10 Abschied

Eine einzelne Laterne, die Klappen halb geschlossen, hing an einem Nagel von einem Stallpfosten und warf ein trübes Licht über die Szenerie. Die meisten Boxen wurden von den tiefen Schatten verschluckt. Als Rand gleich hinter Mat und dem Behüter durch das Tor eintrat, sprang Perrin unter Strohrascheln von seinem Platz auf. Er hatte mit dem Rücken an eine Boxentür gelehnt dagesessen. Ein schwerer Umhang hüllte ihn ein.

Lan blieb nur ganz kurz stehen und wollte wissen: »Hast du so genau nachgesehen, wie ich es dir gesagt habe, Schmied?«

»Habe ich«, antwortete Perrin. »Hier ist niemand außer uns. Warum sollte sich auch jemand verstecken... «

»Vorsicht und ein langes Leben sind gute Partner, Schmied.« Der Behüter sah sich hastig in dem düsteren Stall um, warf einen Blick hinauf in den noch dunkleren Heuboden und schüttelte den Kopf. »Keine Zeit«, murmelte er in sich hinein. »Beeil dich, hat sie gesagt.«

Um seinen eigenen Worten Folge zu leisten, schritt er schnell hinüber, wo die fünf Pferde aufgezäumt und gesattelt im dämmrigen Lichtkreis standen. Zwei davon waren der schwarze Hengst und die weiße Stute, die Rand schon zuvor gesehen hatte. Die anderen waren wohl nicht so groß und geschmeidig, schienen aber zum Besten zu gehören, was die Zwei Flüsse aufbieten konnten. Schnell, aber sorgfältig überprüfte Lan die Sattelgurte und die Lederriemen, die ihre Satteltaschen, Wasserschläuche und Deckenrollen hinter den Sätteln festhielten.

Rand und seine Freunde lächelten sich unsicher an, und er bemühte sich sehr, so zu wirken, als könne er den Aufbruch gar nicht erwarten.

Zum ersten Mal bemerkte Mat das Schwert an Rands Seite, und er zeigte darauf. »Wirst du jetzt auch ein Behüter?« Er lachte, hielte aber gleich mit einem schnellen Seitenblick auf Lan wieder inne. Der Behüter hatte offensichtlich nichts bemerkt. »Oder zumindest Leibwächter bei einem Kaufmann?« fuhr Mat mit einem Grinsen fort, das nur ein ganz klein bißchen gezwungen wirkte. Er hob seinen Bogen. »Die Waffe eines ehrlichen Mannes ist nicht gut genug für ihn.«

Rand überlegte, ob er daraufhin sein Schwert schwenken sollte, aber die Anwesenheit Lans hielt ihn davon ab. Der Behüter blickte nicht einmal in ihre Richtung, aber er war sicher, daß er alles aufnahm, was um ihn herum geschah. Also sagte er übertrieben nebensächlich: »Es könnte nützlich sein«, als sei das Tragen eines Schwertes nichts Besonderes.

Perrin bewegte sich und versuchte, etwas unter seinem Umhang zu verbergen. Rand erhaschte einen Blick auf einen breiten Ledergürtel um die Taille des Schmiedlehrlings. Der Stiel einer Axt steckte in einer Schlaufe am Gürtel.

»Was hast du denn da?« fragte er.

»Noch ein Leibwächter«, johlte Mat.

Der junge Mann mit dem struppigen Haar sah Mat mit einem Stirnrunzeln an, das darauf hindeutete, daß er schon mehr als einmal Ziel von Mats Spott gewesen war. Dann seufzte er tief und öffnete den Umhang weit genug, um seine Axt zu enthüllen. Es war keine gewöhnliche Holzfälleraxt. Mit einer breiten halbmondförmigen Schneide auf einer Seite und einem gekrümmten Haken auf der anderen wirkte sie genauso fremdartig wie Rands Schwert. Doch Perrins Hand ruhte mit einer gewissen Vertrautheit auf dem Stiel.

»Meister Luhhan hat sie vor etwa zwei Jahren für den Leibwächter eines Wollaufkäufers gemacht. Aber als sie fertig war, wollte der Bursche den vereinbarten Preis nicht zahlen, und Meister Luhhan gab sie nicht für weniger her. Er hat sie mir gegeben, als... « Er räusperte sich und sah Rand genauso warnend an wie vorher Mat. »... als er sah, wie ich damit übte. Er sagte, ich könne sie haben, weil er sowieso nichts Vernünftiges daraus machen könne.«

»Üben«, spöttelte Mat, bewegte aber die Hände in einer beruhigenden Geste, als Perrin den Kopf hob. »Wie du sagst. Es ist gut, wenn einer von uns mit einer richtigen Waffe umgehen kann.«

»Dieser Bogen ist eine richtige Waffe«, sagte Lan plötzlich. Er stützte einen Arm auf den Sattel seines großen Rappen und betrachtete sie ernst. »Auch die Steinschleudern, mit denen ich euch Dorfjungen gesehen habe. Es macht keinen Unterschied, daß ihr sie bisher nur benutzt habt, um Kaninchen zu jagen oder Wölfe von den Schafen wegzutreiben. Alles kann zu einer Waffe werden, wenn der Mann oder die Frau den Willen und die Kraft dazu hat. Von den Trollocs einmal ganz abgesehen solltet ihr euch daran erinnern, bevor wir die Zwei Flüsse verlassen, bevor wir Emondsfeld verlassen, wenn ihr Tar Valon lebendig erreichen wollt.«

Sein Gesicht und seine Stimme, kalt wie der Tod und hart wie ein roh behauener Grabstein, erstickten ihr Lächeln und ihre Worte. Perrin verzog das Gesicht und zog seinen Umhang wieder über die Axt. Mat blickte auf seine Füße hinunter und schob mit den Zehen Strohhalme beiseite. Der Behüter brummte und wandte sich wieder seiner Überprüfung zu. Das Schweigen zog sich in die Länge.

»Es ist nicht gerade so wie in den Geschichten«, sagte Mat schließlich.

»Ich weiß nicht«, meinte Perrin mürrisch. »Trollocs, ein Behüter, eine Aes Sedai. Was wollt ihr denn noch?«

»Aes Sedai«, flüsterte Mat, der sich anhörte, als fröre er.

»Glaubst du ihr, Rand?« fragte Perrin. »Ich meine, was können die Trollocs von uns wollen?«

Gleichzeitig sahen sie alle den Behüter an. Lan schien sich auf den Sattelgurt der weißen Stute zu konzentrieren. Die drei zogen sich ein Stück von ihm zurück, nach hinten zur Stalltür. Dort steckten sie die Köpfe zusammen und sprachen leise miteinander.

Rand schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, aber sie hatte recht damit, daß nur unsere beiden Höfe angegriffen wurden. Und sie griffen Meister Luhhans Haus und die Schmiede zuerst an, als sie hier im Dorf waren. Ich habe den Bürgermeister gefragt. Es ist genauso leicht möglich, daß sie hinter uns her sind wie hinter irgend jemand anderem.« Plötzlich bemerkte er, daß beide ihn groß ansahen.

»Du hast den Bürgermeister gefragt?« fragte Mat ungläubig. »Sie sagte doch, daß wir es niemandem erzählen dürften.«

»Ich habe ihm nicht erzählt, warum ich es wissen will«, protestierte Rand. »Wollt ihr mir weismachen, ihr habt mit niemandem darüber gesprochen? Ihr habt niemandem erzählt, daß ihr das Dorf verlaßt?«

Perrin zuckte schuldbewußt die Achseln. »Moiraine sagte ›niemandem‹.«

»Wir haben Zettel geschrieben«, sagte Mat. »Für unsere Familien. Sie werden sie morgen früh finden. Rand, meine Mutter glaubt, Tar Valon käme noch vor Shayol Ghul.« Er lachte ein wenig, um zu zeigen, daß er ihre Anschauung nicht teilte. Es klang nicht sehr überzeugend. »Sie würde versuchen, mich im Keller einzusperren, wenn sie wüßte, daß ich auch nur mit dem Gedanken spiele, dorthinzugehen.«

»Meister Luhhan ist so stur wie ein Felsblock«, fügte Perrin hinzu, »und Frau Luhhan ist noch schlimmer. Wenn ihr gesehen hättet, wie sie in den Trümmern des Hauses herumgrub und sagte, sie hoffe, die Trollocs kämen wieder, damit sie sie in die Finger bekäme... «

»Versengen soll mich das Licht, Rand«, sagte Mat. »Ich weiß, sie ist eine Aes Sedai, aber die Trollocs waren wirklich hier. Sie sagte, wir sollten es niemandem erzählen. Wenn schon eine Aes Sedai nicht weiß, was man dagegen tun kann — wer dann?«

»Keine Ahnung.« Rand rieb sich die Stirn. Sein Kopf schmerzte, und er konnte diesen Traum nicht loswerden. »Mein Vater glaubt ihr. Zumindest stimmte er zu, daß wir gehen müßten.«

Plötzlich stand Moiraine in der Tür. »Du hast mit deinem Vater über diese Reise gesprochen?« Sie war von Kopf bis Fuß in dunkles Grau gekleidet, mit einem Hosenrock zum Reiten, und nun war der Schlangenring der einzige Gegenstand aus Gold, den sie noch trug.

Rand beäugte ihren Wanderstock. Trotz der Flammen, die er gesehen hatte, sah er keine verkohlten Stellen und nicht einmal Ruß. »Ich konnte nicht aufbrechen, ohne es ihm zu erzählen.«

Sie betrachtete ihn einen Moment lang mit gespitzten Lippen, bevor sie sich an die anderen wandte. »Und habt ihr auch beschlossen, daß ein Zettel nicht genügt?« Mat und Perrin redeten durcheinander und versicherten ihr, sie hätten lediglich Zettel hinterlassen, so wie sie gesagt hatte. Sie nickte, brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen und blickte Rand scharf an. »Was geschehen ist, wurde bereits in das Muster eingewebt. Lan?«

»Die Pferde stehen bereit«, sagte der Behüter, »und wir haben genügend Proviant dabei, um Baerlon zu erreichen, und noch etwas als Reserve. Wir können jederzeit aufbrechen. Ich schlage vor: gleich jetzt.«

»Nicht ohne mich.« Egwene schlüpfte in den Stall, im Arm ein in einen Schal gewickeltes Bündel. Rand stolperte beinahe über die eigenen Füße.

Lans Schwert war schon halb aus der Scheide gezogen, doch als er sie erkannte, schob er die Klinge zurück, und seine Augen wurden ausdruckslos. Perrin und Mat beteuerten, daß sie Egwene nichts von ihrer Abreise gesagt hätten. Die Aes Sedai beachtete sie nicht; sie blickte Egwene an und tippte sich gedankenversunken mit einem Finger auf die Lippen.

Die Kapuze von Egwenes dunkelbraunem Umhang war hochgezogen, doch nicht genug, um den trotzigen Gesichtsausdruck zu verbergen, mit dem sie Moiraine in die Augen sah. »Ich habe hier alles, was ich brauche, einschließlich Lebensmittel. Und ich werde nicht hierbleiben. Ich habe vielleicht nie wieder eine Möglichkeit, die Welt jenseits der Zwei Flüsse kennenzulernen.«

»Das wird kein Picknickausflug zum Wasserwald, Egwene«, grollte Mat. Er trat einen Schritt zurück, als sie ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen anblickte.

»Danke, Mat. Ohne dich hätte ich das gar nicht bemerkt. Glaubt ihr, ihr drei wärt die einzigen, die wissen wollen, wie es draußen aussieht? Ich habe davon genausolange geträumt wie ihr, und ich habe nicht vor, diese Gelegenheit zu versäumen.«

»Wie hast du herausgefunden, daß wir abreisen?« wollte Rand wissen. »Und außerdem kannst du nicht mitkommen. Wir gehen ja nicht aus purem Vergnügen weg. Die Trollocs sind hinter uns her.«

Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Er lief rot an und stand ganz steif vor Entrüstung da.

»Zuerst«, erklärte sie ihm geduldig, »sah ich Mat herumschleichen und sich bemühen, unbemerkt zu bleiben. Dann sah ich, wie Perrin diese lächerliche Riesenaxt unter seinem Umhang verbarg. Ich wußte, daß Lan ein Pferd gekauft hatte, und plötzlich fragte ich mich, wozu er ein weiteres Pferd brauchte. Und wenn er eines kaufte, konnte er auch noch mehr kaufen. All das zusammen mit der Tatsache, daß Mat und Perrin herumschlichen wie Kälber, die vorgeben, Füchse zu sein... Na ja, es gab nur eine Antwort. Ich bin mir nicht klar darüber, ob ich überrascht bin oder nicht, dich auch hier zu finden, Rand, nachdem du so oft über deine Tagträume gesprochen hast. Aber wenn Mat und Perrin in der Sache drinstecken, sollte ich ja eigentlich wissen, daß du auch mit von der Partie bist.«

»Ich muß gehen, Egwene«, sagte Rand. »Wir alle müssen gehen, oder die Trollocs kommen zurück.«

»Die Trollocs!« Egwene lachte ungläubig. »Rand, wenn du dich entschlossen hast, etwas von der Welt sehen zu wollen, schön und gut, aber tisch mir nicht so ein Märchen auf!«

»Es ist wahr«, sagte Perrin gerade, als Mat begann: »Die Trollocs... «

»Genug«, sagte Moiraine ruhig, doch das Gespräch war wie mit einem Messer abgeschnitten. »Hat noch jemand etwas bemerkt?« Ihre Stimme klang sanft, aber Egwene schluckte und richtete sich auf, bevor sie antwortete.

»Nach der letzten Nacht können sie nur noch an den Wiederaufbau denken und daran, was zu tun ist, wenn es wieder geschieht. Sie sähen sonst nichts, es sei denn, man hält es ihnen direkt unter die Nase. Und ich habe niemandem von meinem Verdacht erzählt. Niemandem!«

»Sehr gut«, sagte Moiraine nach einer Pause. »Du kannst mit uns kommen.«

Lans Gesicht zeigte einen Augenblick lang Überraschung. Dann war sie wieder verflogen, und er blieb äußerlich ruhig, doch zornig brach es aus ihm heraus: »Nein, Moiraine!«

»Es ist jetzt ein Teil des Großen Musters, Lan.«

»Das ist lächerlich!« gab er zurück. »Es gibt keinen Grund, warum sie mitkommen sollte, und alle Gründe sprechen sogar dagegen.«

»Es gibt einen Grund dafür«, sagte Moiraine gelassen. »Ein Teil des Musters, Lan.« Das steinerne Gesicht des Behüters zeigte keine Regung, doch er nickte langsam.

»Aber Egwene«, sagte Rand, »die Trollocs werden uns jagen. Wir werden nicht in Sicherheit sein, bevor wir Tar Valon erreichen.«

»Versuch nicht, mir Angst einzujagen«, bat sie. »Ich komme mit.«

Rand kannte diesen Tonfall. Er hatte ihn nicht mehr vernommen, seit sie zu der Ansicht gekommen war, daß nur Kinder auf die höchsten Bäume klettern, aber er erinnerte sich gut daran. »Wenn du glaubst, es macht Spaß, von Trollocs gejagt zu werden...«, begann er, aber Moiraine unterbrach ihn.

»Wir haben keine Zeit mehr für so etwas. Bei Tagesanbruch müssen wir so weit wie möglich entfernt sein von hier. Wenn wir sie zurücklassen, Rand, könnte sie das ganze Dorf in Aufruhr bringen, bevor wir noch eine Meile weg sind, und das würde ganz sicher den Myrddraal warnen.«

»Das würde ich nicht tun!« protestierte Egwene.

»Sie kann auf dem Pferd des Gauklers reiten«, sagte der Behüter. »Ich werde ihm genug Geld dalassen, damit er ein anderes Pferd kaufen kann.«

»Das ist kaum möglich«, kam Thom Merrilins widerhallende Stimme vom Heuboden. Diesmal fuhr Lans Schwert aus der Scheide, und er steckte es nicht zurück, als er nach dem Gaukler dort oben Ausschau hielt.

Thom warf eine Deckenrolle hinunter, zog sich dann die Riemen des Flötenkastens und an der Harfe über den Rücken und schulterte pralle Satteltaschen. »Dieses Dorf braucht mich nicht, und andererseits habe ich meine Künste noch nie in Tar Valon gezeigt. Obwohl ich für gewöhnlich allein reise, habe ich nach der letzten Nacht nichts mehr gegen das Reisen in Gesellschaft.«

Der Behüter sah Perrin scharf an, und dieser trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe nicht daran gedacht, den Heuboden zu untersuchen«, murmelte er.

Als der staksige Gaukler die Leiter vom Heuboden herunterkletterte, sagte Lan ganz steif und formell: »Ist das auch ein Teil des Großen Musters, Moiraine Sedai?«

»Alles ist ein Teil des Musters, mein alter Freund«, antwortete Moiraine sanft. »Wir können uns das nicht aussuchen. Aber wir werden ja sehen.«

Thom setzte die Füße auf den Fußboden des Stalles, drehte sich von der Leiter weg und wischte sich die Strohhalme von dem Flickenumhang. »Tatsächlich«, sagte er in normalerem Tonfall, »könnte man sagen, daß ich auf Gesellschaft beim Reisen bestehe. Ich habe viele Stunden gebraucht und viele Krüge Bier geleert, um darüber nachzudenken, wie ich einst wohl meine Tage beschließen werde. Der Kochtopf eines Trollocs tauchte allerdings dabei nicht auf.« Er sah mißtrauisch das Schwert des Behüters an. »Das da ist nicht nötig. Ich bin kein Käse, den man aufschneidet.«

»Meister Merrilin«, sagte Moiraine, »wir müssen schnell aufbrechen und befinden uns höchstwahrscheinlich in großer Gefahr. Die Trollocs sind immer noch da draußen, und wir reiten bei Nacht. Seid Ihr sicher, daß Ihr mit uns reisen möchtet?«

Thom betrachtete sie alle mit einem rätselhaften Lächeln. »Wenn es nicht zu gefährlich für das Mädchen ist, dann kann es auch für mich nicht zu gefährlich sein. Außerdem, welcher Gaukler nähme nicht gern ein wenig Gefahr in Kauf, wenn er dafür seine Kunst in Tar Valon zeigen kann?«

Moiraine nickte, und Lan schob sein Schwert in die Scheide zurück. Rand fragte sich plötzlich, was wohl geschehen wäre, hätte Thom seine Meinung geändert oder Moiraine nicht genickt. Der Gaukler sattelte sein Pferd, als wären ihm solche Gedanken nie gekommen, aber Rand bemerkte, daß er Lans Schwert mehr als einmal ansah.

»Nun aber«, sagte Moiraine, »welches Pferd soll Egwene benutzen?«

»Die Pferde des Händlers sind genauso schlecht wie die Dhurran-Hengste«, antwortete der Behüter mürrisch. »Kräftig, aber sie kommen nur langsam voran.«

»Bela«, sagte Rand. Ein Blick Lans traf ihn, und er wünschte, er hätte seinen Mund gehalten. Aber er wußte, daß er Egwene nicht davon abbringen konnte, also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu helfen. »Bela ist vielleicht nicht so schnell wie die anderen, aber sie ist kräftig. Ich reite sie manchmal. Sie kann mithalten.«

Lan schaute in Belas Box, wobei er leise vor sich hin fluchte. »Sie ist vielleicht ein wenig besser als die anderen«, sagte er schließlich. »Ich glaube nicht, daß wir eine Wahl haben.«

»Dann muß es sein«, sagte Moiraine. »Rand, such bitte einen Sattel für Bela. Schnell jetzt! Wir haben uns schon zu lange aufgehalten.«

Rand suchte rasch einen Sattel und eine Decke im Sattelraum und holte Bela dann aus ihrer Box. Die Stute drehte den Kopf nach hinten und sah ihn in schlaftrunkener Überraschung an, als er ihr den Sattel auf den Rücken legte. Wenn er sie einmal ritt, dann gewöhnlich ohne Sattel; sie war nicht daran gewöhnt. Er sprach beruhigend auf sie ein, während er den Sattelgurt befestigte, und sie nahm das Außergewöhnliche mit einem Schütteln der Mähne hin.

Er nahm Egwene ihr Bündel ab und schnallte es hinter den Sattel. Derweil stieg sie auf und ordnete ihren Rock. Der war nicht als Hosenrock geteilt, also konnte man ihre Wollstrümpfe bis zum Knie sehen. Sie trug die gleichen Schuhe aus weichem Leder wie die anderen Mädchen aus dem Dorf. Sie waren absolut nicht geeignet für eine Reise nach Wachhügel, geschweige denn nach Tar Valon.

»Ich bin immer noch der Meinung, daß du nicht mitkommen solltest«, sagte Rand. »Ich habe das mit den Trollocs nicht erfunden. Aber ich verspreche dir, daß ich auf dich aufpassen werde.«

»Vielleicht muß ich auf dich aufpassen«, antwortete sie leichthin. Als er sie verzweifelt ansah, lächelte sie und streichelte ihm über das Haar. »Ich weiß, daß du auf mich aufpassen wirst, Rand. Wir werden beide aufeinander aufpassen. Aber jetzt mußt du schauen, daß du auf dein Pferd kommst.«

Er merkte, daß alle anderen bereits aufgesessen waren und auf ihn warteten. Das einzige Pferd, das noch ohne Reiter war, war Wolke, ein großer Grauer mit schwarzer Mähne, der Jon Thane gehörte oder gehört hatte. Rand kletterte in den Sattel, allerdings nicht ohne Schwierigkeiten, denn der Graue warf den Kopf hoch und tänzelte seitwärts, als er den Fuß in den Steigbügel stellte. Die Scheide verfing sich in seinen langen Beinen. Es war kein Zufall, daß die Freunde Wolke verschmäht hatten. Meister Thane hatte mit dem lebhaften Grauen den Pferden der Kaufleute häufig Rennen geliefert, und Thane hatte noch keine Niederlage erlebt, aber Wolke hatte es seinem Reiter noch nie leichtgemacht. Lan mußte einen hohen Preis bezahlt haben, damit der Müller das Pferd verkaufte. Als Rand sich im Sattel niederließ, wurde Wolkes Tänzeln noch heftiger, als freue sich der Graue darauf, losgaloppieren zu können. Rand griff die Zügel ganz fest und versuchte sich einzureden, daß es keine Schwierigkeiten geben werde. Wenn er sich selbst überzeugen konnte, dann vielleicht auch das Pferd.

Eine Eule schrie durch die Nacht, und die Dorfbewohner fuhren zusammen, bevor sie erkannten, daß es nur ein Vogel war. Dann lachten sie nervös und sahen sich verschämt an.

»Als nächstes werden wir noch vor einer Feldmaus auf die Bäume klettern«, sagte Egwene mit einem unsicheren Auflachen. Lan schüttelte den Kopf. »Es wäre besser, wenn es Wölfe gewesen wären.«

»Wölfe!« rief Perrin, und der Behüter bedachte ihn mit einem teilnahmslosen Blick.

»Wölfe können Trollocs nicht leiden, Schmied, und Trollocs mögen keine Wölfe oder Hunde. Wenn ich Wölfe hören würde, könnte ich sicher sein, daß da draußen keine Trollocs auf uns warten.« Er schritt mit seinem hochgewachsenen Schwarzen langsam hinaus in die mondhelle Nacht.

Moiraine ritt ihm ohne einen Moment des Zögerns nach, und Egwene hielt sich an der Seite der Aes Sedai. Rand und der Gaukler kamen zum Schluß, nach Mat und Perrin.

Die Rückseite der Schenke war dunkel und still, und der Mond warf Schatten in den Stallhof. Das sanfte Klappern der Hufe verflog schnell und wurde von der Nacht verschluckt. In der Dunkelheit machte der Umhang den Behüter gleichermaßen zum Schatten. Nur die Notwendigkeit, sich von ihm führen zu lassen, hielt die anderen davon ab, sich ängstlich um ihn zu scharen. Aus dem Dorf herauszukommen, ohne gesehen zu werden, war keine leichte Aufgabe. Das wurde Rand klar, als sie sich dem Tor näherten. Zumindest sollten sie von den Dorfbewohnern nicht gesehen werden. Hinter vielen Fenstern im Dorf glimmten blasse gelbe Lichter, und obwohl diese Lichter in der Nacht sehr klein wirkten, sah man häufig Schatten sich bewegen, die Schatten von Dorfbewohnern, die hinausblickten, um zu sehen, was diese Nacht mit sich brachte. Keiner wollte nochmals überrascht werden.

Im tiefsten Schatten neben der Schenke, gerade als sie den Stallhof verlassen wollten, hielt Lan plötzlich an und forderte sie mit einer scharfen Geste zum Schweigen auf.

Stiefel polterten über die Wagenbrücke, und hier und da glitzerte Metall im Mondlicht auf. Die Stiefel verließen die Brücke — Kies knirschte unter ihren Sohlen — und kamen auf die Schenke zu. Kein Laut war von den im Schatten Wartenden zu hören. Rand hatte den Verdacht, daß zumindest seine Freunde viel zuviel Angst hatten, um irgendein Geräusch zu machen. Genau wie er.

Die Schritte verstummten vor der Schenke im Dämmerlicht jenseits der trübe beleuchteten Fenster des Schankraums. Erst als Jon Thane vortrat, einen Speer über die kräftige Schulter gelegt, ein altes Lederwams mit aufgenähten Stahlscheiben um den Oberkörper geschnallt, erkannte Rand, wer es war: ein Dutzend Männer aus dem Dorf oder den umliegenden Bauernhöfen, einige mit Helmen oder Teilen von Rüstungen bewehrt, die generationenlang auf den Speichern Staub gesammelt hatten, alle mit einem Speer oder einer Holzfälleraxt oder einer verrosteten Pike bewaffnet.

Der Müller spähte durch eines der Fenster zum Schankraum und wandte sich dann mit einem kurzen: »Sieht so aus, als sei hier alles in Ordnung« wieder ab. Die anderen formierten sich in zwei unregelmäßigen Reihen hinter ihm, und die Patrouille marschierte in die Nacht hinaus, als gehorche sie drei verschiedenen Trommelwirbeln gleichzeitig.

»Zwei Dha'vol Trollocs würden genügen, um sie alle zum Frühstück zu verspeisen«, murmelte Lan, als das Geräusch der Stiefel verklungen war, »aber sie haben Augen und Ohren.« Er drehte seinen Hengst herum. »Kommt!«

Langsam und leise führte der Behüter sie zurück durch den Stallhof, die Uferböschung hinunter, an den Weiden vorbei und in den Weinquellenbach. Trotz der Nähe zur Weinquelle war das kalte, schnell fließende Wasser, das um die Beine der Pferde spülte und im Mondschein schimmerte, tief genug, um gegen die Sohlen der Reitstiefel zu plätschern.

Am gegenüberliegenden Ufer kletterten sie hinaus, und die Pferde suchten sich ihren Weg unter der sicheren Anleitung des Behüters, wobei sie sich von allen Häusern des Dorfes fernhielten. Von Zeit zu Zeit hielt Lan an und bedeutete allen, sich ruhig zu verhalten, obwohl sonst niemand etwas sah oder hörte. Jedesmal allerdings kam kurz darauf eine weitere Patrouille von Dorfbewohnern und Bauern vorbei. Langsam kamen sie dem Nordende des Dorfes näher.

Rand sah die Häuser mit ihren hohen Giebeln im Dunklen so genau wie möglich an und versuchte, sie sich einzuprägen. Ich bin ein toller Abenteurer, dachte er. Er hatte noch nicht einmal das Dorf verlassen und hatte schon Heimweh. Aber er betrachtete die Häuser weiterhin.

Sie passierten die letzten Bauernhäuser in den Außenbezirken des Dorfs und erreichten das unbewohnte Land. Sie hielten sich parallel zur Nordstraße, die nach Taren-Fähre führte. Rand fand, daß es sicherlich nirgendwo anders einen so schönen Nachthimmel gab wie über den Zwei Flüssen. Das klare Schwarz schien in die Ewigkeit zu greifen, und Myriaden von Sternen glitzerten wie Lichtpunkte in einem Kristall. Der Mond, nur eine dünne Sichelbreite schmaler als im vollen Zustand, schien greifbar nahe. Wenn er sich streckte und...

Eine schwarze Gestalt flog langsam über den silbernen Mondball. Rands unwillkürlicher Ruck an den Zügeln brachte den Grauen zum Stehen. Eine Fledermaus, dachte er mit weichen Knien, doch er wußte, daß es keine gewesen war. Fledermäuse waren ein häufiger Anblick an den Abenden, wenn sie im Zwielicht hinter Fliegen und Faltern herjagten. Die Flügel, die das unbekannte Wesen trugen, mochten wohl die gleiche Form haben, aber sie bewegten sich mit den langsamen, kraftvollen Schlägen eines Raubvogels. Und es jagte. Die Art, wie es in weiten Bögen hin- und zurückflog, ließ darüber keinen Zweifel aufkommen. Am schlimmsten aber war seine Größe. Wenn eine Fledermaus sich so groß vom Mondball abhob, dann mußte sie schon die Reichweite von menschlichen Armen haben. Er versuchte, ungefähr zu berechnen, wie weit entfernt und wie groß dieses Wesen war. Der Körper mußte Menschengröße haben und die Flügel... Wieder durchflog es die Mondsilhouette und kreiste dann plötzlich nach unten, um von der Nacht verhüllt zu werden.

Er hatte nicht bemerkt, daß Lan zu ihm zurückgeritten war, bis ihn der Behüter am Arm packte. »Was sitzt du hier und starrst in die Luft, Junge? Wir müssen weiter.« Die anderen warteten hinter Lan.

Er rechnete fast damit, daß man ihm sagen würde, er hätte aus Angst vor den Trollocs die Nerven verloren. Trotzdem berichtete Rand, was er gesehen hatte. Er hoffte, Lan werde es als Fledermaus oder als optische Täuschung abtun.

Lan grollte ein Wort, das klang, als hinterließe es einen schlechten Geschmack im Mund: »Draghkar.« Egwene und die anderen von den Zwei Flüssen suchten nervös den Himmel in allen Richtungen ab, aber der Gaukler stöhnte leise auf.

»Ja«, sagte Moiraine, »es wäre vermessen, auf etwas anderes zu hoffen. Und wenn der Myrddraal einen Draghkar bei seinen Truppen hat, dann wird er bald wissen, wo wir sind, wenn er es nicht bereits weiß. Wir müssen noch schneller querfeldein vorwärtskommen. Wir können vielleicht Taren-Fähre noch vor dem Myrddraal erreichen, und die Trollocs und er werden den Fluß nicht so leicht überqueren wie wir.«

»Ein Draghkar?« fragte Egwene. »Was ist das?«

Es war Thom Merrilin, der ihr heiser antwortete. »In dem Krieg, der das Zeitalter der Legenden beendete, wurden noch schlimmere Wesen als Trollocs und Halbmenschen erschaffen.«

Moiraines Kopf schnellte zu ihm herum, als er das sagte. Nicht einmal die Dunkelheit konnte die Schärfe in ihrem Blick verbergen.

Bevor jemand den Gaukler bitten konnte, mehr zu erzählen, begann Lan, Befehle zu erteilen. »Wir benutzen jetzt die Nordstraße. Um euer Leben willen — folgt meiner Führung und bleibt dicht zusammen.«

Er riß sein Pferd herum, und die anderen galoppierten wortlos hinterher.

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