Sie erreichten Carysfurt nach Einbruch der Dunkelheit, später als Rand nach der Schilderung Meister Kinchs geglaubt hatte, als dieser sie absetzte. Er fragte sich, ob sein ganzes Zeitgefühl durcheinandergeraten sei. Es war nur drei Nächte her seit ihrer Begegnung mit Howal Gode in Vier Könige, und zwei, seit Paitr sie in Markt Scheran überrascht hatte. Nur ein einziger Tag war vergangen, seit die namenlose Schattenfreund-Frau versucht hatte, sie im Stall von Der Königin Diener zu töten, aber selbst das schien nun ein ganzes Jahr oder sogar ein ganzes Leben zurückzuliegen.
Was auch mit der Zeit los sein mochte, Carysford wirkte normal genug, jedenfalls an der Oberfläche. Saubere, mit Ranken bewachsene Backsteinhäuser und enge Gassen, außer natürlich der Straße nach Caemlyn, ruhig und nach außen hin friedlich. Aber was verbirgt sich unter der Oberfläche? fragte er sich. Auch Markt Scheran hatte einen friedlichen Anblick geboten und genauso das Dorf, wo die Frau... Er hatte nie ihren Namen erfahren, und er wollte nicht einmal mehr daran denken.
Licht drang aus den Fenstern der Häuser und fiel auf fast menschenleere Straßen. Das war Rand recht. Sie schlichen sich von Ecke zu Ecke und mieden so die wenigen Leute, die unterwegs waren. Mat marschierte Schulter an Schulter mit ihm. Sie erstarrten, wenn das Knirschen von Kieselsteinen ihnen die Annäherung eines Dorfbewohners ankündigte, und duckten sich von einem Schatten in den anderen, wenn die undeutlich sichtbare Gestalt an ihnen vorbei war. Der Fluß Cary war hier kaum dreißig Schritte breit, und das schwarze Wasser floß zäh dahin. Anstatt der Furt benützte man schon lange eine Brücke. Jahrhunderte von Regen und Wind hatten die steinernen Befestigungen verwittern lassen, bis sie nun beinahe wie natürliche Felsformationen wirkten. Jahrelanges Benützen der Brücke durch Frachtwagen und Wagenzüge von Händlern hatten die dicken Holzplanken ebenfalls beansprucht. Ihre Stiefelschritte hallten auf losen Brettern so laut wie Trommelschläge wider. Als sie schon lange aus dem Dorf hinaus und in die dahinter liegende Landschaft gewandert waren, wartete Rand immer noch darauf, daß eine Stimme sie auffordere, zu sagen, wer sie waren. Oder, noch schlimmer, daß jemand sie anhielt, der wußte, wer sie waren.
Je weiter sie gingen, desto dichter besiedelt erschien ihnen die sie umgebende Landschaft. Sie konnten zu jeder Zeit die Lichter von Bauernhöfen erkennen. Die Straße und die dahinterliegenden Felder wurden durch Hecken und Weidezäune abgegrenzt. Es waren immer Felder, aber keine Waldstücke in der Nähe der Straße zu sehen. Es schien ihnen, als befänden sie sich ständig am Rand eines Dorfes, auch wenn sie Wegstunden weit von der nächsten Ansiedlung entfernt waren. Ordentlich und friedlich. Und es gab niemals einen Hinweis darauf, daß irgendwo Schattenfreunde oder noch schlimmeres lauern könnten.
Plötzlich setzte sich Mat mitten auf die Straße. Er hatte den Schal ganz oben auf seinen Kopf hinaufgeschoben, denn die einzige Beleuchtung jetzt kam vom Mond her. »Zwei Schritte für jede Spanne«, murmelte er. »Tausend Spannen ergeben eine Meile, vier Meilen eine Wegstunde... Ich werde keine zehn Schritte mehr laufen, wenn sich am Ende kein Schlafplatz befindet. Etwas zu essen käme auch nicht ungelegen. Du hast nicht zufällig etwas in deinen Taschen versteckt, oder? Vielleicht einen Apfel? Ich nehme es dir nicht übel, wenn du was aufgehoben hast. Du könntest wenigstens mal nachsehen.«
Rand spähte nach beiden Seiten die Straße hinunter. Außer ihnen bewegte sich nichts in der Nacht. Er sah Mat an, der einen Stiefel ausgezogen hatte und sich den Fuß rieb. Seine Füße schmerzten ebenfalls. Ein Beben rann durch seine Beine, als wollten sie ihm mitteilen, daß er noch nicht soviel Kraft zurückgewonnen hatte, wie er glaubte.
Gerade vor ihnen erhoben sich dunkle Hügel in einem Feld. Heumieten, wohl geschrumpft wegen des Bedarfs an Winterfutter, doch immer noch Heumieten.
Er stupste Mat mit dem großen Zeh an. »Dort werden wir schlafen.«
»Wieder im Heu!« Mat seufzte, zog aber seinen Stiefel wieder an und stand auf. Der Wind frischte auf, und die Kälte der Nacht nahm zu. Sie kletterten über die glatten Querbalken des Zauns und gruben sich schnell in das Heu ein. Die Plane, die den Regen vom Heu abhielt, schützte auch gegen den Wind.
Rand drehte sich so lange in der Kuhle, die er gemacht hatte, hin und her, bis er eine bequeme Stellung erreicht hatte. Das Heu piekste ihn immer noch durch die Kleidung hindurch, aber er hatte gelernt, sich damit abzufinden. Er bemühte sich, die Heumieten zu zählen, in denen er seit Weißbrücke geschlafen hatte. Die Helden in den Geschichten mußten nie in Heumieten oder unter Hecken schlafen. Aber es fiel ihm auch nicht mehr gerade leicht, sich auch nur für kurze Zeit selbst für einen solchen Helden zu halten. Seufzend zog er seinen Kragen hoch. Er hoffte, daß so kein Heu an seinem Rücken herunterrutschen werde.
»Rand?« fragte Mat leise. »Rand, glaubst du, wir schaffen es?«
»Tar Valon? Der Weg ist noch weit, aber... «
»Caemlyn. Glaubst du, wir schaffen es bis Caemlyn?«
Rand hob den Kopf, doch es war dunkel in ihrem Bau. Er konnte sich nur nach Mats Stimme richten, wenn er feststellen wollte, wo sich der Freund befand. »Meister Kinch sagte, in zwei Tagen. Übermorgen oder am Tag danach kommen wir hin.«
»Falls nicht hundert Schattenfreunde an der Straße auf uns warten, oder ein Blasser, vielleicht auch zwei.« Einen Moment lang waren sie still, dann sagte Mat: »Ich glaube, wir sind als letzte übriggeblieben, Rand.« Er klang verängstigt. »Worum es auch immer gehen mag, jetzt sind nur noch wir zwei da. Nur wir.«
Rand schüttelte den Kopf. Er wußte, daß Mat dies im Dunkeln nicht sehen konnte, aber die Geste galt auch mehr ihm selbst als Mat. »Schlafe, Mat«, sagte er müde. Aber er selbst lag noch lange wach, bevor endlich der Schlaf kam. Nur wir.
Das Krähen eines Hahnes weckte ihn, und er krabbelte hinaus in die erste Dämmerung und wischte sich das Heu von den Kleidern. Trotz seiner Vorsicht war etwas seinen Rücken heruntergerieselt. Zwischen seinen Schulterblättern hing Heu, und es juckte gewaltig. Er zog den Mantel aus und das Hemd aus den Kniebundhosen, um heranzukommen. In dem Moment — er hatte eine Hand im Nacken, und mit der anderen kratzte er sich am Rücken -wurde er auf die Menschen aufmerksam.
Die Sonne stand noch nicht einmal richtig am Himmel, und schon wanderte ein stetiger Strom von Menschen allein oder zu zweit in Richtung Caemlyn. Einige trugen Rucksäcke oder Bündel auf dem Rücken, andere hatten nichts als einen Wanderstock oder noch nicht einmal das. Die meisten waren junge Männer, aber hier und dort befand sich auch ein Mädchen oder eine ältere Person darunter. Jeder einzelne wirkte von der Reise ermüdet und abgerissen, als habe er schon einen langen Weg hinter sich. Einige blickten immer nur auf ihre Füße hinunter, und ihre Schultern waren unter der Last der Erschöpfung eingesunken, obwohl es noch so früh war; andere schienen nach etwas in weiter Ferne vor ihnen Ausschau zu halten, in Richtung der Dämmerung.
Mat rollte aus der Heumiete heraus und kratzte sich lebhaft. Er unterbrach diese Tätigkeit nur lange genug, um den Schal um den Kopf zu wickeln. Heute morgen ließ er ihn weiter oben und schützte seine Augen nicht mehr so sehr. »Glaubst du, heute bekommen wir etwas zu essen?«
Rands Magen zeigte seine Zustimmung mit einem deutlichen Knurren. »Darüber machen wir uns Gedanken, wenn wir unterwegs sind«, sagte er. Er brachte hastig seine Kleidung in Ordnung und grub seinen Teil ihres Gepäcks aus dem Heu.
Als sie den Zaun erreichten, hatte Mat die Menschen ebenfalls bemerkt. Er zog die Stirn kraus und blieb auf dem Acker stehen, während Rand hinüberkletterte. Ein junger Mann, nicht viel älter als sie, sah sie im Vorbeilaufen an. Seine Kleidung war staubig, genau wie die Deckenrolle, die er sich auf den Rücken geschnallt hatte.
»Wohin gehst du?« rief ihm Mat zu.
»Na, nach Caemlyn natürlich, den Drachen sehen«, rief der Bursche zurück, ohne stehenzubleiben. Er zog die Augenbrauen hoch, als er die Decken und Satteltaschen sah, die an ihren Schultern hingen, und fügte hinzu: »Genau wie ihr.« Lachend ging er weiter, und seine Augen blickten bereits wieder eifrig nach vorn.
Mat stellte den Tag über dieselbe Frage einige Male, und die einzigen Leute, die nicht dieselbe Antwort gaben, waren die Bewohner der hiesigen Dörfer. Wenn die überhaupt antworteten, dann spuckten sie gewöhnlich aus und wandten sich angewidert ab. Sie wandten sich ab, beobachteten aber doch alles aufmerksam. Sie blickten alle Reisenden auf die gleiche Weise an: aus den Augenwinkeln. In ihren Gesichtern stand geschrieben, daß Fremde ja wohl alles anstellen könnten, wenn man sie nicht ständig beobachtete.
Die Menschen, die in diesem Gebiet wohnten, verhielten sich nicht nur mißtrauisch den Fremden gegenüber, sie schienen sogar in erheblichem Maße verärgert. Es waren gerade genug Menschen auf der Straße unterwegs und auch gerade richtig verteilt, um die ohnehin schon mäßige Geschwindigkeit der Bauernkarren und Wagen, die mit Sonnenaufgang erschienen, auch noch zu verringern. Keiner der Lenker war in der Stimmung, irgend jemanden mitfahren zu lassen. Wahrscheinlicher waren zornig verzogene Gesichter und dazu ein Fluch, weil man soviel Arbeitszeit vertrödeln mußte.
Die Wagen der Händler rollten mehr oder weniger unbehelligt vorbei — es wurden nur einige Fäuste geschwungen — gleich, ob sie nach Caemlyn fuhren oder von dort kamen. Als die ersten dieser Wagenzüge früh am Morgen erschienen und sich in schnellem Trab näherten -die Sonne hatte sich hinter ihnen kaum über den Horizont erhoben -, schritt Rand auf die Straße hinaus. Sie machten keine Anstalten, aus irgendeinem Grund langsamer zu fahren. Er sah, wie andere Leute sich durch einen schnellen Sprung in Sicherheit brachten. Er ging ganz außen am Straßenrand entlang, aber er ging eben weiter.
Nur eine blitzschnelle Bewegung warnte ihn, als der erste Wagen heranrumpelte. Er warf sich platt zu Boden, und die Peitsche des Wagenlenkers knallte durch die Luft, wo sich eben noch sein Kopf befunden hatte. Von dort unten, wo er lag, konnte er einen Moment lang in die Augen des Fahrers blicken, während der Wagen vorbeirollte. Harte Augen über einer angespannten Mundpartie. Es kümmerte ihn nicht, daß er ihm vielleicht eine blutende Wunde hätte zufügen können oder sogar ein Auge ausschlagen.
»Das Licht blende dich!« schrie Mat dem Wagen nach. »Das kannst... « Ein berittener Wächter traf ihn mit dem Schaft seines Speers an der Schulter. Der Stoß schleuderte ihn auf Rand. »Aus dem Weg, du schmutziger Schattenfreund!« brüllte der Wächter, ohne deswegen langsamer zu reiten.
Danach hielten sie Abstand von den Wagen. Es gab auch wirklich genug davon. Das Rattern und Klappern von einem war kaum verklungen, da hörte man schon den nächsten herankommen. Wächter und Lenker gleichermaßen sahen auf die nach Caemlyn marschierenden Wanderer herab, als seien sie der letzte Schmutz.
Einmal verschätzte sich Rand in bezug auf die Peitsche eines Wagenlenkers. Die äußerste Spitze erwischte ihn. Er legte die Hand auf den oberflächlichen Riß über der Augenbraue und mußte ein paarmal schlucken. Beinahe hätte er sich übergeben, als ihm klar wurde, wie nahe das am Auge vorbeigegangen war. Der Fahrer grinste ihn an. Mit seiner anderen Hand hielt er Mat davon ab, einen Pfeil aufzulegen. »Gehen wir«, sagte er. Er nickte mit dem Kopf in Richtung auf die neben den Wagen herreitenden Wächter. Einige von denen lachten, andere bedachten Mats Bogen mit einem harten Blick. »Wenn wir Glück hätten, wurden sie uns nur mit ihren Speeren zusammenknüppeln. Mit Glück!«
Mat knurrte mürrisch, aber er ließ es zu, daß Rand ihn die Straße hinunterzog.
Zweimal kamen Schwadronen der Garde der Königin die Straße heruntergetrabt. Die Bänder an ihren Lanzen flatterten im Wind. Einige der Bauern begrüßten sie und wollten, daß sie etwas gegen die Fremden unternähmen, und jedesmal hielten die Gardesoldaten geduldig an und hörten zu. Es war beinahe Mittag, als Rand stehenblieb, um einer solchen Unterhaltung zu lauschen.
Hinter den Gitterstäben seines Helms war der Mund des Gardehauptmanns eine schmale Linie. »Wenn einer von ihnen etwas stiehlt oder Euer Land unerlaubt betritt«, knurrte er den schlaksigen Bauern an, der mit finsterer Miene neben seinen Steigbügeln stand, »werde ich ihn vor den Magistrat schleppen. Aber sie brechen kein Gesetz der Königin, wenn sie ihre Straße betreten.«
»Aber sie sind einfach überall«, protestierte der Bauer. »Wer weiß denn, wer sie sind oder was sie sind? Dieses ganze Geschwätz von dem Drachen... «
»Licht, Mann! Ihr habt hier nur eine Handvoll von ihnen. Caemlyn platzt derentwegen aus allen Nähten, und jeden Tag kommen mehr.« Die Miene des Hauptmanns verfinsterte sich weiter, als er Rand und Mat entdeckte, die in ihrer Nähe auf der Straße standen. Er zeigte mit einem durch Stahlstücke verstärkten Handschuh die Straße hinunter. »Geht gefälligst weiter, oder ich nehme euch fest, weil ihr den Verkehr aufhaltet.«
Seine Stimme klang ihnen gegenüber nicht grober als bei dem Bauern, aber sie gingen doch lieber weiter. Eine Weile lang folgte ihnen der Blick des Hauptmanns; Rand fühlte ihn förmlich auf seinem Rücken. Er vermutete, daß die Garde nicht mehr viel Geduld mit den Wanderern haben werde und überhaupt keine Sympathie für einen hungrigen Dieb. Er beschloß, Mat davon abzuhalten, wenn er wieder Eier stehlen wollte.
Trotzdem hatten all diese Wagen und Menschen auf der Straße auch eine gute Seite — besonders all die jungen Männer, die nach Caemlyn wanderten. Für die Schattenfreunde, die nach ihnen suchten, würden sie bestimmt die Stecknadel im Heuhaufen darstellen. Wenn der Myrddraal in der Winternacht schon nicht genau gewußt hatte, wen er eigentlich suchte, würde sein Kollege hier hoffentlich auch nicht besser abschneiden.
Sein Magen knurrte einige Male vernehmlich und erinnerte ihn daran, daß sie fast kein Geld mehr hatten, jedenfalls nicht genug für eine Mahlzeit zu den Preisen, die hier in der Nähe von Caemlyn verlangt wurden. Einmal kam ihm zu Bewußtsein, daß er eine Hand auf den Flötenbehälter gelegt hatte, aber er schob ihn entschlossen zurück auf seinen Rücken. Gode hatte von dem Flötenspiel und dem Jonglieren gewußt. Man konnte ja nicht wissen, wieviel Ba'alzamon von ihm vor Godes Ende noch erfahren hatte — falls das, was Rand beobachtet hatte, wirklich sein Ende gewesen war — und wieviel davon an die anderen Schattenfreunde weitergegeben worden war. Er sah bedauernd zu einem Bauernhof hinüber, an dem sie gerade vorbeikamen. Ein Mann hielt mit zwei Hunden Wache am Zaun. Die Hunde knurrten und zerrten an ihren Leinen. Der Mann erweckte den Eindruck, als wünsche er nichts sehnlicher herbei, als eine Ausrede dafür, sie loszulassen. Nicht jeder Bauernhof wurde von Hunden bewacht, aber niemand bot den Reisenden irgendwelche bezahlten Arbeiten an. Vor Sonnenuntergang durchschritten Mat und er noch zwei weitere Dörfer. Die Dorfbewohner standen in Gruppen herum, diskutierten und beobachteten den stetigen Strom von Passanten. Ihre Gesichter waren keine Spur freundlicher als die der Bauern oder der Wagenlenker oder der Gardesoldaten. All diese Fremden, die den falschen Drachen sehen wollten. Narren, die einfach nicht genug wußten, um zu bleiben, wohin sie gehörten. Vielleicht Anhänger des falschen Drachen. Vielleicht sogar Schattenfreunde. Falls es zwischen den beiden überhaupt Unterschiede gab.
Als der Abend hereinbrach, wurde der Strom im zweiten Ort langsam dünner. Die paar mit Geld verschwanden in der Schenke, obwohl es Streit darum zu geben schien, ob man sie überhaupt einlassen solle, während andere sich daran machten, nach günstigen Hecken oder Feldern zu suchen, die nicht von Hunden bewacht wurden. Als die Sonne verschwand, hatten er und Mat die Straße für sich allein. Mat begann schon davon zu sprechen, daß sie wieder eine Heumiete suchen sollten, aber Rand bestand darauf, weiterzuziehen. »Solange wir die Straße sehen können«, sagte er. »Je weiter wir noch kommen, desto größer ist unser Vorsprung.« Falls sie dich überhaupt noch jagen. Warum sollten sie das tun, wenn sie mittlerweile darauf gewartet haben, daß du zu ihnen kommst?
Das war schwerwiegend genug für Mat. Er sah sich gelegentlich um und beschleunigte seine Schritte. Rand mußte sich beeilen, um mitzuhalten.
Die Nacht wurde immer dunkler, und nur ein wenig Mondlicht hellte sie etwas auf. Mats Energieausbruch verging, und seine Klagen begannen von neuem. In Rands Waden verknoteten sich die Muskeln und schmerzten. Er sagte sich, daß er an einem harten Arbeitstag mit Tam auf dem Hof mehr gelaufen sei, aber so oft er sich das auch einzureden versuchte, er konnte es nicht glauben. So knirschte er mit den Zähnen, ignorierte Muskelkater und Schmerzen und ging weiter.
Bei Mats ewigen Klagen und seiner ständigen Konzentration auf den jeweils nächsten Schritt waren sie schon beinahe im Dorf, bevor sie die Lichter bemerkten. Er blieb taumelnd stehen. Plötzlich bemerkte er das Brennen, das sich von einem Fuß das ganze Bein hinaufzog. Er glaubte, er habe am rechten Fuß eine Blase.
Als er die Lichter des Dorfes sah, sank Mat stöhnend auf die Knie. »Können wir jetzt Schluß machen?« schnaufte er. »Oder willst du eine Schenke suchen und für die Schattenfreunde ein Schild hinaushängen? Oder für einen Blassen?«
»Auf der anderen Seite des Orts«, antwortete Rand Er betrachtete die Lichter. Aus dieser Entfernung in der Dunkelheit hätte es auch Emondsfeld sein können. Was erwartet uns hier? »Nur noch eine Meile, das ist alles.«
»Alles? Ich gehe keine Spanne weiter!«
Rands Beine brannten wie Feuer, doch er quälte sich einen Schritt weiter und dann noch einen. Es wurde nicht leichter, aber er machte weiter, immer einen Schritt nach dem anderen. Bevor er zehn Schritte getan hatte, hörte er, wie Mat ihm hinterherwankte, wobei er leise fluchte. Er sagte sich, es sei schon gut, daß er nicht verstehen könne, was Mat sagte. Es war spät genug, um leere Dorfstraßen anzutreffen, aber in den meisten Häusern brannte zumindest in einem Fenster ein Licht. Die Schenke in der Dorfmitte war hell beleuchtet und von einem goldenen Lichtsee umgeben, der die Dunkelheit zurückdrängte. Musik und Lachen, von dicken Wänden gedämpft, drangen aus dem Gebäude. Das Schild über der Tür knarrte im Wind. Am ihnen zugewandten Ende der Schenke standen ein Karren und ein Pferd auf der Straße nach Caemlyn. Ein Mann überprüfte gerade das Geschirr. Zwei Männer standen am hinteren Ende des Gebäudes an der Kante der beleuchteten Zone. Rand blieb im Schatten eines unbeleuchteten Hauses stehen. Er war zu müde, um sich durch die umliegenden Gassen hindurchzufinden. Es konnte nicht schaden, sich eine Minute auszuruhen. Nur eine Minute. Nur, bis die Männer weggingen. Mat sackte mit einem dankbaren Seufzer gegen die Wand und lehnte sich daran, als wolle er gleich hier einschlafen.
Etwas an den beiden Männern, die am Rand des Schattens standen, machte Rand mißtrauisch. Er wußte zunächst selbst nicht, warum, aber er stellte fest, daß es dem Mann am Karren genauso erging. Er überprüfte den Gurt, den er in der Hand hatte, bis zum Ende, rückte ein wenig an der Trense des Pferdes und ging dann ein Stück nach hinten, um wieder von vorne anzufangen. Er hielt die ganze Zeit über den Kopf gesenkt, blickte auf das, was er gerade zu tun hatte, und vermied es, die anderen Männer anzusehen. Es hätte sein können, daß er sich ihrer Gegenwart gar nicht bewußt war, obwohl sie weniger als fünfzehn Schritt von ihm entfernt standen, aber er bewegte sich so steif und drehte sich manchmal so übertrieben bei der Arbeit um, als wolle er nicht in ihre Richtung blicken. Einer der Männer am Schattenrand war nur als schwarze Gestalt sichtbar, aber der andere stand weiter im Licht und drehte Rand den Rücken zu. Auch dann war allerdings klar, daß die Unterhaltung für ihn nicht gerade einen erfreulichen Verlauf nahm. Er rang die Hände und blickte zu Boden; manchmal nickte er ruckartig bei einer Äußerung seines Gegenübers. Rand konnte nichts verstehen, aber er gewann den Eindruck, daß der Mann im Schatten die Unterhaltung fast allein bestritt. Der nervöse Mann hörte nur zu und nickte und rang ängstlich die Hände.
Schließlich wandte sich der in Dunkelheit gehüllte Mann ab, und der nervöse Bursche kam weiter ins Licht. Trotz der Kälte wischte er sich mit seiner langen Schürze über das Gesicht, als sei er in Schweiß gebadet.
Rand hatte eine Gänsehaut, als er die Gestalt beobachtete, die in die Nacht hineinging. Er wußte nicht, warum, aber seine eigene Nervosität bezog sich ganz auf diesen Mann. Die Haut im Nacken juckte, und die Haare an den Armen stellten sich auf, als erkenne er plötzlich, daß sich etwas angeschlichen habe. Er schüttelte kurz den Kopf und rieb sich kräftig die Arme. Jetzt stelle ich mich auch schon so dumm an wie Mat.
In diesem Augenblick glitt die Gestalt an einem erleuchteten Fenster vorbei, und Rand lief ein kalter Schauder den Rücken hinunter. Das Schild über dem Eingang der Schenke knarrte unaufhörlich im Wind, doch der dunkle Umhang blieb unbeweglich hängen.
»Blasser«, flüsterte er, und das riß Mat hoch, als habe er geschrien.
»Was...?«
Er legte Mat die Hand auf den Mund. »Leise!« Die dunkle Gestalt verlor sich in der Nacht. Wohin? »Ich glaube, er ist jetzt weg. Ich hoffe es.« Er nahm die Hand wieder weg; der einzige Laut, den Mat von sich gab, war ein langes Einatmen.
Der nervöse Mann befand sich beinahe wieder am Eingang der Schenke. Er blieb stehen und glättete seine Schurze. Offensichtlich bemühte er sich, sich zusammenzureißen, bevor er hineinging.
»Seltsame Freunde habt Ihr, Raimun Holdwin«, sagte der Mann am Karren plötzlich. Es war die Stimme eines alten Mannes, aber sie klang kräftig. Der Sprecher richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Für einen Wirt seltsame Freunde im Dunkeln.«
Der nervöse Mann fuhr zusammen, als der andere ihn ansprach. Er blickte sich um, als habe er den Wagen und den anderen Mann vorher nicht bemerkt. Er atmete tief ein und rappelte sich auf. Dann fragte er scharf: »Und was meint Ihr damit, Almen Bunt?«
»Nur, was ich gesagt habe, Holdwin. Seltsame Freunde. Er kommt nicht aus dieser Gegend. Eine Menge fremdartiger Leute kommen seit ein paar Wochen hier durch. Eine ganze Menge sogar.«
»Ausgerechnet Ihr müßt so etwas sagen.« Holdwin warf dem Mann am Karren einen kurzen Blick zu. »Ich kenne eine Menge Leute, sogar welche aus Caemlyn. Nicht wie Ihr, der Ihr abgeschlossen und allein auf Eurem Hof da draußen lebt.« Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort, als denke er, weitere Erklärungen seien angebracht. »Er ist aus Vier Könige. Sucht nach ein paar Dieben. Junge Männer. Sie haben ihm ein Schwert mit dem Reiherzeichen gestohlen.«
Rand stockte der Atem bei der Erwähnung von Vier Könige, und als das Schwert genannt wurde, blickte er Mat an. Sein Freund hatte sich mit dem Rücken an die Hauswand gedrückt und starrte mit so weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit, daß man fast nur noch das Weiße darin sah. Rand hätte am liebsten auch in die Nacht hineingestarrt — der Halbmensch konnte sich ja überall befinden -, aber sein Blick wanderte zurück zu den beiden Männern vor der Schenke.
»Ein Schwert mit Reiherzeichen!« rief Bunt. »Kein Wunder, daß er es zurückhaben will.«
Holdwin nickte. »Ja, und die beiden auch. Mein Freund ist ein reicher Mann, ein... ein Kaufmann, und sie haben die Männer aufgehetzt, die für ihn arbeiten. Haben wilde Geschichten erzählt und alle Leute beunruhigt. Sie sind Schattenfreunde und Anhänger von Logain.«
»Schattenfreunde und gleichzeitig Anhänger des falschen Drachen? Und erzählen auch noch wilde Geschichten? Das ist ja eine ganze Menge für junge Leute. Sie waren doch jung, sagtet Ihr?« In Bunts Stimme klang plötzlich Ironie mit, aber der Wirt schien das nicht zu bemerken.
»Ja. Noch keine Zwanzig. Es gibt eine Belohnung -hundert Kronen in Gold — für die beiden.« Holdwin zögerte und fügte dann hinzu: »Die beiden können ganz schön lügen. Das Licht mag wissen, was für Bären sie einem aufbinden werden. Sie versuchen, einen gegen den anderen auszuspielen. Und sie sind auch gefährlich, obwohl sie nicht so aussehen. Bösartig. Am besten haltet Ihr Euch von ihnen fern, falls Ihr sie seht. Zwei junge Männer, einer davon trägt ein Schwert, und beide sehen sie sich ständig um. Wenn es die richtigen sind, wird mein... mein Freund sie festnehmen, sobald man weiß, wo sie sich aufhalten.«
»Ihr hört Euch beinahe so an, als würdet Ihr sie an ihrem Aussehen erkennen.«
»Wenn ich sie sehe, erkenne ich sie auch«, sagte Holdwin selbstbewußt. »Versucht nur nicht, sie selbst zu fangen. Es muß ja niemand verletzt werden. Kommt zu mir und sagt es mir, wenn Ihr sie seht. Mein... Freund wird sich schon mit ihnen auseinandersetzen. Hundert Kronen für die beiden, aber er will sie eben beide haben.«
»Hundert Kronen für die zwei«, sagte Bunt nachdenklich. »Und wieviel für dieses Schwert, das er so sehr begehrt?«
Plötzlich schien Holdwin zu bemerken, daß der andere ihn auf den Arm nahm. »Ich weiß nicht, warum ich Euch das alles erzähle«, fuhr er ihn an. »Ihr wollt immer noch Euren idiotischen Plan durchführen, wie ich sehe.«
»Der Plan ist keineswegs idiotisch«, erwiderte Bunt ruhig. »Es wird vielleicht keinen weiteren falschen Drachen mehr zu meinen Lebzeiten zu sehen geben -Licht bewahre uns davor! -, und ich bin zu alt, um während der ganzen Strecke nach Caemlyn den Staub vom Wagen irgendeines Kaufmanns zu schlucken. Ich werde die Straße für mich allein haben und morgen früh strahlend in Caemlyn ankommen.«
»Für Euch?« Die Stimme des Wirts hatte einen boshaften Unterton. »Ihr könnt nicht wissen, was sich da draußen in der Nacht alles herumtreibt, Almen Bunt. Ganz allein auf der Straße und das im Dunkeln. Selbst wenn Euch einer schreien hört, wird niemand seine Tür aufschließen, um Euch zu helfen. Heutzutage nicht, Bunt. Nicht einmal Euer nächster Nachbar.«
Nichts davon schien den alten Bauern irgendwie zu beeindrucken; er antwortete genauso ruhig wie zuvor. »Wenn die Garde der Königin die Straße so nahe bei Caemlyn nicht bewachen kann, dann ist auch niemand von uns im eigenen Bett sicher. Wenn Ihr mich fragt, dann wäre eine Maßnahme der Garde, um die Sicherheit der Straße zu gewährleisten, Euren Freund in Ketten zu legen. In der Dunkelheit herumschleichen aus Angst, daß ihn irgend jemand sieht! Ihr könnt mir nicht weismachen, daß er nur Gutes im Schilde führt.«
»Angst!« rief Holdwin. »Ihr alter Narr, wenn Ihr wüßtet... « Er klappte unvermittelt den Mund zu und schüttelte sich. »Ich weiß nicht, warum ich meine Zeit mit Euch verschwende. Fahrt endlich los! Hört auf, den Eingang meiner Schenke zu versperren.« Er knallte die Tür der Schenke hinter sich zu.
Bunt fluchte leise, ergriff die Kante seines Sitzes auf dem Karren und stellte einen Fuß auf die überstehende Achse.
Rand zögerte nur einen Augenblick lang. Mat packte ihn am Arm, als er hingehen wollte. »Bist du verrückt, Rand? Er wird uns ganz sicher erkennen!«
»Möchtest du lieber hierbleiben? Wo sich ein Blasser herumtreibt? Wie weit, glaubst du, werden wir zu Fuß kommen, bevor er uns findet?« Er bemühte sich, nicht daran zu denken, wie weit sie kommen würden, wenn sie in einem Karren mitfuhren. Er schüttelte Mats Hand ab und ging die Straße hinauf. Er hielt sorgfältig seinen Umhang mit der Hand geschlossen, damit das Schwert verborgen blieb; der Wind und die Kälte lieferten ihm eine gute Ausrede für diese Geste.
»Ich konnte nicht vermeiden zu hören, daß Ihr nach Caemlyn fahrt«, sagte er. Bunt fuhr zusammen und riß einen Bauernspieß vom Karren. Auf seinem ledrigen Gesicht waren unzählige Runzeln zu sehen, und die Hälfte seiner Zähne fehlte, doch er hielt den Stock fest in den Händen. Nach einer Weile stützte er ein Ende des Stocks auf den Boden und lehnte sich darauf. »Also seid ihr zwei nach Caemlyn unterwegs. Um den Drachen zu sehen, eh?«
Rand hatte nicht gemerkt, daß Mat ihm gefolgt war. Mat hielt sich allerdings im Hintergrund außerhalb des Lichtscheins und beobachtete die Schenke und auch den alten Bauern mit genau demselben Mißtrauen wie die Nacht. »Den falschen Drachen«, sagte Rand betont.
Bunt nickte. »Natürlich. Natürlich.« Er warf einen Seitenblick auf die Schenke und schob dann mit einem Mal den Stock wieder zurück unter den Sitz. »Also, wenn ihr mitfahren wollt, dann steigt ein. Ich habe schon zuviel Zeit verschwendet.« Er kletterte bereits auf den Sitz.
Rand zog sich über die Rückwand, als der Bauer auch schon die Zügel schnalzen ließ. Mat rannte hinterher, um den Karren noch einzuholen. Rand packte ihn bei den Armen und zog ihn hinein.
Das Dorf verschwand schnell in der Nacht hinter ihnen, da Bunt sehr flott fuhr. Rand streckte sich auf den blanken Bodenbrettern rücklings aus und kämpfte gegen das einschläfernde Rattern der Räder. Mat unterdrückte sein Gähnen mit einer Faust vor dem Mund und sah sich vorsichtig um. Die Dunkelheit lastete schwer auf den Feldern und Bauernhöfen, nur von den Lichtern einzelner Häuser unterbrochen. Die Lichter erschienen ihnen fern; sie kämpften vergebens gegen die Nacht an. Eine Eule schrie klagend auf, und der Wind heulte wie eine verlorene Seele im Schatten.
Er könnte irgendwo dort draußen lauern, dachte Rand.
Auch Bunt schien zu spüren, wie bedrückend diese Nacht war, denn plötzlich begann er zu sprechen. »Seid ihr zwei jemals in Caemlyn gewesen?« Er lachte ein wenig. »Ich schätze nicht. Na ja, wartet mal, bis ihr es zu sehen bekommt. Die tollste Stadt der Welt. O ja, ich habe von Illian und Ebou Dar und Tear und anderen gehört -es gibt immer Narren, die glauben, etwas sei größer und besser, nur weil es hinter dem Horizont liegt -, aber für mein Geld ist Caemlyn das absolut Größte. Könnte nicht großartiger sein. Nein, bestimmt nicht. Außer, wenn Königin Morgase, das Licht leuchte ihr, vielleicht diese Hexe aus Tar Valon endlich loswürde.«
Rand lag mit dem Kopf auf der Deckenrolle und die wiederum auf dem Bündel von Thoms Umhang, und er beobachtete, wie die Nacht vorbeidriftete. Er ließ die Worte des Bauern an sich vorüberziehen. Eine menschliche Stimme hielt die Dunkelheit zurück und dämpfte den klagenden Laut des Winds. Er drehte sich um und blickte den dunklen Umriß von Bunts Rücken an. »Ihr meint, es sei eine Aes Sedai dort?«
»Was denn sonst? Sitzt dort im Palast wie eine Spinne. Ich bin ein treuer Anhänger der Königin — keiner wird das Gegenteil behaupten -, aber das ist einfach falsch. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, Elaidas Einfluß auf die Königin sei zu stark. Ich nicht. Und was die Narren betrifft, die behaupten, Elaida sei in Wirklichkeit die Königin, nur eben nicht dem Namen nach...« Er spuckte in die Nacht hinein. »Das halte ich von ihnen. Morgase ist keine Marionette, die am Faden irgendeiner Hexe aus Tar Valon tanzt.«
Noch eine Aes Sedai. Falls... wenn Moiraine nach Caemlyn kam, würde sie möglicherweise zu ihrer Aes-Sedai-Schwester gehen. Falls es aber zum Schlimmsten käme, könnte ihnen diese Elaida vielleicht helfen, nach Tar Valon zu kommen. Er sah Mat an, und Mat — als habe er den Gedanken laut ausgesprochen — schüttelte den Kopf. Er konnte Mats Gesicht nicht erkennen, aber er wußte, daß es abweisend aussah.
Bunt redete weiter. Er ließ die Zügel klatschen, wenn sein Pferd langsamer ging, aber ansonsten ruhten seine Hände auf den Knien. »Ich bin ein treuer Anhänger der Königin, wie ich schon sagte, aber manchmal sagen selbst Narren etwas Wahres. Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn. Es muß sich einiges ändern. Dieses Wetter — die Saat geht nicht auf, Kühe geben keine Milch mehr, Kälber und Lämmer werden tot geboren oder mit zwei Köpfen. Die blutigen Raben warten nicht einmal mehr ab, daß etwas stirbt. Die Menschen haben Angst. Sie suchen nach einem Schuldigen. Der Drachenzahn taucht auf den Türen von einigen Leuten auf. Dinge kriechen durch die Nacht. Scheunen brennen ab. Kerle wie dieser Freund von Holdwin jagen den Leuten Angst ein. Die Königin muß etwas unternehmen, bevor es zu spät ist. Das seht ihr doch auch so, oder?«
Rand gab einen nichtssagenden Laut von sich. Es klang, als hätten sie noch mehr Glück gehabt, als er schon glaubte, nachdem er diesen alten Mann und seinen Karren gefunden hatte. Wenn sie auf das Tageslicht gewartet hätten, wären sie vielleicht nicht weiter als bis zum letzten Dorf gekommen. Dinge, die durch die Nacht kriechen. Er richtete sich auf und blickte über die Seitenwand des Karrens hinweg in die Nacht hinein. In der Schwärze schienen sich Schatten und Umrisse zu winden. Er ließ sich zurückfallen, bevor ihn seine Einbildung davon überzeugen konnte, da draußen sei etwas.
Bunt sah das als Zustimmung an. »Richtig. Ich bin ein treuer Anhänger der Königin, und ich stelle mich gegen jeden, der versucht, ihr Schaden zuzufügen, aber recht habe ich trotzdem. Nehmt nur zum Beispiel die Lady Elayne und den Lord Gawyn. Da könnte sich etwas ändern, was niemandem schadet, aber vielleicht etwas Gutes bewirkt. Sicher, ich weiß, daß wir es in Andor immer so gehalten haben. Man schickt die Tochter-Erbin nach Tar Valon, um bei den Aes Sedai zu lernen, und den ältesten Sohn schickt man mit zu den Behütern. Ich glaube auch an Traditionen, ganz bestimmt, aber ihr seht ja, wohin uns das letztes Mal geführt hat. Luc ist in der Fäule gestorben, noch bevor er zum Ersten Prinz des Schwertes gesalbt werden konnte, und Tigraine verschwand -weggelaufen oder tot -, als es Zeit für sie wurde, den Thron zu übernehmen. Das steckt uns immer noch in den Knochen.
Es gibt welche, die behaupten, sie sei noch am Leben, wißt ihr, und daß Morgase gar nicht die rechtmäßige Königin sei. Verdammte Narren. Ich denke noch daran, was damals geschah. Ich erinnere mich, als sei es erst gestern gewesen. Keine Tochter-Erbin zur Hand, um den Thron zu besteigen, als die alte Königin starb, und jedes Haus in Andor intrigierte und kämpfte um die Nachfolge. Und dann Taringail Damodred. Man konnte kaum glauben, daß er seine Frau verloren hatte, so scharf war er darauf herauszufinden, welches Haus gewinnen wurde, damit er wieder heiraten und doch noch Prinzgemahl werden konnte. Na ja, er hat es geschafft, aber warum Morgase ausgerechnet ihn... ach, kein Mann kann eine Frau verstehen, und eine Königin ist gleich in doppelter Hinsicht eine Frau, mit einem Mann und mit dem Land verheiratet. Er hat jedenfalls bekommen, was er wollte, wenn auch nicht so, wie er es wollte. Bezog Cairhien in seine Intrigen mit ein, bevor er es geschafft hatte, und ihr wißt, was daraus geworden ist. Der Baum wurde gefällt, und über die Drachenmauer kamen Aiel mit schwarzem Schleier. Na ja, er ließ sich wenigstens auf ehrliche Weise umbringen, nachdem er Elayne und Gawyn zeugte, also hat alles mal ein Ende. Aber warum sollte man sie nach Tar Valon schicken? Es wird Zeit, daß die Menschen nicht mehr den Thron von Andor und die Aes Sedai in einem Atemzug nennen. Wenn sie schon irgendwo anders hin müssen, um zu lernen, was nötig ist, nun, dann hat Illian doch genauso gute Bibliotheken wie Tar Valon, und dort bringen sie Lady Elayne genauso viel über das Regieren und Intrigieren bei, wie es die Hexen könnten. Keiner versteht mehr vom Intrigieren als die Illianer. Und wenn die Garde Lord Gawyn nicht genug über die Kriegführung beibringen kann, tja, dann gibt es ja in Illian auch Soldaten. Und, was das betrifft, in Schienar und Tear auch. Ich bin ein treuer Anhänger der Königin, aber ich sage, hört auf, mit Tar Valon zu verkehren. Dreitausend Jahre sind genug. Zu lang. Königin Morgase kann uns ohne Hilfe des Weißen Turms führen und die Dinge in Ordnung bringen. Ich sage euch, das ist eine Frau! Bei ihr ist jeder Mann stolz darauf, vor ihr niederzuknien und ihren Segen zu erhalten. Ha, einmal... «
Rand kämpfte gegen den Schlaf an, nach dem sein Körper verlangte, aber das rhythmische Knarren und Schwanken des Karrens schläferte ihn ein. So schlummerte er mit dem Klang von Bunts Stimme im Ohr. Er träumte von Tam. Zuerst saßen sie an dem großen Eichentisch im Haus und tranken Tee, während Tam ihm von Prinzgemahlen und Tochter-Erbinnen und der Drachenmauer und Aielmännern mit schwarzem Schleier erzählte. Das Schwert mit dem Reiherzeichen lag zwischen ihnen auf dem Tisch, aber sie blickten es beide nicht an. Plötzlich war er im Westwald und zog die provisorische Bahre durch die mondhelle Nacht. Als er sich umblickte, saß Thom mit überschlagenen Beinen auf der Bahre und nicht sein Vater, und er jonglierte im Mondschein.
»Die Königin ist mit dem Land verheiratet«, sagte Thom, während Bälle in leuchtenden Farben im Kreis herum tanzten, »aber der Drache... der Drache ist eins mit dem Land, und das Land ist eins mit dem Drachen.«
Rand sah weiter hinten einen Blassen kommen. Sein schwarzer Umhang hing unbeweglich im Wind herunter, und das Pferd schob sich lautlos wie ein Geist zwischen den Bäumen hindurch. Zwei abgeschlagene Köpfe hingen am Sattelhorn des Myrddraal. Blut rann aus ihnen und lief in dunklen Strömen an der kohlrabenschwarzen Schulter des Reittieres herab. Es waren Lan und Moiraine, die Gesichter zu schmerzverzogenen Grimassen verzerrt. Der Blasse zog beim Reiten eine Handvoll Leinen hinter sich her. Jede Leine war an den gebundenen Händen eines derer befestigt, die hinter den lautlosen Hufen mit verzweifelten Gesichtern herrannten: Mat und Perrin. Und Egwene.
»Nicht sie!« schrie Rand. »Das Licht verbrenne Euch, aber ich bin es, nach dem Ihr sucht, und nicht sie!«
Der Halbmensch gestikulierte, und Flammen verschlangen Egwene. Ihr Fleisch wurde zu Asche geröstet, die Knochen zerbröckelten rußgeschwärzt.
»Der Drache ist eins mit dem Land«, sagte Thom, der immer noch ungerührt jonglierte, »und das Land ist eins mit dem Drachen.«
Rand schrie... und öffnete die Augen.
Der Karren rumpelte die Straße nach Caemlyn entlang, angefüllt mit der Nacht und der Süße lange verschwundenen Heus und schwachem Pferdegeruch. Auf seiner Brust saß eine Gestalt, die schwärzer als die Nacht war, und Augen, schwärzer als der Tod, blickten in seine.
»Du gehörst mir«, sagte der Rabe, und der scharfe Schnabel hackte in sein Auge. Er schrie, als ihm das Auge aus dem Kopf gerissen wurde.
Mit einem Schrei aus tiefster Kehle fuhr er hoch und schlug beide Hände vors Gesicht. Der Karren wurde vom Licht des frühen Morgens übergossen. Betäubt sah er seine Hände an. Kein Blut. Kein Schmerz. Der Rest des Traums verflog bereits, doch das... Vorsichtig berührte er sein Gesicht und schauderte.
»Wenigstens... « Mat gähnte mit knackendem Kiefer. »Wenigstens hast du ein bißchen geschlafen.« In seinen verquollenen Augen konnte Rand wenig Sympathie entdecken. Er hatte sich unter seinen Umhang gekuschelt und die Deckenrolle zusammengelegt unter den Kopf geschoben. »Er hat die ganze verdammte Nacht lang geredet.«
»Warst du den ganzen Weg lang wach?« fragte Bunt vom Fahrersitz aus. »Bin erschrocken, als du so geschrien hast. Na ja, wir sind da.« Er schwang eine Hand in einer umfassenden Geste. »Caemlyn, die großartigste Stadt der Welt.«