52 Es gibt weder Anfang noch Ende

Er wurde als erstes auf die Sonne aufmerksam, die über einen wolkenlosen Himmel zog und seine aufgerissenen Augen füllte. Sie schien sich ruckartig vorwärtszubewegen, tagelang stillzustehen, dann in einem Lichtstreifen vorzuschießen, auf den fernen Horizont zu, und den Tag mit sich zu reißen. Licht. Das hat etwas zu bedeuten. Der Gedanke stellte wieder etwas Neues dar. Ich kann denken. Das Ich bezieht sich auf mich. Als nächstes kam der Schmerz, die Erinnerung an wütendes Fieber, die Abschürfungen, wo ihn Schüttelfrost wie eine Stoffpuppe herumgerissen hatte. Und ein Gestank. Ein schmieriger Brandgeruch, der seine Nase und seinen Kopf füllte.

Mit schmerzenden Muskeln wälzte er sich herum und stützte sich auf Hände und Knie. Verständnislos starrte er die ölige Asche an, in der er gelegen hatte. Über den Fels auf der Hügelspitze war diese Asche verteilt und geschmiert. Fetzen dunkelgrünen Stoffs waren unter den Ruß gemischt, an den Kanten angesengte Fetzen, die den Flammen entgangen waren.

Aginor.

Ihm drehte es den Magen um. Er bemühte sich, schwarze Aschenschmierer von seiner Kleidung zu wischen, und er schleppte sich von den Überresten des Verlorenen weg. Seine Hände flatterten schwächlich, und er kam nicht recht voran. Er versuchte, beide Hände gleichzeitig einzusetzen, und fiel prompt vornüber. Unter seinem Gesicht brach der Hügel zu einem Abgrund ab.

Die glatte Felswand drehte sich vor seinen Augen, und die Tiefe zog ihn an. Sein Kopf schwamm, und er übergab sich über die Kante der Klippe hinweg.

Zitternd kroch er bäuchlings nach hinten, bis sich wieder festes Gestein unter seinen Augen befand, und dann warf er sich auf den Rücken herum und atmete tief durch. Mit einiger Mühe zog er schließlich sein Schwert aus der Scheide. Von dem roten Stoff war nur etwas Asche übrig. Seine Hände zitterten, als er es sich vor die Augen hob. Er mußte beide Hände dazu benützen. Es war eine Klinge mit dem Reiherzeichen — Reiherzeichen? Ja. Tam. Mein Vater — aber wenigstens war sie nur aus Stahl. Er mußte dreimal zitternd ansetzen, bis er sie in die Scheide zurückschieben konnte. Es mußte etwas anderes gewesen sein. Oder es gab noch ein anderes Schwert.

»Ich heiße«, sagte er nach einer Weile, »Rand al'Thor.« Weitere Erinnerungen krachten in seinen Kopf zurück wie eine Bleikugel, und er stöhnte auf. »Der Dunkle König«, flüsterte er in sich hinein. »Der Dunkle König ist tot.« Es gab keinen Grund zur Vorsicht mehr. »Shai'tan ist tot.« Die Welt schien zu rucken. Er schüttelte sich in lautloser Freude, bis ihm Tränen aus den Augen quollen. »Shai'tan ist tot!« Er lachte in den Himmel hinein. Andere Erinnerungen. »Egwene!« Der Name bedeutete etwas Wichtiges.

Mit schmerzenden Muskeln stand er auf, schwankte wie eine Weide im Wind und taumelte an Aginors Asche vorbei, ohne sie anzublicken. Nicht mehr wichtig. Den ersten, steilen Teil des Abhangs fiel er mehr hinunter, als daß er kletterte. Er strauchelte und schlitterte von Busch zu Busch. Als er schließlich einen ebeneren Teil erreichte, schmerzten seine Abschürfungen doppelt so sehr wie vorher, aber er fand genügend Kraft, um gerade eben stehen zu können. Egwene. Er rannte schwerfällig los. Es regnete Blätter und Blütenteile, als er durch das Unterholz brach. Muß sie finden. Wer ist sie?

Seine Arme und Beine schwangen eher wie Grashalme umher, als daß sie sich dorthin bewegten, wohin er wollte. Taumelnd fiel er gegen einen Baum und knallte so hart auf den Stamm, daß er ächzte. Laub regnete auf seinen Kopf herab, als er das Gesicht an die rauhe Rinde preßte und sich festklammerte, um nicht zu fallen. Egwene. Er schob sich vom Baumstamm weg und eilte weiter. Beinahe im gleichen Moment kippte er schon wieder, doch er zwang seine Beine, sich schneller zu bewegen, in die Fallbewegung hineinzurennen, so daß er recht schnell vorwärtstaumelte, wenn auch immer nur einen Schritt weit davon entfernt, platt aufs Gesicht zu stürzen. Die Bewegung brachte seine Beine dazu, ihm wieder besser zu gehorchen. Mit der Zeit stellte er fest, daß er wieder aufrecht und mit schwingenden Armen rannte. Seine langen Beine führten ihn in großen Sätzen den Hang hinunter. Er brach auf die Lichtung hinaus, die nun zur Hälfte von der großen Eiche eingenommen wurde, die das Grab des Grünen Mannes zierte. Da war der weiße Steinbogen mit dem eingemeißelten uralten Symbol der Aes Sedai und die rußgeschwärzte, offene Grube, wo Feuer und Wind versucht hatten, Aginor zu besiegen, und wo dieser Versuch fehlschlug.

»Egwene! Egwene, wo bist du?« Ein hübsches Mädchen blickte mit großen Augen auf. Sie kniete unter den weit ausgebreiteten Ästen und hatte Blumen und Eichenlaub im Haar. Sie war schlank und jung und verängstigt. Ja, das muß sie sein. Natürlich. »Egwene, dem Licht sei Dank, daß es dir gut geht!«

Zwei andere Frauen waren noch bei ihr; eine mit verschleierten Augen und einem langen Zopf, der immer noch mit ein paar weißen Morgensternchen geschmückt war. Die andere lag ausgestreckt am Boden, den Kopf auf zusammengefaltete Umhänge gelegt. Ihr himmelblauer Umhang konnte das zerrissene Kleid nicht ganz verbergen. In dem schweren Stoff zeigten sich Risse und angesengte Flecke, und ihr Gesicht war blaß, doch die Augen waren geöffnet. Moiraine. Ja, die Aes Sedai. Und die Seherin, Nynaeve. Alle drei Frauen sahen ihn unverwandt und gespannt an.

»Du bist doch in Ordnung, Egwene, oder? Er hat dir doch nichts getan?« Er konnte jetzt laufen, ohne zu stolpern — bei ihrem Anblick hätte er trotz aller Verletzungen tanzen können -, aber es tat trotzdem gut, sich neben ihr in den Schneidersitz fallen zu lassen.

»Ich habe ihn nicht einmal mehr gesehen, nachdem du ihn... « Ihr Blick ruhte unsicher auf seinem Gesicht. »Wie steht es mit dir, Rand?«

»Mir geht's gut.« Er lachte. Er berührte ihre Wange und fragte sich, ob er sich das leichte Zurückzucken eingebildet hatte. »Ein wenig Ruhe, und ich bin so gut wie neu. Nynaeve? Moiraine Sedai?« Die Namen füllten seinen Mund mit einem neuen Geschmack.

Die Augen der Seherin waren alt, uralt, in einem jungen Gesicht, aber sie schüttelte lediglich den Kopf. »Ein bißchen durchgeschüttelt«, sagte sie, wobei sie ihn weiterhin beobachtete. »Moiraine ist die einzige... die einzige von uns, die wirklich verletzt wurde.«

»Mein Stolz ist mehr verletzt als der Rest von mir«, sagte die Aes Sedai gereizt und zupfte an ihrer Decke aus Umhängen. Sie sah aus, als sei sie lange Zeit krank gewesen oder habe sich überanstrengt, doch trotz der dunklen Ringe blickten ihre Augen scharf und kraftvoll. »Aginor war überrascht und zornig, weil ich ihn so lange festhalten konnte, aber glücklicherweise hatte er keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Ich bin selbst überrascht, daß ich ihn so lange binden konnte. Im Zeitalter der Legenden kam Aginor gleich nach dem Brudermörder und Ishamael, was Macht betraf.«

»Der Dunkle König und all die Verlorenen«, zitierte Egwene mit schwacher, zittriger Stimme, »sind in Shayol Ghul gebunden, vom Schöpfer gebunden... « Sie atmete nervös ein.

»Aginor und Balthamel müssen nah an der Oberfläche gefangen gewesen sein.« Moiraine klang, als habe sie das bereits erklärt und sei ungeduldig, weil sie es noch mal erklären mußte. »Die Decke auf dem Gefängnis des Dunklen Königs wurde so schwach und durchlässig, daß sie entkamen. Laßt uns dankbar dafür sein, daß nicht noch mehr der Verlorenen befreit wurden. Wäre das der Fall gewesen, dann hätten wir sie kennengelernt.«

»Es spielt keine Rolle«, sagte Rand. »Aginor und Balthamel sind tot, genauso wie Shai... «

»Der Dunkle König«, unterbrach ihn die Aes Sedai. Krank oder nicht, ihre Stimme war fest, und ihre dunklen Augen blickten dominierend drein. »Am besten nennen wir ihn auch weiterhin den Dunklen König. Oder höchstens Ba'alzamon.«

Er zuckte die Achseln. »Wie du wünschst. Aber er ist tot. Der Dunkle König ist tot. Ich habe ihn getötet. Ich verbrannte ihn mit... « Die restlichen Erinnerungen überkamen ihn jetzt, und sein Mund blieb offen stehen. Die Eine Macht. Ich habe die Eine Macht benützt. Kein Mann kann... Er leckte über seine plötzlich trockenen Lippen. Ein Windstoß wirbelte gefallene und zu Boden fallende Blätter um sie herum, aber der Wind war auch nicht kälter als sein Herz. Sie blickten ihn an, die drei. Beobachteten ihn. Sie zuckten nicht einmal mit den Lidern. Er streckte die Hand nach Egwene aus, und diesmal war es gewiß keine Einbildung, daß sie sich vor ihm zurückzog. »Egwene?« Sie wandte das Gesicht ab, und er ließ die Hand fallen.

Doch plötzlich warf sie die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. »Es tut mir leid, Rand. Es tut mir so leid. Es ist mir gleichgültig. Es ist mir wirklich egal.« Ihre Schultern zuckten. Er fühlte, wie sie weinte. Ungeschickt tätschelte er ihr Haar und sah über ihren Kopf hinweg die beiden anderen Frauen an.

»Das Rad webt, wie das Rad es will«, sagte Nynaeve bedächtig, »aber du bist immer noch Rand al'Thor aus Emondsfeld. Aber — Licht, hilf, Licht, hilf uns allen — du bist zu gefährlich, Rand.« Er zuckte unter dem traurigen, bedauernden und den Verlust beklagenden Blick der Seherin zusammen.

»Was ist geschehen?« fragte Moiraine. »Erzähl mir alles!«

Und unter ihrem auffordernden Blick erzählte er alles. Er hätte sich gern abgewandt und alles in Kurzform erzählt und Dinge ausgelassen, aber die Augen der Aes Sedai sogen alles aus ihm heraus. Tränen rannen ihm über das Gesicht, als er zu Kari al'Thor kam. Seiner Mutter. Das betonte er. »Er hatte meine Mutter. Meine Mutter!« Auf Nynaeves Gesicht zeigten sich Sympathie und Schmerz, aber die Augen der Aes Sedai trieben ihn weiter, zu dem Lichtschwert, zum Durchschlagen der schwarzen Schnur und den Flammen, die Ba'alzamon verzehrten. Egwenes Arme schlossen sich noch fester um ihn, als wolle sie ihn von dem, was geschehen war, fortziehen. »Aber ich war es eigentlich nicht«, beendete er seinen Bericht. »Das Licht... zog mich einfach weiter. Ich war es wirklich nicht selbst. Macht das einen Unterschied?«

»Ich hatte von Anfang an einen Verdacht«, sagte Moiraine. »Aber ein Verdacht ist noch kein Beweis.

Nachdem ich dir das Abzeichen, die Münze, gegeben hatte und zwischen uns damit ein Band knüpfte, hättest du eigentlich alles freiwillig mitmachen müssen, was ich wollte, aber du hast dich widersetzt, Dinge in Frage gestellt. Das hat mir einiges verraten, aber nicht genug. Das Blut von Manetheren war immer schon halsstarrig und noch mehr, seit Aemon starb und Eldrenes Herz gebrochen wurde. Und dann war da noch Bela.« »Bela?« fragte er. Nichts spielt wirklich eine Rolle. Die Aes Sedai nickte. »In Wachhügel hatte es Bela überhaupt nicht nötig, durch mich von ihrer Erschöpfung befreit zu werden. Jemand anders hatte das bereits besorgt. In jener Nacht hätte sie selbst Mandarb hinter sich lassen können. Ich hätte daran denken sollen, wer auf Bela ritt. Trollocs auf unseren Fersen, ein Draghkar über uns und ein Halbmensch das Licht weiß wo in der Gegend, da mußtest du doch fürchten, daß Egwene zurückbleiben könne. Du brauchtest etwas nötiger als je im Leben. Also hast du dich an das eine gewandt, das es dir geben konnte: Saidin.«

Er schauderte. Er fühlte sich so kalt, daß seine Finger schmerzten. »Wenn ich das nie mehr mache, wenn ich es nie wieder berühre, dann werde ich nicht... « Er konnte es nicht aussprechen. Verrückt. Das Land und die Menschen um sich herum in den Wahn stürzen. Sterben und verfaulen, während er noch am Leben war.

»Vielleicht«, sagte Moiraine. »Es wäre viel leichter, wenn dich jemand lehren würde, es zu beherrschen, aber es kann auch so gehen, wenn auch nur mit einer übermenschlichen Willenskraft.«

»Du kannst mich lehren. Sicherlich kannst du... « Er brach ab, als die Aes Sedai den Kopf schüttelte.

»Kann eine Katze einem Hund beibringen, wie man auf einen Baum klettert, Rand? Kann ein Fisch einem Vogel das Schwimmen beibringen? Ich kenne Saidar, doch ich kann dich nichts in bezug auf Saidin lehren. Diejenigen, die das könnten, sind seit dreitausend Jahren tot. Aber vielleicht bist du widerstandsfähig genug. Vielleicht ist dein Wille stark genug.«

Egwene richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken über die geröteten Augen. Sie sah aus, als wolle sie etwas sagen, aber als sie den Mund öffnete, kam kein Laut heraus. Wenigstens zieht sie sich nicht zurück. Wenigstens kann sie mich ansehen, ohne zu schreien.

»Die anderen?« fragte er.

»Lan hat sie mit in die Höhle genommen«, sagte Nynaeve. »Das Auge ist verschwunden, aber es ist irgend etwas in der Mitte des Sees, eine Kristallsäule und Stufen, um zu ihr zu kommen. Mat und Perrin wollten zuerst nach dir suchen — Loial hat das auch getan -, aber Moiraine sagte... « Sie sah die Aes Sedai besorgt an. Moiraine erwiderte ihren Blick ruhig. »Sie sagte, wir dürften dich nicht stören, während du... «

Seine Kehle zog sich zusammen, bis er kaum noch Luft bekam. Werden sie auch, wie Egwene, die ihre Gesichter abwenden? Werden sie schreien und weglaufen, als sei ich ein Blasser? Moiraine sprach weiter, als bemerke sie gar nicht, wie sein Gesicht erblaßte.

»Es war eine ungeheure Menge der Einen Macht im Auge gespeichert. Selbst im Zeitalter der Legenden hätten nur wenige eine solche Menge ohne Hilfe beherrschen können. Sehr wenige. Die meisten hätten sich selbst zerstört.«

»Hast du es ihnen gesagt?« fragte er heiser. »Wenn es alle wissen... «

»Nur Lan«, sagte Moiraine sanft. »Er muß es wissen. Und Nynaeve und Egwene, um dessentwillen, was sie sind und was sie werden. Bei den anderen bestand noch keine Notwendigkeit.«

»Warum nicht?« Sein Hals war so rauh, daß seine Stimme ganz hart klang. »Ihr werdet doch wohl wollen, daß man mir Beschränkungen auferlegt, oder? Das machen doch die Aes Sedai mit Männern, die die Eine Macht lenken können. Sie so verändern, daß sie das nicht mehr können? Sie ›sicher‹ machen? Thom sagte, Männer, denen Beschränkungen auferlegt wurden, sterben, weil sie nicht mehr weiterleben wollen. Warum erzählst du nichts davon, da man mich nach Tar Valon bringen und mir Einhalt gebieten wird?«

»Du bist ta'veren«, antwortete Moiraine. »Vielleicht ist das Muster noch nicht mit dir fertig.«

Rand setzte sich steif und aufrecht hin. »In den Träumen sagte Ba'alzamon, Tar Valon und der Amyrlin-Sitz würden versuchen, mich zu benützen. Er hat Namen genannt, und an einige davon erinnere ich mich jetzt. Raolin Dunkelbann und Guaire Amalasan. Yurian Steinbogen. Davian. Logain.« Den letzten Namen auszusprechen, fiel ihm am schwersten von allen. Nynaeve wurde bleich, und Egwene schnappte nach Luft, doch er fuhr zornig fort: »Jeder von ihnen ein falscher Drache. Versuche nicht, das abzustreiten. Also, ich werde mich nicht benützen lassen. Ich bin kein Werkzeug, das ihr auf den Müllhaufen werfen könnt, wenn es abgewetzt ist.«

»Ein Werkzeug, das zu einem bestimmten Zweck angefertigt wurde, wird nicht herabgesetzt, wenn man es zu eben diesem Zweck benützt.« Moiraines Stimme klang genauso hart wie die seine. »Aber ein Mann, der dem Vater der Lügen Glauben schenkt, setzt sich selbst herab. Du sagst, du wirst dich nicht benützen lassen, und dann läßt du deinen Weg von dem Dunklen König vorbestimmen, wie ein Hund, den sein Herr ein Kaninchen jagen läßt.«

Er ballte die Fäuste und drehte den Kopf weg. Das klang zu sehr nach den Dingen, die Ba'alzamon gesagt hatte. »Ich werde für niemanden den Jagdhund spielen. Verstehst du mich? Für niemanden!«

Loial und die anderen erschienen im Torbogen, und Rand stand mühsam auf, den Blick auf Moiraine gerichtet.

»Sie werden es nicht erfahren«, sagte die Aes Sedai, »bis das Muster es anders will.«

Dann waren seine Freunde nah. Lan führte sie an. Er sah so hart aus wie immer, aber etwas mitgenommener als sonst. Er trug eine von Nynaeves Bandagen um die Schläfen gewickelt und lief ziemlich steif einher. Hinter ihm trug Loial eine große, goldene Truhe, die mit Silber eingelegt und fein verziert war. Keiner außer einem Ogier hätte sie ohne Hilfe aufheben können. Perrin trug ein großes Bündel zusammengefalteten weißen Stoffes in den Armen, und Mat hielt vorsichtig etwas in beiden Händen, das wie die Bruchstücke eines Keramikgegenstandes aussah.

»Also lebst du doch noch.« Mat lachte. Sein Gesichtsausdruck wurde finsterer, und er nickte in Richtung Moiraine. »Sie hat uns nicht nach dir suchen lassen. Sagte, wir sollten herausfinden, was das Auge verbarg. Ich wäre trotzdem losgegangen, aber Nynaeve und Egwene schlossen sich ihr an und warfen mich beinahe durch den Bogen.«

»Aber jetzt bist du hier«, sagte Perrin, »und so, wie du aussiehst, bist du nicht zu schlecht davongekommen.« Seine Augen glühten wohl nicht, aber die Pupillen waren jetzt ganz gelb. »Das ist das Wichtigste. Du bist hier, und wir sind mit dem fertig, was wir hier zu erledigen hatten, was das auch gewesen sein mag. Moiraine Sedai sagt, wir seien fertig und wir könnten gehen. Heim, Rand. Licht, verseng mich, aber ich will nach Hause.«

»Gut, dich lebendig vorzufinden, Schafhirte«, sagte Lan mürrisch. »Wie ich sehe, hast du dein Schwert nicht verloren. Vielleicht wirst du jetzt lernen, es richtig zu benützen.« Rand fühlte sich auf einmal zu dem Behüter hingezogen; Lan wußte Bescheid, aber an der Oberfläche wenigstens hatte sich nichts geändert. Er dachte, vielleicht habe sich für Lan auch inwendig nichts geändert.

»Ich muß schon sagen«, sagte Loial und stellte die Truhe auf den Boden, »mit ta'veren zu reisen hat sich als noch interessanter erwiesen, als ich erwartete.« Seine Ohren zuckten lebhaft. »Falls es noch ein wenig interessanter werden sollte, gehe ich schnurstracks zurück zum Stedding Schangtai, gestehe dem Ältesten Haman alles und verlasse meine Bücher nie mehr.« Plötzlich grinste der Ogier. Sein breiter Mund spaltete sein Gesicht in zwei Hälften. »Es ist so gut, dich wiederzusehen, Rand al'Thor. Der Behüter ist der einzige von diesen dreien hier, der überhaupt etwas von Büchern hält, und er spricht nicht darüber. Was ist mit dir geschehen? Wir rannten alle weg und versteckten uns im Wald, bis Moiraine Sedai Lan ausschickte, um uns aufzuspüren, aber sie hat uns nicht nach dir suchen lassen. Warum warst du so lange weg, Rand?«

»Ich bin gerannt und gerannt«, sagte er bedächtig, »bis ich einen Hügel runterfiel und mit dem Kopf gegen einen Stein prallte. Ich glaube, ich bin bei dem Sturz so ziemlich gegen jeden Stein gestoßen, der hügelabwärts lag.« Das sollte seine Abschürfungen erklären. Er versuchte, die Aes Sedai und Nynaeve und Egwene im Auge zu behalten, aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Als ich wieder zu mir kam, wußte ich nicht mehr, wo ich war. Schließlich bin ich dann doch hierher zurückgestolpert. Ich glaube, Aginor ist tot, verbrannt. Ich habe Asche gefunden und Fetzen von seinem Umhang.«

Die Lügen klangen für ihn so leicht durchschaubar. Er konnte nicht verstehen, warum sie nicht verächtlich lachten und verlangten, daß er die Wahrheit sage, aber seine Freunde nickten nur, akzeptierten sie und gaben ein paar mitleidige Worte von sich, während sie zu der Aes Sedai gingen, um ihr zu zeigen, was sie gefunden hatten.

»Helft mir auf«, sagte Moiraine. Nynaeve und Egwene hoben sie in eine sitzende Stellung, mußten sie aber auch dann noch stützen.

»Wie konnten diese Sachen im Inneren des Auges sein«, fragte Mat, »ohne wie dieser Stein zerstört zu werden?«

»Sie waren nicht dorthingelegt worden, um zerstört zu werden«, sagte die Aes Sedai kurz angebunden und blockte mit ihrem Stirnrunzeln weitere Fragen ab. Sie nahm Mat die schimmernden schwarzen und weißen Scherben ab.

Für Rand sahen sie einfach wie Schutt aus, aber sie setzte sie entschlossen am Boden neben sich zusammen. Sie ergaben einen perfekten Kreis von der Größe einer Männerhand. Das uralte Symbol der Aes Sedai, die Flamme von Tar Valon, zusammengefügt mit dem Drachenzahn; Schwarz Seite an Seite mit Weiß. Einen Augenblick lang sah Moiraine es sich nur mit ausdruckslosem Gesicht an, dann nahm sie das Messer aus ihrem Gürtel und gab es Lan, wobei sie in Richtung des Kreises nickte.

Der Behüter klaubte das größte Stück heraus, und dann hob er das Messer und stieß es mit aller Kraft darauf herunter. Ein Funken stob auf, die Scherbe hüpfte unter der Gewalt des Hiebs, und die Klinge zerbrach mit einem scharfen Knall. Er betrachtete den Stumpf, der noch am Griff festsaß. Dann warf er ihn beiseite. »Der beste Stahl aus Tear«, sagte er trocken.

Mat hob die Scherbe auf und brummte. Dann zeigte er sie herum. Es war keine Spur des Messerhiebs darauf zu sehen.

»Cuendillar«, sagte Moiraine. »Herzstein. Seit dem Zeitalter der Legenden hat niemand es mehr fertiggebracht, ihn herzustellen, und selbst zu der Zeit wurde er nur für die wichtigsten Zwecke angefertigt. Wenn er einmal fertig ist, kann ihn nichts mehr zerstören. Nicht einmal die Eine Macht selbst, auch wenn sie von der größten Aes Sedai gelenkt würde, die es jemals gab, unterstützt vom stärksten sa'angreal, der je gemacht wurde. Jede Kraft, die man gegen Herzstein einsetzt, macht ihn nur noch stärker.«

»Wie ist es dann...?« Mats Geste mit der Scherbe in der Hand umfaßte die anderen Bruchstücke am Boden.

»Das war eines der sieben Siegel am Gefängnis des Dunklen Königs«, sagte Moiraine. Mat ließ die Scherbe fallen, als glühe sie. Einen Augenblick lang schienen dafür Perrins Augen wieder zu glühen. Die Aes Sedai sammelte gelassen die Scherben auf.

»Es spielt keine Rolle mehr«, sagte Rand. Seine Freunde blickten ihn fragend an, und er wünschte, er hätte den Mund gehalten.

»Selbstverständlich«, antwortete Moiraine. Aber sie legte sorgfältig alle Bruchstücke in ihre Tasche. »Bringt mir die Truhe.« Loial hob sie näher zu ihr.

Der Quader aus Gold und Silber schien keine Öffnung zu haben, aber die Finger der Aes Sedai glitten über die feinen Verzierungen, drückten, und mit einem plötzlichen Klicken sprang der Deckel wie von einer Feder gehoben auf. Innen lag ein gekrümmtes goldenes Horn. Trotz seines Schimmers erschien es neben der Truhe, in der es sich befand, ganz unauffällig. Die einzige Markierung war eine Zeile eingelegter silberner Schrift um das Mundstück herum. Moiraine nahm das Horn so vorsichtig heraus, als trage sie ein Baby. »Das muß nach Illian gebracht werden«, sagte sie leise.

»Illian!« murrte Perrin. »Das ist schon beinahe am Meer der Stürme, fast genauso weit südlich von zu Hause, wie wir jetzt im Norden sind.«

»Ist es...?« Loial hielt inne, um Luft zu holen. »Kann es sein, ...?«

»Ihr könnt die Alte Sprache lesen?« fragte Moiraine, und als er nickte, gab sie ihm das Horn.

Der Ogier nahm es ebenso sanft in die Hand wie sie und fuhr mit einem breiten Finger vorsichtig die Schrift entlang. Seine Augen wurden immer größer, und seine Ohren stellten sich senkrecht auf. »Tia mi aven Moridin isainde vadin«, flüsterte er. »Das Grab ist keine Grenze für meinen Ruf.«

»Das Horn von Valere.« Diesmal schien der Behüter wirklich erschüttert. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Ehrfurcht mit.

Gleichzeitig sagte Nynaeve mit zittriger Stimme: »Um die Helden aller Zeitalter von den Toten zurückzurufen, gegen den Dunklen König zu kämpfen.«

»Seng mich!« hauchte Mat.

Loial legte ehrfürchtig das Horn in sein goldenes Nest zurück. »Ich frage mich langsam«, sagte Moiraine, »ob das Auge der Welt, das ja für den größten Notfall gemacht wurde, den die Welt je erleben würde, wirklich für den Zweck da war, zu dem wir es... verwendeten, oder um diese Sachen zu bewahren? Schnell, zeigt mir den letzten Gegenstand.«

Nach den ersten beiden Überraschungen konnte Rand Perrins Zögern verstehen. Lan und der Ogier nahmen ihm das weiße Stoffbündel ab und entfalteten es miteinander. Ein langes und breites Banner wurde da entfaltet und bauschte sich im Wind auf. Rand konnte es nur mit großen Augen anstarren. Das Ganze schien aus einem Stück zu bestehen, weder gewebt noch eingefärbt noch bemalt. Eine Gestalt in der Form einer Schlange, mit roten und goldenen Schuppen, erstreckte sich über die ganze Länge, aber sie hatte dazu noch schuppenbesetzte Beine und Füße mit jeweils fünf langen, goldenen Klauen, und einen mächtigen Kopf mit goldener Mähne und Augen wie die Sonne. Das Aufbauschen der Flagge bewegte die Gestalt. Mit Schuppen, die wie Edelsteine und Metall glitzerten, wirkte sie wie lebendig. Er bildete sich fast ein, er könne sie voller Stolz brüllen hören. »Was ist das?« fragte er.

Moiraine ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. »Die Flagge des Herrn des Morgens, unter der er die Streitkräfte des Lichts gegen den Schatten führte. Das Banner von Lews Therin Telamon. Das Banner des Drachens.« Loial ließ beinahe sein Ende fallen.

»Verseng mich!« entfuhr es Mat kleinlaut.

»Wir werden diese Dinge mitnehmen, wenn wir aufbrechen«, sagte Moiraine. »Sie liegen hier nicht aus Zufall herum, und ich muß mehr darüber in Erfahrung bringen.« Ihre Finger streichelten über die Tasche, in der sich die Bruchstücke des zersprungenen Siegels befanden. »Es ist schon zu spät, um heute noch aufzubrechen. Wir werden uns ausruhen und essen, morgen aber dann früh losreiten. Um uns herum befindet sich immer noch nur die Fäule, und hier ist sie stärker als an der Grenze. Ohne den Grünen Mann wird dieser Ort nicht mehr lange Bestand haben. Legt mich wieder hin«, sagte sie zu Nynaeve und Egwene. »Ich muß ruhen.«

Rand wurde auf etwas aufmerksam, das er schon die ganze Zeit gesehen, aber nicht bemerkt hatte: Abgestorbene braune Blätter fielen von der großen Eiche. Eine dicke Schicht abgestorbener Blätter am Boden raschelte im Wind — braun, vermischt mit den Blütenblättern Tausender Blumen. Der Grüne Mann hatte die Fäule zurückgehalten, aber nun tötete sie bereits das, was er geschaffen hatte.

»Es ist vollbracht, nicht wahr?« fragte er Moiraine. »Es ist beendet.«

Die Aes Sedai drehte den Kopf auf dem Polster aus Umhängen. Ihre Augen schienen so tief wie das Auge der Welt. »Wir haben getan, weswegen wir hier waren. Von hier an kannst du dein Leben leben, wie das Muster es bestimmt. Also iß und schlafe, Rand al'Thor. Schlafe und träume von zu Hause.«

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