37 Die lange Hatz

Nynaeve packte die Zügel der drei Pferde fester und spähte in die Nacht hinein, als könne sie irgendwie die Dunkelheit durchdringen und die Aes Sedai und den Behüter aufspüren. Skelettartige Bäume umgaben sie, vom trüben Mondlicht klar umrissen und schwarz. Die Bäume und die Nacht bildeten einen wirkungsvollen Schutz für alles, was immer Moiraine und Lan auch vorhatten. Nicht, daß einer von beiden sich die Zeit genommen hätte, sie darüber aufzuklären. Ein leises ›Sorgt dafür, daß sich die Pferde ruhig verhalten‹ von Lan, und sie waren weg und ließen sie wie einen Stallburschen stehen. Sie blickte die Pferde an und seufzte betrübt.

Mandarb verschwand gegen den Hintergrund der Nacht beinahe im gleichen Maße wie der Umhang seines Herren. Der einzige Grund, warum der kampferfahrene Hengst sie so nahe herankommen ließ, war, daß Lan selbst ihr die Zügel gereicht hatte. Er schien im Moment ruhig genug, aber sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie er ihr lautlos die Zähne gezeigt hatte, als sie, ohne auf Lans Zustimmung zu warten, nach seinen Zügeln gegriffen hatte. Die Lautlosigkeit der Geste ließ die gefletschten Zähne um so bedrohlicher erscheinen. Nach einem letzten mißtrauischen Blick zu dem Hengst hin wandte sie sich um und spähte in die Richtung, in der sich die anderen beiden entfernt hatten. Dabei streichelte sie gedankenverloren ihr eigenes Pferd. Sie fuhr überrascht zusammen, als ihr Aldieb die blasse Schnauze in die Hand schob, aber nach einer Weile streichelte sie auch die weiße Stute.

»Nicht nötig, es an dir auszulassen, schätze ich«, flüsterte sie, »bloß, weil deine Herrin eine kaltschnäuzige... « Sie versuchte wieder, die Dunkelheit zu durchdringen. Was machten sie da eigentlich?

Nachdem sie Weißbrücke verlassen hatten, waren sie durch Dörfer geritten, die in ihrer Normalität schon unwirklich erschienen — ganz gewöhnliche Marktflecken, die nach Nynaeve Ansicht keine Beziehung zu einer Welt aufwiesen, in der es Blasse und Trollocs und Aes Sedai gab. Sie waren der Straße nach Caemlyn gefolgt, bis sich Moiraine schließlich in Aldiebs Sattel vorgebeugt und nach Osten ausgeschaut hatte, als könne sie die ganze Länge der großen Straße — all die vielen Meilen bis Caemlyn — auf einmal sehen sowie auch das, was dort auf sie wartete.

Schließlich atmete die Aes Sedai langgezogen aus und richtete sich wieder auf. »Das Rad webt, wie das Rad es will«, murmelte sie, »aber ich kann nicht glauben, daß es ein Ende der Hoffnung webt. Ich muß mich zuerst um das kümmern, dessen ich sicher bin. Es wird geschehen, wie das Rad webt.« Und sie richtete ihre Stute nach Norden, von der Straße weg in den Wald hinein. Einer der Jungen befand sich in jener Richtung, und zwar mit der Münze, die Moiraine ihm gegeben hatte. Lan folgte ihr.

Nynaeve warf einen langen letzten Blick auf die Straße nach Caemlyn. Nur wenige Menschen teilten die Straße mit ihnen — ein paar hochrädrige Karren und in der Entfernung ein leerer Wagen, dazu eine Handvoll Leute zu Fuß, die ihre Besitztümer auf den Rücken geschnallt oder in Handwagen gepackt hatten. Einige davon waren bereit zuzugeben, daß sie sich auf dem Weg nach Caemlyn befanden, um den falschen Drachen zu sehen, aber die meisten stritten das ganz entschieden ab, besonders diejenigen, die von Weißbrücke gekommen waren. In Weißbrücke hatte sie begonnen, Moiraine wirklich Glauben zu schenken. Ein wenig. Jedenfalls mehr als vorher. Und darin lag gar nichts Beruhigendes.

Der Behüter und die Aes Sedai waren zwischen den Bäumen beinahe schon außer Sicht, als sie ihnen endlich nachritt. Sie beeilte sich aufzuholen. Lan sah sich gelegentlich nach ihr um und winkte ihr zu, aber er hielt sich an Moiraines Seite, und die Aes Sedai hatte den Blick nach vorn gerichtet.

Eines Abends, nachdem sie die Straße verlassen hatten, verschwand die unsichtbare Spur, der sie gefolgt waren. Moiraine, die sonst nichts umwerfen konnte, erhob sich plötzlich neben dem kleinen Feuer mit dem kochenden Teewasser, die Augen weit aufgerissen. »Es ist weg«, flüsterte sie in die Nacht hinein.

»Ist er...?« Nynaeve konnte ihre Frage nicht aussprechen. Licht, und ich weiß nicht einmal, welcher von ihnen es ist!

»Er ist nicht gestorben«, sagte die Aes Sedai langsam, »aber er hat die Münze nicht mehr.« Sie setzte sich. Ihre Stimme klang beherrscht, und ihre Hände zitterten nicht, als sie den Kessel von den Flammen hob und eine Handvoll Tee hineinwarf. »Am Morgen reiten wir in dieselbe Richtung weiter, so wie bisher. Wenn ich nahe genug herankomme, finde ich ihn auch ohne die Münze.«

Als das Feuer bis auf verkohlte Reste heruntergebrannt war, rollte sich Lan in seinen Umhang und schlief ein. Nynaeve konnte nicht schlafen. Sie beobachtete die Aes Sedai. Moiraine hatte die Augen geschlossen, saß aber aufgerichtet da, und Nynaeve wußte, daß sie wach war.

Lange nachdem die letzte Glut von der Holzkohle verschwunden war, öffnete Moiraine die Augen und blickte sie an. Sie konnte das Lächeln der Aes Sedai sogar im Dunkeln fühlen. »Er hat die Münze wieder, Seherin. Alles wird gut.« Sie legte sich mit einem Seufzer auf ihre Decken und schlief fast augenblicklich tief atmend ein.

Es fiel Nynaeve schwer, es ihr gleichzutun, obwohl sie so müde war. Ihr Verstand beschwor immer wieder die schlimmsten Visionen herauf, ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte, abzuschalten. Alles wird gut. Nach dem, was in Weißbrücke geschehen war, konnte sie daran nicht mehr so leicht glauben.

Plötzlich wurde Nynaeve aus ihren Erinnerungen gerissen und in die Nacht zurückgeholt: Auf ihrem Arm lag nun wirklich eine Hand. Sie unterdrückte den Aufschrei, der ihre Kehle weitete, und griff ungeschickt nach dem Messer an ihrem Gürtel. Ihre Hand schloß sich um dessen Griff, bevor sie noch erkannte, daß die Hand zu Lan gehörte.

Die Kapuze des Behüters hing auf seinem Rücken, aber der Chamäleon-Umhang paßte sich der Nacht so perfekt an, daß der trübhelle Fleck seines Gesichtes in der Dunkelheit zu schweben schien. Die Hand auf ihrem Arm schien direkt aus der Luft zu kommen.

Sie holte bebend Luft. Sie erwartete von ihm einen Kommentar darüber, wie leicht er sie hatte überraschen können, aber statt dessen drehte er sich um und kramte in seiner Satteltasche. »Ihr werdet gebraucht«, sagte er und kniete nieder, um den Pferden Fußfesseln anzulegen.

Sobald die Pferde festgemacht waren, richtete er sich auf, ergriff ihre Hand und zog sie mit sich wieder in die Nacht hinein. Sein dunkles Haar verschwand in der Nacht beinahe genauso wie sein Umhang, und er machte sogar noch weniger Geräusche als sie. Zähneknirschend mußte sie vor sich selbst zugeben, daß sie ihm ohne seine führende Hand niemals durch die Dunkelheit folgen gekonnt hätte. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich hätte losreißen können, solange er sie nicht loslassen wollte; seine Hände waren sehr kräftig.

Als sie auf eine kleine Erhebung kamen, kaum hoch genug, um die Bezeichnung Hügel zu verdienen, sank er auf ein Knie und zog sie mit herunter. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie bemerkte, daß auch Moiraine hier war. Sie bewegte sich nicht, und so hätte man die Aes Sedai in ihrem dunklen Umhang auch für einen Schatten halten können. Lan deutete den Abhang hinunter auf eine große Lichtung im Wald.

Nynaeve blickte angestrengt durch den trüben Mondschein und lächelte dann plötzlich, als sie verstand. Jene blassen Flecken waren Zelte in regelmäßigen Reihen: ein verdunkeltes Lager.

»Weißmäntel«, flüsterte Lan, »zweihundert, vielleicht mehr. Es gibt gutes Wasser dort unten. Und den Burschen, den wir suchen.«

»In dem Lager dort?« Sie fühlte Lans Nicken eher, als daß sie es sah.

»Mitten drin. Moiraine kann genau auf ihn zeigen. Ich bin nahe genug herangeschlichen, um zu sehen, daß er bewacht wird.«

»Als Gefangener?« fragte Nynaeve. »Warum?«

»Ich weiß es nicht. Die Kinder sollten sich normalerweise nicht für einen Dorfjungen interessieren, es sei denn, irgend etwas hat sie mißtrauisch gemacht. Das Licht weiß, wie wenig dazu notwendig ist, das Mißtrauen der Weißmäntel zu erwecken, aber es macht mir schon Sorgen.«

»Wie werdet Ihr ihn befreien?« Erst als sie seinen Blick bemerkte, wurde ihr klar, wie sicher sie angenommen hatte, daß er mitten unter zweihundert Männern marschieren und mit den Jungen zurückkommen könne.

Na ja, er ist schließlich Behüter. Ein paar der Geschichten müssen ja wohl wahr sein.

Sie fragte sich, ob er sie nun wohl auslachen werde, aber seine Stimme klang ausdruckslos und geschäftsmäßig. »Ich kann sie herausholen, aber sie werden kaum in der Lage sein, daß ich das heimlich bewerkstelligen kann. Wenn wir bemerkt werden, haben wir zweihundert Weißmäntel auf den Fersen, und wir reiten zu zweit auf unseren Pferden. Es sei denn, sie sind zu beschäftigt, um uns zu jagen. Würdet Ihr ein Risiko eingehen?«

»Um jemandem aus Emondsfeld zu helfen? Natürlich! Was für ein Risiko?«

Er deutete wieder in die Dunkelheit hinter den Zelten. Diesmal konnte sie nur Schatten erkennen. »Ihre Pferde. Wenn die Halteseile angeschnitten sind — nicht ganz durch, aber genug, um sie reißen zu lassen, wenn Moiraine etwas zur Ablenkung anstellt — dann werden die Weißmäntel zu sehr damit beschäftigt sein, ihre eigenen Pferde einzufangen, als uns zu verfolgen. Auf dieser Seite ihres Lagers befinden sich zwei Wachtposten jenseits der eigentlichen Postenkette, aber wenn Ihr auch nur halb so gut seid wie ich glaube, dann werden sie Euch niemals bemerken.«

Sie schluckte schwer daran. Kaninchen auflauern war eine Sache für sich, aber Wachtposten mit Speeren und Schwertern... Also hält er mich für gut, ja? »Ich versuche es.«

Lan nickte wieder, als habe er nichts anderes erwartet. »Noch etwas. Heute abend sind auch Wölfe in der Gegend gewesen. Ich habe zwei gesehen, und wenn ich so viele bemerkte, sind es wahrscheinlich noch mehr.« Er schwieg einen Moment lang, und obwohl sich der Klang seiner Stimme nicht änderte, hatte sie das Gefühl, er sei verblüfft. »Es sah beinahe so aus, als wollten sie von mir gesehen werden. Jedenfalls sollten sie Euch nicht weiter belästigen. Wölfe meiden normalerweise die Menschen.«

»Das habe ich gar nicht gewußt«, bemerkte sie mit süßlicher Stimme. »Ich bin ja nur bei Schäfern aufgewachsen.« Er knurrte, und sie lächelte in die Dunkelheit hinein.

»Also fangen wir an«, sagte er.

Das Lächeln verging ihr, als sie hinunter in das Lager voll bewaffneter Männer blickte. Zweihundert Männer mit Speeren und Schwertern und... Bevor sie es sich anders überlegen konnte, lockerte sie ihr Messer in der Scheide und wollte losschleichen. Moiraine packte sie am Arm. Ihr Griff schien fast genauso kräftig wie der Lans.

»Paßt gut auf«, sagte die Aes Sedai leise. »Sobald Ihr die Seile durchschnitten habt, kommt so schnell wie möglich zurück. Auch Ihr seid ein Teil des Musters, und ich möchte — genau wie bei den anderen — Euer Leben nicht aufs Spiel setzen. Nur, daß heutzutage eben die ganze Welt auf dem Spiel steht.«

Verstohlen rieb sich Nynaeve den Arm, als Moiraine sie losließ. Sie wollte sich vor der Aes Sedai nicht anmerken lassen, daß ihr Griff schmerzte. Aber Moiraine wandte sich wieder der Beobachtung des Lagers zu, sobald sie losgelassen hatte. Und aufschreckend bemerkte Nynaeve, daß der Behüter weg war. Sie hatte nicht gehört, wie er weggeschlichen war. Licht noch mal — so ein verdammter Kerl! Schnell band sie sich die Röcke hoch, um die Beine besser bewegen zu können, und hastete in die Nacht hinein.

Nach der ersten Eile ging sie jedoch langsamer, da unter ihren Füßen ständig abgebrochene Ästchen knackten. Sie war froh, daß niemand da war, der ihr Erröten hätte bemerken können. Letzten Endes sollte sie sich ja leise bewegen, und sie befand sich auch nicht in einem Wettkampf mit dem Behüter. Tatsächlich?

Sie schüttelte solche Gedanken ab und konzentrierte sich darauf, ihren Weg durch den dunklen Wald zu suchen. Es war an sich nicht so schwer; das schwache Licht des abnehmenden Mondes reichte jedem, den ihr Vater unterrichtet hatte, und der Boden hob und senkte sich in sanften Wellen. Aber die sich kahl und scharf umrissen vom Nachthimmel abhebenden Bäume erinnerten sie ständig daran, daß es sich hier nicht um ein kindliches Spiel handelte, und der heulende Wind klang viel zu sehr nach den Hörnern von Trollocs. Jetzt — allein in der Dunkelheit — mußte sie auch daran denken, daß sich diesen Winter die Wölfe in den Zwei Flüssen anders verhalten hatten als sonst und nicht mehr vor Menschen davongelaufen waren.

Eine warme Welle der Erleichterung überlief sie, als ihr endlich der Geruch nach Pferden in die Nase stieg. Sie hielt beinahe den Atem an und kroch auf dem Bauch gegen den Wind dem Geruch entgegen.

Sie stolperte beinahe über die Wachen, bevor sie sie bemerkte. Sie marschierten aus der Nacht heraus geradewegs auf sie zu. Die weißen Umhänge flatterten im Wind und leuchteten beinahe im Mondlicht. Sie hätten genausogut Fackeln tragen können — Fackelschein hätte sie auch nicht sichtbarer werden lassen. Sie erstarrte und bemühte sich, wie ein Stück Boden auszusehen. Fast schon direkt vor ihr, kaum zehn Schritte entfernt, kamen sie mit aufstampfenden Füßen zum Stehen, wandten sich mit geschulterten Speeren einander zu. Gleich hinter ihnen konnte sie Schatten ausmachen. Das mußten die Pferde sein. Der Stallgeruch nach Pferden und Mist war stark.

»Alles ist gut in der Nacht«, verkündete eine weißumhüllte Gestalt. »Das Licht leuchte uns und behüte uns vor dem Schatten.«

»Alles ist gut in der Nacht«, antwortete der andere.

»Das Licht leuchte uns und behüte uns vor dem Schatten.«

Damit drehten sie sich um und marschierten wieder fort in die Dunkelheit.

Nynaeve wartete und zählte mit, während sie zweimal ihre Runde drehten. Jedesmal dauerte es genau gleich lang, und jedesmal wiederholten sie steif den gleichen Wortlaut — kein Wort mehr oder weniger. Keiner warf auch nur einen Blick zur Seite; sie starrten nach vorn, während sie heranmarschierten, und dann marschierten sie wieder weg. Sie fragte sich, ob sie überhaupt — selbst im Stehen — bemerkt worden wäre.

Bevor die Nacht das blasse Flattern ihrer Umhänge ein drittes Mal verschluckt hatte, war sie auch schon auf den Beinen und rannte gebückt zu den Pferden hin. Beim Näherkommen verlangsamte sie ihren Schritt, um die Tiere nicht aufzuscheuchen. Die Weißmantel-Wachen sahen vielleicht nichts, was sich nicht gerade vor ihrer Nase befand, aber sie würden sicherlich nachsehen, wenn die Pferde plötzlich zu wiehern begannen.

Die Pferde an den Halteseilen — es gab mehr als nur eine Reihe davon — waren kaum erkennbare Umrisse, die mit gesenkten Köpfen in der Dunkelheit standen. Gelegentlich schnaubte eines oder stampfte im Schlaf mit einem Huf auf. Im trüben Mondschein befand sie sich beinahe am Befestigungspfahl des Halteseils, bevor sie ihn sah. Sie faßte nach dem Seil und erstarrte, als das am nächsten stehende Pferd den Kopf hob und sie ansah. Sein Zügel war in einer großen Schlaufe um das daumenstarke Seil gebunden, das am Pfahl endete. Ein Wiehern nur. Ihr Herz versuchte, sich pochend aus dem Brustkorb zu befreien. Es klang laut genug, um die Wachen zu alarmieren. Sie wandte den Blick nicht von dem Pferd und schnitt unterdessen in das Halteseil. Sie testete vor ihrer Klinge her, um festzustellen, wie weit sie geschnitten hatte. Das Pferd warf den Kopf hoch, und ihr stockte der Atem. Nur ein Wiehern!

Nur ein dünner Hanfstrang blieb unzertrennt unter ihren tastenden Fingern. Langsam ging sie zum nächsten Seil hinüber und beobachtete dabei das Pferd, bis sie nicht mehr erkennen konnte, ob es sie immer noch anblickte oder nicht. Dann atmete sie zitternd ein. Wenn sie sich alle so verhielten, würde sie wohl kaum durchhalten.

Am nächsten Halteseil jedoch und dann am übernächsten und am darauffolgenden schliefen die Pferde weiter, selbst als sie sich in den Daumen schnitt und gerade noch einen Aufschrei unterdrücken konnte. Sie saugte an der Wunde und sah vorsichtig zurück, woher sie gekommen war. Da sie sich gegen den Wind bewegt hatte, konnte sie nicht mehr hören, wie die Wachen sich begrüßten, aber am richtigen Fleck konnten diese sehr wohl sie hören. Falls sie herkamen und nachschauten was das für ein Geräusch gewesen war, würde der Wind verhindern, daß sie die beiden bemerkte, bis sie direkt vor ihr standen. Höchste Zeit zu gehen. Wenn vier von fünf Pferden wegrennen, werden sie niemand anderes verfolgen.

Aber sie rührte sich nicht. Sie konnte sich Lans Augen vorstellen, wenn sie ihm erzählte, was sie getan hatte. Es läge keine Anschuldigung in diesem Blick, da ihre Gründe ausreichten und er auch nichts anderes von ihr erwartete. Sie war eine Seherin und kein verdammter großer, unbesiegbarer Behüter, der sich beinahe unsichtbar machen konnte. Ihr Kinn schob sich vor, und sie ging zum letzten Halteseil. Das erste Pferd daran war Bela.

Diese geduckte, zottelige Gestalt konnte man nicht verwechseln, und daß hier und jetzt ein anderes Pferd dieser Art stand, das wäre doch ein zu großer Zufall gewesen. Plötzlich war sie so froh, dieses letzte Seil doch nicht ausgelassen zu haben, daß sie zitterte. Ihre Arme und Beine bebten — sie fürchtete sich davor, das Halteseil zu berühren, doch ihr Verstand war so klar wie der Weinquellenbach. Welcher von den Jungen sich auch hier im Lager befinden mochte, Egwene war jedenfalls auch hier. Und wenn sie jeweils zu zweit auf einem Pferd wegritten, würden einige der Kinder sie erreichen und fangen, gleich wieweit die Pferde verstreut waren, und ein paar von ihnen würden sterben. Sie war so sicher, als lausche sie dem Wind. Das stieß ihr einen Stachel der Angst in den Bauch; Angst deswegen, weil sie sich fragte, wieso sie so sicher war. Das hatte nichts mit dem Wetter oder der Ernte zu tun oder mit Krankheiten. Warum hat mir Moiraine gesagt, daß ich die Macht einsetzen kann? Warum konnte sie mich nicht in Ruhe lassen?

Seltsamerweise ließ die Angst ihr Zittern verschwinden. Mit Händen, so sicher wie beim Zerstoßen von Kräutern bei sich zu Hause, zerschnitt sie das Halteseil wie die anderen zuvor. Sie steckte den Dolch in die Scheide zurück und band Belas Zügel los. Die zottelige Stute erwachte erschrocken und warf den Kopf hoch, doch Nynaeve streichelte über die Nase und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Bela schnaubte leise und schien zufrieden.

Andere Pferde am gleichen Seil waren ebenfalls erwacht und sahen sie an. Sie dachte an Mandarb und griff nur zögernd nach dem nächsten Zügel, aber dieses Pferd wehrte sich nicht gegen die fremde Hand. Es schien sogar nach dem gleichen Streicheln zu verlangen, das sie Bela gegönnt hatte. Sie ergriff Belas Zügel ganz fest und wickelte den des anderen Pferdes um ihr Handgelenk, während sie nervös das Lager beobachtete. Die blassen Zelte befanden sich nur dreißig Schritte entfernt, und sie konnte sehen, daß sich zwischen den Zelten Männer bewegten. Falls sie bemerkten, daß sich die Pferde rührten, und nachschauten, warum...

Verzweifelt wünschte sie sich, daß Moiraine nicht auf ihre Rückkehr warten würde. Was auch immer die Aes Sedai vorhatte, sollte sie jetzt tun. Licht, laß es sie jetzt tun, bevor...

Plötzlich zerriß ein Blitz die Nacht über ihr und verdrängte einen Augenblick lang die Dunkelheit. Donner betäubte ihr Gehör so sehr, daß sie glaubte, ihre Knie müßten nachgeben, und ein Stück hinter den Pferden krachte ein zerrissener Dreizack in die Erde. Erdbrocken und Steine flogen wie aus einem Springbrunnen geschleudert herum. Das Bersten der zerfetzten Erde kämpfte gegen den Donnerhall an. Die Pferde drehten durch, wieherten wild und bäumten sich auf. Die Halteseile zerrissen wie dünne Fäden an den Schnittstellen. Ein weiterer Blitz zuckte herunter, bevor noch das Licht des ersten verblaßt war.

Nynaeve hatte alle Hände voll zu tun und keine Zeit, sich zu freuen. Beim ersten Donnerschlag zog Bela in die eine Richtung und das andere Pferd in die entgegengesetzte. Sie glaubte, ihre Arme würden aus den Schultern gerissen. Eine endlose Minute lang hing sie zwischen den Pferden, die Füße über dem Boden. Ihr Schrei wurde von dem zweiten Donnerschlag übertönt. Wieder schlug ein Blitz zu und dann wieder und wieder -ein andauernder Aufschrei der Wut aus dem Himmel. Der Weg, den die Pferde nehmen wollten, war blockiert, und sie gingen rückwärts und ließen sie fallen. Sie hätte sich gern am Boden zusammengekauert und die schmerzenden Schultern gerieben, aber dazu war keine Zeit. Bela und das andere Pferd kämpften gegen sie an. Sie rollten wild mit den Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Beinahe hätten sie sie zu Boden gestoßen und niedergetrampelt. Irgendwie hob sie die Arme, packte mit den Händen Belas Mähne und zog sich auf den Rücken der sich aufbäumenden Stute. Der andere Zügel war immer noch um ihr Handgelenk gewickelt. Er schnitt ihr tief ins Fleisch.

Ihr Mund klappte auf, als ein grauer Schatten vorbeifauchte, anscheinend sie und ihre beiden Pferde ignorierte, aber nach den durchdrehenden Tieren schnappte, die jetzt in alle Richtungen davongaloppierten. Ein zweiter tödlicher Schatten folgte gleich dahinter. Nynaeve wollte wieder schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Wölfe! Das Licht helfe uns! Was macht Moiraine denn?

Es wäre gar nicht nötig gewesen, Bela die Fersen zu geben. Die Stute rannte, und das andere Pferd war mehr als froh darüber, folgen zu können. Gleich wohin, Hauptsache rennen, Hauptsache, sie konnten dem Feuer aus dem Himmel entkommen, das die Nacht tötete.

Загрузка...