Sonnenschein, der sich über den Fluß Arinelle schob, fand den Weg in die Senke nicht weit von der Uferböschung, wo Nynaeve mit dem Rücken an den Stamm einer jungen Eiche gelehnt saß und ruhig atmend schlief. Auch ihr Pferd schlief, den Kopf gesenkt und die Beine leicht gespreizt, wie es die Art der Pferde ist. Die Zügel hatte sie um ihr Handgelenk gewickelt. Als der Sonnenschein auf die Augenlider des Pferdes fiel, öffnete das Tier die Augen und hob den Kopf, wobei es einen heftigen Ruck am Zügel gab. Nynaeve erwachte schlagartig.
Einen Augenblick lang blickte sie orientierungslos um sich und fragte sich, wo sie sei, und als sie sich dann daran erinnerte, sah sie sich noch erschrockener um. Aber sie erblickte nur die Bäume und ihr Pferd und einen Teppich alter, trockener Blätter am Boden der Senke. Wo der Schatten am tiefsten war, wuchsen einige der noch aus dem letzten Jahr stammenden Schattenhand-Pilze in Ringen auf einem umgestürzten Stamm.
»Das Licht erhalte dich, Frau«, murmelte sie und ließ sich zurücksacken, »wenn du nicht einmal eine Nacht wach bleiben kannst.« Sie band den Zügel los und massierte beim Aufstehen ihr Handgelenk. »Du hättest auch im Kochtopf eines Trollocs erwachen können.«
Die abgestorbenen Blätter raschelten, als sie den sanften Abhang der Senke hinaufkletterte und über den Rand spähte. Nur eine Handvoll Eschen standen zwischen ihrem Standpunkt und dem Fluß. Mit ihrer rissigen Rinde und den kahlen Asten wirkten sie wie tot. Dahinter floß der breite Strom mit seinem blaugrünen Wasser. Leer. Nichts zu sehen. Vereinzelte Gruppen von Nadelbäumen, Tannen und auch ein paar Weiden boten dem Auge auf der anderen Seite des Flusses etwas Abwechslung. Aber es schienen dort drüben weniger Bäume zu wachsen als hier auf ihrer Seite. Falls Moiraine oder irgendeiner der Jungen dort drüben war, hatten sie sich gut versteckt. Natürlich gab es keinen Grund, warum sie den Fluß ausgerechnet in ihrer Sichtweite hätten überqueren müssen oder es auch nur versuchen sollten Sie konnten sich überall befinden, zehn Meilen flußaufwärts oder flußabwärts... Wenn sie überhaupt noch am Leben sind nach dieser letzten Nacht.
Sie ärgerte sich über sich selbst, daß sie überhaupt an eine solche Möglichkeit dachte, und ließ sich zurück in die Senke hinunterrutschen. Nicht einmal die Winternacht oder die Schlacht vor dem Erreichen von Shadar Logoth hatte sie auf die vergangene Nacht und auf dieses Ding -Mashadar — vorbereitet. Diese verzweifelte Flucht, die ständige Frage, ob noch jemand von den anderen am Leben sei; das Warten darauf, daß sie plötzlich einem Blassen oder den Trollocs von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünde... Sie hatte die Trollocs in einiger Entfernung knurren und schreien gehört, und das zitternde Schrillen der Trolloc-Hörner war ihr eisiger den Rücken hinuntergelaufen, als es der Wind je fertigbringen würde, aber von jenem ersten Zusammentreffen mit den Trollocs in den Ruinen abgesehen sah sie nur einmal noch welche, und das außerhalb der Stadt. Zehn oder mehr schienen plötzlich — keine dreißig Spannen weit vor ihr -aus dem Boden aufzutauchen. Sie sprangen in der gleichen Sekunde auf sie zu, heulten und schrien und schwenkten hakenbewehrte Fangstangen. Doch als sie ihr Pferd herumriß, schwiegen sie unvermittelt und hoben die Schnauzen, um die Luft zu prüfen. Sie war zu verblüfft, um schnell wegzureiten. Statt dessen beobachtete sie, wie die Trollocs ihr den Rücken kehrten und in der Nacht verschwanden. Und das hatte sie von allem am meisten geängstigt.
»Sie kennen den Geruch von denen, die sie verfolgen«, sagte sie zu dem Pferd, als sie wieder in der Senke stand, »und ich gehöre nicht dazu. Die Aes Sedai hatte recht, wie es scheint, der Schäfer der Nacht verschlinge sie!«
Sie entschloß sich, flußabwärts zu gehen und ihr Pferd hinter sich herzuführen. Sie bewegte sich langsam und beobachtete aufmerksam den sie umgebenden Wald. Nur, weil die Trollocs sie letzte Nacht hatten laufen lassen, mußte das nicht bedeuten, daß sie sie auch bei einem erneuten Zusammentreffen wieder ungeschoren lassen würden. Soviel Aufmerksamkeit sie auch dem Wald schenkte — noch mehr widmete sie dem Boden vor ihr. Falls die anderen im Laufe der Nacht hier durchgekommen waren, sollte sie einige Anzeichen dafür entdecken können, die sie vom Rücken des Pferdes aus nicht sehen konnte. Vielleicht traf sie ja auch auf dieser Seite des Flusses die ganze Gruppe. Wenn sie aber niemanden fand, dann würde der Fluß sie irgendwann nach Weißbrücke führen, und von da gab es eine Straße nach Caemlyn und auch bis Tar Valon, falls es sein mußte.
Die Aussichten waren schon ziemlich niederschmetternd. Früher war sie noch nie weiter von Emondsfeld weggewesen als die Jungen. Taren-Fähre war ihr fremd vorgekommen; in Baerlon hätte sie sich nur staunend umgesehen, wäre sie nicht so darauf bedacht gewesen, Egwene und die anderen zu finden. Aber sie ließ nicht zu, daß irgend etwas ihren Entschluß ins Wanken brachte. Früher oder später würde sie Egwene und die Jungen finden, oder einen Weg, die Aes Sedai für alles zur Rechenschaft zu ziehen, was ihnen zustieß. Entweder das eine oder das andere, schwor sie sich.
In Abständen fand sie Spuren, eine ganze Menge sogar. Doch für gewöhnlich konnte sie beim besten Willen nicht sagen, ob diejenigen, die sie verursacht hatten, gesucht oder etwas gejagt hatten oder vielleicht selbst verfolgt wurden. Einige stammten von Stiefeln, wie sie sowohl von Menschen als auch von Trollocs getragen wurden. Andere waren Hufspuren wie von Ziegen oder Rindern; das waren natürlich Trollocs gewesen. Aber es gab nie ein klares Anzeichen, um sicher behaupten zu können, es stamme von einem der Gesuchten. Sie hatte vielleicht vier Meilen zurückgelegt, als der Wind ihr den Geruch eines Holzfeuers zuwehte. Er kam von weiter drunten am Fluß, und das Feuer konnte nicht weit entfernt sein, dachte sie. Sie zögerte nur einen Moment lang, dann band sie das Pferd an eine Tanne, ein ganzes Stück vom Fluß entfernt in einem kleinen, dichten Nadelgehölz, in dem das Tier gut verborgen war. Der Rauch konnte Trollocs bedeuten, aber der einzige Weg, das herauszufinden, war, nachzusehen. Sie bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, wozu Trollocs möglicherweise ein Feuer benützten.
Gebückt schlich sie sich von einem Baum zum anderen und verfluchte im Geist den Rock, den sie hochheben mußte, um nicht hängenzubleiben. Kleider waren nicht fürs Anschleichen geeignet. Ein Geräusch von einem Pferd ließ sie ihr Tempo verlangsamen, und als sie schließlich vorsichtig hinter dem Stamm einer Esche hervorspähte, stieg gerade der Behüter in einer kleinen Lichtung nahe dem Ufer von seinem schwarzen Streitroß. Die Aes Sedai saß auf einem umgestürzten Baumstamm neben einem kleinen Feuer. Das Wasser in einem Kessel begann gerade zu kochen. Ihre weiße Stute fraß hinter ihr das dürftige Unkraut ab. Nynaeve blieb, wo sie war.
»Sie sind alle weg«, verkündete Lan ernst. »Vier Halbmenschen sind etwa zwei Stunden vor Tagesanbruch nach Süden aufgebrochen, jedenfalls soweit ich das beurteilen kann — sie hinterlassen nicht viele Spuren -, aber die Trollocs sind verschwunden. Sogar die Leichen, und die Trollocs sind nicht gerade bekannt dafür, daß sie ihre Toten mitnehmen. Es sei denn, sie haben Hunger.«
Moiraine warf eine Handvoll von irgend etwas in das kochende Wasser und zog den Kessel vom Feuer. »Man kann noch immer darauf hoffen, daß sie nach Shadar Logoth zurückgegangen sind und davon verschlungen wurden, aber wahrscheinlich wäre das zuviel verlangt von unserem Glück.«
Der köstliche Duft von Tee trieb zu Nynaeve herüber. Licht, hoffentlich knurrt mein Magen nicht zu laut!
»Es gab keine klare Spur der Jungen oder der anderen. Die Spuren sind einfach zu verwischt, um genaueres zu sagen.« In ihrem Versteck lächelte Nynaeve; wenn der Behüter nichts herausgefunden hatte, war das Labsal auf ihre Wunden. »Aber etwas anderes ist wichtig, Moiraine«, fuhr Lan mit ernster Miene fort. Er lehnte das Angebot einer Tasse Tee von der Aes Sedai mit einer Handbewegung ab und begann, vor dem Feuer auf- und abzulaufen, eine Hand auf seinem Schwertknauf und mit einem bei jeder Drehung die Farbe ändernden Umhang. »Ich kann ja noch Trollocs im Gebiet der Zwei Flüsse akzeptieren, sogar hundert davon. Aber dies hier? Gestern müssen beinahe tausend an der Jagd auf uns beteiligt gewesen sein!«
»Wir hatten Glück, daß nicht alle dablieben und in Shadar Logoth nach uns suchten. Die Myrddraal müssen Zweifel gehabt haben, daß wir uns gerade dort verbergen würden, aber sie hatten sicher auch Angst davor, nach Shayol Ghul zurückzukehren, ohne zuvor jede noch so kleine Möglichkeit untersucht zu haben. Der Dunkle König war noch nie für seine Nachsicht bekannt.«
»Versuche nicht, auszuweichen. Du weißt, was ich sagen will. Wenn diese tausend Trollocs hier waren, hätte er sie auch zu den Zwei Flüssen schicken können. Warum tat er das nicht? Es gibt nur eine mögliche Antwort. Sie wurden erst ausgesandt, als wir den Taren überquert hatten und er wußte, daß ein Myrddraal und hundert Trollocs nicht ausreichten. Wie? Wie wurden sie hierher ausgesandt? Wenn tausend Trollocs von der Großen Fäule aus so schnell und ungesehen so weit nach Süden gebracht werden können — ganz zu schweigen davon, daß sie genauso schnell wieder weggeholt werden können -, kann er dann nicht auch zehntausend ins Herz von Saldaea oder Arafel oder Schienar schicken? Die Grenzlande wären innerhalb eines Jahres überrannt.«
»Die ganze Welt wird in fünf Jahren überrannt, wenn wir diese Jungen nicht finden«, sagte Moiraine ganz einfach. »Mir bereitet diese Frage auch Kopfzerbrechen, aber ich kenne die Antwort nicht. Die Wege des Geistes sind geschlossen, und seit der Zeit des Wahns hat es keine Aes Sedai mehr gegeben, die stark genug war, um auf diesem Weg zu reisen. Falls nicht eine der Verlorenen im Spiel ist — was das Licht verhüten möge, jetzt und für immer -, gibt es immer noch niemanden, der das kann. Und außerdem glaube ich nicht, daß selbst alle Verlorenen zusammen tausend Trollocs auf einmal befördern könnten. Laß uns versuchen, die Probleme zu lösen, denen wir uns hier und jetzt gegenübersehen; alles andere muß warten.«
»Die Jungen.« Es war nicht als Frage gemeint.
»Ich war nicht untätig, während du weg warst. Einer ist auf der anderen Seite des Flusses und lebt. Was die anderen betrifft, so gab es flußabwärts eine schwache Spur, aber die verflog, als ich sie fand. Die Verbindung war schon Stunden vor Beginn meiner Suche abgebrochen.«
Hinter ihrem Baum zusammengekauert, zog Nynaeve verwirrt die Stirn in Falten. Lan hörte mit dem Herumlaufen auf. »Glaubst du, daß die Halbmenschen, die nach Süden zogen, sie gefangen haben?«
»Vielleicht.« Moiraine goß sich eine Tasse Tee ein, bevor sie weitersprach. »Aber ich wehre mich gegen die Möglichkeit, daß sie tot sein könnten. Ich kann das nicht glauben. Ich wage es nicht. Du weißt, wieviel auf dem Spiel steht. Ich muß diese jungen Männer haben. Natürlich erwarte ich, daß Shayol Ghul sie jagt. Auch eine Opposition innerhalb des Weißen Turms erwarte ich, genauso wie Widerstand selbst vom Amyrlin-Sitz. Es wird immer Aes Sedai geben, die nur eine Lösung akzeptieren. Aber... « Plötzlich stellte sie ihre Tasse weg und richtete sich mit einer Grimasse auf. »Wenn du den Wolf zu scharf beobachtest«, stellte sie fest, »dann beißt dich eine Maus in den Fuß.« Und damit sah sie genau den Baum an, hinter dem sich Nynaeve versteckte. »Frau al'Meara, Ihr könnt nun herauskommen, wenn Ihr wünscht.«
Nynaeve stand auf und klopfte sich hastig abgestorbene Blätter vom Kleid. Lan war herumgewirbelt und hatte den Baum angesehen, sobald Moiraines Blick herübergewandert war. Er hatte sein Schwert in der Hand, bevor sie Nynaeves Namen noch ausgesprochen hatte. Nun steckte er es etwas unbeherrschter als notwendig in die Scheide zurück. Sein Gesicht war beinahe so ausdruckslos wie immer, doch Nynaeve glaubte, im Ausdruck seines Mundes einen Hauch von Ärger über sich selbst erkennen zu können. Sie fühlte ein wenig Befriedigung; zumindest hatte der Behüter nicht gemerkt, daß sie dagewesen war.
Die Befriedigung hielt sich allerdings nur einen Moment lang. Sie wandte ihren Blick Moiraine zu und ging zielbewußt zu ihr hin. Sie wollte kühl und beherrscht bleiben, doch ihre Stimme zitterte vor Zorn. »In was habt Ihr Egwene und die Jungen da hineingezogen? Für welche schmutzige Aes Sedai-Intrige wollt Ihr sie benützen?«
Die Aes Sedai nahm ihre Tasse und schlurfte gelassen ihren Tee. Als Nynaeve ihr allerdings zu nahe kam, streckte Lan einen Arm aus und hinderte sie am Weitergehen. Sie versuchte, das Hindernis beiseitezuschieben, und war überrascht, als sich der Arm des Behüters nicht mehr bewegte, als es der Ast einer Eiche getan hätte. Sie war nicht schwach, doch seine Muskeln schienen wie aus Eisen.
»Tee?« bot ihr Moiraine an.
»Nein, ich will keinen Tee. Ich würde Euren Tee nicht trinken, und wenn ich vor Durst stürbe. Ihr werdet keine Leute aus Emondsfeld für Eure schmutzigen Aes Sedai-Pläne mißbrauchen!«
»Ihr solltet lieber nicht soviel reden, Seherin.« Moiraine zeigte mehr Interesse an ihrem heißen Tee als an dem, was sie sagte. »Ihr könnt schließlich selbst die Eine Macht auf gewisse Weise anwenden.«
Nynaeve drückte wieder gegen Lans Arm. Der rührte sich noch immer nicht, und so entschloß sie sich, ihn zu ignorieren. »Warum behauptet Ihr nicht gleich, ich sei ein Trolloc?«
Moiraines Lächeln war so überlegen, daß Nynaeve sie am liebsten geschlagen hätte. »Glaubt Ihr, ich kann mich Auge in Auge einer Frau gegenübersehen, die die Wahre Quelle berühren und die Eine Macht lenken kann — wenn auch nur manchmal — ohne zu merken, was sie ist? Genau wie Ihr Egwenes Fähigkeiten fühlen konntet. Wieso, glaubt Ihr, habe ich gewußt, daß Ihr hinter jenem Baum standet? Wenn ich nicht abgelenkt gewesen wäre, hätte ich es schon in dem Moment gefühlt, als Ihr näher kamt. Ihr seid ganz sicher kein Trolloc, denn ich fühle das Böse des Dunklen Königs, wenn es nahe ist. Also, was kann ich sonst gefühlt haben, Nynaeve al'Meara, Seherin von Emondsfeld und unbewußte Lenkerin der Einen Macht?«
Lan sah mit einem Ausdruck auf Nynaeve herunter, der ihr nicht gefiel; überrascht und abschätzend, so schien es ihr, obwohl sich an seinem Gesicht nichts verändert hatte als nur der Ausdruck seiner Augen. Egwene war etwas Besonderes, das hatte sie immer schon gewußt. Egwene würde eine feine Seherin abgeben. Sie arbeiten zusammen, dachte sie, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Ich werde mir das nicht länger anhören. Ihr... «
»Ihr müßt zuhören«, sagte Moiraine nachdrücklich. »Ich vermutete das schon in Emondsfeld, bevor ich Euch traf. Die Leute erzählten mir, wie verstört ihre Seherin sei, daß sie den harten Winter und den späten Frühling nicht vorhergesehen hatte. Sie sagten mir, wie gut sie üblicherweise das Wetter und die Ernte vorhersagen könne. Sie sagten mir, wie wunderbar ihre Heilmittel seien, wie sie manchmal Verletzungen heilte, die sonst einen Krüppel aus dem Betroffenen machen würden; dank ihrer Hilfe sehe man kaum eine Narbe, kein Hinken oder Zucken. Das einzig Negative, das ich über Euch hörte, kam von einigen, die Euch für zu jung für diese Verantwortung hielten, und das bestärkte nur meinen Verdacht. So jung und schon solche Fähigkeiten!«
»Frau Barran hat mich gut unterrichtet.« Sie versuchte, Lan anzusehen, doch dessen Blick machte sie immer noch unsicher. Also blickte sie über den Kopf der Aes Sedai hinweg zum Fluß hinüber. Wie können die im Dorf es wagen, vor einer Ausländerin solchen Klatsch auszubreiten! »Wer behauptete, ich sei zu jung?« wollte sie wissen.
Moiraine lächelte, ließ sich aber nicht ablenken. »Im Gegensatz zu den meisten Frauen, die behaupten, sie könnten aus dem Wind lesen, könnt Ihr das wirklich manchmal. Oh, natürlich hat das nichts mit dem Wind zu tun. Ihr fühlt die Kräfte von Luft und Wasser. Ihr brauchtet darin nicht unterrichtet zu werden; es ist Euch angeboren, genau wie bei Egwene. Doch Ihr habt gelernt, damit umzugehen, und das steht ihr noch bevor. Zwei Minuten, nachdem ich Euch erstmals gegenüberstand, wußte ich Bescheid. Erinnert Ihr euch daran, wie ich Euch plötzlich fragte, ob Ihr die Seherin seid? Warum habe ich das wohl getan? Es gab nichts, woran man Euch von jeder anderen hübschen jungen Frau hätte unterscheiden können, die sich für das Fest zurechtmachte. Obwohl ich eine junge Seherin erwartet hatte, dachte ich doch, sie sei wenigstens um die Hälfte älter als Ihr.«
Nynaeve erinnerte sich nur zu gut an dieses Zusammentreffen: diese Frau, selbstbewußter im Auftreten als jedes Mitglied des Frauenzirkels, in einem schöneren Kleid, als sie jemals eines gesehen hatte, und dann sprach sie sie als ›Kind‹ an. Und dann hatte Moiraine plötzlich ganz überrascht dreingeschaut und aus dem Blauen heraus die Frage gestellt...
Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Beide sahen sie an. Das Gesicht des Behüters war undurchschaubar wie ein Stein, während das der Aes Sedai bei aller Eindringlichkeit Sympathie verriet. Nynaeve schüttelte den Kopf. »Nein! Nein, das ist unmöglich. Ich würde es wissen. Ihr versucht nur, mich hereinzulegen, und damit habt ihr bei mir sicher keinen Erfolg.«
»Natürlich wißt Ihr nichts davon«, sagte Moiraine beruhigend. »Wie solltet Ihr das auch nur vermuten? Euer ganzes Leben lang habt Ihr nur davon gehört, dem Wind zu lauschen. Außerdem — Ihr würdet noch eher vor allen Emondsfeldern behaupten, Ihr seid ein Schattenfreund, als auch nur Euch selbst einzugestehen — und wenn es auch nur im letzten Hinterstübchen Eures Verstands wäre -, daß Ihr etwas mit der Einen Macht oder den gefürchteten Aes Sedai zu tun habt.« Etwas wie Belustigung huschte über Moiraines Gesicht. »Aber ich kann Euch sagen, wie alles begann.«
»Ich will Eure Lügen nicht mehr hören«, sagte sie, aber die Aes Sedai fuhr einfach fort.
»Vielleicht war es vor acht oder zehn Jahren — das Alter ist unterschiedlich, doch es kommt immer in der Jugend -, da gab es etwas, das Ihr unbedingt wolltet, mehr als alles in der Welt, etwas, das Ihr brauchtet. Und Ihr habt es bekommen. Ein Ast, der plötzlich herunterfiel, so daß Ihr Euch daran aus einem See ziehen konntet, anstatt zu ertrinken. Ein Freund oder ein Haustier, das wieder gesund wurde, obwohl jeder geglaubt hatte, es werde sterben...
Zu der Zeit habt Ihr nichts weiter gefühlt, doch eine Woche oder zehn Tage später kam die Reaktion auf Eure erste Berührung mit der Wahren Quelle. Vielleicht war es Fieber oder Schüttelfrost, was Euch plötzlich ans Bett fesselte und dann, nach nur ein paar Stunden, wieder verschwand. Keine der Reaktionen, und da gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, dauert länger als ein paar Stunden. Kopfschmerzen und ein taubes Gefühl im Kopf und freudige Erregung, alles durcheinander, und Ihr riskiert irgend etwas ganz Dummes oder bewegt Euch taumelnd, schwindlig. Überhaupt dieses Schwindelgefühl: Ihr seid bei jeder Bewegung herumgetaumelt und gestolpert und habt keinen vollständigen Satz herausgebracht, sondern nur gelallt. Es gibt noch mehr Anzeichen. Erinnert Ihr Euch?«
Nynaeve sackte zu Boden. Ihre Beine trugen sie nicht mehr. Sie erinnerte sich an alles, und trotzdem schüttelte sie den Kopf. Es mußte Zufall sein. Oder hatte Moiraine in Emondsfeld noch mehr herumgefragt, als sie dachte? Die Aes Sedai hatte eine Menge Fragen gestellt. Das mußte es sein. Lan bot ihr seine Hand, doch sie bemerkte es noch nicht einmal.
»Ich gehe noch weiter«, sagte Moiraine, als Nynaeve schwieg. »Ihr habt die Macht einmal benützt, um entweder Perrin oder Egwene zu heilen. Eine Verbindung ist entstanden. Ihr könnt die Gegenwart eines Menschen fühlen, den Ihr geheilt habt. In Baerlon seid Ihr geradewegs zum Hirsch und Löwen gekommen, obwohl es keineswegs die nächste Schenke an einem der Tore war, durch das Ihr die Stadt betreten konntet. Von den Emondsfeldern waren nur Perrin und Egwene bei Eurer Ankunft in der Schenke. War es Perrin oder Egwene? Oder beide?«
»Egwene«, murmelte Nynaeve. Sie hatte es immer für gegeben erachtet, daß sie manchmal wußte, wer sich ihr näherte, auch wenn sie die Person noch nicht sehen konnte. Bis jetzt war es ihr nie in den Sinn gekommen, daß es immer jemand war, den sie auf wunderbare Weise geheilt hatte. Und sie hatte auch immer gewußt, wenn ein Medikament über alle Erwartungen gut anschlagen würde, war sich immer sicher gewesen, wenn sie behauptete, eine Ernte werde besonders gut ausfallen oder der Regen werde diesmal früher oder später eintreffen. So mußte es doch sein, dachte sie. Nicht alle Seherinnen konnten dem Wind lauschen, aber die besten schon. Das hatte Frau Barran immer gesagt, und sie hatte hinzugefügt, Nynaeve werde zu den Besten gehören.
»Sie hatte Wundfieber.« Sie sprach mit gesenktem Kopf. »Ich war immer noch Frau Barrans Lehrling, und sie ließ mich über Egwene wachen. Ich war jung und wußte nicht, daß die Seherin alles gut im Griff hatte. Es ist furchtbar, jemanden mit Wundfieber zu beobachten. Das Kind war schweißgebadet, stöhnte und wand sich, bis ich kaum noch verstand, warum ich ihre Knochen nicht brechen hören konnte. Frau Barran hatte mir gesagt, das Fieber werde in einem, höchstens zwei Tagen nachlassen, doch ich glaubte, sie habe mich nur trösten wollen. Ich glaubte, Egwene läge im Sterben. Ich hatte sie manchmal beaufsichtigt, als sie noch ein Kleinkind war und wenn ihre Mutter weg mußte, und so begann ich zu weinen, weil ich sie nicht sterben sehen wollte. Als Frau Barran eine Stunde später wiederkam, war das Fieber weg. Sie war überrascht und kümmerte sich mehr um mich als um Egwene. Ich dachte immer, sie glaubte, ich habe dem Kind etwas gegeben und traute mich nicht, es zuzugeben. Ich dachte immer, sie wolle mich beruhigen und mir klarmachen, daß ich Egwene nicht geschadet hatte. Eine Woche später kippte ich in ihrem Wohnzimmer um, zitterte und glühte abwechselnd. Sie brachte mich ins Bett, doch beim Abendessen war alles wieder in Ordnung.«
Sie ließ den Kopf in die Hände fallen, als sie fertig war. Die Aes Sedai hat ein gutes Beispiel gewählt, dachte sie. Das Licht verbrenne sie! Die Macht wie eine Aes Sedai benützen! Eine schmutzige, Schattenfreund-Aes Sedai!
»Ihr habt viel Glück gehabt«, sagte Moiraine, und Nynaeve setzte sich mit einem Ruck auf. Lan drehte sich weg, als ginge ihn das, worüber sie sprachen, nichts an, und machte sich an Mandarbs Sattel zu schaffen. Er sah nicht einmal zu ihnen herüber.
»Glück!«
»Ihr habt eine grobe Kontrolle über Eure Kräfte erlangt, auch wenn die Berührung der Wahren Quelle noch immer in unregelmäßigen Abständen erfolgt. Wenn Ihr das nicht geschafft hättet, wärt Ihr irgendwann daran gestorben. So, wie es Egwene umbringen wird, wenn Ihr es schafft, sie davon abzuhalten, daß sie Tar Valon erreicht.«
»Wenn ich lernte, die Gabe zu kontrollieren... « Nynaeve schluckte schwer. Das war, als gäbe sie erneut zu, alles das tun zu können, was die Aes Sedai behauptete. »Wenn ich lernte, es zu kontrollieren, dann kann sie das auch. Sie muß deswegen nicht nach Tar Valon gehen und sich in Eure Intrigen verwickeln lassen.«
Moiraine schüttelte bedächtig den Kopf. »Die Aes Sedai suchen genauso dringend nach Mädchen, die die Wahre Quelle ohne Hilfe berühren können, wie auch nach Männern mit der gleichen Fähigkeit. Es ist nicht der Wunsch, unsere Anzahl zu vergrößern — oder zumindest nicht nur das — und auch nicht die Angst, daß diese Frauen die Macht mißbrauchen werden. Die geringe Kontrolle über die Macht, die sie erlangen können, wenn das Licht auf sie scheint, reicht kaum aus, um viel Schaden anzurichten, besonders weil die wirkliche Berührung der Quelle von ihnen ohne Lehrer nicht bewußt gemeistert werden kann und nur wahllos erfolgt. Und natürlich leiden sie nicht an dem Wahn, der die Männer zu bösen oder verrückten Taten treibt. Wir wollen ihre Leben retten. Die Leben jener, die niemals eine wirksame Kontrolle erlangen.«
»Das Fieber und der Schüttelfrost, die ich hatte, könnten niemanden töten«, beharrte Nynaeve. »Nicht in drei oder vier Stunden. Ich habe auch die anderen Wirkungen erlebt, und auch sie würden niemanden umbringen. Und nach ein paar Monaten hörte alles auf. Wie steht es damit?«
»Das waren nur Reaktionen«, sagte Moiraine geduldig. »Jedesmal kommt die Reaktion schneller nach der Berührung der Quelle, bis beides fast gleichzeitig geschieht. Danach gibt es keine weiteren sichtbaren Reaktionen, aber es ist, als habe eine Uhr zu ticken angefangen. Ein Jahr. Zwei Jahre. Ich kenne eine Frau, bei der es fünf Jahre dauerte. Von vieren, die diese angeborene Fähigkeit haben wie Ihr und Egwene, sterben drei, falls wir sie nicht finden und ausbilden. Ihr Tod ist nicht so furchterregend wie bei den Männern, aber schön ist er nicht, falls man überhaupt einen Tod schön nennen kann. Krämpfe. Schreien. Es dauert Tage, und wenn es einmal begonnen hat, kann man nichts mehr dagegen tun, nicht einmal alle Aes Sedai in Tar Valon gemeinsam.«
»Ihr lügt! Alle diese Fragen in Emondsfeld. Ihr habt von Egwenes Heilung und meinem Fieber und Schüttelfrost gehört! Ihr habt alles erfunden!«
»Ihr wißt genau, daß das nicht stimmt«, sagte Moiraine sanft.
Zögernd, eingeschüchterter als je zuvor in ihrem Leben, nickte Nynaeve. Es war ein letzter starrköpfiger Versuch gewesen, zu leugnen, was eigentlich klar war, und so was ist niemals gut, so unangenehm die Wahrheit auch sein mag. Frau Barrans erstes Lehrmädchen war so gestorben, wie die Aes Sedai es beschrieben hatte, als Nynaeve noch mit Puppen spielte, und in Devenritt war es vor nur wenigen Jahren einer jungen Frau ebenso ergangen. Auch sie war Lehrmädchen bei einer Seherin gewesen, eine, die dem Wind lauschen konnte.
»Ich glaube, Ihr habt große Fähigkeiten«, fuhr Moiraine fort. »Richtig geführt, könntet Ihr möglicherweise noch mächtiger werden als Egwene, und ich denke, aus Ihr kann schon eine der mächtigsten Aes Sedai werden, die es in den letzten Jahrhunderten gegeben hat.«
Nynaeve zuckte vor der Aes Sedai zurück wie vor einer Giftschlange. »Nein! Ich will nichts zu tun haben mit... « Womit? Mir selbst? Sie sank zurück, und ihre Stimme wurde unsicher. »Ich möchte Euch bitten, niemandem davon zu erzählen. Bitte!« Das Wort blieb ihr beinahe im Hals stecken. Ihr wäre es lieber gewesen, Trollocs wären gekommen, als daß sie zu dieser Frau ›bitte‹ sagen mußte. Aber Moiraine nickte nur zustimmend, und etwas von ihrem Kampfgeist kehrte wieder. »Nichts von dem allen erklärt, was Ihr mit Rand, Mat und Perrin anfangen wollt.«
»Der Dunkle König will sie haben«, antwortete Moiraine. »Wenn der Dunkle König etwas haben will, stelle ich mich dagegen. Kann es einen einfacheren oder besseren Grund geben?« Sie trank den Rest Tee aus und blickte Nynaeve über den Rand ihrer Tasse hinweg an. »Lan, wir müssen aufbrechen. Nach Süden, denke ich. Ich fürchte, die Seherin wird uns nicht begleiten.«
Nynaeves Mund zog sich zu einer schmalen Linie zusammen, als sie hörte, wie die Aes Sedai das Wort ›Seherin‹ betonte, so, als ob sie den großen Dingen den Rücken kehrte und etwas Unbedeutendes vorzog. Sie will mich nicht dabei haben. Sie versucht mich abzuschrecken, so daß ich heimgehe und sie ihr überlasse. »O ja, ich gehe mit Euch. Ihr könnt mich nicht davon abhalten.«
»Niemand wird Euch davon abhalten«, sagte Lan, als er wieder zu ihnen stieß. Er leerte den Teekessel über dem Feuer aus und stocherte mit einem Stock in der Asche herum. »Ein Teil des Musters?« fragte er Moiraine.
»Vielleicht«, sagte sie gedankenverloren. »Ich hätte noch mal mit Min sprechen sollen.«
»Ihr seht, Nynaeve, Ihr seid uns willkommen.« Lan zögerte kurz, als er ihren Namen sagte — da war eine Andeutung eines unausgesprochenen ›Sedai‹ zu bemerken.
Nynaeve, die es als Spott auffaßte, schnaubte vor Wut, auch weil sie so vor ihr über Dinge sprachen, von denen sie nichts wußte, ohne ihr die Höflichkeit einer Erklärung angedeihen zu lassen, doch sie wollte ihnen nicht den Gefallen tun, danach zu fragen. Der Behüter fuhr mit den Vorbereitungen für den Aufbruch fort. Seine Bewegungen waren sparsam, doch sicher und schnell, so daß er bald fertig war. Satteltaschen, Decken und alles andere waren hinter den Sätteln von Mandarb und Aldieb festgeschnallt.
»Ich werde Euer Pferd holen«, sagte er zu Nynaeve, als er den letzten Gurt angezogen hatte.
Er ging die Böschung hinauf, und sie erlaubte sich ein kleines Lächeln. Nachdem sie ihn unentdeckt beobachtet hatte, versuchte er nun, ohne Hilfe ihr Pferd zu finden. Er würde merken, daß sie wenig Spuren hinterließ, wenn sie jemanden belauerte. Es wäre ein Vergnügen, ihn mit leeren Händen zurückkommen zu sehen.
»Warum nach Süden?« fragte sie Moiraine. »Ich hörte Euch sagen, einer der Jungen sei auf der anderen Seite des Flusses. Woher wißt Ihr das?«
»Ich gab jedem der Jungen eine Münze. Das schuf eine Art von Verbindung zwischen ihnen und mir. Solange sie am Leben sind und diese Münze bei sich tragen, werde ich in der Lage sein, sie zu finden.« Nynaeves Blick wanderte in die Richtung, in die der Behüter gegangen war, und Moiraine schüttelte den Kopf. »Nicht so. Es erlaubt mir nur herauszufinden, ob sie noch am Leben sind, und sie zu finden, falls wir getrennt werden. Eine wichtige Vorsichtsmaßnahme unter den gegebenen Umständen, findet Ihr nicht auch?«
»Mir gefällt nichts, was Euch mit jemandem aus Emondsfeld verbindet«, sagte Nynaeve stur. »Aber wenn es uns hilft, sie zu finden... «
»Es wird. Wenn ich könnte, würde ich zuerst den jungen Mann von der anderen Seite des Flusses aufgabeln.« Einen Moment lang prägte Enttäuschung die Stimme der Aes Sedai. »Er befindet sich nur ein paar Meilen von uns entfernt. Aber ich kann mir den Zeitaufwand einfach nicht leisten. Er sollte den Weg nach Weißbrücke jetzt, wo die Trollocs fort sind, in Sicherheit zurücklegen können. Die beiden, die sich flußabwärts bewegen, brauchen vielleicht meine Hilfe nötiger. Sie haben ihre Münzen verloren, und Myrddraal verfolgen sie entweder oder versuchen, uns in Weißbrücke abzufangen.« Sie seufzte. »Ich muß das Nötigste zuerst erledigen.«
»Die Myrddraal könnten... könnten sie getötet haben«, sagte Nynaeve. Moiraine schüttelte leicht den Kopf und verwarf den Gedanken, als sei er zu unbedeutend, um ihm Beachtung zu schenken. Nynaeves Mund verzog sich. »Und wo ist dann Egwene? Ihr habt sie nicht einmal erwähnt.«
»Ich weiß es nicht«, gab Moiraine zu, »aber ich hoffe, sie ist in Sicherheit.«
»Ihr wißt es nicht? Ihr hofft? All das Gerede darüber, ihr Leben zu retten, indem Ihr sie nach Tar Valon bringt, und nun könnte sie genausogut auch schon tot sein!«
»Ich könnte nach ihr suchen und damit den Myrddraal mehr Zeit geben, bevor ich ankomme und den beiden jungen Männern helfe, die nach Süden unterwegs sind. Der Dunkle König sucht nach ihnen, nicht nach ihr. Sie würden sich nicht um Egwene kümmern, solange ihre wirkliche Beute ungefangen bleibt.«
Nynaeve erinnerte sich an ihr eigenes Zusammentreffen, doch sie weigerte sich, den Sinn von Moiraines Worten anzuerkennen. »Also ist das Beste, was Ihr mir bieten könnt, daß sie vielleicht noch am Leben ist, wenn sie Glück hatte. Lebendig, vielleicht allein, verängstigt, sogar verletzt, Tage vom nächsten Dorf oder von Hilfe entfernt, außer eben von uns. Und Ihr plant, sie im Stich zu lassen.«
»Genausogut könnte sie sich auch in Sicherheit bei dem Jungen auf der anderen Seite befinden. Oder auf dem Weg nach Weißbrücke mit den beiden anderen. In jedem Fall befinden sich keine Trollocs mehr hier, die sie bedrohen, und sie ist stark und intelligent und durchaus in der Lage, notfalls allein nach Weißbrücke zu gelangen. Wollt Ihr lieber hierbleiben, weil sie möglicherweise Hilfe braucht, oder versuchen, denen zu helfen, von denen wir wissen, daß sie in Not sind? Wollt Ihr, daß ich sie suche, anstatt mich um die Jungen — und auch um die Myrddraal, die sie auf jeden Fall verfolgen — zu kümmern? So sehr ich auch hoffe, Nynaeve, daß Egwene in Sicherheit ist, so gilt mein Kampf doch dem Dunklen König, und das bestimmt jetzt meinen Weg.«
Moiraine verlor nie die Ruhe, während sie die schrecklichen Alternativen schilderte. Nynaeve hätte sie anschreien können. Sie schluckte Tränen hinunter und drehte das Gesicht weg, so daß die Aes Sedai es nicht sehen konnte. Licht, man erwartet von einer Seherin, daß sie sich um all die ihr anvertrauten Menschen kümmert. Warum stehe ich vor einer solchen Wahl?
»Lan ist wieder da«, sagte Moiraine, erhob sich und zog sich den Umhang über.
Es war nur ein kleiner Schlag für Nynaeve, als der Behüter ihr Pferd aus dem Wäldchen führte. Trotzdem hatte sie ganz schmale Lippen, als er ihr die Zügel reichte. Es hätte ihre Laune wenigstens ein kleines bißchen verbessert, wenn auf seinem Gesicht nur eine Spur von Ärger bemerkbar gewesen wäre, anstatt dieser unerträglichen, steinernen Ruhe. Seine Augen weiteten sich, als er ihr Gesicht sah, und sie wandte ihm den Rücken zu, um sich die Tränen von den Wangen zu wischen. Wie kann er sich über mein Weinen lustig machen!
»Kommt Ihr jetzt, Seherin?« fragte Moiraine kühl.
Sie warf einen letzten langen Blick auf den Wald und fragte sich, ob Egwene dort draußen sei, bevor sie traurig auf ihr Pferd stieg. Lan und Moiraine waren bereits aufgesessen und richteten ihre Pferde nach Süden aus. Sie folgte mit steifem Rücken und weigerte sich, noch einmal zurückzusehen. Statt dessen behielt sie Moiraine im Auge. Die Aes Sedai hatte soviel Vertrauen in ihre Kräfte und ihre Pläne, dachte sie, aber wenn sie Egwene und die Jungen nicht fänden, alle, lebendig und unversehrt, dann würde all ihre Kraft nicht reichen, um sie zu beschützen. Nicht einmal ihre Macht. Ich kann sie auch benützen, Frau! Das habt Ihr mir selbst gesagt. Ich kann sie gegen Euch benützen!