Es schien Rand, als sitze er an einem Tisch mit Logain und Moiraine. Die Aes Sedai und der falsche Drache saßen schweigend da und beobachteten ihn so, als wisse keiner von beiden, daß der andere anwesend war. Plötzlich bemerkte er, daß die Wände des Raumes kaum noch erkennbar waren und zu Grau verblaßten. Erregung stieg in ihm auf. Alles war am Verschwinden, am Verblassen. Als er zum Tisch zurücksah, waren Moiraine und Logain verschwunden, und statt dessen saß Ba'alzamon dort. Rands gesamter Körper zitterte vor Erregung; sie summte in seinem Kopf, lauter und immer lauter. Das Summen wandelte sich zum Klopfen des Blutes in seinen Ohren.
Mit einem Ruck setzte er sich auf und stöhnte sofort und hielt sich schwankend den Kopf. Sein gesamter Schädel schmerzte; seine linke Hand fand klebrige Feuchtigkeit in seinem Haar. Er saß auf dem Boden auf grünem Gras. Das bereitete ihm irgendwie Kopfzerbrechen, aber in seinem Schädel drehte sich noch alles, und alles, was er ansah, schwankte, und alles, woran er denken konnte, war, daß er sich hinlegen mußte, bis es aufhörte.
Die Mauer! Die Stimme des Mädchens!
Er stützte sich mit einer Hand auf dem Gras auf und blickte sich langsam um. Es mußte langsam geschehen: Als er versuchte, den Kopf schneller zu drehen, verschwamm wieder alles vor seinen Augen. Er befand sich in einem Garten oder Park. Keine sechs Fuß von ihm entfernt zog sich ein geplättelter Weg kreuz und quer zwischen blühenden Büschen hindurch. Daneben stand eine weiße Steinbank mit einer efeuüberwachsenen Laube, die Schatten spendete. Er war von der Mauer aus nach innen gefallen. Und das Mädchen?
Er fand den Baum gleich hinter seinem Rücken und auch das Mädchen — sie kletterte gerade daraus hervor. Sie erreichte den Boden und drehte sich zu ihm um, und dann blinzelte und stöhnte er erneut. Auf ihren Schultern ruhte ein dunkelblauer Samtumhang, mit blassem Pelz besetzt. Die Kapuze hing ihr bis zur Taille herunter und hatte an der Spitze ein Bündel Silberglöckchen. Sie bimmelten, wenn sie sich bewegte. Ein silberner, durchbrochener Reif hielt ihre rotgoldenen Locken zusammen, und an ihren Ohren hingen feine Silberringe. Um ihren Hals lag eine schwere Silberkette mit eingearbeiteten dunkelgrünen Steinen, die er für Smaragde hielt. Ihr hellblaues Kleid hatte bei ihrer Kletterpartie in dem Baum Flecken abbekommen, aber es war in jedem Fall aus Seide und mit unendlich fein gearbeiteten Mustern bestickt. In den Rock waren Streifen von der Farbe reinster Sahne eingenäht. Um ihre Taille lag ein breiter Gürtel aus Silberfäden, und unter dem Saum ihres Kleides lugten Samtschuhe hervor.
Er hatte in seinem Leben nur zwei Frauen gesehen, die so angezogen gewesen waren: Moiraine und die Schattenfreund-Frau, die versucht hatte, Mat und ihn zu töten. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer in solcher Kleidung auf Bäume klettern würde, aber er war sicher, sie müsse jemand Bedeutendes sein.
Die Art, wie sie ihn ansah, verstärkte diesen Eindruck noch. Sie schien sich nicht das geringste Kopfzerbrechen darüber zu machen, daß ein Fremder in ihren Garten gefallen war. Sie zeigte eine Art von Selbstsicherheit, bei der er unwillkürlich an Nynaeve oder Moiraine denken mußte.
Er war so damit beschäftigt, darüber nachzugrübeln, ob er sich nun in Schwierigkeiten gebracht hatte oder nicht, ob sie jemand war, der die Garde der Königin selbst an einem solchen Tag herbeirufen konnte und wollte, obwohl sie ja mit ganz anderen Dingen beschäftigt war, daß er ein paar Augenblicke benötigte, um die kostbare Kleidung und adlige Haltung zu vergessen und das Mädchen selbst anzuschauen. Sie war vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als er, groß für ein Mädchen und schön. Ihr Gesicht war ein perfektes Oval, von einer Masse sonnenstrahlenfarbiger Locken umrahmt, die Lippen voll und rot, die Augen blauer, als er glauben konnte.
Sie unterschied sich vollkommen in Größe und Gesicht und Figur von Egwene, war aber genauso schön. Er hatte ein etwas schlechtes Gewissen dabei, sagte sich dann aber, daß es Egwene auch nicht sicherer oder schneller nach Caemlyn bringen würde, wenn er leugnete, was seine Augen sahen.
Ein schabender Laut erklang aus dem Blätterwerk des Baumes heraus, und einige Stückchen Rinde fielen herunter, von einem Jungen gefolgt, der hinter ihr behende am Boden landete. Er war einen Kopf größer als sie und ein bißchen älter, aber an seinem Gesicht und Haar konnte man die nahe Verwandtschaft ablesen. Sein Umhang und Mantel waren rot und weiß und golden, bestickt und mit Brokat besetzt und — erstaunlich bei einem jungen Mann — noch mehr verziert als ihre. Das steigerte Rands Nervosität. Irgendein gewöhnlicher Mann kleidete sich höchstens an einem hohen Festtag auf diese Art, aber doch wohl nicht so prachtvoll. Dies war außerdem kein öffentlicher Park. Vielleicht war die Garde zu sehr beschäftigt, um sich mit solchen Eindringlingen zu befassen?
Der Junge betrachtete Rand über die Schulter des Mädchens hinweg und fühlte nach dem Dolch an seiner Hüfte. Es schien allerdings mehr Nervosität zu sein, als daß er ihn wirklich gebrauchen wollte. Aber vielleicht doch nicht so ganz. Der Junge wirkte genauso selbstsicher wie das Mädchen, und sie sahen ihn beide an, als sei er ein Rätsel, das gelöst werden müsse.
Er hatte das komische Gefühl, daß zumindest das Mädchen ihn regelrecht abschätzte — vom Zustand seiner Stiefel bis zur Qualität seines Umhangs.
»Wir werden niemals hören, was aus alledem geworden ist, Elayne, falls Mutter das herausfindet«, sagte der Junge plötzlich. »Sie hat uns befohlen, in unseren Zimmern zu bleiben, aber du mußtest ja unbedingt einen Blick auf Logain erhaschen, ja? Und jetzt schau, in welche Lage uns das gebracht hat.«
»Sei ruhig, Gawyn.« Sie war deutlich die jüngere der beiden, aber sie benahm sich, als sei es selbstverständlich, daß er gehorchen mußte. Im Gesicht des Jungen arbeitete es, als wolle er mehr sagen, aber zu Rands Überraschung hielt er den Mund. »Ist dir nichts passiert?« fragte sie plötzlich.
Rand brauchte eine Weile, um zu begreifen, daß sie mit ihm sprach. Als es ihm klar war, versuchte er, auf die Beine zu kommen. »Mir geht's gut. Ich werde einfach... « Er taumelte, und seine Beine gaben nach. Er plumpste schwer zum Boden zurück. Sein Kopf schwamm. »Ich werde einfach über die Mauer zurückklettern«, murmelte er. Er versuchte erneut aufzustehen, aber sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn zurück. Ihm war so schwindlig, daß der leichte Druck ausreichte, um ihn am Boden festzuhalten.
»Du bist verletzt.« Anmutig kniete sie neben ihm nieder. Ihre Finger strichen sanft das blutverklebte Haar an seiner linken Kopfhälfte zur Seite. »Du mußt beim Fallen auf einen Ast aufgeschlagen sein. Du hast Glück, wenn du dir nicht mehr getan hast, als die Kopfhaut aufzureißen. Ich glaube nicht, daß ich jemals jemanden gesehen habe, der so geschickt im Klettern war wie du, aber im Fallen bist du nicht ganz so gut.«
»Du wirst dir die Hände mit Blut beschmutzen«, sagte er und wich mit dem Kopf zurück.
Energisch zog sie seinen Kopf wieder vor, damit sie ihn erreichen konnte.»Halt still!« Sie sprach nicht in scharfem Ton, aber es lag etwas in ihrer Stimme, als sei sie gewohnt, daß man ihr gehorchte. »Es sieht nicht zu schlimm aus, dem Licht sei Dank.« Aus Taschen an der Innenseite ihres Umhangs nahm sie eine Anzahl winziger Fläschchen und zerdrückter Papierbeutel heraus, gefolgt schließlich von einem aufgewickelten Verband.
Er sah die Sammlung erstaunt an. Das waren Sachen, die er bei einer Seherin erwartet hätte und nicht bei einer Person, die so angezogen war wie sie. Sie hatte Blut an die Finger bekommen, wie er bemerkte, aber das schien sie nicht zu stören.
»Gib mir deine Wasserflasche, Gawyn«, sagte sie. »Ich muß das auswaschen.«
Der Junge, den sie Gawyn nannte, schnallte eine Lederflasche von seinem Gürtel ab und gab sie ihr. Dann kauerte er sich ganz entspannt zu Rands Füßen nieder und schlang die Arme um die Knie. Elayne tat, was getan werden mußte, auf sehr professionelle Art und Weise. Er zuckte nicht zusammen, obwohl das kalte Wasser ein wenig biß, als sie den Schnitt in seiner Kopfhaut auswusch, aber sie hielt seinen Kopf mit einer Hand fest, als erwarte sie, daß er wieder zurückweichen werde, und das wollte sie verhindern. Die Tinktur, die sie anschließend in die Wunde einmassierte — aus einem der kleinen Fläschchen — linderte beinahe genauso gut die Schmerzen, wie es eine von Nynaeves Salben fertiggebracht hätte.
Gawyn lächelte, während sie arbeitete — ein beruhigendes Lächeln, so, als ob auch er erwarte, daß Rand auswich oder gar wegrannte. »Sie findet ständig verlorene Katzen und Vögel mit gebrochenen Flügeln. Du bist der erste Mensch, den sie bearbeiten kann.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Nimm mir das bitte nicht übel. Ich will dich nicht als Streuner bezeichnen.« Es war keine Entschuldigung, sondern einfach eine Feststellung.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Rand förmlich. Aber die beiden benahmen sich, als sei er ein übernervöses Rennpferd. »Sie weiß schon, was sie tut«, sagte Gawyn. »Sie hatte die besten Lehrer. Also hab keine Angst, du bist in guten Händen.«
Elayne preßte ein Stück Verband an seine Schläfe und zog einen Seidenschal hinter ihrem Gürtel hervor. Er war blau und beige und goldfarben. Für jedes Mädchen in Emondsfeld wäre das ein Teil der schönsten Festtagskleidung gewesen. Elayne wickelte ihn geschickt um seinen Kopf und hielt damit die Bandage fest.
»Das ist doch zu schade dafür«, protestierte er. Sie wickelte weiter. »Ich habe dir gesagt, du solltest stillhalten«, bemerkte sie gelassen.
Rand sah Gawyn an. »Erwartet sie immer von jedem, daß er tut, was sie will?«
Auf dem Gesicht des jungen Mannes zeigte sich einen Moment lang Überraschung, und sein Mund verzog sich amüsiert. »Die meiste Zeit über schon. Und meistens gehorchen ihr auch alle.«
»Halt das mal«, sagte Elayne. »Drücke mit der Hand hier drauf, während ich es zubinde... « Sie stockte, als sie seine Hände sah, und rief: »Das ist aber nicht beim Fallen passiert. Eher durch Klettern, wo du nicht hättest herumklettern dürfen.« Sie verknotete den Schal schnell, drehte seine Hände so, daß die Handflächen nach oben zeigten, und brummte in sich hinein, wie wenig Wasser nur noch da sei. Das Auswaschen bewirkte, daß seine Abschürfungen brannten, aber ihre Berührung war überraschend sanft. »Halt diesmal wirklich still.«
Wieder holte sie das Fläschchen mit der Tinktur hervor. Sie verteilte sie dünn über die Schürfwunden und konzentrierte sich dabei ganz darauf, sie eindringen zu lassen, ohne ihm dabei wehzutun. Kühle verbreitete sich in seinen Handflächen, als reibe sie die aufgerissenen Stellen einfach weg.
»Meistens machen alle genau das, was sie will«, fuhr Gawyn mit einem wohlwollenden Grinsen in Richtung ihres Kopfes fort. »Die meisten Leute jedenfalls. Natürlich Mutter nicht. Oder Elaida. Und auch Lini nicht. Lini war ihr Kindermädchen. Man kann niemandem Befehle geben, der einen als kleines Kind übers Knie gelegt hat, weil man Feigen klaute. Und selbst, als sie nicht mehr so klein war... « Elayne hob den Kopf lang genug, um ihn böse anzufunkeln. Er räusperte sich und bemühte sich um einen ganz neutralen Gesichtsausdruck, während er weitersprach: »Und natürlich Gareth. Niemand kommandiert Gareth herum.«
»Nicht mal Mutter«, sagte Elayne und beugte sich wieder über Rands Hände. »Sie macht Vorschläge, und er macht immer, was sie vorschlägt, aber ich habe noch nie gehört, daß sie ihn herumkommandiert.« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, warum dich das immer noch überrascht«, antwortete Gawyn. »Selbst du versuchst nicht, Gareth zu sagen, was er zu tun hat. Er hat unter drei Königinnen gedient, und bei zweien war er Generalhauptmann und Erster Prinzregent. Ich möchte behaupten, daß einige Leute glauben, er sei eher ein Symbol für den Thron Andors als die Königin selbst.«
»Mutter sollte sich einen Stoß geben und ihn heiraten«, sagte sie abwesend. Ihre Aufmerksamkeit galt Rands Händen. »Sie möchte doch — das kann sie vor mir nicht verbergen. Und es würde so viele Probleme lösen.«
Gawyn schüttelte den Kopf. »Einer von ihnen muß zuerst nachgeben. Mutter kann nicht, und Gareth will nicht.«
»Wenn sie es ihm befähle... «
»Er würde gehorchen, glaube ich. Aber das macht sie nicht. Du weißt, daß sie das nicht macht.«
Plötzlich wandten sich beide Rand zu und sahen ihn an. Er hatte das Gefühl, sie hätten vergessen, daß er da war. »Wer...?« Er mußte sich unterbrechen und seine Lippen befeuchten. »Wer ist eure Mutter?«
Elayne machte vor Überraschung große Augen, aber Gawyn sprach in ganz selbstverständlichem Ton, was seine Worte für Rand noch aufrüttelnder klingen ließ. »Morgase, durch die Gnade des Lichts Königin von Andor, Beschützerin des Reiches, Verteidiger des Volkes, Hochsitz des Hauses Trakand.«
»Die Königin«, brachte Rand heraus, und der Schreck durchfuhr ihn und betäubte ihn. Beinahe glaubte er, in seinem Kopf werde sich wieder alles drehen. »Errege keine Aufmerksamkeit. Falle nur einfach in den Garten der Königin und laß deine Wunden von der Tochter-Erbin behandeln wie von einem Kräuterweiblein.« Er wollte lachen, wußte aber, daß er sich am Rand der Panik befand.
Er holte tief Luft und rappelte sich hoch. Er beherrschte sich sehr, um nicht einfach fortzurennen, war aber vom Bewußtsein der Notwendigkeit erfüllt, zu entkommen, bevor ihn irgend jemand anders hier entdeckte.
Elayne und Gawyn beobachteten ihn ruhig, und als er aufsprang, erhoben sie sich anmutig und nicht im geringsten in Eile. Er hob die Hand, um den Schal von seinem Kopf zu nehmen, aber Elayne packte ihn am Ellenbogen. »Laß das! Du wirst sonst wieder bluten.« Ihre Stimme klang immer noch ruhig, immer noch überzeugt davon, er werde tun, was sie ihm gesagt hatte.
»Ich muß gehen«, sagte Rand. »Ich klettere einfach über die Mauer zurück und... «
»Du hast es wirklich nicht gewußt.« Zum ersten Mal schien sie genauso überrascht wie er. »Willst du sagen, du bist auf diese Mauer geklettert, um Logain zu sehen, ohne zu wissen, wo du warst? Du hättest drunten auf der Straße viel besser sehen können.«
»Ich... ich mag keine Menschenansammlungen«, murmelte er. Er verbeugte sich ein wenig vor beiden. »Wenn Ihr mich entschuldigt, äh... Lady.« In den Geschichten waren die Königshöfe immer voll von Leuten, die sich gegenseitig mit Lord und Lady und Königliche Hoheit und Majestät anredeten, aber falls er jemals die korrekte Form der Anrede für die TochterErbin gehört hatte, konnte er nicht klar genug denken, um sich daran zu erinnern. Er konnte überhaupt kaum einen klaren Gedanken fassen, außer an die Notwendigkeit, ganz weit weg zu sein. »Wenn Ihr mich entschuldigt, dann werde ich jetzt gehen. Äh... dankeschön für die...« Er berührte den Schal um seinen Kopf. »Dankeschön.«
»Ohne uns wenigstens deinen Namen zu nennen?« sagte Gawyn. »Eine dürftige Bezahlung für Elaynes Pflege. Ich habe mich schon gewundert. Du hörst dich zwar an wie ein Andorianer, aber keiner aus Caemlyn, ganz klar, doch du weichst aus... Also, du kennst unsere Namen. Die Höflichkeit verlangt, daß du uns deinen nennst.«
Rand schaute sehnsüchtig zu der Mauer hinauf und sagte dann seinen richtigen Namen, bevor ihm klar wurde, was er da tat, und dann fügte er sogar noch hinzu: »Aus Emondsfeld in den Zwei Flüssen.«
»Aus dem Westen«, murmelte Gawyn. »Sehr weit im Westen.«
Rand blickte sich unvermittelt um. Im Tonfall des jungen Mannes hatte Überraschung gelegen, und Rand bemerkte einen Moment lang auch seinen erstaunten Gesichtsausdruck, als er sich zu ihm umdrehte. Allerdings lächelte Gawyn schnell so gewinnend, daß er beinahe an seiner Wahrnehmung zweifelte.
»Tabak und Wolle«, sagte Gawyn. »Ich muß die wichtigsten Produkte aller Teile des Reiches kennen. Und auch überhaupt aller Länder. Das ist Teil meiner Ausbildung. Hauptprodukte und Dienstleistungen sowie die letzten Charaktereigenschaften der Leute. ihre Sitten, ihre Stärken und Schwächen. Man sagt, die Menschen von den Zwei Flüssen seien stur. Man kann sie führen, wenn sie glauben, daß man das Gehorchen wert ist, aber je härter man sie anpackt, desto widerspenstiger werden sie. Elayne sollte sich einen Mann von dort zum Heiraten aussuchen. Ihr Mann muß schon einen eisernen Willen haben, um bei ihr nicht total unter die Räder zu kommen.«
Rand starrte ihn an. Elayne ebenfalls. Gawyn schien kein unvernünftiger Mensch zu sein, doch er plapperte dummes Zeug daher. Warum?
»Was ist denn hier los?«
Alle drei fuhren zusammen, als plötzlich diese Stimme erklang, und sie wandten sich ihr schnell zu.
Der junge Mann, der dort stand, war der bestaussehende Mann, den Rand je gesehen hatte, beinahe zu schön, um noch männlich zu wirken. Er war groß und schlank, aber seine Bewegungen verrieten Schnelligkeit, Kraft und Selbstvertrauen. Augen und Haare waren dunkel. Er trug seine Kleidung — rot und weiß und kaum weniger auffällig als die Gawyns -, als sei sie völlig unwichtig. Eine Hand ruhte auf dem Griff seines Schwertes, und er blickte Rand unverwandt an.
»Geh ein Stück von ihm weg, Elayne«, sagte der Mann. »Du auch, Gawyn.«
Elayne stellte sich vor Rand, zwischen ihn und den Neuankömmling, den Kopf hoch erhoben und so selbstbewußt wie immer. »Er ist ein treuer Untertan unserer Mutter — ein guter Anhänger der Königin. Und er steht unter meinem Schutz, Galad.«
Rand bemühte sich, sich daran zu erinnern, was er von Meister Kinch gehört hatte und danach noch von Meister Gill. Galadedrid Damodred war Elaynes Halbbruder, das heißt natürlich Elaynes und Gawyns, wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog. Die drei hatten den gleichen Vater. Meister Kinch hatte vielleicht Taringail Damodred nicht sehr gut leiden können — genau wie jeder andere, soweit er gehört hatte -, aber der Sohn stand sowohl bei den Roten als auch bei den Weißen in gutem Ruf, falls man nach dem Klatsch in der Stadt gehen konnte.
»Mir ist klar, wie sehr dir Streuner am Herzen liegen, Elayne«, sagte der schlanke Mann in vernünftigem Ton, »aber der Bursche ist bewaffnet und sieht außerdem kaum vertrauenswürdig aus. Heutzutage können wir nicht vorsichtig genug sein. Wenn er ein treuer Anhänger der Königin ist, was tut er dann hier, wo er gewiß nicht hingehört? Es ist leicht genug, ein Schwert mit anderer Farbe einzuhüllen, Elayne.«
»Er befindet sich hier als mein Gast, Galad, und ich bürge für ihn. Oder hast du dich selbst zu meinem Kindermädchen ernannt, damit du entscheiden kannst, wann und mit wem ich spreche?«
Ihre Stimme klang äußerst erzürnt, doch Galad schien unbewegt. »Du weißt, daß ich dich nicht bevormunden will, Elayne, aber dieser... dein Gast gehört nicht hierher, und das weißt du so gut wie ich. Gawyn, hilf mir, sie zu überzeugen. Unsere Mutter würde... «
»Genug!« fauchte Elayne. »Du hast recht, wenn du sagst, daß du mich nicht zu bevormunden hast, und es steht dir auch nicht zu, über meine Handlungsweise zu richten. Du darfst gehen. Sofort!«
Galad warf Gawyn einen wehmütigen Blick zu. Er schien gleichzeitig um Hilfe zu bitten und zu sagen, daß Elayne zu starrköpfig sei, als daß man ihr helfen könnte. Elaynes Gesicht lief dunkel an, aber als sie gerade ansetzte, den Mund wieder zu öffnen, verbeugte er sich förmlich und geschmeidig wie eine Katze, trat einen Schritt zurück, drehte sich um und schritt den gepflasterten Weg hinunter. Seine langen Beine brachten ihn schnell außer Sicht der in der Laube Verbliebenen.
»Ich hasse ihn«, hauchte Elayne. »Er ist bösartig und voll von Neid.«
»Da gehst du zu weit, Elayne«, sagte Gawyn. »Galad weiß überhaupt nicht, was Neid ist. Zweimal hat er mir das Leben gerettet, und niemand hätte etwas davon erfahren, wenn er das nicht getan hätte. Falls nicht, dann wäre er an meiner Stelle dein Erster Prinz des Schwertes.«
»Niemals, Gawyn. Ich würde jeden anderen erwählen, aber nicht Galad. Jeden anderen. Auch den letzten Stallburschen.« Plötzlich lächelte sie und warf ihrem Bruder einen gespielt ernsten Blick zu. »Du behauptest, ich gäbe gern Befehle. Also, dann befehle ich dir, auf dich aufzupassen, damit dir nichts zustößt. Ich befehle dir, mein Erster Prinz des Schwertes zu sein, wenn ich den Thron besteige — dem Licht sei Dank, wenn das noch lange dauert -, und das Heer Andors mit einer Ehrenhaftigkeit zu führen, von der Galad nur träumen kann.«
»Wir Ihr befehlt, Lady.« Gawyn lachte und parodierte Galads Verbeugung.
Elayne runzelte gedankenschwer die Stirn, als sie Rand anblickte. »Jetzt müssen wir dich schnell hier hinausschaffen.«
»Galad tut immer das Richtige«, erklärte Gawyn, »selbst wenn er das gar nicht soll. In diesem Fall, da ein Fremder im Garten aufgetaucht ist, wäre das Richtige, die Palastwache zu informieren. Und ich schätze, er befindet sich in dieser Minute auf dem Weg dorthin.«
»Dann wird es Zeit, daß ich über die Mauer zurückkomme«, sagte Rand. Ein wundervoller Tag, um unbemerkt zu bleiben. Ich könnte genausogut ein Schild um den Hals tragen! Er wandte sich der Mauer zu, aber Elayne ergriff seinen Arm.
»Nicht nach all der Mühe, die ich mir mit deinen Händen gemacht habe. Du wirst sie dir nur wieder aufs neue aufschürfen und dann irgend eine alte Hinterhofhexe irgendwas draufschmieren lassen. Es gibt eine kleine Tür auf der anderen Seite des Gartens. Sie ist überwachsen, und außer mir erinnert sich niemand daran.«
Plötzlich hörte Rand schnelle Stiefeltritte auf den Pflastersteinen des Gartenwegs, die auf sie zukamen. »Zu spät«, murmelte Gawyn. »Er muß losgerannt sein, kaum daß er außer Sichtweite war.«
Elayne stieß grollend einen Fluch aus, und Rands Augenbrauen hoben sich. Er hatte den gleichen Fluch von dem Stallburschen in Der Königin Segen gehört und war da schon schockiert gewesen. Im nächsten Moment war sie wieder kühl und beherrscht.
Gawyn und Elayne schienen es zufrieden, dort zu bleiben, wo sie waren, aber er konnte nicht einfach mit solcher Gelassenheit auf die Königliche Garde warten. Er ging wieder in Richtung Mauer los, wußte aber, daß er kaum bis zur halben Höhe hinaufkäme, bevor die Soldaten ihn erreichten. Still dastehen konnte er aber auch nicht.
Bevor er drei Schritte getan hatte, kamen die rotuniformierten Männer in Sicht. Auf ihren Brustpanzern glänzte die Sonne, als sie den Gartenweg heraufeilten. Andere fluteten wie sich brechende Wellen von Scharlachrot und glänzendem Stahl heran. Sie kamen offensichtlich aus allen Richtungen. Einige hatten die Schwerter gezogen, andere warteten nur, bis sie einen sicheren Stand hatten, und hoben dann ihre Bögen mit bereits aufgelegten gefiederten Pfeilen. Hinter den heruntergeklappten Visieren blickten grimmige Augen hervor, und jeder Breitkopfpfeil war mit sicherer Hand auf ihn gerichtet.
Elayne und Gawyn sprangen sofort zwischen ihn und die Pfeile und breiteten die Arme aus, um ihn zu decken. Er stand ganz still und ließ die Hände sichtbar und weit weg von seinem Schwert.
Während noch das Trommeln der Stiefel und das Quietschen der Bogensehnen in der Luft hing, schrie einer der Soldaten — er trug den goldenen Knoten eines Offiziersabzeichens auf der Schulter: »Lady, Lord, herunter, schnell!«
Trotz ihrer ausgestreckten Arme richtete sich Elayne majestätisch auf: »Du wagst es, in meiner Gegenwart blank zu ziehen, Tallanvor? Gareth Bryne wird dafür sorgen, daß du mit dem niedrigsten Soldaten zusammen die Ställe ausmistest, wenn du Glück hast!«
Die Soldaten sahen sich verblüfft an, und einige der Bogenschützen ließen ihre Bögen halb sinken. Erst dann nahm Elayne die Arme herunter, als habe sie sie nur hochgehalten, weil sie das eben so wünschte. Gawyn zögerte und folgte dann ihrem Beispiel. Rand konnte die Bogen zählen, die nicht gesenkt worden waren. Seine Bauchmuskeln spannten sich, als könnten sie einen Breitkopfpfeil aus zwanzig Schritt Entfernung aufhalten.
Der Mann mit dem Offiziersknoten schien am meisten überrascht von allen. »Lady, vergebt mir, aber Lord Galadedrid berichtete, daß ein schmutziger Bauer sich bewaffnet in den Gärten herumtriebe und Lady Elayne und Lord Gawyn gefährdete.« Sein Blick ging zu Rand hinüber, und seine Stimme wurde entschlossener. »Wenn die Lady und der Lord bitte zur Seite treten würden, kann ich den Übeltäter in Gewahrsam nehmen. Es treibt sich heutzutage in der Stadt zuviel Pack herum.«
»Ich bezweifle sehr, daß Galad etwas in der Art berichtet hat«, sagte Elayne. »Galad lügt nicht.«
»Manchmal wünsche ich mir, er würde gelegentlich lügen«, sagte Gawyn leise, nur für Rands Ohren bestimmt. »Wenigstens einmal. Das könnte es erleichtern, mit ihm zusammenzuleben.«
»Dieser Mann ist mein Gast«, fuhr Elayne fort, »und steht unter meinem Schutz. Du kannst dich zurückziehen, Tallanvor.«
»Ich bedaure, aber das ist nicht möglich, Lady. Wie die Lady weiß, hat die Königin, Eure Mutter, Anweisungen gegeben in bezug auf jeden, der sich ohne die Erlaubnis Ihrer Majestät im Gelände des Palastes aufhält, und die Nachricht von diesem Eindringling wurde bereits an Ihre Majestät weitergegeben.« Es lag eine gehörige Portion Befriedigung in Tallanvors Worten. Rand vermutete, daß der Offizier schon andere Befehle von Elayne erhalten hatte, die er für unangebracht hielt. Diesmal würde der Mann nicht gehorchen, wenn er schon eine perfekte Ausrede hatte.
Elayne sah Tallanvor an, und diesmal schien sie ratlos.
Rand sah Gawyn fragend an, und Gawyn verstand, was er wissen wollte. »Gefängnis«, murmelte er. Rands Gesicht wurde blaß, und der junge Mann fügte schnell hinzu: »Nur für ein paar Tage, und es wird dir nichts geschehen. Du wirst von Gareth Bryne, dem Generalhauptmann persönlich, vernommen, aber man läßt dich wieder laufen, sobald ihnen klar ist, daß du nichts Böses im Schilde führst.« Er unterbrach sich. In seinen Augen standen verborgene Zweifel. »Ich hoffe, du hast die Wahrheit gesagt, Rand al'Thor von den Zwei Flüssen.«
»Du wirst uns alle drei zu meiner Mutter begleiten«, verkündete Elayne plötzlich. Auf Gawyns Gesicht erblühte ein breites Grinsen.
Hinter den Stahlstäben seines Visiers erschien das Gesicht Tallanvors verblüfft. »Lady, ich... «
»Oder bringe uns alle drei in eine Zelle«, sagte Elayne. »Wir bleiben zusammen. Oder wirst du Befehle erteilen, daß man Hand an meine Person legen solle?« Ihr Lächeln war siegesgewiß, und so, wie Tallanvor sich umblickte, als erwarte er Hilfe aus den Bäumen, schien es, als glaube auch er, daß sie gewonnen habe.
Was gewonnen? Wie?
»Mutter ist dabei, Logain unter die Lupe zu nehmen«, sagte Gawyn leise, als habe er Rands Gedanken erraten, »und selbst wenn sie nicht beschäftigt wäre, würde Tallanvor es nicht wagen, Elayne und mich zu ihr zu bringen, als stünden wir unter Bewachung. Mutter kann manchmal ein bißchen zornig werden.«
Rand dachte daran, was Meister Gill über Königin Morgase erzählt hatte. Ein bißchen zornig?
Ein weiterer rot uniformierter Soldat kam den Weg heruntergerannt und schlitterte, mit einem Arm salutierend über die Brust gelegt, zum Halt. Er sprach leise mit Tallanvor, und seine Worte ließen dessen Gesicht wieder zufrieden dreinblicken.
»Die Königin, Eure Mutter«, verkündete Tallanvor, »befiehlt mir, den Eindringling unverzüglich zu ihr zu bringen. Es ist auch der Befehl der Königin, daß Lady Elayne und Lord Gawyn anwesend sein sollen. Unverzüglich!«
Gawyn verzog das Gesicht, und Elayne schluckte schwer. Ihr Gesicht war beherrscht, aber nun begann sie geschäftig, über die Flecken auf ihrem Kleid zu reiben. Abgesehen davon, daß sie ein paar Brocken Rinde wegwischte, erreichte sie nicht viel damit.
»Wenn die Lady bitte kommen würde?« sagte Tallanvor selbstzufrieden. »Lord?«
Die Soldaten formierten sich schachtelförmig um sie herum und gingen mit Tallanvor an der Spitze den Gartenweg hinunter. Gawyn und Elayne schritten jeder an einer Seite Rands einher. Beide schienen in trübe Gedanken versunken. Die Soldaten hatten ihre Schwerter wieder in die Scheiden gesteckt und die Pfeile in den Köchern verstaut, doch sie waren nicht weniger wachsam als vorher, als sie die Waffen einsatzbereit in der Hand gehalten hatten. Sie beobachteten Rand, als erwarteten sie jeden Moment, daß er sein Schwert ziehen und versuchen werde, sich den Weg in die Freiheit zu erkämpfen.
Irgendwas versuchen? Ich werde gewiß nicht irgend etwas versuchen! Unbemerkt! Ha!
Als er so die Soldaten beobachtete, wie sie seinerseits ihn beobachteten, wurde ihm plötzlich der Garten bewußt. Er hatte seit dem Sturz sein Gleichgewichtsgefühl wieder erlangt. Eins nach dem anderen war geschehen, jeder neue Schreck war gekommen, bevor der letzte noch vergangen war, und seine Umgebung hatte er nur verschwommen wahrgenommen — außer natürlich der Mauer und seinem inbrünstigen Wunsch, sich wieder auf deren anderer Seite zu befinden. Jetzt sah er das grüne Gras, das ihm vorher nur ganz vage bewußt geworden war. Grün! Hundert verschiedene Grüntöne. Bäume und Büsche waren grün und üppig, trugen Blätter und Früchte. Saftige Ranken deckten die Laubengänge über dem Weg. Überall Blumen. So viele Blumen — der Garten war von Farbtupfern übersät. Einige der Blumen kannte er: hellgoldene Rosettenblüten und winzige rosa Kerzenspitzen, blutrote Sternenscheinchen und purpurne Emondspracht, dazu Rosen in allen Farben, vom reinsten Weiß bis zu dunkelstem Rot — aber andere waren ihm neu, so zauberhaft in Form und Farbe, daß er sich fragte, ob sie wohl echt seien.
»Es ist grün«, flüsterte er. »Grün.« Die Soldaten gaben leise Kommentare ab, bis Tallanvor sie scharf über die Schulter anblickte und sie wieder schwiegen.
»Elaidas Verdienst«, sagte Gawyn abwesend.
»Es ist nicht richtig«, sagte Elayne. »Sie fragte mich, ob ich irgendeinen Bauernhof aussuchen wolle, für den sie das gleiche tun könne, während außen herum die Saat immer noch nicht aufgeht, aber es ist trotzdem immer noch nicht richtig, daß wir Blumen haben, und andere Menschen haben nicht einmal genug zu essen.« Sie holte tief Luft und fand ihre Selbstbeherrschung wieder. »Halte dich aufrecht«, raunte sie Rand zu. »Sprich klar, wenn du angeredet wirst, und ansonsten halte den Mund. Und folge mir. Alles wird dann gut.«
Rand wünschte, er könne ihre Zuversicht teilen. Es hätte geholfen, wenn Gawyn ebenso zuversichtlich gewirkt hätte.
Als Tallanvor sie in den Palast führte, blickte er zum Garten zurück, zu all den blütenübersäten Grüntönen, die von der Hand einer Aes Sedai der Königin beschert wurden. Er schwamm in tiefem Wasser, und es war kein Ufer in Sicht.
Palastdiener hasteten in roten Livreen mit weißen Krägen und Manschetten, den Weißen Löwen auf der linken Brust des Wamses, geschäftig durch die Säle und gingen ihren nicht gleich ersichtlichen Aufgaben nach. Als die Soldaten mit Elayne, Gawyn und Rand in der Mitte vorbeimarschierten, blieben sie unvermittelt stehen und starrten sie mit offenem Mund an.
Mitten durch all die Verwirrung tapste ein graugestreifter Kater unbeeindruckt den Flur hinunter und wand sich zwischen den neugierigen Dienern hindurch. Plötzlich kam der Kater Rand komisch vor. Er war lang genug in Baerlon gewesen, um zu wissen, daß selbst im miesesten Laden in jeder Ecke Katzen gewesen waren. Seit sie den Palast betreten hatten, war dieser Kater die einzige Katze, die er erspäht hatte.
»Habt Ihr keine Ratten?« fragte er ungläubig. An jedem Ort gab es Ratten. »Elaida mag keine Ratten«, murmelte Gawyn vor sich hin. Er blickte besorgt den Flur hinunter. Offensichtlich hatte er schon das bevorstehende Zusammentreffen mit der Königin vor Augen. »Wir haben niemals Ratten.«
»Seid beide ruhig.« Elaynes Stimme klang scharf, aber genauso abwesend wie die ihres Bruders. »Ich versuche nachzudenken.«
Rand beobachtete den Kater noch über seine Schulter hinweg, bis die Soldaten ihn um eine Ecke herumführten, so daß er ihn nicht mehr sehen konnte. Eine Menge Katzen, und er hätte sich besser gefühlt — es wäre nett, wenn an dem Palast irgend etwas normal gewesen wäre.
Da hätte er selbst Ratten in Kauf genommen.
Der Weg, den Tallanvor gewählt hatte, machte so viele Kurven, daß Rand jegliche Orientierung verlor. Endlich blieb der junge Offizier vor einer großen Doppeltür aus dunklem, sanft schimmerndem Holz stehen. Sie war nicht so prächtig wie ein paar andere, an denen sie vorbeigekommen waren, aber immer noch auf der ganzen Fläche mit Reihen von fein und detailliert geschnitzten Löwen geschmückt. An jeder Seite stand ein Diener in Livree.
»Wenigstens nicht im großen Saal.« Gawyn lachte unsicher. »Ich habe noch nie gehört, daß Mutter von hier aus befahl, jemandem den Kopf abzuschlagen.« Er klang, als rechne er damit, daß sie das zum ersten Mal tun könne.
Tallanvor griff nach Rands Schwert, aber Elayne trat dazwischen. »Er ist mein Gast, und Sitte und Gesetz erlauben es, daß Gäste der königlichen Familie sogar in Mutters Gegenwart bewaffnet sein dürfen. Oder willst du meinem Wort widersprechen, daß er mein Gast ist?«
Tallanvor zögerte, sah ihr in die Augen und nickte dann. »Sehr wohl, Lady Elayne.« Sie lächelte Rand an, als Tallanvor zurücktrat, aber das dauerte nur einen Moment. »Der erste Zug wird mich begleiten«, kommandierte Tallanvor. »Meldet Ihrer Majestät Lady Elayne und Lord Gawyn«, sagte er zu den Türstehern. »Dazu Gardeleutnant Tallanvor, unter Befehl Ihrer Majestät, mit dem Eindringling, der unter Bewachung steht.«
Elayne funkelte Tallanvor an, doch die Torflügel schwangen bereits auf. Eine volltönende Stimme erklang und meldete, wer angekommen war. Elayne schritt voller Würde hindurch und verdarb ihr königliches Auftreten nur ein wenig, als sie Rand bedeutete, nah hinter ihr zu bleiben. Gawyn straffte die Schultern und schritt an ihrer Seite hinein, genau um einen Schritt hinter ihr versetzt.
Rand folgte auf ihrer anderen Seite und glich seinen Schritt etwas unsicher dem Gawyns an. Tallanvor blieb in Rands Nähe, und zehn Soldaten betraten mit ihm den Saal. Die Torflügel schlossen sich lautlos hinter ihnen.
Plötzlich beugte Elayne die Knie zu einem tiefen Knicks, wobei sie auch den Oberkörper vorbeugte und ihren Rock mit den Händen ausbreitete. So verharrte sie. Rand erschrak und imitierte dann schnell Gawyn und die anderen Männer. Er stellte sich ungeschickt an, brachte es aber dann doch einigermaßen richtig hin. Runter auf das rechte Knie, den Kopf neigen, vorbeugen und die Knöchel der rechten Hand auf die Marmorplatten des Bodens pressen, die linke Hand am Griff des Schwertes. Gawyn, der kein Schwert trug, legte statt dessen die Hand genauso auf den Griff seines Dolches.
Rand gratulierte sich schon selbst, daß ihm alles so gut gelang, da bemerkte er, daß Tallanvor — immer noch mit gesenktem Kopf — ihn unter seinem Visier hindurch von der Seite her wütend anblitzte. Hätte ich etwas anders machen sollen? Er ärgerte sich, daß Tallanvor von ihm erwartete, er wisse, wie er sich verhalten solle, obwohl niemand es ihm gesagt hatte. Und er ärgerte sich, daß er Angst vor den Gardesoldaten hatte. Er hatte nichts getan, vor dessen Folgen er sich fürchten mußte. Er wußte, daß Tallanvor nicht an seiner Angst schuld war, aber trotzdem war er wütend auf ihn.
Alle blieben wie zu Eisklötzen erstarrt in Position, als warteten sie auf das Tauwetter. Er wußte nicht, worauf sie warteten, aber er benützte die Gelegenheit, den Saal zu betrachten, in den man ihn gebracht hatte. Er behielt den Kopf unten und drehte sich nur genug, um alles sehen zu können. Tallanvors Gesicht wurde noch wütender, doch das ignorierte er.
Der quadratische Raum war etwa so groß wie der Schankraum in Der Königin Segen. Die Wände waren mit Reliefs auf Stein vom reinsten Weiß geschmückt, die Jagdszenen darstellten. Die Wandbehänge dazwischen wirkten mit ihren Bildern leuchtender Blumen und Kolibris mit glänzenden Federn sehr sanft, mit zwei Ausnahmen am hinteren Ende des Raums, auf denen der Weiße Löwe von Andor einen Mann auf scharlachrotem Feld überragte. Diese beiden rahmten ein Podest ein, und auf diesem Podest stand ein geschnitzter und vergoldeter Thron. Darauf saß die Königin. Ein derber, stämmiger Mann ohne Kopfbedeckung stand zur rechten Seite der Königin. Er trug das Rot der königlichen Garde und vier goldene Knoten auf der Schulter seines Umhangs. Das Weiß seiner Manschetten wurde von breiten Goldstreifen unterbrochen. Seine Schläfen zeigten viel Grau, doch er wirkte so stark und standhaft wie ein Fels. Das mußte Generalhauptmann Gareth Bryne sein. Auf der anderen Seite saß hinter dem Thron auf einem niedrigen Hocker eine Frau in tiefgrüner Seide und strickte etwas aus dunkler, fast schwarzer Wolle. Zuerst dachte Rand — des Strickens wegen — sie sei alt, aber auf den zweiten Blick hin konnte er sie überhaupt keiner Altersstufe mehr zuordnen. Jung, alt, er wußte es nicht. Ihre Aufmerksamkeit schien ausschließlich ihren Stricknadeln und dem Garn zu gelten, gerade so, als ob sich in Armlänge vor ihr gar keine Königin befände. Sie war eine gutaussehende Frau, nach außen ruhig, doch in ihrer Konzentration lag etwas Unheimliches. Man hörte keinen Laut im Raum außer dem Klicken ihrer Nadeln.
Er bemühte sich, alles zu sehen, aber sein Blick kehrte immer wieder zu der Frau zurück, die einen schimmernden Kranz feingewirkter Rosen auf der Stirn trug — die Rosenkrone von Andor. Eine lange rote Schärpe, über deren ganze Länge der Löwe von Andor marschierte, war um ihr Seidenkleid mit den roten und weißen Falten geschlungen, und als sie mit der linken Hand den Arm des Generalhauptmannes berührte, glitzerte daran ein Ring in Form der Großen Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlang. Aber es war nicht die Pracht ihrer Kleidung, die Rands Blicke wieder und wieder anzog: es war die Frau, die sie trug.
In Morgase zeigte sich die Schönheit ihrer Tochter, nur gereift und erwachsen. Ihr Gesicht, ihre Figur, ihre Gegenwart, beherrschten den Raum wie ein Licht, das die anderen neben ihr überstrahlte. Wäre sie eine Witwe in Emondsfeld gewesen, hätten die Freier bei ihr bis vor die Tür Schlange gestanden, selbst wenn sie die schlechteste Köchin und die schlampigste Hausfrau der ganzen Zwei Flüsse gewesen wäre. Er sah, daß sie ihn betrachtete, und duckte sich. Er fürchtete, sie könne seine Gedanken von seinem Gesicht ablesen. Licht, ich denke an die Königin, als sei sie eine Frau aus dem Dorf! Narr!
»Ihr mögt Euch erheben«, sagte Morgase mit voller, warmer Stimme, in der die Sicherheit des Gehorsams noch hundertmal stärker als bei Elayne mitschwang. Rand stand mit den anderen auf.
»Mutter...«, begann Elayne, doch Morgase unterbrach sie.
»Es scheint, du bist auf Bäume geklettert, Tochter.« Elayne strich ein einzelnes Rindenstückchen von ihrem Kleid und, da sie keinen Platz fand, wo sie es hinstecken konnte, hielt sie es in der geschlossenen Faust. »Es scheint tatsächlich«, fuhr Morgase ruhig fort, »als hättest du es im Widerspruch zu meinem Befehl fertiggebracht, doch einen Blick auf diesen Logain zu werfen. Gawyn, von dir hätte ich Besseres erwartet. Du mußt nicht nur lernen, deiner Schwester zu gehorchen, sondern sie auch vor sich selbst zu beschützen.« Der Blick der Königin wanderte kurz zu dem stämmigen Mann neben ihr, aber sie schaute schnell wieder weg. Bryne blieb unberührt, als habe er es nicht bemerkt, doch Rand glaubte, diesen Augen entgehe nichts. »Auch das, Gawyn, ist die Aufgabe des Ersten Prinzen, und nicht nur die Führung des Heeres von Andor. Wenn deine Ausbildung vielleicht etwas intensiviert wurde, fändest du weniger Zeit dafür, dich von deiner Schwester in Schwierigkeiten bringen zu lassen. Ich werde den Generalhauptmann darum bitten, daß es dir nicht an Dingen ermangele, die du zu tun hast, wenn ihr nach Norden reist.«
Gawyn trat von einem Fuß auf den anderen, als wolle er protestieren, neigte dann aber doch lieber den Kopf. »Wie Ihr befehlt, Mutter.«
Elayne verzog das Gesicht: »Mutter, Gawyn kann mich nicht vor Schwierigkeiten bewahren, wenn er nicht bei mir ist. Nur deshalb hat er seine Gemächer verlassen. Mutter, es kann doch sicher nicht schaden, einen Blick auf Logain zu werfen. Beinahe jeder in der Stadt war ihm näher als wir.«
»Jeder in der Stadt ist nicht dasselbe wie die TochterErbin.« Die Stimme der Königin klang scharf. »Ich habe diesen Burschen Logain aus der Nähe gesehen, und er ist gefährlich, Kind. Im Käfig eingesperrt und jede Minute von Aes Sedai bewacht, ist er immer noch so gefährlich wie ein Wolf. Ich wünschte, er wäre niemals auch nur in die Nähe von Caemlyn gebracht worden.«
»Man wird sich in Tar Valon um ihn kümmern.« Die Frau auf dem Hocker hob die Augen beim Sprechen nicht von ihrem Strickzeug. »Wichtig ist nur, daß die Leute sehen: Das Licht hat wieder einmal die Dunkelheit besiegt. Und sie sehen, daß Ihr ein Teil dieses Sieges seid, Morgase.«
Morgase winkte ab. »Trotzdem wäre es mir lieber, er wäre nie in die Nähe Caemlyns gekommen. Elayne, ich weiß, was du im Schilde führst.«
»Mutter«, protestierte Elayne, »ich will dir wirklich gehorchen. Ganz bestimmt!«
»Tatsächlich?« fragte Morgase in gespielter Überraschung, und dann lachte sie leise. »Ja, du bemühst dich, eine folgsame Tochter zu sein. Aber du probierst ständig, wie weit du gehen kannst. Na ja, ich habe das gleiche bei meiner Mutter gemacht. Dieser Ehrgeiz wird dir helfen, wenn du den Thron besteigst, aber noch bist du nicht Königin, Kind. Du hast mir nicht gehorcht und statt dessen deinen Blick auf Logain geworfen. Gib dich zufrieden damit. Auf der Reise nach Norden wird man dich nicht einmal auf hundert Schritt Entfernung an ihn heranlassen, weder dich noch Gawyn. Wenn ich nicht wüßte, wie schwer das ist, was an Unterricht in Tar Valon auf dich wartet, dann würde ich ja Lini mitschicken, damit sie aufpaßt, daß du gehorchst. Zumindest sie scheint in der Lage, dich dazu zu bringen, daß du tust, was du tun sollst.«
Elayne neigte schmollend den Kopf. Die Frau hinter dem Thron schien damit beschäftigt, ihre Maschen zu zählen. »Nach einer Woche«, sagte sie plötzlich, »wirst du wieder nach Hause zu deiner Mutter wollen. Nach einem Monat willst du dann mit dem Fahrenden Volk weglaufen. Aber meine Schwestern werden dich von dem Ungläubigen fernhalten. So etwas ist noch nichts für dich, noch nicht.« Plötzlich drehte sie sich auf ihrem Hocker um und sah Elayne eindringlich an. All ihre Gelassenheit war gewichen, als habe es sie nie gegeben. »Du hast die Fähigkeit, die größte Königin zu werden, die Andor je gesehen hat, die es in den letzten mehr als tausend Jahren in irgendeinem Land gegeben hat. Darauf bereiten wir dich vor, falls du stark genug dafür bist.«
Rand starrte sie an. Das mußte Elaida sein, die Aes Sedai. Plötzlich war er froh, daß er sich nicht um Hilfe an sie gewandt hatte, ganz gleich, welcher Ajah sie angehörte. Sie strahlte eine Strenge weit jenseits der Morgases aus. Er hatte sich manchmal Moiraine als Stahl vorgestellt, der mit Samt überzogen war; bei Elaida war der Samt nur eine Illusion.
»Genug, Elaida«, sagte Morgase und runzelte zweifelnd die Stirn. »Das hat sie mehr als einmal zu hören bekommen. Das Rad webt, wie das Rad will.« Einen Augenblick lang schwieg sie und sah ihre Tochter an. »Kommen wir zu dem Fall dieses jungen Mannes« — sie deutete auf Rand, ohne ihren Blick von Elaynes Gesicht zu wenden — »wie und warum er hierherkam und warum du ihm deinem Bruder gegenüber Gastrecht gewährt hast.«
»Darf ich sprechen, Mutter?« Als Morgase zustimmend nickte, erzählte Elayne in einfachen Worten, was vorgefallen war, und zwar von dem Moment an, als sie Rand zuerst dabei beobachtete, wie er den Abhang zur Mauer hinaufgeklettert war. Er erwartete, daß sie damit enden würde, die Unschuld seiner Handlungen zu beteuern, doch statt dessen sagte sie: »Mutter, du sagst mir oft, daß ich unser Volk kennenlernen muß, die einfachen Menschen wie die hochgestellten, aber wann immer ich welche von ihnen treffe, stehen ein Dutzend Bedienstete daneben. Wie kann ich unter solchen Umständen erfahren, was wahr und wirklich ist? Im Gespräch mit diesem jungen Mann habe ich bereits mehr über die Menschen der Zwei Flüsse erfahren, welcher Menschenschlag sie sind, als ich jemals aus Büchern lernen könnte. Es sagt doch einiges aus, daß er von so weit herkommt und Rot trägt, wo so viele andere Neuankömmlinge aus Angst Weiß tragen. Mutter, ich bitte dich, einen treuen Untertanen nicht zu mißbrauchen, der mich viel über die Menschen gelehrt hat, die du regierst.«
»Ein treuer Untertan von den Zwei Flüssen«, seufzte Morgase. »Mein Kind, du solltest mehr auf diese Bücher geben. In den Zwei Flüssen war seit sechs Generationen kein Steuereintreiber mehr und die königliche Garde hat die Gegend seit sieben Generationen nicht mehr besucht. Ich wage zu behaupten, daß sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, ein Teil des Reiches zu sein.« Rand zuckte unangenehm berührt die Achseln, als er sich an seine Überraschung erinnerte, nachdem man ihm erzählt hatte, die Zwei Flüsse seien ein Teil des Reiches von Andor. Die Königin bemerkte seine Geste und lächelte ihre Tochter bedauernd an: »Siehst du, Kind?«
Elaida hatte ihr Strickzeug weggelegt und musterte ihn, wie Rand jetzt bemerkte. Sie erhob sich von ihrem Hocker und trat langsam vom Podest herunter auf ihn zu. »Von den Zwei Flüssen?« fragte sie. Sie streckte eine Hand nach seinem Kopf aus. Er zuckte vor ihrer Berührung zurück, und sie ließ die Hand fallen. »Bei dem Rot seiner Haare und den grauen Augen? Die Menschen von den Zwei Flüssen haben dunkle Haare und Augen und sie werden selten so groß.« Ihre Hand schoß heraus und schob den Ärmel seines Mantels hoch. Seine Haut war hell und zeigte, daß sie nicht oft der Sonne ausgesetzt gewesen war. »Noch haben sie eine solche Hautfarbe.«
Es kostete ihn Mühe, nicht die Fäuste zu ballen. »Ich bin in Emondsfeld geboren«, sagte er steif. »Meine Mutter war Ausländerin, daher habe ich diese Augen. Mein Vater ist Tam al'Thor, ein Schäfer und Bauer, genau wie ich es bin.«
Elaida nickte bedächtig, sah ihm aber weiterhin ins Gesicht. Er begegnete ihrem Blick mit einer Ruhe, die das saure Gefühl in seinem Magen Lügen strafte. Er sah, daß sie seinen festen Blick wohl bemerkte. Sie sah ihm immer noch in die Augen und streckte langsam wieder die Hand nach ihm aus. Er beschloß, diesmal nicht zurückzuweichen.
Es war sein Schwert, das sie berührte, und nicht er. Ihre Hand umschloß den Knauf ganz oben am Ende. Ihre Finger verkrampften sich, und sie machte vor Überraschung große Augen. »Ein Schäfer von den Zwei Flüssen«, sagte sie leise in einem Flüsterton, den trotzdem alle verstehen sollten, »mit einem Schwert, das ein Reiherzeichen trägt.«
Diese wenigen letzten Worte hinterließen im Raum eine Wirkung, als habe sie das Kommen des Dunklen Königs gemeldet. Hinter Rand knarrten Leder und Metall, und Stiefel schoben sich über Marmorplatten. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie sich Tallanvor und ein anderer Gardesoldat ein Stück von ihm entfernten, um Raum zu gewinnen, die Hände an den Schwertern, bereit, zu ziehen und, nach ihren Gesichtern zu schließen, zu sterben. Mit zwei schnellen Schritten stand Gareth Bryne vor dem Podest — zwischen Rand und der Königin. Selbst Gawyn schob sich mit einem besorgten Blick und einer Hand am Dolch vor Elayne. Elayne selbst blickte ihn an, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Morgases Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber ihre Hände strafften sich um die vergoldeten Armlehnen ihres Throns.
Nur Elaida zeigte eine noch geringere Reaktion als die Königin. Die Aes Sedai tat so, als habe sie nichts Außergewöhnliches gesagt. Sie nahm ihre Hand vom Schwert, was die Soldaten offensichtlich in noch größere Spannung versetzte. Ihre Augen blickten ihn unverwandt an, unbeeindruckt und berechnend.
»Sicher«, sagte Morgase mit gleichmäßig ruhiger Stimme, »ist er zu jung, um sich eine Klinge mit Reiherzeichen verdient zu haben. Er kann nicht älter als Gawyn sein.«
»Es gehört zu ihm«, sagte Gareth Bryne.
Die Königin blickte ihn überrascht an. »Wie kann das sein?«
»Ich weiß nicht, Morgase«, sagte Bryne bedächtig. »Er ist zu jung, aber trotzdem gehört es zu ihm und er zu dem Schwert. Seht seine Augen an. Seht, wie er dasteht, wie das Schwert ihn ergänzt und er das Schwert. Er ist zu jung, aber das Schwert ist sein.«
Als der Generalhauptmann wieder schwieg, fragte Elaida: »Wie bist du an diese Klinge gekommen, Rand al'Thor von den Zwei Flüssen?« Sie brachte es so heraus, als zweifle sie sowohl an seinem Namen als auch an dem Ort seiner Herkunft.
»Mein Vater hat es mir gegeben«, sagte Rand. »Es war seines. Er dachte, draußen in der Welt benötigte ich ein Schwert.«
»Also noch ein Schäfer von den Zwei Flüssen mit einem Reiherschwert.« Elaidas Lächeln ließ seinen Mund austrocknen. »Wann bist du in Caemlyn angekommen?«
Er hatte es satt, dieser Frau die Wahrheit zu sagen. Er hatte vor ihr genausoviel Angst wie vor einem Schattenfreund. Es war Zeit, die Wahrheit wieder zu verbergen. »Heute«, sagte er. »Heute morgen.«
»Gerade rechtzeitig«, murmelte sie. »Wo wohnst du? Behaupte nicht, du hättest nicht irgendwo ein Zimmer gefunden. Du siehst ein wenig angegriffen aus, aber du hattest Gelegenheit, dich zu waschen. Wo?«
»Im Gasthaus Krone und Löwe.« Er erinnerte sich daran, an einer Schenke dieses Namens vorbeigekommen zu sein, als er Der Königin Segen suchte. Sie lag in der Neustadt auf der entgegengesetzten Seite von Meister Gills Schenke. »Dort habe ich ein Bett oben unter dem Dach.«
Er hatte das Gefühl, sie wisse, daß er log, aber sie nickte nur.
»Ist das nun ein Zufall?« sagte sie. »Heute bringt man den Ungläubigen nach Caemlyn. In zwei Tagen wird man ihn nach Norden, nach Tar Valon, führen, und die Tochter-Erbin reist mit, um dort ausgebildet zu werden. Und gerade an diesem Wendepunkt taucht ein junger Mann im Palastgarten auf und behauptet, ein treuer Untertan von den Zwei Flüssen zu sein... «
»Ich komme von den Zwei Flüssen!« Sie sahen ihn alle an, und doch beachteten sie ihn nicht. Alle außer Tallanvor und seinen Soldaten; deren Augen waren starr auf ihn gerichtet. »... und erzählt eine Geschichte, um Elayne zu umgarnen. Außerdem trägt er ein Schwert mit dem Reiherzeichen. Er besitzt weder Armbinde noch Abzeichen, um seine politische Bindung zu zeigen, dafür aber wickelt er das Schwert rot ein und verbirgt sorgfältig den Reiher vor neugierigen Blicken. Ist das ein Zufall, Morgase?«
Die Königin bedeutete dem Generalhauptmann, zur Seite zu gehen, und dann musterte sie Rand mit besorgtem Blick. Sie sprach dann allerdings Elaida an: »Als was willst du ihn bezeichnen? Schattenfreund? Einer von Logains Anhängern?«
»Der Dunkle König rührt sich in Shayol Ghul«, erwiderte die Aes Sedai. »Der Schatten liegt über dem Muster, und die Zukunft balanciert auf einer Nadelspitze. Der hier ist gefährlich.«
Plötzlich rührte sich Elayne. Sie warf sich vor dem Thron auf die Knie. »Mutter, ich bitte dich, ihm nichts zu tun. Er wäre sofort wieder gegangen, hätte ich ihn nicht aufgehalten. Er wollte gehen. Ich habe ihn zum Bleiben überredet. Ich kann nicht glauben, daß er ein Schattenfreund ist.«
Morgase machte eine beruhigende Bewegung zu ihrer Tochter hin, doch ihr Blick ruhte weiter auf Rand. »Ist das eine Voraussage, Elaida? Hast du das Muster studiert? Du sagst, es käme über dich, wenn du es am wenigsten erwartest, und es vergeht so plötzlich, wie es kommt. Falls das eine Weissagung ist, Elaida, dann befehle ich dir, klar und deutlich die Wahrheit zu sagen, ohne deine sonstige Angewohnheit, es so durch Geheimnistuerei zu verschleiern, daß hinterher niemand mehr weiß, ob du ja oder nein gesagt hast. Sprich! Was siehst du?«
»Dies weissage ich«, antwortete Elaida, »und ich schwöre beim Licht, daß ich nichts Eindeutigeres sagen kann. Vom heutigen Tage an bewegt sich Andor auf eine Zeit des Schmerzes und der Spaltung zu. Der Schatten wird sich erst zu Schwarz vertiefen, doch ich kann nicht sagen, ob ihm dann das Licht nachfolgt. Wo die Welt eine Träne geweint hat, wird sie künftig tausende weinen. Dies weissage ich.«
Eine Mauer des Schweigens hing über dem Raum und wurde erst durch Morgase gebrochen, die so laut ausatmete, als sei es ihr letzter Atemzug gewesen.
Elaida sah weiterhin Rand in die Augen. Sie sprach wieder. Dabei bewegte sie die Lippen kaum und sprach so leise, daß er sie — kaum eine Armlänge von ihr entfernt -fast nicht verstehen konnte. »Auch das weissage ich: Schmerz und Spaltung kommen über die ganze Welt, und dieser Mann steht dabei im Mittelpunkt. Ich gehorche der Königin«, flüsterte sie, »und spreche es klar und deutlich aus.«
Rand fühlte sich, als habe er im Marmorboden Wurzeln geschlagen. Die Kälte und Härte des Bodens kroch ihm in die Beine und ließ ihn bis oben hin schaudern. Niemand sonst konnte das gehört haben. Aber sie sah ihn immer noch an, und er hatte es gehört.
»Ich bin Schäfer«, sagte er zu allen im Raum. »Von den Zwei Flüssen. Nur ein Schäfer.«
»Das Rad webt, wie das Rad es will«, sagte Elaida laut, und er war nicht sicher, ob ein spöttischer Unterton darin lag oder nicht.
»Lord Gareth«, sagte Morgase, »ich brauche den Rat meines Generalhauptmanns.«
Der stämmige Mann schüttelte den Kopf. »Elaida Sedai sagt, der Junge sei gefährlich, meine Königin, und wenn sie mehr dazu sagen könnte, würde ich den Henker bestellen. Aber alles, was sie sagt, ist nur das, was jeder von uns auch mit eigenen Augen sehen kann. Es gibt wohl keinen Bauern im Reich, der nicht vorhersagt, daß alles immer noch schlimmer werden wird, und dazu braucht er keine Weissagung. Ich persönlich glaube, der Junge ist nur durch puren Zufall hierhergekommen, auch wenn es für ihn ein unglücklicher Zufall war. Um sicherzugehen, meine Königin, würde ich sagen: Werft ihn in eine Zelle, bis Lady Elayne und Lord Gawyn eine Weile unterwegs sind, und dann laßt ihn laufen. Oder, Aes Sedai, habt Ihr noch mehr auf Lager, was Ihr über ihn weissagen könntet?«
»Ich habe alles gesagt, was ich im Muster über ihn gelesen habe, Generalhauptmann«, sagte Elaida. Sie lächelte Rand bitter an, ein Lächeln, das kaum ihre Lippen verzog, und spottete seiner Unfähigkeit zu behaupten, sie sage nicht die Wahrheit. »Ein paar Wochen im Gefängnis werden ihm nicht schaden, und sie könnten mir Gelegenheit geben, mehr herauszubekommen.« Gier stand in ihren Augen und ließ ihn noch mehr schaudern. »Vielleicht ergibt sich eine weitere Weissagung.«
Morgase überlegte eine Weile lang, das Kinn auf die Faust gestützt und den Ellenbogen auf der Armlehne ihres Thrones. Rand hätte sich unter ihrem Blick am liebsten hin und her bewegt, wenn er sich nur überhaupt hätte rühren können. Doch Elaidas Blick ließ ihn wie erstarrt dastehen. Schließlich sprach die Königin.
»Das Mißtrauen erstickt Caemlyn und vielleicht ganz Andor. Angst und blankes Mißtrauen. Frauen denunzieren ihre Nachbarn als Schattenfreunde. Männer kritzeln den Drachenzahn auf die Türen von Menschen, die sie schon jahrelang kennen. Ich werde das nicht mitmachen.«
»Morgase...«, begann Elaida, aber die Königin unterbrach sie.
»Ich werde das nicht mitmachen. Als ich den Thron bestieg, schwor ich, Gerechtigkeit an hochgestellten wie niedrigen Leuten zu üben, und daran werde ich mich halten, und wenn ich der letzte Mensch in Andor sein sollte, der noch Gerechtigkeit übt. Rand al'Thor, schwörst du beim Licht, daß dein Vater, ein Schäfer im Gebiet der Zwei Flüsse, dir dieses Reiherschwert gegeben hat?«
Rand bewegte die Zunge, um seinen Mund zu befeuchten, damit er sprechen konnte. »Das schwöre ich.« Da er sich plötzlich daran erinnerte, mit wem er da sprach, fügte er hastig: »Meine Königin« hinzu. Lord Gareth hob eine schwere Augenbraue, aber Morgase schien es nicht zu stören.
»Und daß du die Gartenmauer nur deshalb erklommen hast, weil du den falschen Drachen sehen wolltest?«
»Ja, meine Königin.«
»Willst du dem Thron von Andor oder meiner Tochter oder meinem Sohne Schaden zufügen?« Ihr Tonfall sagte ihm, daß im zweiten Fall mit ihm noch kürzerer Prozeß gemacht werde als im ersten.
»Ich will überhaupt niemandem schaden, meine Königin. Euch und den Euren noch weniger als allen anderen.«
»Dann will ich dir gerecht werden, Rand al'Thor«, sagte sie. »Zuerst einmal habe ich Elaida und Gareth eines voraus, denn ich habe in meiner Jugend den Dialekt der Zwei Flüsse gehört. Du siehst zwar nicht so aus, aber falls mich meine trübe Erinnerung daran nicht täuscht, trägst du die Zwei Flüsse auf der Zunge. Zum zweiten würde niemand mit deinem Haar und deinen Augen behaupten, er sei ein Schäfer von den Zwei Flüssen, wenn es nicht wahr wäre. Und daß dir dein Vater ein Reiherschwert gab, ist zu unwahrscheinlich, um eine Lüge zu sein. Und zum dritten: Die Stimme, die mir zuflüstert, daß die beste Lüge oft gerade das ist, was zu lächerlich erscheint, um erlogen zu sein... diese Stimme stellt keinen Beweis dar. Ich werde mich an die Gesetze halten, die ich selbst schuf. Ich schenke dir deine Freiheit, Rand al'Thor, aber ich rate dir, gründlich zu überlegen, bevor du in Zukunft fremden Boden betrittst. Wenn man dich noch einmal auf dem Grund und Boden des Palastes erwischt, wirst du nicht so leicht davonkommen.«
»Ich danke Euch, meine Königin«, sagte er heiser. Er konnte Elaidas Unzufriedenheit wie Hitze auf seinem Gesicht spüren. »Tallanvor«, sagte Morgase, »eskortiert diesen... den Gast meiner Tochter aus dem Palast und erweist ihm jede Höflichkeit. Ihr anderen, geht jetzt auch. Nein, Elaida, du bleibst! Und wenn Ihr bitte auch bleiben wurdet, Lord Gareth. Ich muß entscheiden, was mit diesen Weißmänteln in der Stadt zu geschehen hat.«
Tallanvor und die Gardesoldaten steckten ihre Schwerter zögernd zurück in die Scheiden, schienen aber jeden Moment bereit, sie augenblicklich zu ziehen. Trotzdem war Rand froh, als sie sich um ihn herum formierten und Tallanvor folgten. Elaida hörte der Königin nur so halb zu; er konnte ihren Blick auf seinem Rücken fühlen. Was wäre geschehen, wenn Morgase keine Aes Sedai am Hofe gehabt hätte? Bei dem Gedanken wünschte er, die Soldaten würden schneller marschieren.
Zu seiner Überraschung wechselten Elayne und Gawyn vor der Tür einige Worte und schlossen sich ihm dann an. Auch Tallanvor war überrascht. Der junge Offizier blickte von ihnen zurück zur Tür, doch die schloß sich jetzt.
»Meine Mutter«, sagte Elayne, »befahl, ihn aus dem Palast zu eskortieren, Tallanvor. In aller Höflichkeit. Worauf wartest du?«
Tallanvor blickte finster die Tür an, hinter der die Königin nun mit ihren Ratgebern beriet. »Auf nichts, Lady Elayne«, sagte er säuerlich und befahl unnötigerweise der Eskorte weiterzugehen.
Die Wunder des Palastes schwammen ungesehen an Rand vorbei. Er war wie betäubt. Gedankenfetzen flogen viel zu schnell durch seinen Kopf, um sie zu fassen. Du siehst nicht so aus. Dieser Mann steht im Mittelpunkt.
Die Eskorte blieb stehen. Er blinzelte und war überrascht, daß er sich im großen Vorhof des Palastes befand und vor dem hohen, vergoldeten Tor stand, das in der Sonne glänzte. Dieses Tor würde man nicht für einen einzelnen Mann öffnen, ganz bestimmt nicht für einen Eindringling, selbst wenn ihm die Tochter-Erbin Gastrecht gewährte.
Wortlos öffnete Tallanvor den Riegel eines Ausfalltores, einer kleinen Tür, die sich innerhalb eines großen Torflügels befand.
»Es ist Sitte«, sagte Elayne, »einen Gast bis zum Tor zu geleiten, aber ihm nicht nachzublicken. Es ist die Freude an der Gesellschaft eines Gastes, an die man sich erinnern sollte, und nicht der traurige Abschied.«
»Ich danke Euch, Lady Elayne«, sagte Rand. Er berührte den Schal, der immer noch als Bandage um seinen Kopf gewickelt war. »Für alles. Es ist in den Zwei Flüssen Sitte, daß ein Gast ein kleines Geschenk mitbringt. Ich fürchte, ich habe nichts. Obwohl ich«, fügte er trocken hinzu, »Euch offensichtlich etwas über die Menschen der Zwei Flüsse gelehrt habe.«
»Wenn ich Mutter gesagt hätte, daß ich dich für gut aussehend halte, dann hätte sie dich ganz sicher in eine Zelle sperren lassen.« Elayne warf ihm ein betörendes Lächeln zu. »Leb wohl, Rand al'Thor.«
Mit offenem Mund sah er ihr nach, einer jüngeren Verkörperung von Morgases Schönheit und Würde.
»Versuche nicht, dich mit Worten an Elayne zu messen.« Gawyn lachte. »Da gewinnt sie immer.«
Rand nickte abwesend. Gutaussehend? Licht, und das von der Tochter-Erbin des Thrones von Andor! Er schüttelte sich, um den Kopf wieder frei zu bekommen.
Gawyn schien auf etwas zu warten. Rand sah ihn einen Augenblick lang an.
»Lord Gawyn, als ich Euch sagte, ich käme von den Zwei Flüssen, da wart Ihr überrascht. Und auch alle anderen — Eure Mutter, Lord Gareth, Elaida Sedai« — ein Schauer rann ihm den Rücken hinunter — »keiner von ihnen... « Er konnte den Satz nicht beenden; er war sich noch nicht einmal sicher, warum er ihn begonnen hatte. Ich bin der Sohn Tam alThors, auch wenn ich nicht in den Zwei Flüssen geboren wurde.
Gawyn nickte, als habe er genau darauf gewartet. Doch er zögerte noch. Rand öffnete den Mund, um die unausgesprochene Frage zurückzunehmen, da sagte Gawyn: »Wickle eine Schufa um deinen Kopf, Rand, und du siehst aus wie ein Aielmann. Das ist seltsam, da Mutter zu glauben scheint, daß du zumindest wie ein Mann von den Zwei Flüssen klingst. Ich wünschte, wir hätten uns besser kennenlernen können, Rand al'Thor. Leb wohl.«
Ein Aielmann!
Rand stand da und beobachtete, wie Gawyn zurückging, bis ein ungeduldiges Hüsteln Tallanvors ihn wieder daran erinnerte, wo er sich befand. Er duckte sich und durchschritt das Ausfalltor. Tallanvor schlug es ihm beinahe auf die Fersen beim Schließen. Der Riegel wurde drinnen laut und vernehmlich vorgeschoben.
Der ovale Platz vor dem Palast war nun leer. Alle Soldaten waren weg, die ganze Menschenmenge, Trompeten und Trommeln waren lautlos verschwunden. Nichts war übrig, bis auf verstreute Abfälle, die der Wind über das Pflaster fegte, und ein paar Leute, die nun, da die Aufregung vorüber war, wieder ihrem Geschäft nachgingen. Er konnte nicht erkennen, ob sie Rot oder Weiß trugen.
Aielmann.
Erschreckt wurde ihm klar, daß er immer noch direkt vor dem Palasttor stand, wo Elaida ihn am leichtesten finden konnte, wenn sie ihr Gespräch mit der Königin beendet hatte. Er zog seinen Umhang enger um sich herum und trabte los — über den Platz und in die Straßen der Innenstadt hinein. Er sah sich gelegentlich um, weil er sehen wollte, ob ihm jemand folgte, doch durch die weitgeschwungenen Kurven konnte er nicht sehr weit zurückblicken. Aber er erinnerte sich nur zu gut an Elaidas Augen und stellte sich vor, daß sie ihn beobachteten. Als er schließlich die Tore zur Neustadt erreichte, rannte er.