wegzuziehen. »Ruh dich aus, bis ich zurückkomme.«

»Vorsichtig«, hauchte Tam.

Er konnte Tams Gesicht im Mondlicht nicht erkennen, aber er fühlte seinen Blick auf sich ruhen. »Bin ich.« So vorsichtig wie eine Maus, die das Nest eines Falken inspiziert, dachte er.

Lautlos wie ein Schatten glitt er in die Dunkelheit. Er dachte daran, wie oft er in seiner Kindheit mit seinen Freunden im Wald Verstecken gespielt hatte. Sie hatten sich gegenseitig aufgelauert, sich unhörbar angeschlichen, bis sie dem anderen die Hand auf die Schulter legen konnten, um ihn abzuklatschen. Irgendwie brachte er es nicht fertig, die jetzige Situation mit denselben Augen zu sehen.

Während er von Baum zu Baum schlich, versuchte er, sich einen Plan zurechtzulegen, doch als er den Waldrand erreichte, hatte er schon zehn davon geschmiedet und wieder verworfen. Alles hing davon ab, ob die Trollocs noch da waren. Waren sie weg, dann konnte er einfach zum Haus gehen und holen, was er brauchte. Wenn sie immer noch da waren... Dann blieb ihm nichts übrig, als zu Tam zurückzukehren. Es gefiel ihm nicht, aber er würde Tam keinen Gefallen tun, wenn er sich umbringen ließe.

Er spähte hinüber zu den Gebäuden des Bauernhofs. Scheune und Schafpferch waren nur dunkle Umrisse im Mondlicht. Aus den vorderen Fenstern des Wohnhauses und der Tür aber drang Licht. Nur die Kerzen, die Vater angezündet hat, oder warten dort Trollocs?

Er zuckte zusammen, als er den schrillen Schrei eines Nachtfalken vernahm, und sackte dann zitternd gegen einen Baumstamm. Das brachte ihn nicht weiter. Er kroch auf dem Bauch weiter und hielt dabei ungeschickt das Schwert zum Schutz vor sich. Er behielt das Kinn im Schmutz, bis er den Schafpferch erreicht hatte.

Eng an die Mauer gedrückt lauschte er. Kein Laut durchbrach die Stille der Nacht. Vorsichtig richtete er sich auf, bis er über die Mauer blicken konnte. Im Hof bewegte sich nichts. In den beleuchteten Fenstern zeigte sich kein huschender Schatten, ebensowenig im hellen Rechteck der Tür. Zuerst Bela und den Karren — oder die Decken und was sonst noch wichtig ist? Das Licht erleichterte ihm den Entschluß. In der Scheune war es dunkel. Alles machte dort drinnen auf ihn warten, und er hätte keine Ahnung, bis es zu spät wäre. Im Haus konnte er zumindest sehen, was ihn erwartete.

Als er wieder zu Boden gehen wollte, hielt er plötzlich inne. Er konnte keinen Laut hören. Die meisten Schafe konnten sich wieder beruhigt haben und schlafen, obwohl es unwahrscheinlich war, aber ein paar waren zu jeder Zeit wach, auch mitten in der Nacht, bewegten sich leise und blökten von Zeit zu Zeit. Er konnte die dunklen Klumpen der Schafskörper am Boden kaum ausmachen. Einer lag beinahe direkt unter ihm.

Er bemühte sich, keinen Laut zu machen, und zog sich auf die Mauer hoch, bis er eine Hand nach dem nur schwer sichtbaren Körper ausstrecken konnte. Seine Finger berührten krause Wolle und dann etwas Nasses. Das Schaf bewegte sich nicht. Er atmete stoßartig aus, als er sich zurückfallen ließ. Beinahe hätte er das Schwert fallen gelassen. Sie töten aus Lust am Töten. Bebend wischte er die Nässe an der Hand am Boden ab.

Gewaltsam trichterte er sich ein, daß sich nichts geändert hatte. Die Trollocs hatten ihre Schlächterei beendet und waren weg. Das wiederholte er im Geist, als er quer über den Hof kroch. Er hielt sich so dicht am Boden wie möglich, versuchte aber auch, sich ständig nach allen Richtungen umzusehen. Er hätte nie gedacht, daß er eines Tages einen Regenwurm beneiden würde.

Schließlich lag er eng an die Vorderwand des Hauses gepreßt, direkt unter dem geborstenen Fenster, und lauschte. Das lauteste Geräusch war das dumpfe Pochen seines Blutes in den Ohren. Langsam richtete er sich auf und sah hinein.

Der Kochkessel lag umgekippt in der Asche der Feuerstelle. Überall lagen Bruchstücke von gesplittertem Holz. Kein einziges Möbelstück war heil geblieben. Sogar der Tisch stand schief; zwei seiner Beine waren zu bloßen Stümpfen abgehackt. Jedes Schubfach war herausgezogen und zerschlagen worden, jeder Schrank und jede Kommode standen offen, viele Türen hingen gerade noch an einer Angel. Der Inhalt war über die Trümmer hinweg verstreut worden, und über allem lag eine weiße Staubschicht. Nach den aufgeschlitzten Säcken zu urteilen, die am Kamin lagen, bestand die Schicht aus Mehl und Salz. Mitten zwischen den Überresten der Möbel lag ein Gewirr von vier verdrehten Körpern. Trollocs.

Rand erkannte einen davon an den Widderhörnern. Die anderen sahen ziemlich ähnlich aus, trotz der Unterschiede: eine abstoßende Mischung menschlicher Gesichter, die durch Schnauzen, Hörner, Federn und Fell entstellt waren. Daß ihre Hände beinahe menschlich aussahen, machte alles nur noch schlimmer. Zwei trugen Stiefel, die anderen hatten Hufe. Er beobachtete alles, ohne die Lider zu bewegen, bis ihm die Augen brannten. Keiner der Trollocs bewegte sich. Sie mußten tot sein. Und Tam wartete.

Er rannte durch die Vordertür hinein, blieb stehen und würgte. Dieser Gestank! Das einzige, womit er den Gestank vergleichen konnte, war ein Stall, den man monatelang nicht ausgemistet hatte. Mehr fiel ihm nicht ein. Häßliche Schmierstreifen zogen sich über die Wände. Er versuchte nur durch den Mund zu atmen und durchsuchte das Durcheinander am Boden. In einem der Schränke hatte sich ein Wassersack befunden.

Ein schabendes Geräusch hinter ihm ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren, und er fuhr herum, wobei er beinahe über die Reste des Tisches fiel. Er fing sich und stöhnte mit so fest zusammengebissenen Zähnen, daß ihn das Gebiß schmerzte — sonst hätten die Zähne geklappert. Einer der Trollocs taumelte hoch. Die Schnauze eines Wolfs ragte unter eingesunkenen Augen hervor. Flache gefühllose Augen, und nur zu menschlich im Aussehen. Spitze haarige Ohren zuckten unaufhörlich. Auf spitzen Ziegenhufen stieg er über einen seiner toten Begleiter. Der gleiche schwarze Kettenpanzer wie bei den anderen schabte an Lederhosen entlang, und an der Seite hing ein riesiges sichelförmiges Schwert.

Er murmelte etwas in seiner kehligen Stimme, und dann sagte er: »Andere gehen weg. Narg bleiben. Narg schlau.« Die Worte klangen verzerrt und waren schwer zu verstehen. Sie kamen aus einer Kehle, die nicht für die menschliche Sprache geschaffen war. Der Tonfall soll beruhigend klingen, dachte Rand, aber er konnte den Blick nicht von den fleckigen, langen und scharfen Zähnen wenden, die jedesmal aufblitzten, wenn die Kreatur sprach. »Narg wissen, manche kommen zurück manchmal. Narg warten. Du nicht brauchen Schwert. Legen Schwert hin.«

Bis der Trolloc das gesagt hatte, hatte Rand überhaupt nicht gemerkt, daß er Tams Schwert schwankend in den Händen hielt, die Spitze auf das Riesenwesen gerichtet. Es überragte Rand um ein vielfaches. Brustkorb und Arme hätten Meister Luhhan vergleichsweise zu einem Zwerg gemacht.

»Narg nicht verletzen.« Er kam gestikulierend einen Schritt näher. »Du legen Schwert hin.« Das dunkle Haar auf den Handrücken war so dicht wie Fell. »Bleib mir vom Leib«, sagte Rand. Er wünschte, seine Stimme klänge fester. »Warum habt ihr das getan? Warum?«

»Vlja daeg roghda!« Aus dem Knurren wurde schnell ein vielzahniges Lächeln. »Leg Schwert hin. Narg nicht weh tun. Myrddraal wollen sprechen dich.« Kurz blitzte etwas wie ein Gefühl auf der verzerrten Fratze auf. Angst. »Andere kommen zurück, du sprechen Myrddraal.« Er tat wieder einen Schritt vorwärts. Eine große Hand legte sich um den Schwertgriff. »Du legen Schwert hin.«

Rand befeuchtete sich die Lippen. Myrddraal! Heute nacht erwachten die schlimmsten Legenden zum Leben. Wenn ein Blasser kam, dann waren die Trollocs dagegen harmlos zu nennen. Er mußte entkommen. Aber zog der Trolloc erst einmal diese massive Klinge, dann hatte er keine Chance mehr. Er zwang sich zu einem unsicheren Lächeln. »In Ordnung.« Der Griff um den Schwertknauf festigte sich. Er ließ die Hände fallen. »Ich werde reden.«

Aus dem Wolfslächeln wurde ein Knurren, und der Trolloc stürzte sich auf ihn. Rand hatte nicht geglaubt, daß etwas so Großes sich so schnell bewegen konnte. Verzweifelt riß er das Schwert hoch. Der monströse Körper prallte auf seinen und schleuderte ihn gegen die Wand. Schlagartig blieb Rand die Luft weg. Er schnappte nach Luft, als sie beide zu Boden fielen, der Trolloc obenauf. Er versuchte sich verzweifelt von der erdrückenden Last zu befreien. Er mußte dem Griff der kräftigen Hände und dem zuschnappenden Gebiß ausweichen.

Plötzlich verkrampfte sich der Trolloc, und dann lag er bewegungslos da. Rand, zerschlagen, zerschürft und halb unter der Last erstickt, die auf ihm ruhte, lag für einen Moment einfach ungläubig da. Dann kam er schnell wieder zu Sinnen und wand sich schließlich unter der Leiche hervor. Es war tatsächlich eine Leiche. Die blutverschmierte Klinge von Tams Schwert ragte aus der Mitte des Trollocrückens. Er hatte es rechtzeitig hochbekommen. Auch Rands Hände waren blutverschmiert, und das Blut hatte einen schwärzlichen Fleck auf seinem Hemd hinterlassen. Der Magen drehte sich ihm um, und er schluckte ein paarmal heftig, um sich nicht übergeben zu müssen. Er zitterte so sehr wie auf dem Höhepunkt seiner Angst, aber diesmal vor Erleichterung, daß er noch am Leben war.

Andere kommen zurück, hatte der Trolloc gesagt. Die anderen Trollocs würden zum Hof zurückkehren. Und ein Myrddraal dazu, ein Blasser. Den Geschichten nach waren die Blassen zwanzig Fuß groß, hatten feurige Augen und ritten auf Schatten wie auf Pferden. Wenn ein Blasser sich zur Seite drehte, dann verschwand er. Wände konnten ihn nicht aufhalten. Er mußte tun, wozu er gekommen war, und schnell verschwinden.

Er stöhnte vor Anstrengung, als er den Körper des Trollocs herumwuchtete, um das Schwert herausziehen zu können. Beinahe wäre er weggerannt, als geöffnete Augen ihn anstarrten. Er brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, daß die Augen glasig und tot waren. Er wischte sich die Hände an einem zerrissenen Lumpen ab -morgens war er noch eins von Tams Hemden gewesen -und zog die Klinge heraus. Er reinigte das Schwert und ließ den Lumpen zögernd fallen. Es fehlt an Zeit, Ordnung zu halten, dachte er und mußte unwillkürlich lachen. Schnell biß er die Zähne zusammen. Kein Laut! Er hatte keine Ahnung, wie sie das Haus jemals wieder so sauber bekommen sollten, daß sie darin wohnen konnten. Der schreckliche Gestank hatte sich vielleicht schon in den Balken festgesetzt. Keine Zeit für Sauberkeit. Vielleicht auch keine Zeit mehr für irgend etwas...

Er war sicher, daß er vieles vergessen würde, was sie brauchten, aber Tam wartete und die Trollocs kamen sicherlich zurück. Er rannte herum und suchte schnell zusammen, was ihm gerade einfiel. Decken aus dem Schlafzimmer und saubere Tücher, um Tams Wunde zu verbinden. Umhänge und Mäntel. Einen Wassersack, den er sonst immer mitnahm, wenn er die Schafe auf die Weide trieb. Ein sauberes Hemd. Er wußte nicht, wann er die Zeit finden würde, sich umzuziehen, aber er wollte bei der ersten Gelegenheit das blutverschmierte Hemd ablegen. Die kleinen Beutel mit Weidenrinde und die anderen Medikamente waren Teil eines dunklen schlammverschmierten Bündels, das er kaum zu berühren wagte.

Ein Eimer Wasser, den Tam hereingebracht hatte, stand immer noch am Kamin, wie durch ein Wunder unversehrt und voll. Daraus füllte er den Wassersack, und im Rest wusch er sich hastig die Hände. Noch einmal lief er eine kurze Runde durchs Haus, um mitzunehmen, was er übersehen hatte. In den Trümmern fand er seinen Bogen. Er war am stärksten Punkt sauber auseinandergebrochen worden. Er schauderte, als er die Bruchstücke fallen ließ. Was er jetzt hatte, mußte ausreichen. Schnell legte er alles vor der Tür auf einen Stapel.

Als letztes, bevor er das Haus verließ, zog er aus dem Durcheinander auf dem Boden eine Sturmlaterne heraus. Sie enthielt immer noch Öl. Er zündete sie mit einer der Kerzen an, und eilte, die Laterne in einer Hand und das Schwert in der anderen, nach draußen. Er wußte nicht, was er in der Scheune vorfinden würde. Der Schafpferch ließ nichts Gutes erwarten. Aber er brauchte den Karren, um Tam nach Emondsfeld zu bringen, und für den Karren brauchte er Bela. Die Notwendigkeit erweckte ein wenig Hoffnung in ihm.

Das Scheunentor stand offen. Ein Flügel knarrte in den Angeln, als der Wind ihn bewegte. Innen sah alles zunächst aus wie immer. Dann fiel sein Blick auf leere Boxen. Die Türen waren aus den Angeln gerissen. Bela und die Kuh waren fort. Schnell lief er in den hinteren Teil der Scheune. Der Karren lag auf der Seite. Die Hälfte der Speichen waren aus den Rädern gebrochen. Eine Achse war nur noch ein Stumpf von einem Fuß Länge.

Die Verzweiflung, die er bis jetzt zurückgehalten hatte, packte ihn nun mit Gewalt. Er glaubte nicht, daß er Tam bis zum Dorf tragen konnte, wenn Tam das Getragenwerden überhaupt aushalten würde. Der Schmerz brachte ihn vielleicht noch schneller um als das Fieber. Aber es war die einzig verbleibende Möglichkeit. Hier hatte er alles getan, was er tun konnte. Als er sich zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf den abgehackten Teil der Achse, der auf dem Stroh lag. Plötzlich lächelte er.

Hastig stellte er die Laterne auf den strohbedeckten Boden und legte das Schwert daneben. Im nächsten Moment plagte er sich mit dem Karren ab, kippte ihn nach hinten, damit er aufrecht stand, wenn auch weitere Speichen brachen, und stemmte sich dann mit der Schulter dagegen, um ihn in die richtige Lage zu bringen. Die unbeschädigte Achse ragte gerade heraus. Er schnappte sich das Schwert und hackte auf das gut abgelagerte Eschenholz ein. Zu seiner Überraschung flogen dicke Späne unter den Hieben davon, und er konnte es genauso schnell wie mit einer guten Axt spalten. Als die Achse befreit war, blickte er die Klinge bewundernd an. Selbst die schärfste Axt wäre stumpf geworden, hätte man mit ihr dieses harte alte Holz bearbeitet, aber das Schwert wirkte genauso strahlend scharf wie vorher. Er berührte die Schneide mit dem Daumen und steckte ihn dann ganz schnell in den Mund. Die Klinge war tatsächlich immer noch so scharf wie ein Rasiermesser.

Aber er hatte keine Zeit zum Staunen. Er blies die Laterne aus — es war nicht notwendig, daß zu allem Überfluß auch noch die Scheune abbrannte -, nahm die beiden Achsen und rannte zum Haus, um die anderen Sachen zu holen.

Alles zusammen war eine unhandliche Last. Nicht sonderlich schwer, aber schwer zu halten und zu tragen. Die Achsen des Karrens schwankten und drehten sich in seinen Armen, als er über das gepflügte Feld stolperte. Im Wald wurde es noch schlimmer. Sie verfingen sich in Bäumen und brachten ihn beinahe zu Fall. Er hätte sie leichter hinterherschleifen können, aber dann hätte er eine deutliche Spur hinterlassen. Er hatte vor, damit so lange wie nur möglich zu warten.

Tam war noch dort, wo er ihn verlassen hatte. Er schien zu schlafen. Rand hoffte es jedenfalls. In plötzlicher Angst ließ er seine Lasten fallen und legte eine Hand auf des Vaters Stirn. Tam atmete noch, doch das Fieber war schlimmer geworden.

Die Berührung weckte Tam auf, aber er war nicht klar. »Bist du es, Junge?« hauchte er. »Mach mir Sorgen um dich. Träume von verflossenen Tagen. Alpträume.« Er murmelte undeutlich und schlief wieder ein.

»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Rand. Er legte Tam Mantel und Umhang über, um den Wind abzuhalten. »Ich bringe dich so schnell wie möglich zu Nynaeve.« Während er weiterredete, ebenso zur eigenen Beruhigung, wie um Tam zu helfen, schälte er sich aus dem blutbefleckten Hemd. In seiner Hast, es loszuwerden, bemerkte er die Kälte kaum. Eilig zog er das saubere Hemd an. Sein altes Hemd wegzuwerfen, war ein Gefühl, als habe er gerade ein Bad genommen. »Wir werden im Nu sicher im Dorf sein, und die Seherin bringt alles in Ordnung. Du wirst schon sehen. Alles wird wieder gut.«

Der Gedanke wirkte wie ein Leuchtfeuer, als er seinen Mantel anzog und sich bückte, um Tams Wunde zu versorgen. Wenn sie einmal das Dorf erreichten, wären sie sicher, und Nynaeve würde Tam heilen. Er mußte ihn nur hinbringen.

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