51 Gegen den Schatten

Der Weg, den Rand gewählt hatte, führte stetig aufwärts, aber die Angst verlieh seinen Beinen Kraft, und er kam mit langen Schritten schnell voran. Er bahnte sich seinen Weg durch blühende Büsche und Gestrüpp von Heckenrosen, ließ abgefallene Blütenblätter hinter sich zurück und achtete nicht darauf, ob die Dornen seine Kleider zerrissen und vielleicht sogar seine Haut ritzten. Moiraine hatte aufgehört zu schreien. Es schien, als hätten die Schreie eine Ewigkeit angedauert, jeder durchdringender als der letzte, aber er wußte, daß sie zusammen nur wenige Augenblicke gedauert hatten. Augenblicke, bevor Aginor sich an seine Fersen heftete. Er wußte, daß Aginor gerade ihm folgen würde. Er hatte die Gewißheit in den hohlen Augen des Verlorenen erblickt, in dieser letzten Sekunde, bevor die Angst seine Füße zum Rennen zwang.

Der Abhang wurde noch steiler, aber er kletterte weiter, zog sich an Kräuterbüscheln hoch; Steine und Erdboden und Blätter wurden von seinen Füßen losgetreten und rollten den Hang hinunter. Schließlich kroch er auf Händen und Knien weiter, als es zu steil wurde. Vor ihm — über ihm — wurde das Land etwas ebener. Schnaufend krabbelte er die letzten paar Spannen hoch, stand auf und blieb stehen. Er hätte am liebsten ein lautes Heulen von sich gegeben.

Zehn Schritte vor ihm brach der Hügel an einer scharfen Kante abrupt ab. Er wußte, was er sehen würde, noch bevor er die Kante erreichte, aber er machte trotzdem die notwendigen Schritte, einen schwerfälliger als den anderen, in der Hoffnung, es gebe vielleicht einen Weg, einen Ziegenpfad oder was auch immer. Oben angekommen, blickte er einen dreißig Schritte tiefen Steilhang hinab, eine Steinmauer, so glatt wie abgeschliffenes Holz.

Es muß einen Weg geben. Ich gehe zurück und suche mir einen Weg außen herum. Gehe zurück und...

Als er sich umdrehte, war Aginor da. Er hatte gerade den Kamm des Hügels erreicht. Der Verlorene erklomm den Hügel ohne jede Schwierigkeit. Er schritt den steilen Abhang hinauf, als sei es ebener Boden. Tief eingesunkene Augen in diesem Pergamentgesicht glühten ihn an. Irgendwie schien es jetzt nicht mehr so verwittert wie vorher, ein wenig voller, als habe Aginor gut gegessen. Diese Augen waren auf ihn gerichtet, aber als Aginor sprach, war es mehr zu sich selbst.

»Ba'alzamon versprach eine Belohnung jenseits aller Träume sterblicher Menschen für den, der euch nach Shayol Ghul bringt. Aber meine Träume schweiften immer schon jenseits derer anderer Menschen, und die Sterblichkeit habe ich vor Jahrtausenden hinter mir zurückgelassen. Welchen Unterschied macht es schon, ob ihr dem Großen Herrn der Dunkelheit lebendig oder tot dient? Für die Ausbreitung des Schattens spielt das keine Rolle. Warum sollte ich meine Macht mit euch teilen? Warum sollte ich das Knie vor euch beugen? Ich, der in der Halle der Diener selbst Lews Therin Telamon gegenüberstand? Ich, der meine Macht gegen den Herrn des Morgens einsetzte und ihm Schlag für Schlag Pari bot? Ich denke, ich habe das nicht nötig.«

Rands Mund war staubtrocken. Seine Zunge fühlte sich so verschrumpelt an, wie Aginor aussah. Die Kante des Abgrunds knirschte unter seinen Absätzen. Steine fielen hinunter. Er wagte es nicht, zurückzublicken, doch er hörte, wie die Steinbrocken ein ums andere Mal von der Steilwand zurückprallten, genau wie es mit seinem Körper geschehen würde, wenn er sich auch nur ein paar Handbreit vorwärts bewegte. Er war sich vorher überhaupt nicht bewußt gewesen, daß er sich vor dem Verlorenen zurückgezogen hatte. Seine Haut prickelte, so daß er meinte, er könne sie Blasen schlagen sehen, wenn er nur hinsah, wenn er den Blick nur von dem Verlorenen wenden könnte. Es muß doch einen Weg geben, ihm zu entkommen. Irgendeinen Fluchtweg! Es muß einen geben! Irgendeinen Weg!

Plötzlich fühlte er etwas, sah es auch, obwohl er wußte, daß es gar nicht sichtbar vorhanden war. Ein glühendes Seil ging von Aginor aus, hinter ihm, weiß wie Sonnenschein, der durch eine hellstrahlende Wolke hindurch gesehen wird, schwerer als der Arm eines Schmieds, leichter als Luft, und verband den Verlorenen mit etwas unsagbar Fernem, etwas in Reichweite von Rands Händen. Das Seil pulsierte, und mit jedem Pulsschlag wurde Aginor stärker, sein Gesicht voller, wurde er zu einem Mann, der genauso groß und stark war wie er selbst, härter als ein Behüter, tödlicher als die Fäule. Doch neben dieser leuchtenden Nabelschnur schien der Verlorene kaum bestehen zu können. Die Schnur war alles. Sie summte. Sie sang. Sie lockte Rands Seele. Ein heller Fingerstrang trieb von ihr weg durch die Luft, berührte ihn, und er keuchte auf. Licht erfüllte ihn, und Hitze, die eigentlich hätte brennen sollen, wärmte ihn lediglich, als wolle sie die Grabeskühle aus seinen Knochen vertreiben. Der Strang verdickte sich. Ich muß entkommen!

»Nein!« schrie Aginor. »Ihr sollt das nicht haben! Es gehört mir!«

Rand bewegte sich nicht, genau wie der Verlorene, aber sie kämpften miteinander, als hätten sie sich im Staub gewälzt. Schweißtropfen rannen von Aginors Stirn, die nicht mehr verschrumpelt wirkte, sondern die eines starken Mannes in seinen besten Jahren war. Rand war vom Pulsschlag der Schnur erfüllt, als sei das der Herzschlag der Welt. Er erfüllte sein ganzes Wesen. Licht durchflutete seinen Geist, bis nur noch eine Ecke für seine wahre Persönlichkeit übrigblieb. Er wickelte das Nichts um diesen Haltepunkt, barg ihn in der Leere. Nur weg!

»Meins!« schrie Aginor. »Es gehört mir!«

Wärme stieg in Rand auf, die Wärme der Sonne, das Strahlen der Sonne, brach auf in einer wahnsinnigen Lichtexplosion: das Licht. Weg!

»Meins!« Flammen schossen aus Aginors Mund, brachen wie Feuerspeere aus seinen Augen, und er schrie.

Weg!

Und Rand befand sich nicht mehr auf der Spitze des Hügels. Er bebte mit dem Licht, das ihn durchdrang. Sein Verstand arbeitete nicht richtig; Licht und Hitze blendeten ihn. Das Licht. Mitten im Nichts blendete das Licht seinen Verstand, betäubte ihn mit Ehrfurcht. Er stand auf einem breiten Bergpaß, der von zerrissenen schwarzen Gipfeln, die wie die Zähne des Dunklen Königs waren, umgeben war. Es war echt; er befand sich wirklich dort. Er fühlte die Felsen unter seinen Stiefeln und den eisigen Wind in seinem Gesicht.

Eine Schlacht umtobte ihn, oder zumindest die Nachhut einer Schlacht. Gerüstete Männer auf gepanzerten Pferden — glänzender Stahl, mittlerweile von Staub verkrustet -schlugen und stachen auf fauchende Trollocs ein, die Dornenäxte und sichelgleiche Schwerter schwangen. Einige Männer kämpften zu Fuß, da ihre Pferde ums Leben gekommen waren, aber es rannten auch reiterlose, gepanzerte Pferde zwischen den Kämpfenden hindurch. Inmitten der Schlacht ritten Blasse umher. Ihre nachtschwarzen Umhänge hingen unbeweglich herunter, so schnell auch ihre Reittiere galoppierten, und wo immer auch ihre lichtfressenden Schwerter auftrafen, da starben Männer. Lärm drang auf Rand ein, schlug auf ihn ein und prallte zurück von der Fremdartigkeit, die ihn gepackt hatte. Das Aufklingen von Stahl auf Stahl, das schwere Atmen und Grunzen von kämpfenden Männern und Trollocs, die Schreie der sterbenden Menschen und Trollocs. Über dem Lärm flatterten Banner in der stauberfüllten Luft. Der Schwarze Falke von Fal Dara, der Weiße Hirsch von Schienar, andere. Und Trolloc-Flaggen. Im engsten Umkreis konnte er den gehörnten Schädel der Dha'vol erkennen, den blutroten Dreizack der Ko'bal, die eiserne Faust der Dhai'mon.

Und doch war es wirklich die Nachhut der Schlacht, ein Atemholen, als sich Menschen und Trollocs zurückzogen, um sich neu zu formieren. Keiner schien Rand zu bemerken. Sie wechselten ein paar letzte Schläge und lösten sich vom Gegner, galoppierten oder rannten oder taumelten fort zu den Enden des Passes.

Rand blickte direkt auf die Seite des Passes, wo sich die Menschen sammelten. Wimpel flatterten unter glitzernden Lanzenspitzen. Verwundete wankten in ihren Sätteln. Reiterlose Pferde bäumten sich auf und galoppierten umher. Klar ersichtlich waren sie einem erneuten Zusammentreffen nicht gewachsen, und genauso klar war es, daß sie sich auf einen letzten Angriff vorbereiteten. Einige von ihnen sahen ihn nun. Männer standen in den Steigbügeln und deuteten auf ihn. Ihre Rufe drangen wie leises Piepsen zu ihm herauf.

Leicht taumelnd drehte er sich um. Die Truppen des Dunklen Königs füllten das andere Ende des Passes. Wie Igel bedeckten schwarze Piken und Speerspitzen die Berghänge, die durch die große Anzahl von Trollocs schwarz überzogen schienen. Ihre Armee übertraf die von Schienar bei weitem. Hunderte von Blassen ritten vor der Horde einher. Die wilden Schnauzengesichter der Trollocs wandten sich furchtsam ab, während sie vorbeiritten. Riesige Körper schoben sich nach hinten und machten ihnen Platz. Obendrüber kreisten Draghkar mit ledrigen Schwingen. Ihre Schreie forderten den Wind heraus. Jetzt sahen ihn auch einige der Halbmenschen, deuteten auf ihn, und Draghkar kippten ab und stürzten auf ihn herunter. Zwei. Drei. Sechs davon stießen mit schrillen Schreien im Sturzflug zu ihm herunter.

Er blickte sie an. Hitze erfüllte ihn, die brennende Hitze der Sonne, die er berührt hatte. Er konnte die Draghkar klar erkennen: seelenlose Augen in blassen Menschengesichtern an geflügelten Körpern, die nichts Menschliches an sich hatten. Schreckliche Hitze. Funkensprühende Hitze.

Aus dem heiteren Himmel kamen Blitze, jeder einzelne kurz und scharf umrissen, fuhren ihm sengend in die Augen. Jeder Blitz traf eine geflügelte schwarze Gestalt. Aus Jagdrufen wurden Todesschreie, und verkohlte Gestalten fielen herab und ließen den Himmel wieder sauber hinter sich zurück.

Die Hitze. Die schreckliche Hitze des Lichts.

Er fiel auf die Knie nieder. Er glaubte, seine Tränen auf den Wangen zischen zu hören. »Nein!« Er klammerte sich an Büschel zähen Grases, um nicht den Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren, doch das Gras ging in Flammen auf. »Bitte, neeeeeeiin!«

Der Wind erhob sich mit seiner Stimme, heulte mit seiner Stimme, brüllte mit seiner Stimme den Paß hinunter, peitschte die Flammen zu einer Feuerwand hoch, die sich von ihm weg bewegte und auf die Trollocs zu. Sie war schneller, als ein Pferd galoppieren konnte. Das Feuer brannte sich in die Trollocs hinein, und die Berge erzitterten vor ihren Schreien, Schreie, die fast so laut waren wie der Wind und seine Stimme. »Das muß aufhören!«

Er schlug mit der Faust auf den Boden, und die Erde klang auf wie ein Gong. Er schürfte sich die Hände auf steiniger Erde auf, und die Erde bebte. Wellen rollten durch die Erde vor ihm, stiegen immer höher, Wellen von Schmutz und Felsbrocken, die über den Trollocs und Blassen aufragten und über sie hereinbrachen und die Berge unter ihren Hufen und Füßen zerschmetterten. Eine kochende Masse von Fleisch und Schutt ergoß sich über die Trolloc-Armee. Was schließlich stehen blieb, war immer noch ein mächtiges Heer, aber nicht mehr als doppelt so groß wie das Heer der Menschen, und alle liefen in Angst und Verwirrung durcheinander.

Der Wind legte sich. Die Schreie erstarben. Die Erde bewegte sich nicht mehr. Staub und Rauch zogen sich zu einer Wolke zusammen, die den Paß heraufwirbelte und ihn umgab.

»Das Licht blende dich, Ba'alzamon! Das muß ein Ende finden!«

DAS ENDE IST NICHT HIER.

Es war nicht Rands Gedanke, der seinen Schädel vibrieren ließ.

ICH WERDE NICHT EINGREIFEN. NUR DER AUSERWÄHLTE KANN TUN, WAS GETAN WERDEN MUSS, WENN ER WILL.

»Wo?« Er wollte es nicht aussprechen, aber er konnte sich nicht davon abhalten. »Wo?«

Der ihn umgebende Dunst lichtete sich. Eine Kuppel klarer, reiner Luft formte sich, zehn Spannen hoch, von wogendem Rauch und Staub umrahmt. Stufen erhoben sich vor ihm — jede davon stand frei und ohne irgendeinen Halt — und erstreckten sich nach oben in die Trübe hinein, die die Sonne verbarg.

NICHT HIER.

Durch den Dunst kam ein Schrei wie vom fernen Ende der Erde her: »Das Licht wünscht es!« Der Boden grollte unter dem Donner von Hufen, als das Herr der Menschen zum letzten Angriff ritt.

Inmitten des Nichts verfiel sein Verstand einen Moment lang in Panik. Die angreifenden Reiter konnten ihn im Staub nicht erkennen; sie würden vielleicht über ihn hinwegtrampeln. Der größere Teil seines Ichs ignorierte den bebenden Boden als eine nichtige Sache unter seiner Würde. Stumpfer Zorn trieb seine Füße die ersten Stufen hoch. Es muß damit Schluß gemacht werden!

Dunkelheit umgab ihn — die absolute Dunkelheit im totalen Nichts. Die Stufen waren immer noch da, hingen in der Schwärze unter seinen Füßen und vor ihm. Als er zurückblickte, waren die hinter ihm weg, hatten sich im Nichts seiner Umgebung aufgelöst. Doch die Schnur war noch da, erstreckte sich hinter ihm. Das glühende Seil wurde in der Ferne immer dünner und verschwand schließlich. Es war nicht so dick wie zuvor, pulsierte aber immer noch, pumpte Kraft in ihn hinein, pumpte Leben, füllte ihn mit dem Licht. Er schritt weiter hinauf.

Er schien ewig weiterzuklimmen. Ewig, minutenlang. Die Zeit stand im Nichts still. Die Zeit lief schneller ab. Er kletterte weiter, und plötzlich stand ein Tor vor ihm, ein Tor mit rauher, gesplitterter und alter Oberfläche, ein Tor, an das er sich nur zu gut erinnerte. Er berührte es, und es zerbarst zu Splittern. Noch während die Teile herabfielen, schritt er hindurch. Splitter zerschmetterten Holzes fielen von seinen Schultern.

Auch der Raum entsprach seinen Erinnerungen: der wahnsinnige, streifige Himmel jenseits des Balkons, die geschmolzenen Wände, der glänzende Tisch, der furchtbare Kamin mit seinen tosenden, kalten Flammen. Einige der Gesichter, aus denen der Kamin bestand, die sich in Folter verzerrten und lautlos schrien, zupften an seinem Gedächtnis. Ihm war, als kenne er sie. Doch er hielt das Nichts um sich herum fest und trieb in sich selbst zurückgezogen in der Leere. Er war allein. Als er in den Spiegel an der Wand blickte, konnte er dort sein Gesicht so klar erkennen, als sei er es wirklich. Es ist Ruhe im Nichts.

»Ja«, sagte Ba'alzamon von einem Platz vor dem Kamin her, »ich dachte mir schon, daß Aginor seiner eigenen Gier zum Opfer fallen würde. Aber schlußendlich spielt das gar keine Rolle mehr. Eine lange Suche, doch jetzt ist sie zu Ende. Du bist hier, und ich kenne dich nun.«

Mitten im Licht schwebte das Nichts, und in der Mitte des Nichts schwebte Rand. Er fühlte nach der Erde seiner Heimat und erfaßte harten Fels, unnachgiebig und trocken, Stein ohne Mitleid, wo nur der Starke überleben konnte, nur derjenige, der ebenso hart war wie der Fels. »Ich bin des Rennens müde.« Er konnte selbst nicht glauben, daß seine Stimme so ruhig klang. »Ich habe es satt, daß meine Freunde bedroht werden. Ich werde nicht mehr weglaufen.« Auch Ba'alzamon hatte eine Schnur, wie er jetzt bemerkte. Eine schwarze Nabelschnur, weitaus dicker als seine, so dick, daß sie einen menschlichen Körper überragt hätte, doch statt dessen wurde sie von Ba'alzamon überragt. Jeder Pulsschlag dieser schwarzen Vene fraß Licht.

»Glaubst du, es macht einen Unterschied, ob du wegläufst oder bleibst?« Die Flammen aus Ba'alzamons Mund lachten. Die Gesichter des Kamins weinten über die Freude ihres Herrn. »Du bist oft schon vor mir geflohen, und jedesmal habe ich dich eingeholt und dich deinen eigenen Stolz fressen lassen — mit erbärmlichen Tränen als Gewürz. Viele Male hast du dich gestellt und mit mir gekämpft und bist dann besiegt vor mir gekrochen und hast um Gnade gebettelt. Du hast die Wahl, Wurm, und nur diese eine Wahl überhaupt: Knie vor mir nieder und diene mir gut, dann werde ich dir Macht verleihen, oder bleibe die närrische Marionette Tar Valons und schreie, während du zum Staub der Zeit zermalmt wirst.«

Rand trieb ein Stückchen weiter und blickte durch die Tür zurück, als suche er nach einem Fluchtweg. Sollte das doch der Dunkle König glauben! Jenseits der Tür befand sich immer noch die Schwärze des Nichts, nur von dem leuchtenden Faden aus seinem Körper unterbrochen. Und dort draußen war auch Ba'alzamons schwerere Schnur, so schwarz, daß sie sich vom Dunkel wie von Schnee abhob. Die beiden Schnüre pulsierten abwechselnd wie Adern voll Herzblut, gegeneinander gerichtet, und das Licht widerstand nur mit Mühe den Wellen von Dunkelheit.

»Es gibt noch andere Möglichkeiten«, sagte Rand. »Das Rad webt das Muster, nicht du. Ich bin aus jeder Falle entkommen, die du für mich gelegt hast. Ich bin deinen Blassen und Trollocs entkommen und deinen Schattenfreunden. Ich habe dich hierher verfolgt und auf dem Weg dein Heer zerstört. Du webst das Muster nicht.«

Ba'alzamons Augen loderten wie zwei Brennöfen. Seine Lippen bewegten sich nicht, aber Rand glaubte, einen Fluch an die Adresse Aginors zu hören. Dann erstarben die Feuer, und dieses gewöhnliche menschliche Gesicht lächelte ihn auf eine Art an, die ihn selbst durch die Wärme des Lichts hindurch erschauern ließ. »Neue Heere können zusammengezogen werden, du Narr. Heere, die du dir nicht erträumt hast, werden noch folgen. Und du hättest mich verfolgt? Du Larve unter einem Felsen -mich verfolgen? Ich fing an dem Tag an, deinen Weg zu bestimmen, als du geboren wurdest, einen Weg, der dich in dein Grab führen würde oder hierher. Aiel, denen die Flucht gestattet wurde, und einer sollte überleben, um die Worte auszusprechen, die ihr Echo durch die Jahre werfen sollten. Jain Fernstreicher, ein Held« — er zerrte den Namen höhnisch in die Länge — »den ich zum Narren machte und zu den Ogiern schickte, als er glaubte, er habe mich los. Die Schwarzen Ajah, die wie Würmer auf den Bäuchen um die Welt krochen, um dich zu finden. Ich ziehe an den Fäden und der Amyrlin-Sitz tanzt und glaubt, daß er die Ereignisse im Griff hat.«

Das Nichts erzitterte. Hastig festigte Rand es wieder. Er weiß alles. Er könnte das getan haben. Es könnte so gewesen sein, wie er behauptet. Das Licht erwärmte das Nichts. Zweifel erhob sich und wurde gestillt, bis nur noch ein Körnchen davon übrig war. Er kämpfte mit sich, wußte nicht, ob er das Körnchen begraben oder zum Wachsen bringen sollte. Das Nichts stand wieder fest und sicher, wenn auch kleiner als zuvor, und er trieb in einem Meer der Ruhe.

Ba'alzamon schien nichts davon zu bemerken. »Es spielt kaum eine Rolle, ob ich dich lebendig oder tot bekomme -außer natürlich für dich — und welche Macht du besitzen magst. Du wirst mir dienen, oder zumindest deine Seele wird mir dienen. Aber mir wäre es lieber, du würdest lebendig vor mir knien. Eine einzige Faust Trollocs, die ich zu deinem Dorf entsandte, obwohl ich tausend hätte schicken können. Ein Schattenfreund, der dir gegenüberstand, obwohl hundert dich im Schlaf überraschen könnten. Und du Narr erkennst sie nicht einmal alle, weder die vor dir, noch die hinter dir, noch diejenigen an deiner Seite. Du gehörst mir, hast mir schon immer gehört, ein Hund an der Leine, und ich brachte dich hierher, um vor deinem Herrn niederzuknien oder zu sterben und deine Seele niederknien zu lassen.«

»Ich widerstehe dir. Du hast keine Macht über mich, und ich werde weder lebendig noch tot vor dir knien.«

»Schau«, sagte Ba'alzamon. »Schau!« Unwillig drehte Rand den Kopf.

Da standen Egwene und Nynaeve, blaß und verängstigt, mit Blumen im Haar. Und eine andere Frau, wenig älter als die Seherin, dunkeläugig und schön, mit einem typischen Kleid von den Zwei Flüssen bekleidet, um dessen Kragen leuchtende Blüten gestickt waren. »Mutter?« hauchte er, und sie lächelte — ein Lächeln ohne Hoffnung. Das Lächeln seiner Mutter. »Nein! Meine Mutter ist tot, und die anderen beiden sind in Sicherheit, fern von hier. Ich glaube dir nicht!« Egwene und Nynaeve verschwammen, wurden zu verwehendem Dunst, lösten sich auf. Kari al'Thor stand immer noch mit ängstlich geweiteten Augen da.

»Zumindest sie«, sagte Ba'alzamon, »gehört mir, und ich kann mit ihr machen, was ich will.«

Rand schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht.« Er mußte die Worte aus sich herauspressen. »Sie ist tot und ruht, für dich unerreichbar, im Licht.«

Die Lippen seiner Mutter bebten. Tränen rannen ihr über die Wangen; jede davon brannte in ihm wie Säure. »Der Herr des Grabes ist stärker als früher, mein Sohn«, sagte sie. »Seine Reichweite ist größer. Der Vater der Lügen spricht mit einer Stimme wie Honig zu den nichtsahnenden Seelen. Mein Sohn! Mein einziger Lieblingssohn! Ich würde es dir gern ersparen, wenn ich nur könnte, doch jetzt ist er mein Herr, und sein Wunsch ist das Gesetz meiner Existenz. Ich kann nicht anders — muß ihm gehorchen und um seine Gnade winseln. Nur du kannst mich befreien. Bitte, mein Sohn! Bitte hilf mir!

Hilf mir! Hilf mir! BITTE!«

Der Schrei entriß sich ihr, während sie von Blassen mit bleichen, augenlosen, enthüllten Gesichtern flankiert wurde. Ihre Kleidung wurde von deren blutlosen Händen weggefetzt, Händen, in denen Zangen und Klammern und andere Dinge ruhten, die stachen und brannten und gegen ihre nackte Haut klatschten. Ihr Schrei wollte nicht enden.

Rands Aufschrei war ein Echo des ihrigen. Das Nichts kochte in seinem Geist. Sein Schwert war in seiner Hand. Nicht die Klinge mit dem Reiherzeichen, sondern eine aus Licht bestehende Klinge, eine Klinge des Lichts. Schon als er sie erhob, schoß ein feuriger, weißer Strahl aus ihrer Spitze, als habe die Klinge sich von selbst gestreckt. Er berührte den am nächsten stehenden Blassen, und eine blendende Lichtexplosion füllte den Raum, schien durch die Halbmenschen hindurch wie eine Kerze durch Papier, brannte durch sie hindurch und machte seine Augen blind für das, was sich abspielte.

Aus der Mitte des Leuchtens heraus hörte er ein Flüstern: »Danke, mein Sohn. Das Licht. Das gesegnete Licht.«

Der Blitz verblaßte, und er war allein mit Ba'alzamon in dem Raum. Ba'alzamons Augen brannten wie der Abgrund des Verderbens, aber er scheute vor dem Schwert zurück, als sei es wirklich das Licht selbst. »Narr! Du wirst dich selbst zerstören! Du kannst es nicht führen, noch nicht! Nicht, bis ich es dir beigebracht habe!«

»Es ist vorbei«, sagte Rand, und er hieb mit dem Schwert nach Ba'alzamons schwarzer Schnur.

Ba'alzamon schrie, als das Schwert herunterfuhr, schrie, bis die Steinwände zitterten, und das endlose Heulen verstärkte sich noch, als die Lichtklinge seine Schnur durchschnitt. Die abgeschnittenen Enden zuckten auseinander, als hätten sie unter Spannung gestanden. Das Ende, das sich nach draußen in das Nichts erstreckte, schrumpfte im Zurückschnellen, während das andere in Ba'alzamon hineinpeitschte und ihn gegen den Kamin schleuderte. In den lautlosen Schreien der gequälten Gesichter lag stilles Lachen. Die Wände bebten und rissen auf; der Fußboden wölbte sich auf, und aus der Decke krachten Steinbrocken zu Boden.

Als alles sich um ihn herum aufzulösen begann, zeigte Rand mit seinem Schwert auf Ba'alzamons Herz: »Es ist vollbracht.«

Licht tanzte von der Klinge weg und ergoß sich als Schauer feuriger Funken wie Tropfen geschmolzenen, weißen Metalls. Heulend warf Ba'alzamon die Arme hoch in dem vergeblichen Versuch, sich zu schützen. Flammen loderten in seinen Augen, vereinten sich mit anderen Flammen, als sich der Stein entzündete, der Stein der berstenden Wände, der Stein des sich aufbäumenden Fußbodens, der von der Decke herabstürzende Stein. Rand fühlte, wie der hellstrahlende Strang, der an ihm hing, dünner wurde, bis nur noch das Glühen selbst verblieb, aber er bemühte sich noch mehr, obwohl er nicht wußte, was er tat oder wie er es fertigbrachte, nur, daß er endlich Schluß machen wollte. Es muß einmal ein Ende sein!

Feuer erfüllte den Raum, eine einzige kräftige Flamme. Er konnte sehen, wie Ba'alzamon wie ein Blatt welkte, hörte ihn heulen, fühlte, wie die Schreie von seinen Knochen widerhallten. Die Flamme wurde zu reinem weißen Licht, heller als die Sonne. Dann war das letzte Aufflackern des Strangs vergangen, und er fiel durch endlose Schwärze und Ba'alzamons verfliegendes Heulen.

Etwas traf ihn mit enormer Gewalt, verwandelte ihn zu Gelatine, und der Gelatinehaufen zitterte und schrie, weil in seinem Inneren ein Feuer tobte, ein endloses hungriges, kaltes Brennen.

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