11 Die Straße nach Taren-Fähre

Auf der ausgetretenen Lehmdecke der Nordstraße gaben sie den Pferden die Zügel frei. Mähnen und Schweife flatterten im Mondlicht, als sie nach Norden galoppierten. Die Hufe trommelten einen stetigen Rhythmus. Lan führte sie an. Der Rappe mit dem in Schatten gehüllten Reiter war in der kalten Nacht fast nicht zu sehen. Moiraines weiße Stute hielt mit. Wie ein blasser Pfeil huschte sie durch die Dunkelheit. Die anderen folgten in einer Linie, als hätte man sie alle an einem Seil befestigt, dessen Ende in den Händen des Behüters lag. Rand ritt als letzter in dieser Reihe. Thom Merrilin war vor ihm, und die Gefährten davor konnte er schon nicht mehr so klar erkennen. Der Gaukler drehte sich nicht um. Er sah nur nach vorn in die Richtung, in die sie flohen, und nicht nach hinten, um zu sehen, wovor sie flohen. Falls hinter ihnen Trollocs, der Blasse auf seinem lautlosen Pferd oder dieses fliegende Geschöpf, der Draghkar, auftauchten, wäre es Rands Aufgabe, die anderen zu alarmieren.

Alle paar Minuten verdrehte er sich den Hals, um nach hinten zu spähen, während er sich an den Zügeln und Wolkes Mähne festhielt. Der Draghkar... Schlimmer als Trollocs und Blasse, hatte Thom gesagt. Aber der Himmel blieb leer, und am Boden entdeckte sein Blick nur Dunkelheit und Schatten. Schatten, in denen sich eine ganze Armee verbergen konnte.

Jetzt, da der Graue endlich rennen durfte, huschte er wie ein Geist durch die Nacht und hielt leicht mit Lans Hengst mit. Und Wolke wollte noch schneller galoppieren. Er wollte den Schwarzen erreichen und strengte sich mächtig an. Rand mußte die Zügel straff halten, um ihn zu bremsen. Wolke stemmte sich gegen seine Hand, als hielte er dies für ein Rennen. Mit jedem Schritt kämpfte er gegen ihn an. Rand klammerte sich mit verkrampften Muskeln an Sattel und Zügel. Er hoffte inständig, daß sein Reittier nicht merkte, wie unsicher er da oben saß. Falls Wolke das erkannte, hatte Rand jeden Einfluß verloren, und sei er noch so gering.

Er beugte sich tief über Wolkes Hals und warf immer wieder ein wachsames Auge auf Bela und ihre Reiterin. Als er behauptet hatte, die zottige Stute könne mit den anderen mithalten, hatte er nicht vom vollen Galopp gesprochen. Sie hielt sich im Augenblick noch in der Gruppe, weil sie schneller galoppierte, als er gedacht hatte. Lan hatte nicht gewollt, daß Egwene mitkam. Würde er das Tempo drosseln, wenn Bela zurückblieb? Oder würde er versuchen, sie auf diese Art zurückzulassen? Die Aes Sedai und der Behüter hielten Rand und seine Freunde irgendwie für wichtig, doch trotz Moiraines Erwähnung des Großen Musters glaubte er nicht, daß diese Wichtigkeit auch Egwene betraf.

Wenn Bela zurückblieb, würde er auch zurückbleiben, gleichgültig, was Moiraine und Lan dazu sagten. Zurück dorthin, wo der Blasse und die Trollocs waren. Zurück zu dem Draghkar. Voller Verzweiflung im Herzen rief er lautlos Bela zu, sie solle rennen wie der Wind. Ohne Worte versuchte er, Kraft auf sie zu übertragen. Renn! Seine Haut prickelte, und seine Knochen schienen zu Eis zu erstarren und beinahe zu zersplittern. Licht, hilf! Renn! Und Bela rannte.

Weiter und weiter stürmten sie nach Norden in die Nacht hinein. Die Zeit verschwamm zu einem undeutlichen Flirren. Von Zeit zu Zeit kamen die Lichter von Bauernhäusern in Sicht, und dann verschwanden sie wieder im Nu. Das scharfe Bellen von Wachhunden verklang rasch hinter ihnen oder brach mit einem Schlag ab, wenn die Hunde zu dem Schluß kamen, daß man sie in die Flucht geschlagen hatte. Sie flogen durch eine Dunkelheit, die nur vom wäßrigblassen Mondlicht erhellt wurde, eine Dunkelheit, in der Bäume plötzlich am Straßenrand aufragten und schon wieder unsichtbar zurückblieben. Ansonsten war alles düster in ihrer Umgebung, und nur der Schrei eines Nachtvogels, einsam und traurig, mischte sich in das stetige Trommeln der Hufe.

Plötzlich wurde Lan langsamer und ließ die Pferde anhalten. Rand war sich nicht sicher, wie lange sie geritten waren, aber seine Beine schmerzten bereits, weil er sich so verkrampft festgehalten hatte. Vor ihnen glitzerten Lichter in der Nacht, als hätte sich ein großer Schwarm Glühwürmchen zwischen den Bäumen niedergelassen. Rand betrachtete verblüfft die Lichter und keuchte plötzlich vor Überraschung. Die Glühwürmchen waren Fenster, Fenster von Häusern, die an den Hängen und der Höhe eines Hügels standen. Das war Wachhügel. Er konnte kaum glauben, daß sie bereits so weit gekommen waren. Sie hatten die Entfernung vielleicht schneller zurückgelegt als jemals ein Reiter zuvor. Lans Beispiel folgend, stiegen Rand und Thom Merrilin ab. Wolke stand mit gesenktem Kopf und bebenden Flanken da. Schaum, der sich kaum von dem nebelgrauen Körper des Pferds abhob, lag auf Hals und Schultern des Grauen. Rand dachte, Wolke werde diese Nacht wohl kaum noch einen Reiter weitertragen können. »So gern ich diese Dörfer hinter mich brächte«, kündigte Thom an, »wären ein paar Stunden Schlaf nicht übel. Sicher haben wir genügend Vorsprung, um uns das leisten zu können.«

Rand streckte sich und rieb sich den Nacken. »Wenn wir den Rest der Nacht hier Rast machen, können wir genausogut hinaufreiten.«

Ein einzelner Windstoß trug Bruchstücke von Gesang aus dem Dorf und den Geruch von Essen herüber. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. In Wachhügel feierten sie immer noch. Ihr Bel Tine war nicht von Trollocs gestört worden. Er sah sich nach Egwene um. Sie lehnte sich, vor Erschöpfung zusammengefallen, gegen Bela. Die anderen stiegen auch ab. Mancher Seufzer wurde hörbar, und man streckte die schmerzenden Glieder. Nur der Behüter und die Aes Sedai zeigten kein Anzeichen von Erschöpfung.

»Mir stünde auch der Sinn nach Singen«, warf Mat müde ein. »Und vielleicht ein heißes Hammelragout im ›Weißen Keiler‹.« Er holte Luft und fügte hinzu: »Ich bin niemals weiter als nach Wachhügel gewesen. Der ›Weiße Keiler‹ ist nicht annähernd so gut wie die Weinquellenschenke.«

»Der ›Weiße Keiler‹ ist nicht so schlecht«, sagte Perrin. »Für mich bitte auch ein Hammelragout. Und viel heißen Tee, um die Kälte aus den Knochen zu vertreiben.«

»Wir können nicht rasten, bevor wir über den Taren sind«, fuhr Lan in scharfem Ton dazwischen. »Nicht mehr als ein paar Minuten.«

»Aber die Pferde!« protestierte Rand. »Wir schinden sie zu Tode, wenn wir versuchen, heute nacht noch weiterzureiten. Moiraine Sedai, Ihr... «

Er hatte am Rande bemerkt, daß sie zwischen den Pferden umherging, hatte aber nicht weiter darauf geachtet, was sie tat. Jetzt streifte sie an ihm vorbei und legte die Hände auf Wolkes Hals. Rand schwieg. Plötzlich warf das Pferd den Kopf mit leisem Wiehern hoch und zog Rand beinahe die Zügel aus der Hand. Der Graue tänzelte einen Schritt zur Seite und schien so ausgeruht, als habe er eine Woche im Stall verbracht. Wortlos ging Moiraine weiter zu Bela.

»Ich wußte nicht, daß sie das kann«, sagte Rand leise zu Lan. Rands Wangen waren gerötet. »Von allen Leuten solltest gerade du das eigentlich geahnt haben«, antwortete der Behüter. »Du hast beobachtet, was sie mit deinem Vater getan hat. Sie wäscht die ganze Erschöpfung aus ihnen heraus. Zuerst sind die Pferde dran und dann ihr alle.«

»Nur wir? Ihr nicht?«

»Ich nicht, Schäfer. Ich brauche das nicht, noch nicht jedenfalls. Und sie auch nicht. Was sie für andere tun kann, kann sie für sich nicht selbst tun. Sie allein muß müde weiterreiten. Hoffentlich ist sie nicht zu erschöpft, bis wir Tar Valon erreichen.«

»Zu erschöpft — wofür?« fragte Rand den Behüter.

»Du hattest recht mit Bela, Rand«, sagte Moiraine, die neben der Stute stand. »Sie hat ein gutes Herz und genausoviel Sturheit und Durchhaltevermögen wie ihr Zwei-Flüsse-Leute. So seltsam es klingen mag, aber sie ist von allen am wenigsten erschöpft.«

Ein Schrei zerriß die Dunkelheit. Es klang, als würde ein Mensch mit scharfen Messern zerschnitten. Schwingen fegten in niedriger Höhe über die Gruppe hinweg. Der über sie hinweggleitende Schatten machte die Nacht noch dunkler. Unter angsterfülltem Schreien bäumten sich die Pferde wild auf.

Der Luftzug von den Schwingen des Draghkars traf Rand und löste in ihm das Gefühl aus, mit Schleim beschmiert zu werden. Er bewegte sich durch die feuchte Düsternis eines Alptraums, hatte aber keine Zeit, Angst zu spüren, denn Wolke schrie laut auf und wand sich verzweifelt, als versuche er, etwas abzuschütteln, was an ihm festhing. Rand, der die Zügel nicht losließ, wurde von den Füßen gerissen und über den Boden geschleift. Wolke schrie, als fühle er große graue Wölfe, die sich in seine Fesseln verbissen.

Irgendwie behielt Rand die Zügel in der Hand. Er benutzte die freie Hand zusammen mit den Beinen, um wieder auf die Füße zu kommen. Seine taumelnden Schritte wurden zu kurzen Sprüngen, damit er nicht wieder zu Boden gerissen wurde. Er atmete stoßartig und voller Verzweiflung. Er konnte Wolke nicht fortrennen lassen. Mit seiner freien Hand griff er zitternd zu und erwischte gerade noch den Zügel. Wolke bäumte sich auf und hob ihn mit sich hoch. Rand klammerte sich hilflos fest. Er hoffte gegen besseres Wissen, daß sich das Pferd beruhigen werde.

Rand schlug mit einem solchen Ruck auf dem Boden auf, daß es ihn bis zu den Zähnen durchschüttelte; doch plötzlich stand der Graue still, mit geblähten Nüstern und rollenden Augen, steifbeinig und zitternd. Rand zitterte auch und hing beinahe nur noch an dem Zügel. Der Ruck muß das närrische Tier auch erschüttert haben, dachte er. Er atmete ein paarmal unregelmäßig aus und ein. Dann war er in der Lage, sich nach den anderen umzusehen.

In der Gruppe war das blanke Chaos ausgebrochen. Sie klammerten sich an die Zügel, die von ruckartigen Bewegungen der Pferdeköpfe hin und her gerissen wurden, und versuchten mit wenig Erfolg, die sich aufbäumenden Pferde zu beruhigen, von denen sie in diesem Durcheinander herumgezerrt wurden. Nur zwei von ihnen hatten offensichtlich keine Schwierigkeiten mit ihren Reittieren. Moiraine saß aufgerichtet im Sattel. Die weiße Stute trat einen Schritt zurück, um dem Durcheinander zu entgehen, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen. Lan stand am Boden und beobachtete den Himmel. In der einen Hand hielt er sein Schwert, in der anderen die Zügel. Der schlanke schwarze Hengst stand ruhig neben ihm.

Aus Wachhügel hörte man keinen Laut mehr. Die Dorfbewohner mußten den Schrei auch gehört haben. Rand wußte, sie würden eine Weile lauschen und vielleicht Ausschau halten, was ihn verursacht hatte, sich dann aber wieder ihrer Feier zuwenden. Bald würden sie den Vorfall vergessen. Die Erinnerung würde in Liedern, Essen, Tanz und Unterhaltung untergehen. Vielleicht würden sich einige wieder daran erinnern, wenn sie davon hörten, was in Emondsfeld geschehen war. Eine Fiedel begann mit ihrem Spiel, und einen Augenblick später fiel eine Flöte mit ein. Das Dorf setzte die Feier fort.

»Sitzt auf!« kommandierte Lan knapp. Er schob sein Schwert in die Scheide und sprang mit einem Satz auf den Hengst. »Der Draghkar hätte sich nicht gezeigt, wenn er nicht zuvor dem Myrddraal berichtet hätte, wo wir uns befinden.« Ein weiterer schriller Schrei drang zu ihnen herunter, schwächer, doch genauso furchteinflößend. Die Musik in Wachhügel verstummte mit einem Mißton. »Er folgt uns nun in der Luft und zeigt dem Halbmenschen, wo wir sind. Er wird nicht weit weg sein.«

Die Pferde, die nun ausgeruht, aber verängstigt waren, tänzelten und scheuten vor denen Reitern, die sie zu besteigen versuchten. Der fluchende Thom Merrilin war der erste im Sattel, aber dann saßen auch die anderen bald auf. Alle bis auf einen.

»Mach schnell, Rand!« rief Egwene. Der Draghkar schrie erneut schrill auf, und Bela wollte weggaloppieren, bevor sie sie mit straffem Zügel unter Kontrolle bekam. »Beeil dich!«

Aufgeschreckt merkte Rand, daß er, anstatt auf Wolke aufzusitzen, die ganze Zeit dagestanden und in den Himmel gestarrt hatte in einem vergeblichen Versuch, die Quelle dieser bösartigen Schreie auszumachen. Und noch mehr: Unbewußt hatte er Tams Schwert gezogen, als wolle er mit der fliegenden Kreatur kämpfen.

Sein Gesicht rötete sich. Er war froh, daß die Nacht es verbarg. Ungeschickt — eine Hand war ja mit dem Zügel beschäftigt — steckte er die Klinge in die Scheide zurück, während er sich hastig nach den anderen umsah. Moiraine, Lan und Egwene sahen ihn an, aber er war nicht sicher, was sie im Mondlicht erkennen konnten. Die anderen schienen zu sehr damit beschäftigt, ihre Pferde unter Kontrolle zu halten, um groß auf ihn zuachten. Er faßte das Sattelhorn mit einer Hand und sprang mit einem Satz in den Sattel, als habe er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan. Falls einer seiner Freunde das mit dem Schwert bemerkt hatte, würde er sicherlich später noch etwas zu hören bekommen. Zeit genug, um sich dann Gedanken darüber zu machen.

Sobald er im Sattel saß, ging es im Galopp weiter die Straße hinauf und an dem kuppelförmigen Hügel vorbei. Hunde bellten im Dorf — ihr Vorbeireiten war nicht ganz unbemerkt geblieben. Vielleicht haben die Hunde auch Trollocs gerochen, dachte Rand. Sowohl das Bellen als auch die Lichter des Dorfes verschwanden schnell hinter ihnen.

Sie ritten in einer losen Gruppe. Die Pferde berührten sich beinahe. Lan befahl ihnen zwar, wieder in einer Reihe zu reiten, doch keiner wollte in der Nacht allein sein. Von hoch droben ertönte ein Schrei. Der Behüter gab auf und ließ sie nebeneinander weiterreiten.

Rand ritt dicht hinter Moiraine und Lan. Der Graue strengte sich an, sich zwischen den Schwarzen Lans und die schlanke Stute der Aes Sedai zu drängen. Egwene und der Gaukler galoppierten jeder an einer Seite Rands, während seine Freunde von hinten nachdrängten. Wolke, der von den Schreien des Draghkars zu schnellerem Lauf angespornt wurde, rannte so, daß Rand nicht in der Lage war, ihn zurückzuhalten, selbst wenn er gewollt hätte. Und doch konnte der Graue keinen einzigen Schritt den beiden anderen Pferden gegenüber aufholen.

Der Schrei des Draghkars forderte die Nacht heraus.

Die kräftige Bela rannte mit gestrecktem Hals. Schweif und Mähne flatterten im Wind. So hielt sie sich Schritt für Schritt neben den größeren Pferden. Die Aes Sedai muß mehr getan haben, als sie nur von ihrer Müdigkeit zu befreien.

Egwenes Gesicht zeigte im Mondlicht eine erregtglückliche Miene. Ihr Zopf flog hinter ihr her wie die Mähne der Pferde, und das Glitzern in ihren Augen rührte nicht nur vom Mond her, da war sich Rand sicher. Sein Mund stand vor Überraschung offen, bis ein verschlucktes Insekt einen Hustenanfall auslöste.

Lan mußte etwas gefragt haben, denn Moiraine überschrie plötzlich den Wind und das Donnern der Hufe: »Ich kann nicht! Vor allem nicht vom Rücken eines galoppierenden Pferdes aus. Man kann sie nicht so leicht töten, selbst wenn man sie sieht. Wir müssen fliehen und hoffen!«

Sie stürmten durch eine Nebelschwade. Sie war dünn und reichte den Pferden nur bis an die Knie. Wolke war in zwei Sätzen hindurch, und Rand blinzelte überrascht. Hatte er sich den Nebel nur eingebildet? Sicher war diese Nacht viel zu kalt für Nebel. Ein weiterer Fleck zerfledderten Graus flog an seiner Seite vorbei, größer als der erste. Er war gewachsen, als quölle der Nebel aus dem Boden. Über ihnen schrie der Draghkar wütend auf. Nebel hüllte die Reiter für einen kurzen Moment ein und war verschwunden, kam wieder und verschwand hinter ihnen. Der eiskalte Dunst hinterließ kalte Feuchtigkeit auf Rands Gesicht und Händen. Dann ragte eine Wand aus blassem Grau vor ihnen auf, und plötzlich waren sie ganz von Nebel umgeben. Er war so dicht, daß der Hufschlag der Pferde gedämpft wurde, und die Schreie von oben schienen durch eine Wand zu dringen. Rand erkannte gerade noch die Umrisse von Egwene und Thom Merrilin an seiner Seite.

Lan ließ sie nicht langsamer reiten. »Es gibt nach wie vor nur eine Richtung, in die wir reiten können!« rief er. Seine Stimme klang hohl, und es war kaum festzustellen, aus welcher Richtung sie kam. »Der Myrddraal ist schlau«, antwortete Moiraine. »Ich werde seine eigene Schläue gegen ihn wenden.« Sie galoppierten schweigend weiter. Schiefergrauer Nebel verbarg Himmel und Erde, so daß die Reiter, die selbst nur noch wie Schatten wirkten, durch Nachtwolken zu treiben schienen. Sogar die Beine der Pferde schienen verschwunden zu sein.

Rand rutschte im Sattel hin und her. Er schreckte vor dem eisigen Nebel zurück. Zu wissen, daß Moiraine so manches vollbringen konnte, und sie dabei zu beobachten, war eine Sache. Als Folge eine nasse Haut davonzutragen, war eine ganz andere. Ihm wurde bewußt, daß er die Luft anhielt, und er kam sich wie ein Narr vor. Er konnte nicht den ganzen Weg bis nach Taren-Fähre reiten, ohne zu atmen. Sie hatte die Eine Macht bei Tam angewandt, und er schien ganz in Ordnung zu sein. Dennoch mußte er sich zwingen, auszuatmen und wieder Luft zu holen. Die Luft war schwer, unterschied sich jedoch nicht von der jeder anderen nebligen Nacht. Das sagte er sich jedenfalls, aber er war nicht so sicher, daß er auch daran glaubte.

Lan ermahnte sie jetzt dazu, nahe beieinander zu bleiben, so daß jeder jeden anderen in dieser feuchten, frostiggrauen Luft sehen konnte. Nur der Behüter verhielt seinen Hengst kein bißchen. Seite an Seite leiteten Lan und Moiraine die Gruppe durch den Nebel, als vermochten sie klar zu sehen, was vor ihnen lag. Die anderen konnten ihnen nur vertrauen und folgen. Und hoffen.

Die schrillen Schreie, die sie verfolgt hatten, verklangen und waren schließlich verschwunden, doch das beruhigte sie nicht sonderlich. Wald und Bauernhäuser, Mond und Straße waren verschleiert und verborgen. Immer noch bellten Hunde, hohl und fern in dem grauen Dunst, wenn sie an Bauernhöfen vorbeikamen, aber sonst war außer dem Dröhnen der Pferdehufe kein Laut zu hören. Nichts veränderte sich in diesem formlosen, aschfahlen Nebel. Nichts wies darauf hin, daß Zeit vergangen war — höchstens die wachsenden Schmerzen in der Hüfte und im Rücken.

Rand war sicher, daß Stunden vergangen waren. Seine Hände hielten die Zügel umkrampft, bis er sie kaum noch lösen konnte, und er fragte sich, ob er je wieder normal würde laufen können. Er sah sich nur einmal um. Im Nebel hinter ihm bewegten sich Schatten, aber er konnte sie nicht einmal mehr zählen. Oder sicher sein, daß es wirklich seine Freunde waren. Kälte und Feuchtigkeit drangen durch Umhang, Mantel, Hemd und schienen sogar in die Knochen zu sickern. Nur die Zugluft im Gesicht und die Bewegung des Pferdekörpers unter ihm zeigten ihm, daß er sich überhaupt vorwärtsbewegte. Es mußten Stunden vergangen sein.

»Langsam!« rief Lan plötzlich. »Haltet an!«

Rand war so überrascht, daß Wolke sich zwischen Lan und Moiraine drängte und ihnen im Nu ein halbes Dutzend Schritte voraus war, bevor er den großen Grauen anhalten und sich umsehen konnte.

Von allen Seiten ragten Häuser im Nebel auf, Häuser, die Rand seltsam hoch vorkamen. Er hatte diesen Ort noch nie zuvor gesehen, aber er hatte öfter Beschreibungen darüber gehört. Die Höhe rührte von den hohen Sandsteinfundamenten her, die notwendig waren, wenn der Taren während der Frühlingsschmelze in den Verschleierten Bergen Hochwasser führte. Sie hatten Taren-Fähre erreicht.

Lan ließ das große Kampfroß an ihm vorbeischreiten. »Sei nicht übereifrig, Schäfer!«

Verlegen ließ sich Rand zurückfallen, ohne den Grund zu erklären, als die Gruppe weiter ins Dorf hinein ritt. Sein Gesicht fühlte sich heiß an, und in diesem Augenblick war ihm der Nebel willkommen. Ein einsamer Hund, den sie im kalten Nebel nicht sehen konnten, bellte sie wütend an und rannte weg. Hier und dort erschien Licht in einem Fenster, wenn sich ein Frühaufsteher regte. Abgesehen von dem Hund und dem gedämpften Klappern der Hufe störte kein Laut die Ruhe in dieser letzten Nachtstunde.

Rand hatte noch nicht viele Leute aus Taren-Fähre kennengelernt. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was er von ihnen wußte. Sie kamen selten hinunter in die — wie sie sagten — ›unteren Dörfer‹, und wenn, dann trugen sie die Nasen hoch, als röchen sie etwas Schlechtes. Die wenigen, die er bisher getroffen hatte, trugen eigenartige Namen wie Hügelspitze und Steinboot. Insgesamt standen die Bewohner von Taren-Fähre in dem Ruf, schlau und hinterhältig zu sein. Wenn man einem Mann aus TarenFähre die Hand gab, so sagte man, solle man hinterher die Finger zählen. Lan und Moiraine hielten vor einem großen dunklen Haus an. Nebel wirbelte wie Rauch um den Behüter auf, als er aus dem Sattel sprang und die Treppen zur Vordertür hinaufging. Sie lag in Kopfhöhe über ihnen. Oben angelangt, hämmerte Lan mit der Faust gegen die Tür.

»Ich dachte, wir sollten leise sein«, murmelte Mat.

Lan hielt mit dem Klopfen inne. Ein Licht erschien im Fenster des Nachbarhauses, und jemand schrie ärgerlich, aber der Behüter fuhr mit seiner Trommelei fort.

Plötzlich wurde die Tür von einem Mann im Nachthemd aufgerissen, das ihm um die nackten Beine flatterte. Eine Öllampe in einer Hand beleuchtete ein schmales Gesicht mit ausgeprägten Zügen. Der Mann öffnete zornig den Mund und erstarrte, als er den Nebel bemerkte. Seine Augen weiteten sich. »Was ist los?« fragte er. »Was soll das?« Kalte graue Nebelfühler glitten durch die geöffnete Tür, und er trat hastig einen Schritt zurück.

»Meister Hochturm«, sagte Lan. »Genau der Mann, den ich brauche. Wir wollen auf Eurer Fähre übersetzen.«

Der Mann mit den scharfen Gesichtszügen hob die Lampe höher und blickte mißtrauisch auf die Fremdlinge herab.

Nach einer Minute sagte Meister Hochturm schließlich mürrisch: »Die Fähre setzt nur im Tageslicht über. Nicht in der Nacht. Niemals. Und auch nicht bei diesem Nebel.

Kommt zurück, wenn die Sonne aufgegangen und der Nebel verschwunden ist.«

Er wollte sich schon abwenden, da packte Lan ihn am Handgelenk. Der Fährmann öffnete wütend den Mund. Gold glitzerte im Schein der Lampe, als der Behüter ihm einige Münzen in die Hand legte. Hochturm leckte sich die Lippen, als die Münzen klimperten, und sein Kopf bewegte sich auf die Hand zu, als könne er nicht glauben, was er da sah.

»Und noch einmal soviel«, sagte Lan, »wenn wir sicher auf der anderen Seite sind. Aber wir brechen sofort auf.«

»Jetzt gleich?« Der Fährmann kaute auf der Unterlippe, trat von einem Fuß auf den anderen und spähte in die nebelerfüllte Nacht hinaus. Dann nickte er plötzlich. »Also dann! Aber laßt mein Handgelenk los! Ich muß meine Helfer aufwecken. Oder glaubt Ihr, ich ziehe die Fähre selbst hinüber?«

»Ich werde an der Fähre warten«, sagte Lan ohne jede Gefühlsregung. »Aber nicht lange.« Er gab den Arm des Fährmanns frei.

Meister Hochturm drückte eine Handvoll Münzen an seine Brust und schob eilig mit der Hüfte die Tür zu, nachdem er bestätigend genickt hatte.

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