50 Zusammentreffen am Auge

Rand führte den Braunen am Zügel und folgte zusammen mit den anderen Emondsfeldern dem Grünen Mann. Alle blickten drein, als könnten sie sich nicht entscheiden, wen sie zuerst betrachten wollten: den Grünen Mann oder den Wald. Der Grüne Mann war natürlich eine legendäre Gestalt, über die man sich Geschichten erzählte — über ihn und den Baum des Lebens. Man erzählte sich vor jedem Kamin in den Zwei Flüssen davon, und die Geschichten waren nicht nur für Kinder bestimmt. Doch nach dem Anblick der Fäule hätten auch die Bäume und Blumen ein Wunder an Normalität dargestellt, auch wenn der Rest der Welt noch im Winter gefangen war.

Perrin hielt sich ein wenig zurück. Als Rand sich nach ihm umsah, sah der große, wollköpfige Jüngling aus, als wolle er nichts mehr von dem hören, was der Grüne Mann zu sagen hatte. Er konnte ihn verstehen. Kind des Drachens. Mißtrauisch betrachtete er den Grünen Mann, der mit Moiraine und Lan voranschritt. Schmetterlinge umflatterten ihn in einer Wolke aus Gelb und Rot. Was meinte er damit? Nein. Ich will es nicht wissen.

Trotzdem war sein Schritt beschwingter, und die Beine federten elastischer. Das Unbehagen rührte sich noch in seinen Eingeweiden und ließ seinen Magen flattern, doch die Angst hatte sich so weit aufgelöst, daß sie fast nicht mehr zu bemerken war. Er glaubte nicht, daß es noch besser werden könne — wenn die Fäule nur eine halbe Meile entfernt war -, obwohl Moiraine natürlich recht damit hatte, daß nichts aus der Fäule hier eindringen könne. Die tausend brennenden Lichtpunkte, die sich in seine Knochen gebohrt hatten, waren erloschen, und zwar in dem Moments als sie das Reich des Grünen Mannes betreten hatten, da war er ganz sicher. Er hat sie ausgeblasen, dachte er — der Grüne Mann und dieser Ort hier.

Egwene fühlte es und Nynaeve auch, diesen beruhigenden Frieden, die Ruhe, die in der Schönheit lag. Er sah es ihnen an. Ihre Gesichter zeigten ein leichtes, heiteres Lächeln, und ihre Finger streichelten über Blumen. Sie blieben stehen, um tief atmend den Duft einzusaugen.

Als der Grüne Mann das bemerkte, sagte er: »Blüten sind zum Dekorieren da. Pflanzen oder Menschen, das ist beinahe dasselbe. Keiner hat etwas dagegen, solange man nicht zu viele nimmt.« Und er begann, von dieser oder jener Pflanze Blüten abzupflücken, aber niemals mehr als zwei von einer Pflanze. Bald trugen Nynaeve und Egwene Blütenkränze im Haar, rosa Heckenrosen und gelbe Glockenblumen und weiße Morgensternchen. Der Zopf der Seherin, der ihr bis zur Hüfte reichte, schien wie ein weiß- und rosafarbener Garten. Selbst Moiraine nahm für ihre Stirn einen Kranz von Morgensternchenblüten entgegen, der so stark in sich verwoben war, daß die Blüten immer noch zu wachsen schienen. Rand war sich nicht sicher, ob sie nicht vielleicht wirklich wuchsen. Der Grüne Mann kümmerte sich im Vorbeigehen um seinen Waldgarten und unterhielt sich dabei leise mit Moiraine. Er tat, was eben gerade getan werden mußte, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein. Seine Haselnußaugen erspähten an einer rankenden Heckenrose einen krummen Trieb, der von dem blütenübersäten Ast eines Apfelbaums in eine Ecke gedrückt wurde, und er blieb beim Sprechen stehen und fuhr mit der Hand den Trieb entlang. Rand war sich nicht ganz klar darüber, ob ihm seine Augen einen Streich spielten oder ob sich die Dornen tatsächlich wegdrehten, damit sie diese grünen Finger nicht verletzten. Als die hoch aufragende Gestalt des Grünen Mannes weiterging, war der Trieb kerzengerade und steckte seine roten Knospen zwischen die weißen Apfelblüten. Er beugte sich hinunter und umschloß mit seiner riesigen Hand ein winziges Samenkorn, das auf einem Häufchen Kieselsteine lag. Als er sich wieder aufrichtete, war daraus ein kleiner Trieb geworden, der eine Wurzel zwischen den Kieseln hindurch in guten Boden steckte.

»Alle Dinge müssen wachsen, wo sie hinfallen, so will es das Muster«, erklärte er nach hinten, als entschuldige er sich. »Und dort müssen sie die Drehung des Rades erwarten, doch der Schöpfer wird nichts dagegen haben, wenn ich ein klein wenig nachhelfe.«

Rand führte den Braunen um den Trieb herum und achtete darauf, daß er nicht von den Pferdehufen zerquetscht wurde. Es schien ihm nicht richtig, zu zerstören, was der Grüne Mann geschaffen hatte, nur um einen Schritt mehr zu vermeiden. Egwene lächelte ihn an — ein so vertrautes kleines Lächeln — und berührte seinen Arm.

Sie sah so hübsch aus mit ihrem offenen, blumengeschmückten Haar, daß er zurücklächelte, bis sie errötete und die Augen niederschlug. Ich werde dich beschützen, dachte er. Was auch geschieht, ich werde dich doch in Sicherheit bringen. Das schwöre ich. Der Grüne Mann führte sie ins Herz des Frühlingswaldes zu einem Torbogen am Hang eines Hügels. Es war ein einfacher Steinbogen, hoch und weiß, und auf dem Schlüsselstein sah man einen Kreis, der von einer Schlangenlinie halbiert wurde. Die eine Hälfte war glatt, die andere rauh. Das uralte Symbol der Aes Sedai. Die Öffnung selbst lag im Schatten.

Einen Augenblick betrachteten alle schweigend den Torbogen. Dann entfernte Moiraine den Blütenkranz aus ihrem Haar und hängte ihn an einen Zweig eines Süßholzbusches neben dem Bogen. Es war, als löse diese Bewegung ihre Zungen.

»Ist es da drinnen?« fragte Nynaeve. »Weswegen wir gekommen sind?«

»Ich würde wirklich gern den Baum des Lebens sehen«, sagte Mat, der seinen Blick nicht von dem halbierten Kreis über ihnen wandte. »Solange können wir doch warten, oder?«

Der Grüne Mann sah Rand eigenartig an und schüttelte dann den Kopf. »Avendesora ist nicht hier. Ich habe seit zweitausend Jahren nicht mehr unter seinen rauhen Ästen geruht.«

»Der Baum des Lebens ist auch nicht der Grund unseres Kommens«, sagte Moiraine bestimmt. Sie deutete auf den Bogen: »Dort drinnen ist er.«

»Ich werde nicht mit euch hineingehen«, sagte der Grüne Mann. Die Schmetterlinge wirbelten um ihn herum, als teilten sie seine Erregung. »Es wurde mir vor langer, langer Zeit aufgetragen, es zu behüten, doch ich fühle mich nicht so wohl, wenn ich ihm zu nahe komme. Ich fühle, wie ich mich auflöse. Irgendwie hängt mein Ende damit zusammen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie es geschaffen wurde. Ein wenig jedenfalls. Ein bißchen.« Seine Haselnußaugen blickten gedankenverloren ins Leeres und er fühlte nach seiner Narbe. »Es war in den ersten Tagen der Zerstörung der Welt. Die Freude ob des Sieges über den Dunklen König erhielt als bitteren Beigeschmack das Bewußtsein, daß immer noch alles durch die Last des Schattens zerstört werden konnte. Hundert von ihnen schufen es — Männer und Frauen gemeinsam. So wurden die größten Werke der Aes Sedai immer geschaffen, indem sie Saidin und Saidar zusammenfügten, so wie in der Wahren Quelle. Sie alle starben, damit es rein blieb, während die Welt um sie herum zerrissen wurde. Sie wußten, daß sie sterben würden, und so trugen sie mir auf, es für den Fall zu beschützen, daß es gebraucht wurde. Das war nicht das, wofür ich geschaffen worden war, aber alles zerbrach, und sie waren allein und ich war alles, was sie hatten. Es war nicht das, wofür ich geschaffen worden war, aber ich habe ihm die Treue gehalten.« Er sah Moiraine an und nickte in sich hinein. »Ich habe die Treue gehalten, bis es gebraucht wurde. Und jetzt geht diese Zeit zu Ende.«

»Ihr seid treuer gewesen als viele von uns, die Euch diese Aufgabe anvertrauten«, sagte die Aes Sedai. »Vielleicht wird alles nicht so schlimm, wie Ihr befürchtet.«

Der genarbte, blattbehangene Kopf schüttelte sich langsam. »Ich erkenne ein Ende, wenn es kommt, Aes Sedai. Ich werde einen anderen Ort finden, an dem ich Pflanzen züchten kann.« Nußbraune Augen blickten traurig in den grünen Wald hinein. »Vielleicht einen anderen Ort. Wenn ihr herauskommt, werde ich euch noch einmal begrüßen, falls noch Zeit ist.« Damit schritt er fort, Schmetterlinge im Schwarm hinter sich herziehend, und wurde in einem Maße eins mit dem Wald, wie es selbst Lans Umhang nicht vermochte.

»Was hat er gemeint?« wollte Mat wissen. »Falls noch Zeit ist?«

»Kommt«, sagte Moiraine, und sie durchschritt den Torbogen. Lan folgte ihr auf dem Fuß.

Rand war sich nicht sicher, was er eigentlich erwartete, als er ihnen folgte. Die Haare an seinen Armen zuckten unruhig, und die in seinem Nacken sträubten sich. Aber es war nur ein Korridor, dessen mattglänzende Wände oben im gleichen Bogen wie das Tor zusammentrafen und sich in sanfter Neigung nach unten zogen. Selbst Loial hatte mehr als genug Platz nach oben; sogar der Grüne Mann hätte hereingepaßt. Der ebene Fußboden sah fürs Auge glatt aus wie geölte Platten, aber irgendwie bot er den Füßen genug Halt. Auf fugenlosen weißen Wänden glitzerten unzählige Lichtpunkte in ebenso vielen Farben und gaben ein mattes, sanftes Licht ab, obwohl der sonnenbeschienene Torbogen um eine Biegung hinter ihnen herum verschwunden war. Er war sicher, daß dieses Licht nichts Natürliches war, aber er fühlte auch, daß es gutartig war. Warum hast du dann dieses Kribbeln auf der Haut? Weiter und weiter hinunter ging es.

»Dort«, sagte Moiraine schließlich und zeigte nach vorn. »Vor uns.«

Der Korridor weitete sich zu einer enormen Kuppelhalle. Der rauhe, lebende Fels ihrer Decke war mit Gruppen von glimmenden Kristallen übersät. Darunter nahm ein See fast die ganze Höhlenfläche ein. Am Rand entlang war lediglich ein Rundweg von vielleicht fünf Schritten Breite übriggeblieben. Der See wies den ovalen Umriß eines Auges auf, und am Rand entlang zog sich ein niedriger, flacher Saum von Kristallen, die wohl in einem matteren, aber gleichzeitig drohenderen Licht leuchteten als die an der Decke. Die Oberfläche des Sees war so glatt wie Glas und so klar wie der Weinquellenbach. Rand hatte das Gefühl, sein Blick könne ihn bis in die Unendlichkeit durchdringen, und er konnte auch keinen Grund entdecken.

»Das Auge der Welt«, sagte Moiraine leise neben ihm. Als er sich voller Staunen umblickte, bemerkte er, daß die langen Jahre, seit es erschaffen wurde — dreitausend -, nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren, und niemand war gekommen. Nicht alle Kristalle in der Kuppel glühten mit der gleichen Intensität. Einige glühten stärker, andere schwächer; einige flackerten, und andere waren nur noch kantige Brocken, die lediglich im Lichtschein schimmerten. Wären alle gleich hell gewesen, die Kuppel hätte so hell gestrahlt wie die Mittagssonne. Jetzt schien es nur wie das Licht am späten Nachmittag. Der Rundweg war von Staub überkrustet, auf dem kleine Steinchen und sogar einzelne Kristallsplitter lagen. Lange Jahre des Wartens, während sich das Rad drehte und mahlte. »Aber was ist das eigentlich?« fragte Mat unsicher. »Das sieht nicht aus wie Wasser, jedenfalls wie ich es kenne.« Er gab einem faustgroßen, dunklen Steinbrocken einen Tritt, daß er über den Rand rutschte. »Es... «

Der Stein durchschlug die glasige Oberfläche und glitt in den See, ohne zu klatschen, ohne auch nur die kleinste Welle hervorzurufen. Beim Sinken schwoll der Stein an, wurde größer und größer und zeichnete sich deutlich ab. Schnell war er kopfgroß. Rand konnte beinahe hindurchsehen. Dann sah er nur noch einen armlangen, verschwommenen Fleck, und auch der verschwand. Er hatte noch nie eine solche Gänsehaut gehabt.

»Was ist das?« wollte er wissen. Er war überrascht von der rauhen Härte seiner eigenen Stimme.

»Man könnte es das Wesen des Saidin nennen.« Die Worte der Aes Sedai wurden als Echo in der Kuppel zurückgeworfen. »Die Essenz der männlichen Hälfte der Wahren Quelle, die pure Essenz der Macht, die von den Männern vor der Zeit des Wahns beherrscht worden war. Die Macht, das Siegel an dem Gefängnis des Dunklen Königs zu erneuern oder es vollständig zu brechen.«

»Das Licht leuchte und beschütze uns«, flüsterte Nynaeve. Egwene klammerte sich an sie, als wolle sie sich hinter der Seherin verstecken. Selbst Lan bewegte sich unruhig, obwohl in seinen Augen keine Überraschung stand.

Rands Schultern prallten gegen Stein, und ihm wurde bewußt, daß er bis zur Rückwand zurückgetreten war, so weit vom Auge der Welt entfernt wie möglich. Wenn er gekonnt hätte, wäre er durch die Wand hindurch entkommen. Mat ging es genauso. Er drückte sich so platt gegen die Felswand, wie es nur ging. Perrin starrte mit halb gezogener Axt in den See. Seine Augen leuchteten gelb und wild.

»Ich habe mich immer gefragt«, sagte Loial unsicher, »als ich darüber las, da habe ich mich immer gefragt, was es eigentlich sei. Warum? Warum haben sie das geschaffen? Und wie?«

»Niemand unter den Lebenden weiß das.« Moiraine blickte nicht mehr in den See. Sie beobachtete Rand und seine beiden Freunde eingehend mit abschätzendem Blick. »Weder weiß man, wie es geschaffen wurde, noch warum, außer daß es eines Tages benötigt werden würde und daß diese Not die größte und verzweifeltste sein würde, der sich die Menschheit bis zu dieser Zeit je gegenüber gesehen hatte. Vielleicht die größte Not, die es jemals geben würde.

Viele in Tar Valon haben sich bemüht, einen Weg zu finden, diese Macht zu verwenden, aber sie ist so unerreichbar für eine Frau wie der Mond für eine Katze. Nur ein Mann könnte sie beherrschen, aber der letzte männliche Aes Sedai ist seit fast dreitausend Jahren tot. Und doch war es eine verzweifelte Notwendigkeit, die sie dazu trieb. Sie arbeiteten sich durch das Gift des Dunklen Königs hindurch, das Saidin verdorben hatte, um es wieder zu heilen, obwohl sie wußten, daß ein Erfolg sie alle getötet hätte. Männliche und weibliche Aes Sedai gemeinsam. Der Grüne Mann hat die Wahrheit gesagt. Die größten Wunder des Zeitalters der Legenden wurden auf diese Art geschaffen, Saidin und Saidar zusammen. Alle Frauen in Tar Valon, alle die Aes Sedai an all den Königshöfen und in allen Städten, selbst die eingerechnet, die jenseits der Wüste leben, selbst die eingerechnet, die vielleicht noch jenseits des Aryth-Meeres leben, konnten nicht einen Löffel mit der Macht anfüllen, wenn sie keine Männer zur Zusammenarbeit hatten.«

Rands Kehle brannte, als habe er geschrien. »Warum hast du uns hierher gebracht?«

»Weil Ihr ta'veren seid.« Aus dem Gesichtsausdruck der Aes Sedai ließ sich nichts ablesen. Ihre Augen glänzten und schienen ihn zu ihr hinzuziehen. »Weil die Macht des Dunklen Königs hier zuschlagen wird und weil wir ihr gegenübertreten müssen und sie aufhalten, sonst wird der Schatten die Welt bedecken. Es gibt keine zwingendere Notwendigkeit als das. Gehen wir wieder hinaus ins Sonnenlicht, solange wir noch Zeit haben.« Sie wartete nicht, um zu sehen, ob sie ihr folgten, und ging mit Lan den Korridor wieder hinauf. Lans Schritt war vielleicht ein wenig schneller als sonst üblich. Egwene und Nynaeve eilten ihr hinterher.

Rand schob sich an der Wand entlang — er konnte sich nicht dazu zwingen, auch nur einen Schritt näher an das heranzutreten, was der See sein mochte — und stolperte zusammen mit Mat und Perrin auf den Korridor hinaus. Er wäre sogar gerannt, doch dann hätte er Egwene und Nynaeve, Moiraine und Lan überrannt. Sein Zittern hörte aber auch nicht auf, als er wieder draußen war.

»Mir gefällt das nicht, Moiraine«, sagte Nynaeve ärgerlich, als die Sonne wieder auf sie herunterschien.

»Ich glaube schon, daß die Gefahr so groß ist, wie du behauptest, sonst wäre ich nicht hier, aber das ist... «

»Endlich habe ich euch gefunden.«

Rand zuckte, als hätte sich ein Seil um seinen Hals zusammengezogen. Die Worte, die Stimme... einen Augenblick lang glaubte er, es sei Ba'alzamon. Aber die beiden Männer, die zwischen den Bäumen hervortraten, die Gesichter unter Kapuzen verborgen, trugen keine Umhänge von der Farbe getrockneten Blutes. Der eine Umhang war dunkelgrau, der andere von einem beinahe genauso dunklen Grün, und sogar an der frischen Luft wirkten sie muffig. Und die Männer waren keine Blassen; die Brise bewegte ihre Umhänge.

»Wer seid Ihr?« Lans Haltung sprach von Vorsicht. Seine Hand lag auf dem Griff seines Schwertes. »Wie seid Ihr hierhergekommen? Falls Ihr den Grünen Mann sucht... «

»Er führte uns.« Die Hand, die auf Mat deutete, war alt und verschrumpelt und fast nicht mehr menschlich zu nennen. Ein Fingernagel fehlte, und die Knöchel standen heraus wie Knoten in einem Stück Tau. Mat trat mit weit aufgerissenen Augen einen Schritt zurück. »Ein altes Ding, ein alter Freund, ein alter Feind. Aber er ist nicht derjenige, den wir suchen«, erklärte der Mann mit dem grünen Umhang. Der andere Mann stand da, als würde er niemals sprechen.

Moiraine richtete sich zu voller Größe auf. So reichte sie wohl immer noch den Männern nur bis zu den Schultern, aber sie erschien ihnen mit einemmal so groß wie die Hügel. Ihre Stimme klang wie eine Glocke. Sie verlangte zu wissen: »Wer seid Ihr?«

Hände schoben Kapuzen zurück, und Rand fielen fast die Augen aus dem Kopf. Der alte Mann war älter als alt; neben ihm hätte Cenn Buie wie ein vor Gesundheit strotzendes Kind gewirkt. Seine Gesichtshaut sah aus wie dünnes Pergament, das man fest über den Schädel gezurrt hatte und dann noch einmal etwas fester. Vereinzelte Büschel brüchigen Haares waren über seine vernarbte Kopfhaut verteilt. Seine Ohren waren verwitterte Bruchstücke wie Fetzen uralten Leders, die Augen eingesunken. Sie spähten aus seinem Kopf hervor wie vom hinteren Ende eines Tunnels her. Und doch sah der andere noch schlimmer aus. Ein enger schwarzer Lederüberzug bedeckte Kopf und Gesicht des Mannes vollständig, aber dessen Vorderseite war in Form eines Gesichts gearbeitet. Es war das Gesicht eines jungen Mannes, das wild, ja wahnsinnig lachte — ein für immer erstarrtes Lachen. Was verbirgt der, wenn der andere schon zeigt, was er da eben vorführt? Dann erstarrten sogar seine Gedanken, wurden zu Staub zermalmt und weggeblasen.

»Man nennt mich Aginor«, sagte der Alte. »Und er ist Balthamel. Er spricht nicht mehr mit seiner Zunge. Das Rad mahlt extrem fein, wenn man dreitausend Jahre lang im Gefängnis steckt.« Der Blick aus seinen eingesunkenen Augen glitt zum Torbogen hinüber. Balthamel beugte sich vor, die Augen unter seiner Maske auf die weiße Steinöffnung gerichtet, als wolle er geradewegs hineingehen. »So lange unfrei«, sagte Aginor leise. »So lange.«

»Das Licht schütze...«, begann Loial mit zitternder Stimme und brach dann schnell ab, als Aginor ihn anblickte.

»Die Verlorenen«, sagte Mat heiser, »sind in Shayol Ghul gefangen... «

»Waren gefangen.« Aginor lächelte; seine vergilbten Zähne wirkten wie Raubtierfänge. »Einige von uns sind nicht mehr gefangen. Die Siegel werden brüchig, Aes Sedai. Wie Ishamael wandeln wir wieder unter den Lebenden, und bald kommt der Rest von uns nach. Ich war dieser Welt in meiner Gefangenschaft zu nahe, ich und Balthamel, zu nahe dem Mahlen des Rads, aber bald wird der Große Herr der Dunkelheit frei sein und uns neues Fleisch verleihen, und die Welt wird wieder unser sein. Diesmal werdet ihr keinen Lews Therin Brudermörder mehr haben. Kein Herr des Morgens wird euch retten. Wir wissen nun, wen wir suchen, und den Rest von euch brauchen wir nicht mehr.«

Lans Schwert fuhr zu schnell aus der Scheide, als daß Rand die Bewegung hätte verfolgen können. Doch noch zögerte der Behüter, und sein Blick wanderte von Moiraine zu Nynaeve. Die beiden Frauen standen ein ganzes Stück voneinander entfernt. Hätte er sich zwischen eine von ihnen und die Verlorenen gestellt, hätte er sich damit weiter von der anderen entfernt. Das Zögern dauerte nur einen Herzschlag lang, doch als sich der Behüter bewegte, hob Aginor die Hand. Die Geste wirkte verächtlich — nur ein Schnippen seiner schwieligen Finger, wie um eine Fliege zu verscheuchen. Der Behüter flog nach rückwärts durch die Luft, als habe ihn eine riesige Hand geschleudert. Mit einem dumpfen Aufschlag prallte Lan gegen den steinernen Torbogen und hing einen Augenblick lang dort, bevor er zu einem schlappen Häufchen zusammensackte. Sein Schwert lag neben seiner ausgestreckten Hand.

»NEIN!« schrie Nynaeve.

»Sei ruhig!« befahl ihr Moiraine, aber bevor sich irgend jemand bewegen konnte, hatte das Messer der Seherin ihren Gürtel verlassen, und sie rannte auf die Verlorenen zu, die kleine Klinge hoch erhoben.

»Das Licht blende Euch«, schrie sie und hieb nach Aginors Brust. Der andere der Verlorenen bewegte sich wie eine Viper. Noch während sie zuzuschlagen versuchte, schoß Balthamels in Leder gehüllte Hand heraus und ergriff ihr Kinn. Die Finger gruben sich in ihre eine Wange, während sich der Daumen in die andere bohrte. Durch den Druck preßten sie das Blut aus den Wangen und hinterließen blasse Schwielen. Ein Krampf schüttelte Nynaeve von Kopf bis Fuß, als habe man sie wie einen Kreisel gepeitscht. Ihr Messer fiel nutzlos aus kraftlosen Fingern, als Balthamel sie mit diesem Griff vom Boden hochhob, bis die Ledermaske in ihr immer noch zitterndes Gesicht starrte. Ihre Zehen zuckten einen Fuß hoch über dem Boden. Es regnete Blumen aus ihrem Haar.

»Ich hatte die fleischlichen Lüste schon beinahe vergessen.« Aginors Zunge fuhr über die geschrumpften Lippen. Es klang, als schleife Stein über rauhes Leder. »Aber Balthamel erinnert sich noch an vieles.« Das Lachen der Maske schien noch wilder zu werden, und Nynaeves klagender Aufschrei brannte in Rands Ohren wie Verzweiflung, die direkt aus ihrem lebendigen Herz gerissen wurde.

Plötzlich rührte sich auch Egwene, und Rand sah, daß sie Nynaeve zur Hilfe eilen wollte. »Egwene, nein!« schrie er, doch sie blieb nicht stehen. Seine Hand hatte sich bei Nynaeves Aufschrei zu seinem Schwert hin bewegt, aber nun gab er das auf und warf sich auf Egwene. Er prallte auf sie, bevor sie noch den dritten Schritt gemacht hatte, und beide fielen zu Boden. Egwene landete mit einem Japsen unter ihm und schlug sofort um sich.

Auch andere waren in Bewegung, wie er jetzt erkannte. Perrins Axt wirbelte in seinen Händen, und seine Augen glühten golden und wild. »Seherin!« heulte Mat, und er hielt den Dolch aus Shadar Logoth in der Faust.

»Nein!« rief Rand. »Ihr könnt nicht gegen die Verlorenen kämpfen!« Aber sie rannten an ihm vorbei, als hätten sie ihn nicht gehört. Sie hatten nur Augen für Nynaeve und die beiden Verlorenen.

Aginor sah sie unberührt an... und lächelte.

Rand fühlte, wie sich die Luft über ihm auflud und wie die Peitsche eines Riesen knallte. Mat und Perrin, die noch nicht einmal den halben Weg zu den Verlorenen zurückgelegt hatten, blieben so unvermittelt stehen, als seien sie auf eine Wand gerannt. Dann prallten sie zurück und fielen platt zu Boden.

»Gut«, sagte Aginor. »Der passende Ort für euch. Wenn ihr lernt, euch niederzuwerfen und uns anzubeten, wie es sich gehört, dann lasse ich euch vielleicht am Leben.«

Hastig rappelte Rand sich hoch. Vielleicht konnte er die Verlorenen nicht bekämpfen — das konnte kein gewöhnlicher Mensch -, aber er würde sie nicht eine Minute lang in dem Glauben lassen, er krieche vor ihnen. Er versuchte, Egwene beim Aufstehen zu helfen, doch sie schlug seine Hände zur Seite und stand allein auf. Zornig strich sie sich das Kleid glatt. Auch Mat und Perrin hatten sich trotzig, wenn auch unsicher, aufgerichtet.

»Ihr werdet es lernen«, sagte Aginor, »wenn ihr überleben wollt. Nun, da ich gefunden habe, was ich brauche« — sein Blick wandte sich dem Torbogen zu -»nehme ich mir vielleicht die Zeit, es euch beizubringen.«

»Das wird nicht geschehen!« Der Grüne Mann schritt aus dem Wald hervor. Seine Stimme klang, als schlage der Blitz in eine alte Eiche ein. »Ihr gehört nicht hierher!«

Aginor warf ihm einen kurzen, verächtlichen Blick zu. »Geht! Eure Zeit ist beendet. Alle von Eurer Rasse außer Euch sind längst Staub. Lebt, was Euch an Leben noch bleibt, und seid froh, daß es unter unserer Würde ist, Notiz von Euch zu nehmen.«

»Dies ist meine Heimstatt«, sagte der Grüne Mann, »und Ihr werdet hier nichts Lebendiges verletzen.«

Balthamel schleuderte Nynaeve weg wie einen alten Lumpen, und so fiel sie auch, mit leeren, offenen Augen, schlaff, als seien all ihre Knochen geschmolzen. Eine lederumhüllte Hand hob sich, und der grüne Mann brüllte auf, als sich aus den Ranken, aus denen er gewebt war, Rauch erhob. Der Wind in den Bäumen warf ein Echo seiner Schmerzen zurück.

Aginor wandte sich wieder Rand und den anderen zu, als sei er mit dem Grünen Mann fertig, doch ein langer Schritt, und kräftige, blättrige Arme schlangen sich um Balthamel, hoben ihn hoch, drückten ihn gegen eine Brust aus dicken Ranken. Die schwarze Ledermaske lachte in Haselnußaugen, die vor Zorn dunkel waren. Wie Schlangen entwanden sich Balthamels Arme dieser Umklammerung. Seine behandschuhten Hände ergriffen den Kopf den Grünen Mannes, als wollten sie ihn ausreißen. Flammen schlugen hoch, wo diese Hände des Grünen Mann berührten. Ranken verwelkten, Blätter fielen. Der Grüne Mann brüllte laut, als dichter, dunkler Rauch zwischen den Ranken seines Körpers herausquoll. Weiter und weiter brüllte er, als brülle er sich selbst aus sich heraus, zusammen mit dem Rauch, der zwischen seinen Lippen hervorquoll.

Plötzlich zuckte Balthamel im Griff des Grünen Mannes. Die Hände des Verlorenen versuchten, ihn wegzuschieben, statt ihn festzuhalten. Eine Hand flog zur Seite... und ein winziger, grüner Trieb brach durch das schwarze Leder. Ein Pilz, so wie er im tiefen Schatten des Waldes ringförmig um die Bäume wächst, umklammerte seinen Arm, wuchs aus dem Nichts zu voller Größe heran, schwoll an und bedeckte die ganze Länge des Arms. Balthamel schlug um sich, und ein Stinkkraut-Trieb riß seine Lederhülle auf. Flechten schoben ihre Wurzeln hinein und sprengten winzige Risse in das Ledergesicht.

Nesseln durchbrachen die Augen der Maske; Totenkopfpilze rissen den Mund auf.

Der grüne Mann schleuderte den Verlorenen zu Boden. Balthamel wand sich und zuckte, als all diese Dinge, die an düsteren Orten wuchsen, all die Dinge mit Sporen, all die Dinge, die Feuchtigkeit liebten, anschwollen und wuchsen, Stoff und Leder und Fleisch aufrissen — war es Fleisch, was man in diesem kurzen Augenblick pflanzlichen Zorns sehen konnte? -, bis nur noch zerlumpte Fetzen übrig waren; die ihn überwucherten, bis nur noch eine Erhebung übrigblieb, die man kaum von anderen in den schattigen Tiefen des Waldes unterscheiden konnte, und diese Erhebung bewegte sich genausowenig wie die anderen. Mit einem Aufstöhnen wie dem eines Astes, der unter seinem zu hohen Gewicht abbricht, krachte der Grüne Mann zu Boden. Die Hälfte seines Kopfes war schwarz verkohlt. Rauchfinger erhoben sich noch von ihm wie graue Fühler. Verbrannte Blätter fielen von seinem Arm herunter, als er schmerzerfüllt seine geschwärzte Hand ausstreckte, um sanft eine Eichel zu umschließen.

Die Erde grollte, als zwischen seinen Fingern ein Eichenschößling emporwuchs. Der Kopf des Grünen Mannes sackte herunter, doch der Schößling streckte sich der Sonne entgegen. Wurzeln schossen heraus und festigten sich, gruben sich in den Boden, schoben sich wieder heraus und wurden immer dicker, während sie wieder einsanken. Der Stamm verbreiterte sich und streckte sich nach oben. Die Rinde wurde grau und rissig und alt. Äste breiteten sich aus und wurden schwer, armdick, mannsgroß, erhoben sich, den Himmel zu liebkosen, dicht mit grünem Laub bewachsen, voll von Eicheln. Das massive Netzwerk von Wurzeln warf die Erde auf wie ein Pflug, während es sich vergrößerte; der sowieso schon riesige Stamm zitterte, verbreiterte sich erneut zum Durchmesser eines Hauses. Stille verbreitete sich. Und eine Eiche, die auch fünfhundert Jahre alt sein konnte, bedeckte den Fleck, an dem der Grüne Mann gelegen hatte. Sie war das Zeichen für das Grab einer Legende. Nynaeve lag auf den knorrigen Wurzeln, die krumm gewachsen waren, um ihre Gestalt zu umfassen, um ein Bett für sie zu bilden, auf dem sie ruhen konnte. Der Wind seufzte durch die Zweige der Eiche; er schien ein Lebewohl zu murmeln.

Selbst Aginor schien wie betäubt. Dann hob er den Kopf, und die Höhlenaugen glühten vor Haß. »Genug! Es ist höchste Zeit, dies zu beenden!«

»Ja, Verlorener«, sagte Moiraine mit einer Stimme, die so kalt klang wie das Eis im tiefsten Winter. »Höchste Zeit!«

Die Hand der Aes Sedai hob sich, und der Boden brach unter Aginors Füßen ein. Flammen erhoben sich prasselnd aus der Kluft, wurden von dem aus allen Richtungen heranheulenden Wind aufgepeitscht, saugten einen Strudel von Blättern in sich hinein, der sich zu einem rotgeäderten, flüssigen gelben Strahl purer Hitze verfestigte. In der Mitte stand Aginor, die Füße nur von Luft gehalten. Der Verlorene sah überrascht aus, doch dann lächelte er und trat einen Schritt vor. Es war ein langsamer Schritt, als versuche das Feuer, ihn am gleichen Fleck festzuhalten, aber er tat ihn, und dann noch einen.

»Rennt!« befahl Moiraine. Ihr Gesicht war vor Anstrengung weiß. »Rennt alle weg!« Aginor schritt durch die Luft auf die Kante der Flammen zu.

Rand konnte am Rand seines Gesichtsfeldes erkennen, wie andere sich bewegten, wie Mat und Perrin weghetzten, wie Loials lange Beine ihn in den Wald hineintrugen, doch alles, was er wirklich sah, war Egwene. Sie stand starr da mit bleichem Gesicht und geschlossenen Augen. Es war nicht die Angst, die sie dort festhielt, erkannte er. Sie versuchte, ihre winzige, ungeübte Kraft in der Anwendung der Macht gegen den Verlorenen einzusetzen.

Grob packte er sie am Arm und zog sie herum, bis ihr Gesicht ihm zugewandt war. »Renn weg!« schrie er sie an. Ihre Augen öffneten sich, blickten ihn an. Zorn war darin zu sehen, weil er sich eingemischt hatte, und blinder Haß auf Aginor, aber auch Furcht vor dem Verlorenen. »Renn!« sagte er und schob sie in Richtung auf die Bäume. Er tat es so kräftig, daß sie losstolperte. Kaum daß sie sich in Bewegung gesetzt hatte, rannte sie auch schon.

Aber Aginors verwittertes Gesicht wandte sich ihm zu und auch der davonrennenden Egwene hinter ihm, während der Verlorene durch die Flammen wandelte, als ginge ihn das, was die Aes Sedai tat, überhaupt nichts an. Er blickte hinter Egwene her.

»Nicht sie!« schrie Rand. »Das Licht verbrenne Euch, aber sie bekommt Ihr nicht!« Er schnappte sich einen Felsbrocken und warf ihn. Er hoffte, damit Aginors Aufmerksamkeit zu erregen. Auf halbem Weg zum Gesicht des Verlorenen verwandelte sich der Stein in eine Handvoll Staub.

Er zögerte nur einen Augenblick lang, lang genug, um nach hinten zu blicken und zu sehen, daß Egwene zwischen den Bäumen verborgen war. Die Flammen umgaben Aginor immer noch, Fetzen seines Umhangs glimmten, aber er schlenderte einher, als habe er alle Zeit der Welt, und das Feuer war nah. Rand drehte sich um und rannte los. Hinter sich hörte er, wie Moiraine laut aufschrie.

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