6 Der Westwald

Im Mondlicht konnte Rand wirklich nicht genau sehen, was er tat, aber Tams Wunde schien nur ein oberflächlicher Schnitt am Brustkorb zu sein, nicht länger als seine Handfläche. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte erlebt, wie sein Vater schlimmere Wunden als diese abbekam und nicht einmal mit der Arbeit aufhörte, nachdem er sie ausgewaschen hatte. Hastig suchte er Tams Körper von Kopf bis Fuß nach einer weiteren Verletzung ab, die das Fieber hervorgerufen haben konnte, aber außer dem einen Schnitt fand er nichts.

So klein er war, war diese Verletzung doch ernstzunehmen; das Fleisch um die Wunde herum schien zu glühen, als er es berührte. Es war noch heißer als der übrige Körper Tams, und der war heiß genug, daß Rand die Zähne zusammenbiß. Wundfieber dieser Art konnte tödlich sein oder einen Mann zum Wrack machen. Er ließ Wasser aus dem Sack auf ein Tuch laufen und legte es auf Tams Stirn.

Er bemühte sich, den Schnitt über den Rippen seines Vaters so sanft wie möglich auszuwaschen und zu bandagieren, aber trotzdem unterbrach leises Stöhnen das fieberhafte Gemurmel Tams. Kahle Äste ragten über sie hinweg und bewegten sich bedrohlich im Wind. Sicher würden die Trollocs weiterziehen, wenn sie Tam und ihn nicht finden konnten, wenn sie zum Bauernhaus zurückkehrten und es immer noch leer vorfanden. Er versuchte, daran zu glauben, aber die willkürliche Zerstörungswut, die sich im Haus gezeigt hatte, die völlige Sinnlosigkeit dieser Handlungsweise, ließen wenig Spielraum für Hoffnung. Die Annahme, sie würden aufgeben, bevor sie jeden getötet und alles zerstört hatten, was sie finden konnten, war gefährlich. Er konnte sich solchen Leichtsinn nicht leisten.

Trollocs. Licht über uns, Trollocs! Kreaturen aus den Geschichten eines Gauklers, die aus der Nacht hervorbrachen und die Tür einschlugen. Und ein Blasser. Das Licht erleuchte mich — ein Blasser!

Plötzlich merkte er, daß er die losen Enden der Binde in den bewegungslosen Händen hielt. Erstarrt wie ein Kaninchen, das den Schatten des Falken gesehen hat, dachte er verächtlich. Mit ärgerlichem Kopfschütteln beendete er das Bandagieren von Tams Brustwunde.

Auch wenn er wußte, was zu tun war, und damit auch vorankam, so bewahrte ihn das doch nicht davor, Angst zu haben. Wenn die Trollocs wiederkamen, würden sie bestimmt beginnen, den Wald nach Spuren der entkommenen Menschen zu durchsuchen. Die Leiche des Gefährten, den er getötet hatte, würde ihnen zeigen, daß Menschen nicht weit sein konnten. Und wer wußte schon, was ein Blasser tun würde oder wozu er imstande war? Und zu alledem hatte er laut und klar seines Vaters Kommentar über das Gehör der Trollocs im Gedächtnis. Er mußte den Impuls unterdrücken, eine Hand auf Tams Mund zu legen, um sein Stöhnen und Murmeln zu beenden. Einige können Spuren mit der Nase aufspüren. Was kann ich dagegen tun? Nichts. Er konnte seine Zeit nicht damit verschwenden, über Probleme nachzudenken, die er sowieso nicht lösen konnte.

»Du mußt leise sein«, flüsterte er in seines Vaters Ohr. »Die Trollocs werden zurückkommen.«

Tam sprach leise und heiser. »Du bist immer noch schön, Kari. Genauso schön wie als Mädchen.«

Rand zog eine Grimasse. Seine Mutter war schon seit fünfzehn Jahren tot. Wenn Tam sich einbildete, sie sei noch am Leben, dann war das Fieber schlimmer, als Rand gedacht hatte. Wie konnte er ihn vom Sprechen abhalten, jetzt, da es lebensnotwendig war, leise zu sein? »Mutter möchte, daß du leise bist«, flüsterte Rand. Er hielt inne und räusperte sich. Seine Kehle schien wie zugeschnürt. Sie hatte sanfte Hände gehabt, daran erinnerte er sich noch. »Kari möchte, daß du ruhig bist. Hier. Trink.«

Tam schluckte gierig aus dem Wassersack, aber schnell drehte er den Kopf wieder zur Seite und murmelte leise vor sich hin, zu leise, als daß Rand es verstehen konnte. Er hoffte, daß jagende Trollocs es ebenfalls nicht hören konnten.

Schnell fuhr er fort, alles Notwendige zu tun. Er wickelte drei der mitgenommenen Decken so um die vom Karren abgetrennten Achsen, daß er eine provisorische Bahre erhielt. Er würde sie nur an einem Ende tragen können — das andere mußte am Boden schleifen -, aber es war nicht anders zu bewerkstelligen. Aus der letzten Decke schnitt er mit dem Messer einen langen Streifen heraus. Den band er auf beiden Seiten an den Achsen fest.

So sanft wie möglich hob er Tam auf die Bahre. Jedes Aufstöhnen seines Vaters drang ihm wie ein Messer durch die Seele. Er hatte immer so unzerstörbar gewirkt. Nichts konnte ihn erschüttern; nichts konnte ihn aufhalten oder hemmen. Daß er sich jetzt in einem solchen Zustand befand, raubte Rand beinahe allen Mut, den er vorher noch aufgebracht hatte. Aber er mußte weitermachen. Nur das bewegte ihn noch. Er mußte.

Als Tam endlich auf der Bahre lag, zögerte Rand, doch dann nahm er Tam den Schwertgürtel ab. Als er ihn selbst anlegte, fühlte sich das ganz eigenartig an. Er fühlte sich so seltsam. Gürtel und Scheide und Schwert zusammen wogen nur ein paar Pfund, aber als er die Klinge in die Scheide steckte, schien ihn eine schwere Last hinunterzuziehen.

Er ärgerte sich über sich selbst. Dies war nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit für blödsinnige Einbildungen. Es war nur ein großes Messer. Wie oft hatte er davon geträumt, ein Schwert zu tragen und Abenteuer zu erleben! Wenn er einen Trolloc damit getötet hatte, konnte er sich auch gegen andere zur Wehr setzen. Allerdings wußte er nur zu gut, daß ihm bei dem Kampf im Haus das reine Glück zur Seite gestanden hatte. Und in seinen erträumten Abenteuern hatten ihm nie die Zähne geklappert; er war auch nie durch die Nacht um sein Leben gerannt, und sein Vater war in den Träumen nie dem Tod nahe gewesen.

Hastig wickelte er die letzte Decke um Tam und legte den Wassersack und die Tücher neben seinen Vater auf die Bahre. Er holte tief Luft, kniete zwischen den Enden der Achsen nieder und zog sich den Deckenstreifen über den Kopf. Er wickelte ihn sich über die Schultern und unter die Arme. Als er die Stangen ergriff und sich aufrichtete, ruhte der größte Teil der Last auf seinen Schultern. Es schien nicht besonders schlimm. Er versuchte, gleichmäßig auszuschreiten, und so machte er sich auf nach Emondsfeld. Die Bahre schlitterte hinter ihm her.

Er hatte sich bereits entschlossen, zur Haldenstraße zu gehen und dieser nach Emondsfeld zu folgen. Die Gefahr wäre wahrscheinlich an der Straße noch größer, aber wenn er sich in der Dunkelheit im Wald verlief, würde Tam erst recht keine Hilfe erhalten.

Bevor er es merkte, war er schon fast auf der Haldenstraße eingelangt. Als er erkannte, wo er sich befand, schnürte es ihm die Kehle zu. In hektischer Eile drehte er die Bahre um und schleppte sie ein Stück zurück in den Schutz der Bäume. Dort blieb er stehen, um nach Luft zu schnappen und zu warten, daß sich das Klopfen seines Herzens beruhigte. Immer noch schweratmend wandte er sich nach Osten, auf Emondsfeld zu.

Sich zwischen den Bäumen hindurchzuwinden, war schwieriger, als Tam die Straße hinunterzuschleifen, und die Dunkelheit der Nacht half ihm auch nicht gerade, aber die Straße selbst zu benutzen, wäre heller Wahnsinn gewesen. Sie wollten ja das Dorf erreichen, ohne Trollocs zu treffen, möglichst auch ohne welche zu sehen, falls ihm dieser Wunsch erfüllt wurde. Er mußte ja annehmen, daß die Trollocs ihnen immer noch auf der Fährte waren, und früher oder später würde ihnen der Gedanke kommen, sie seien zum Dorf gelaufen. Das war ja der offensichtliche Weg, und die Haldenstraße bot sich dazu an. Er befand sich selbst hier zwischen den Bäumen der Straße noch näher, als ihm lieb war. Die Nacht und die Schatten unter den Bäumen schienen nur eine dürftige Deckung zu gewähren, die sie vor den Blicken aller jener schützte, die sich auf der Straße befanden.

Das zwischen kahlen Ästen hindurchdringende Mondlicht war nur eine notdürftige Beleuchtung, die seinen Augen vorgaukelte, er könne erkennen, wie der Boden vor ihm beschaffen war. Auf Schritt und Tritt stolperte er über Wurzeln, alte Dornensträucher verfingen sich an seinen Beinen, und kaum sichtbare Mulden oder Bodenerhebungen brachten ihn fast zu Fall, wenn der Fuß auf Luft traf, wo er festen Boden erwartete, oder wenn die Zehen gegen ein unerwartetes Hindernis stießen. Tams Gemurmel wurde zu lautem Aufstöhnen, wenn seine Bahre zu heftig über eine Wurzel oder einen Stein holperte.

Aus Unsicherheit starrte er so angestrengt in die Dunkelheit, daß ihm die Augen brannten, und er lauschte, wie er noch nie gelauscht hatte. Jedes Schaben eines Zweiges gegen einen anderen, jedes Rascheln ließen ihn innehalten. Die Ohren schmerzten ihm beinahe vor Anstrengung, und er traute sich kaum zu atmen, aus Angst, einen warnenden Laut zu überhören — und aus Angst, einen solchen zu hören. Erst wenn er sicher war, daß es nur der Wind war, ging er weiter.

Langsam kroch ihm die Erschöpfung durch Arme und Beine, unterstützt vom Nachtwind, der durch Umhang und Mantel drang, als sei kaum ein Schutz vorhanden. Das Gewicht der Bahre, das am Anfang so gering schien, drohte ihn jetzt zu Boden zu ziehen. Er stolperte nun nicht nur des unebenen Bodens wegen. Der ständige Kampf gegen das Fallen erforderte genausoviel Energie wie das Ziehen der Bahre. Er war vor dem Morgengrauen aufgestanden, um die notwendigen Arbeiten auf dem Hof zu erledigen, und zusammen mit der Fahrt nach Emondsfeld ergab das nun beinahe einen vollen Tag mit Arbeit rund um die Uhr. An einem normalen Abend säße er jetzt vor dem Kamin, um ein Buch aus Tams kleiner Sammlung zu lesen, bevor er ins Bett ging. Die beißende Kälte drang ihm bis auf die Knochen, und der Magen erinnerte ihn daran, daß er seit den Honigkuchen von Frau al'Vere nichts mehr gegessen hatte.

Er fluchte ärgerlich in sich hinein. Warum hatte er vom Hof nicht Eßbares mitgenommen? Ein paar Minuten mehr hätten auch nichts ausgemacht. Die Trollocs wären doch wohl nicht innerhalb einer solch kurzen Zeitspanne zurückgekommen! Wenigstens das Brot! Natürlich würde Frau al'Vere darauf bestehen, ihm ein heißes Abendessen einzutrichtern, wenn sie die Schenke erreichten. Vielleicht eine dampfende Platte ihrer dicken Lammkoteletts. Und etwas von dem Brot, das sie gebacken hatte. Und eine Menge heißen Tee.

»Sie kamen wie eine Flutwelle über den Drachenwall«, sagte Tam plötzlich mit kräftiger, wütender Stimme, »und haben das Land mit Blut überschwemmt. Wie viele mußten sterben für Lamans Sünde?«

Rand stürzte beinahe, so überrascht war er. Müde legte er die Bahre nieder und befreite sich von dem Deckenstreifen. Er hatte bereits einen brennenden Striemen quer über die Schultern hinterlassen. Er rollte die Schultern ein wenig, um die verknoteten Muskeln zu entspannen. Dann kniete er neben Tam nieder. Er griff nach dem Wassersack und spähte dabei zwischen den Bäumen hindurch. Vergebens bemühte er sich, die Straße hinauf und hinunter klar auszumachen. Das Mondlicht war zu trüb, auch wenn die Straße nur etwa zwanzig Schritt entfernt war. Nichts außer den Schatten bewegte sich dort. Nichts außer Schatten.

»Es gibt keine Flut von Trollocs, Vater. Jedenfalls heute nicht. Wir sind bald in Emondsfeld in Sicherheit. Trink ein bißchen Wasser!«

Tam schob den Wassersack mit einem Arm zur Seite, der anscheinend seine ganze Kraft zurückgewonnen hatte. Er packte Rand beim Kragen und zog ihn so nahe zu sich heran, daß Rand die Hitze des Fiebers auf der eigenen Wange spürte. »Sie haben sie als Wilde bezeichnet«, sagte Tam eindringlich. »Die Narren sagten, man könne sie wie Abfall aus dem Weg räumen. Wie viele Schlachten mußten verlorengehen, wie viele Städte brennen, bis sie endlich der Wahrheit ins Auge sahen? Bis die Nationen endlich gemeinsam gegen sie kämpften?« Er lockerte den Griff an Rands Kragen, und Trauer klang in seiner Stimme auf. »Das Feld von Marath mit einem Teppich von Leichen bedeckt und kein Laut außer dem Krächzen der Raben und dem Summen der Fliegen. Die abgedeckten Türme von Cairhien brannten wie Fackeln in der Nacht. Den ganzen Weg bis zu den Leuchtenden Wällen brannten und mordeten sie, bevor sie zurückgeschlagen wurden. Den ganzen Weg nach... «

Rand legte die Hand auf des Vaters Mund. Ein Laut wiederholte sich, ein rhythmisches Trampeln, dessen Richtung man zwischen den Bäumen nicht bestimmen konnte, erst leiser und dann, als der Wind sich drehte, wieder lauter. Er runzelte die Stirn und drehte den Kopf langsam hin und her, um festzustellen, woher der Laut kam. Aus dem Augenwinkel nahm er eine leichte Bewegung wahr, und einen Moment später beugte er sich tief über Tam. Er war überrascht, den Griff des Schwertes fest in seiner Hand zu fühlen, aber der größere Teil seines Verstands konzentrierte sich auf die Haldenstraße, als sei die Straße der einzig wirkliche Teil dieser ganzen Welt.

Schwankende Schatten im Osten formten sich langsam zur Gestalt eines Reiters auf einem Pferd, der gefolgt wurde von großen massigen Figuren, die rennen mußten, um mit dem Pferd mitzuhalten. Das blasse Mondlicht spiegelte sich in glitzernden Speerspitzen und Axtschneiden. Rand glaubte von vornherein nicht daran, es könnten Dorfbewohner sein, die ihnen zu Hilfe kamen. Er wußte, wer sie waren. Er fühlte es, als würden seine Knochen mit Sand abgeschliffen, noch bevor sie ganz nahe waren. Dann enthüllte ihm das Mondlicht den Kapuzenmantel des Reiters, einen Mantel, der vom Wind unberührt herunterhing. Alle Gestalten erschienen in dieser Nacht schwarz, und die Hufe des Pferdes verursachten die gleichen Geräusche wie die jedes anderen Pferdes, doch Rand erkannte dieses Pferd ganz eindeutig.

Hinter dem dunklen Reiter kamen Alptraumgestalten mit Hörnern und Schnauzen und Schnäbeln, eine Doppelreihe von Trollocs, alle im Gleichschritt. Die Stiefel und Hufe schlugen im gleichen Moment auf dem Boden auf, als würden sie von einem einzigen Verstand gesteuert. Rand zählte zwanzig, die da an ihnen vorbeieilten. Er fragte sich, welche Art von Mensch es wagte, so vielen Trollocs den Rücken zuzuwenden. Oder überhaupt einem Trolloc.

Die rennende Truppe verschwand in westlicher Richtung. Das Stampfen der Füße und Hufe verklang in der Dunkelheit, aber Rand blieb, wo er war, und bewegte keinen Muskel. Etwas in ihm sagte ihm, er müsse erst sicher, absolut sicher sein, daß sie fort waren, bevor er sich wieder in Bewegung setzen durfte. Nach einer ganzen Weile atmete er wieder tief ein und wollte sich gerade aufrichten.

Diesmal gab das Pferd überhaupt keinen Laut von sich. In unheimlicher Stille kehrte der Reiter zurück. Sein schattenhaftes Reittier blieb alle paar Schritte in seinem langsamen Schreiten die Straße hinunter stehen. Windböen erhoben sich und heulten durch den Wald. Der Mantel des Reiters hing unbeweglich wie der Tod herunter. Wo immer das Pferd stehenblieb, bewegte sich der kapuzenbedeckte Kopf hin und her, als der Reiter den Wald beobachtete, suchte. Genau gegenüber von Rand blieb das Pferd wieder stehen. Die düstere Öffnung der Kapuze zeigte in die Richtung, wo Rand über seinem Vater kauerte.

Rands Hand verkrampfte sich um den Schwertgriff. Er fühlte den Blick genau wie am Morgen und erzitterte wieder vor dem Haß, obwohl er ihn nicht sehen konnte. Dieser verhüllte Mann haßte jeden und alles, alles, was lebte. Trotz des kalten Windes rann Schweiß über Rands Gesicht. Dann bewegte sich das Pferd weiter, ein paar lautlose Schritte, und blieb erneut stehen. Schließlich konnte Rand nur noch einen kaum wahrnehmbaren Schatten in der Nacht erkennen, weit entfernt die Straße hinunter. Er hatte ihn keinen Augenblick aus den Augen verloren. Wenn er ihn aus dem Blickfeld verlor, würde er ihn das nächste Mal vielleicht erst sehen, wenn dieses lautlose Pferd ihn schon erreicht hatte.

Mit einem Mal huschte der Schatten zurück und flog in unhörbarem Galopp vorbei. Der Reiter blickte vorwärts, als er in westlicher Richtung durch die Nacht raste, in Richtung Verschleierte Berge. Auf den Bauernhof zu.

Rand sackte in sich zusammen, rang nach Luft und wischte sich den kalten Schweiß mit einem Ärmel von der Stirn. Es interessierte ihn nicht mehr, warum die Trollocs gekommen waren. Falls er das niemals herausfand, war es auch recht, wenn es nur zu Ende war.

Mit einem kurzen Schütteln riß er sich wieder zusammen und sah erst einmal nach seinem Vater. Tam murmelte immer noch vor sich hin, aber so leise, daß Rand die Worte nicht verstand. Er versuchte, ihm etwas zu Trinken beizubringen, aber das Wasser floß über das Kinn des Vaters. Tam hustete und erstickte fast an dem Rinnsal, das tatsächlich den Weg in seinen Mund fand, und dann schwatzte er leise weiter, als hätte es gar keine Unterbrechung gegeben.

Rand goß noch ein wenig Wasser auf das Tuch, das auf Tams Stirn lag, legte den Wassersack zurück auf die Bahre und begab sich wieder zwischen die beiden Stangen.

Er ging los, als habe er die ganze Nacht geschlafen, aber die neue Kraft hielt nicht lange vor. Die Angst vertrieb zunächst die Erschöpfung, doch obwohl die Angst blieb, kehrte die Erschöpfung schnell zurück. Bald stolperte er wieder mühsam vorwärts und versuchte, Hunger und schmerzende Muskeln zu vergessen. Er konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne zu Fall zu kommen. Dabei stellte er sich Emondsfeld vor, die Fensterläden geöffnet und die Häuser hell zur Winternacht beleuchtet, Menschen, die sich lautstark begrüßten, wenn sie sich gegenseitig besuchten, Fiedeln, die die Straßen mit Melodien wie Jaems Torheit und Der Reiherflug erfüllten. Haral Luhhan würde einen Schnaps zuviel trinken und mit der Stimme eines Ochsenfrosches das Lied Der Wind in der Gerste singen das tat er immer -, bis seine Frau es fertigbrachte, ihn zum Schweigen zu bringen, und Cenn Buie würde sich entschließen, den anderen zu beweisen, daß er immer noch ebensogut tanzen konnte wie früher, und Mat würde einen Streich zu spielen versuchen, der ein wenig danebenging, und jeder würde wissen, daß er dafür verantwortlich war, auch wenn es keiner beweisen konnte. Er konnte beinahe schon wieder lächeln, als er daran dachte, wie es wohl wieder würde.

Nach einer Weile sprach Tam wieder.

»Avendesora. Man sagt, er erzeuge keinen Samen, aber sie brachten einen jungen Zweig nach Cairhien, einen Schößling. Ein königliches Geschenk, um den König zu erstaunen.« Obgleich er sich zornig anhörte, sprach er sehr leise. Rand hatte Mühe, ihn zu verstehen. Jeder, der ihn hören könnte, würde auch das Schleifen der Bahre über den Boden wahrnehmen. Rand schlurfte weiter und hörte nur so halb hin. »Sie schließen niemals Frieden.

Niemals. Aber sie brachten einen Schößling als Zeichen des Friedens. Hundert Jahre lang wuchs er. Hundert Jahre Friede mit denjenigen, die nie mit Fremden Frieden schließen. Warum hat er ihn gefällt? Warum? Blut war der Preis für Avendoraldera. Blut der Preis für Lamans Stolz.« Er verfiel wieder in leises Murmeln.

Müde fragte sich Rand, welchen Fiebertraum Tam wohl jetzt träumte. Avendesora. Der Baum des Lebens sollte alle möglichen wundersamen Eigenschaften besitzen, aber keine der Geschichten erwähnte irgendeinen Schößling oder irgendwelche Leute. Es gab nur einen Baum, und der gehörte dem Grünen Mann.

Heute morgen noch wäre er sich lächerlich vorgekommen, wenn er ernsthaft über den Grünen Mann und den Baum des Lebens nachgedacht hätte. Das waren nur Geschichten. Wirklich? Heute morgen waren auch Trollocs nur eine Geschichte. Vielleicht waren alle Geschichten genauso wirklich wie die Nachrichten, die Händler und Kaufleute brachten — alle Erzählungen der Gaukler und alle Sagen, abends am Kamin erzählt. Vielleicht traf er demnächst tatsächlich den Grünen Mann oder einen Ogier-Riesen oder einen wilden Aielmann mit schwarzem Schleier.

Er merkte, daß Tam wieder deutlicher sprach, jedenfalls immer wieder einmal. Von Zeit zu Zeit hörte er auf, um Luft zu holen, und dann fuhr er fort, als glaube er, die ganze Zeit durchgehend gesprochen zu haben. »... Schlachten sind immer heiß, sogar im Schnee. Schweißhitze. Bluthitze. Nur der Tod ist kühl. Bergabhang... einzige Ort, der nicht nach Tod stank. Mußte dem Gestank entfliehen... dem Bild... hörte ein Kind weinen. Ihre Frauen kämpfen manchmal an der Seite der Männer, aber warum sie sie mitnahmen, weiß ich nicht... Hat dort das Kind allein zur Welt gebracht, bevor sie an ihren Verletzungen starb... das Kind mit ihrem Umhang bedeckt, doch der Wind... blies den Umhang fort... das Kind, blau vor Kälte. Hätte auch tot sein sollen... weinte dort. Weinte im Schnee. Ich konnte ein Kind nicht liegenlassen... keine eigenen Kinder... immer gewußt, daß du Kinder wolltest. Ich wußte, du würdest es als dein eigenes annehmen, Kari. Ja, Mädchen. Rand ist ein guter Name. Ein guter Name.«

Plötzlich verloren Rands Beine das letzte bißchen Kraft. Er stolperte und fiel auf die Knie. Tam stöhnte bei dem plötzlichen Ruck auf, und der Deckenstreifen schnitt Rand in die Schultern. Doch beides war ihm nicht bewußt. Wenn in diesem Moment ein Trolloc vor ihm aufgesprungen wäre — er hätte ihn nur verständnislos angestarrt. Er blickte über die Schulter zurück auf Tam, der in wortlose Lippenbewegungen versunken war. Fieberträume, dachte er dumpf. Durch Fieber bekam man immer schlimme Träume, und dies war eine Zeit für Alpträume, selbst wenn man kein Fieber hatte. »Du bist mein Vater«, sagte er laut und streckte die Hand aus, um Tam zu berühren, »und ich bin... « Das Fieber war schlimmer geworden. Viel schlimmer.

Grimmig entschlossen, wenn auch mühsam stand er auf. Tam murmelte wieder etwas, aber Rand weigerte sich, zuzuhören. Er stemmte sich mit dem ganzen Gewicht gegen das improvisierte Geschirr. Er versuchte, sich auf einen bleiernen Schritt nach dem anderen zu konzentrieren und darauf, die Sicherheit von Emondsfeld zu erreichen. Doch er konnte das Echo nicht aus dem Hinterkopf vertreiben. Er ist mein Vater. Es war nur ein Fiebertraum. Er ist mein Vater. Es war nur ein Fiebertraum. Licht, wer bin ich?

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