35 Caemlyn

Rand wand sich hoch und kniete hinter dem Fahrersitz. Er konnte sich nicht helfen: Er lachte vor Erleichterung. »Wir haben es geschafft, Mat! Ich habe dir doch gesagt, wir...«

Die Worte erstarben ihm im Mund, als sein Blick auf Caemlyn fiel. Nach Baerlon und noch mehr nach den Ruinen von Shadar Logoth hatte er zu wissen geglaubt, wie eine große Stadt aussah, aber das... das war mehr, als er sich je vorgestellt hatte.

Außerhalb der großen Mauer ballten sich die Gebäude, als habe man jede Stadt, durch die sie gekommen waren, aufgesammelt und hier nebeneinander aufgestellt und sie dazu noch eng zusammengedrückt. Die oberen Stockwerke von Schenken ragten über den Ziegeldächern von Wohnhäusern auf, und alle wurden eingezwängt von niedrigen, breiten, fensterlosen Lagerhäusern. Rote Backsteine und grauer Schiefer und weiße Gipswände, alles bunt durcheinander, und das zog sich hin, soweit das Auge sehen konnte. Baerlon hätte darin verschwinden können, ohne überhaupt bemerkt zu werden, und es hätte Weißbrücke wohl zwanzigmal schlucken können und keine Schluckbeschwerden bekommen.

Und dann die Mauer selbst. Blaßgrauer Stein, mit Silber und Weiß durchsetzt, fünfzig Fuß hoch und ganz senkrecht, erstreckte sich in einem großen Kreisbogen nach Norden und Süden. Er fragte sich, wie lang diese Mauer wohl sei. In geringen Abständen erhoben sich Türme darüber. Sie waren rund und ragten weit über die Höhe der Mauer selbst hinaus. Auf jedem flatterten rotweiße Banner im Wind. Innerhalb der Mauer konnte man ebenfalls Türme aufragen sehen, schmale Türme, die noch höher waren als die auf der Mauer. Kuppeln schimmerten weiß und golden im Sonnenschein. Tausend Geschichten hatten in seiner Vorstellung Städte entstehen lassen, die großen Städte der Könige und Königinnen, der Throne und Mächte und Legenden, und Caemlyn paßte zu diesen tief in seinem Geist verankerten Bildern wie Wasser in einen Krug.

Der Karren rumpelte die breite Straße zur Stadt entlang. Dort erwartete sie ein großes, von Türmen eingerahmtes Tor. Der Wagenzug eines Kaufmanns rollte gerade aus diesem Tor heraus. Er kam aus einem gemauerten Torbogen, der auch einem Riesen oder vielleicht sogar zehn Riesen nebeneinander Platz geboten hätte. Auf beiden Seiten der Straße erstreckten sich offene Märkte. Dachplatten glänzten rot und purpurn, und zwischen den Häusern standen Marktbuden und Gehege für die feilgebotenen Tiere. Kälber muhten schüchtern, Rinder brüllten, Gänse kreischten, Hühner gackerten, Ziegen meckerten, Schafe blökten, und die Menschen feilschten in voller Lautstärke. Durch Lärmwände eingeengt, fuhren sie zum Stadttor von Caemlyn. »Was habe ich euch gesagt?« Bunt mußte beinahe schreien, damit sie ihn überhaupt verstehen konnten. »Die großartigste Stadt der Welt. Von Ogiern erbaut, wißt ihr? Zumindest die Innenstadt und der Palast. So alt ist Caemlyn schon, jawohl. Caemlyn, wo die gute Königin Morgase, das Licht leuchte ihr, die Gesetze erläßt und den Frieden in Andor erhält. Die tollste Stadt der Erde.«

Rand war bereit, ihm zuzustimmen. Sein Mund stand offen, und er wollte die Hände auf die Ohren legen, um den Lärm zu dämpfen. Es liefen so viele Leute auf der Straße herum, wie man in Emondsfeld zur Zeit des Bel Tine auf dem Grün sehen konnte. Er erinnerte sich daran, wie er gedacht hatte, in Baerlon hielten sich unglaublich viele Menschen auf, und bei dem Gedanken mußte er beinahe lachen. Er sah Mat an und grinste. Mat hatte die Hände tatsächlich auf den Ohren und die Schultern so weit hochgezogen, als wolle er die auch noch über die Ohren stülpen.

»Wie können wir uns dort verstecken?« wollte er überlaut wissen, als er bemerkte, daß Rand ihn ansah. »Woher wissen wir, wem wir unter so vielen trauen können? So verdammt viele! Licht, was für ein Lärm!«

Rand sah Bunt an, bevor er antwortete. Der Bauer war ganz in den Anblick der Stadt versunken, und bei dem Lärm hatte er Mats Worte vielleicht gar nicht gehört. Trotzdem brachte Rand seinen Mund ganz nah an Mats Ohr. »Wie können sie uns unter so vielen Menschen finden? Merkst du nichts, du wollköpfiger Idiot? Wir sind in Sicherheit, falls du jemals lernst, deinen vorlauten Mund zu halten!« Er wies mit der Hand auf alles — die Märkte, die Stadtmauer vor ihnen. »Sieh dir das an, Mat. Hier kann alles passieren. Alles! Vielleicht warten sogar Moiraine und Egwene und die anderen dort auf uns.«

»Falls sie noch leben. Wenn du mich fragst, dann sind sie genauso tot wie der Gaukler.«

Das Grinsen verschwand von Rands Gesicht, und er wandte sich dem immer näher kommenden Tor zu. Alles konnte in einer Stadt wie Caemlyn geschehen. Er klammerte sich stur an diesen Gedanken.

Das Pferd konnte nicht schneller traben, so sehr auch Bunt die Zügel auf seinen Hals klatschen ließ. Je näher sie dem Tor kamen, desto dichter wurde die Menschenmenge. Schulter an Schulter schoben sie sich dahin, drängten sich an die Karren und Wagen, die hineinfahren wollten. Rand war froh, als er bemerkte, daß recht viele davon staubbedeckte junge Männer zu Fuß waren, die kaum Gepäck dabei hatten. Wie alt sie auch immer sein mochten, so sahen doch viele in der Menge, die sich auf das Tor zuschob, nach einer anstrengenden Reise aus. Die Karren waren klapprig, die Pferde müde, die Kleider zerknittert von vielen Nächten im Freien, die Schritte schleppend und die Augen matt. Doch ob erschöpft oder nicht, aller Blicke waren auf das Tor gerichtet, als könnten sie drinnen alle Erschöpfung abstreifen.

Ein halbes Dutzend Gardesoldaten standen am Tor. Ihre sauberen rotweißen Waffenröcke und der polierte Glanz ihrer Brustpanzer bildeten einen scharfen Kontrast zur Kleidung der meisten Leute, die unter dem Steinbogen durchströmten. Steif aufgerichtet, die Köpfe stolz erhoben, so betrachteten sie die Ankömmlinge mit verächtlichem Mißtrauen. Es war klar, daß sie am liebsten die meisten dieser Menschen abgewiesen hätten. Aber abgesehen davon, daß sie dem stadtauswärts fließenden Verkehr eine Fahrbahn freihielten und mit denen schimpften, die zu sehr drängelten, behinderten sie niemanden.

»Haltet eure Plätze ein. Nicht drängen. Nicht drängen, Licht noch mal! Es ist genug Platz da für alle, das Licht helfe uns! Haltet eure Plätze ein.«

Bunts Karren rollte mit der langsamen Flut der Menge nach Caemlyn hinein.

Die Stadt erhob sich auf niedrigen Hügeln und stieg stufenartig zur Mitte hin an. Dieses Stadtzentrum wurde von einer weiteren Mauer umschlossen, die blendend weiß leuchtete und sich über die Hügel zog. Innerhalb dieser Mauer befanden sich sogar noch mehr Türme und Kuppeln; weiß und golden und purpurn. Von ihrer erhöhten Position auf den Hügeln aus blickten sie auf den Rest von Caemlyn herab. Rand nahm an, das sei die Innenstadt, von der Bunt gesprochen hatte.

Die Straße nach Caemlyn änderte ihren Charakter, sobald sie innerhalb der Stadt verlief. Sie wurde zu einer breiten Prachtstraße, die in der Mitte durch einen mit Gras und Bäumen bepflanzten Grünstreifen unterbrochen war. Das Gras war braun und die Bäume kahl, aber die Menschen hasteten vorbei, als sähen sie nichts Ungewöhnliches. Sie lachten, unterhielten sich, stritten sich, verhielten sich also ganz normal. Gerade so, als hätten sie keine Ahnung, daß es dieses Jahr keinen Frühling gegeben hatte und vielleicht auch keiner mehr käme. Sie erkannten das nicht, das wurde Rand schnell klar. Sie konnten oder wollten es nicht erkennen. Ihre Blicke wandten sich ab von den kahlen Ästen, und sie gingen über das abgestorbene und absterbende Gras hinweg, ohne auch nur einmal hinabzublicken. Was sie nicht sahen, das konnten sie ignorieren; was sie nicht sahen, gab es eben in Wirklichkeit nicht.

Da er die Stadt und ihre Menschen so bestaunte, wurde Rand völlig davon überrascht, daß der Karren in eine Seitenstraße abbog, die wohl schmaler war als die Prachtstraße dort draußen, aber immer noch doppelt so breit wie jede Straße in Emondsfeld. Bunt ließ das Pferd anhalten und drehte sich um. Er sah die beiden Jungen zögernd an. Der Verkehr war hier weniger dicht, und die Menge teilte sich und umging den Karren, ohne abzureißen.

»Was verbirgst du unter deinem Umhang? Ist es wirklich das, was Holdwin behauptet hat?«

Rand war gerade dabei, sich die Satteltaschen auf die Schulter zu laden. »Was meint Ihr damit?« Auch seine Stimme klang fest. Sein Magen verknotete sich, und er stieß sauer auf, doch die Stimme klang fest und sicher.

Mat unterdrückte mit einer Hand ein Gähnen, doch die andere schob er unter seinen Mantel — Rand wußte, daß er den Dolch aus Shadar Logoth ergriff -, und in seinen Augen unter dem um den Kopf gebundenen Schal stand ein harter, gehetzter Blick. Bunt vermied es, Mat anzusehen, als wisse er, daß sich in der verborgenen Hand eine Waffe befinde. »Ach, nichts, schätze ich. Aber seht mal, wenn ihr gehört habt, daß ich nach Caemlyn fahre, dann wart ihr lang genug da, um auch den Rest zu hören. Wenn ich hinter einer Belohnung hergewesen wäre, hätte ich irgendeine Ausrede gebraucht, um in die Gans und Krone zu gehen und mit Holdwin zu sprechen. Aber ich kann eben Holdwin nicht sehr gut leiden und schon gar nicht seinen Freund, überhaupt nicht. Es scheint, ihr seid ihm wichtiger als... irgendwas anderes.«

»Ich weiß nicht, was er will«, sagte Rand. »Wir haben ihn noch nie zuvor gesehen.« Das konnte sogar der Wahrheit entsprechen; er konnte einen Blassen nicht vom anderen unterscheiden.

»Na ja. Also, wie ich sagte, ich weiß von nichts, und ich denke, ich will auch gar nichts wissen. Es gibt schon genug Schwierigkeiten für uns alle, ohne daß ich noch nach weiteren suche.«

Mat suchte seine Sachen langsam zusammen, und Rand war schon unten auf der Straße, bevor er herunterkletterte. Rand wartete ungeduldig. Mat wandte sich steif vom Karren ab, preßte sich Bogen und Köcher und die Deckenrolle an die Brust und führte leise Selbstgespräche. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.

Rands Magen knurrte, und er verzog das Gesicht. Hunger und dazu ein saurer Geschmack vom Magen her ließen ihn fürchten, daß er sich übergeben müsse. Mat sah ihn nun erwartungsvoll an. Wohin nun? Was tun?

Bunt beugte sich herunter und winkte ihn näher zu sich. Er ging hin, auf nähere Auskünfte über Caemlyn hoffend.

»Ich würde es verstecken... « Der alte Bauer unterbrach sich und sah sich mißtrauisch um. Menschen schoben sich zu beiden Seiten des Karrens vorbei, aber abgesehen von ein paar Flüchen im Vorübergehen, weil sie den Weg blockierten, achtete niemand auf sie. »Trag das nicht mehr«, sagte er, »verstecke es oder verkaufe es. Gib's weg. Das rate ich dir. Sachen wie das ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, und ich glaube, gerade das willst du vermeiden.«

Plötzlich richtete er sich auf, schnalzte seinem Pferd mit der Zunge zu und fuhr langsam die belebte Straße hinunter, ohne noch ein Wort zu sagen oder sich umzublicken. Ein mit Fässern beladener Wagen rumpelte auf sie zu. Rand sprang aus dem Weg, kam ins Stolpern, und als er sich wieder umsah, waren Bunt und sein Karren außer Sicht.

»Was machen wir nun?« wollte Mat wissen. Er leckte sich über die Lippen und betrachtete mit weit aufgerissenen Augen all die Menschen, die sich vorbeidrängten, und die Gebäude, die bis zu sechs Stockwerken hoch über der Straße aufragten. »Wir sind in Caemlyn, aber was machen wir nun?« Er hatte die Hände von den Ohren genommen, aber sie zuckten, als wolle er sie gleich wieder darüberlegen. Ein Summen lag über der Stadt, das tiefe, gleichmäßige Dröhnen von Hunderten von Läden, in denen Menschen arbeiteten, und von vielen Tausenden von Gesprächen. Für Rands Ohren klang es, als befänden sie sich in einem riesigen Bienenstock, in dem es andauernd summte. »Selbst wenn sie hier sind, Rand, wie können wir sie dann in diesem Durcheinander finden?«

»Moiraine wird uns finden«, sagte Rand bedächtig. Das Ausmaß der Stadt lastete schwer auf seinen Schultern. Er wollte am liebsten fliehen, sich vor all diesen Menschen und dem Lärm verstecken. Trotz Tams Lehre konnte er das Nichts nicht heraufbeschwören; seine Augen saugten die Stadt immer wieder in die Vorstellung hinein. So konzentrierte er sich statt dessen auf seine nähere Umgebung und ignorierte alles Ferne. Wenn man nur eine einzige Straße betrachtete, schien es ihm beinahe wie Baerlon. Baerlon, der letzte Ort, an dem sie sich noch alle in Sicherheit glaubten. Niemand ist mehr in Sicherheit. Vielleicht sind sie alle tot. Was dann?

»Sie sind am Leben! Egwene lebt!« sagte er nachdrücklich. Mehrere Passanten blickten ihn mit gerunzelter Stirn an. »Vielleicht«, sagte Mat. »Vielleicht. Was wird, wenn Moiraine uns nicht findet? Wenn uns niemand findet, außer den... den... « Er schauderte und war nicht in der Lage, das Wort auszusprechen. »Darüber denken wir nach, wenn es soweit ist«, sagte Mat mit fester Stimme. »Falls es dazu kommt.« Im schlimmsten Fall würden sie Elaida aufsuchen müssen, die Aes Sedai im Palast. Aber eher würde er nach Tar Valon gehen. Er wußte nicht, ob sich Mat noch an das erinnerte, was Thom von den Roten Ajah erzählt hatte — und von den Schwarzen — aber er erinnerte sich ganz gewiß. Sein Magen hob sich dabei. »Thom sagte, wir sollten eine Schenke finden, die Der Königin Segen heißt. Dahin gehen wir zuerst.«

»Wie denn? Wir können uns mit dem, was wir haben, nicht einmal gemeinsam ein Essen bestellen.«

»Wenigstens können wir dort mit der Suche anfangen. Thom glaubte, wir könnten dort Hilfe finden.«

»Ich kann nicht... Rand, sie sind überall.« Mat senkte den Blick auf die Pflastersteine und schien zu schrumpfen, als versuche er, sich vor den Leuten zurückzuziehen, die sie umgaben. »Wo immer wir auch hingehen, sie sind dicht hinter uns oder warten schon auf uns. Sie werden auch in Der Königin Segen sein. Ich kann nicht... Ich... Nichts kann einen Blassen aufhalten.«

Rand packte Mat mit einer Faust beim Kragen. Er bemühte sich sehr, ihn nicht spüren zu lassen, daß die Faust zitterte. Er brauchte Mat. Vielleicht lebten die anderen noch — Licht, bitte! — aber jetzt gerade gab es nur Mat und ihn. Der Gedanke daran, allein weiterzumachen... Er schluckte schwer, und sein Speichel schmeckte sauer.

Er sah sich hastig um. Niemand schien Mats Bemerkung über den Blassen gehört zu haben. Die Menge drückte sich, in eigene Sorgen versunken, an ihnen vorbei. Er näherte sein Gesicht dem Mats. »Wir haben es soweit geschafft, klar?« fragte er in einem heiseren Flüsterton. »Sie haben uns noch nicht gefangen. Wir können auch den ganzen Weg schaffen, wenn wir nicht einfach aufgeben. Ich werde jedenfalls nicht aufgeben und wie ein Schaf auf der Schlachtbank warten. Ich nicht! Also? Bleiben wir hier stehen, bis wir verhungert sind? Oder bis sie kommen und deine Reste in einen Sack stecken?«

Er wandte sich von Mat ab. Die Fingernägel hatte er in die Handflächen geschlagen, doch seine Hände zitterten immer noch. Plötzlich war Mat an seiner Seite. Er ging mit gesenktem Blick nebenher, und Rand atmete langgezogen aus.

»Tut mir leid, Rand«, murmelte Mat.

»Vergiß es«, sagte Rand.

Mat blickte gerade oft genug auf, um zu vermeiden, Leute anzurempeln. Dabei sprudelte er mit lebloser Stimme heraus: »Ich kann nicht aufhören, mir vorzustellen, daß ich die Heimat niemals wiedersehen werde. Ich will nach Hause. Lach mich aus, wenn du willst; das macht mir nichts. Was würde ich nicht dafür hergeben, wenn mich jetzt meine Mutter irgendeines Streiches wegen ausschimpfen würde. Das drückt die ganze Zeit schwer auf meinen Geist — wie ein heißes Gewicht. Von lauter Fremden umgeben, nicht zu wissen, wem man trauen kann, wenn überhaupt jemandem... Licht, Zwei Flüsse ist so weit weg, daß es genausogut auf der anderen Seite der Welt liegen könnte. Wir sind allein und wir kommen niemals mehr heim. Wir werden sterben, Rand.«

»Nein, werden wir noch nicht«, schoß Rand zurück. »Jeder muß mal sterben. Das Rad dreht sich. Aber ich werde mich nicht hinlegen und darauf warten.«

»Du hörst dich an wie Meister al'Vere«, brummte Mat, doch in seine Stimme kehrte ein klein wenig Kampfgeist zurück. »Gut«, sagte Rand. »Gut.« Licht, wenn es nur den anderen gut geht. Laß uns nicht ganz allein sein.

Er fragte mehrere Passanten nach dem Weg zu Der Königin Segen. Die Reaktionen waren äußerst unterschiedlich. Am häufigsten fluchte man über Leute, die nicht blieben, wohin sie gehörten, oder man zuckte die Achseln und hatte keine Ahnung. Einige stolzierten auch einfach vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ein Mann mit breitem Gesicht, beinahe so groß wie Perrin, neigte den Kopf zur Seite und sagte: »Der Königin Segen, eh? Ihr Bauernburschen seid also Männer der Königin?« Er trug eine weiße Kokarde am breitrandigen Hut und ein weißes Armband um den Ärmel seines langen Mantels. »Also, da kommt ihr zu spät.«

Er ging weiter und lachte schallend dabei. Mat und Rand sahen sich entgeistert an. Rand zuckte die Achseln. In Caemlyn trieben sich die seltsamsten Typen herum, Leute, wie er sie nie zuvor erlebt hatte.

Einige hoben sich von der Menge ab. Ihre Hautfarbe war zu dunkel oder zu blaß, die Mäntel ungewohnt geschnitten oder in leuchtenden Farben gehalten, die Hüte liefen oben spitz zu oder waren mit langen Federn geschmückt. Es gab Frauen, die einen Schleier vor dem Gesicht trugen, Frauen in aufgebauscht steifen Kleidern, die ebenso breit waren, wie die Trägerin groß, und Frauen in Kleidern, die mehr von ihrem Körper enthüllten, als er je zuvor selbst bei freizügigen Kellnerinnen gesehen hatte. Gelegentlich zwängte sich eine in lebhaften Farben bemalte und mit Goldrändern verzierte Kutsche durch die belebten Straßen, gezogen von einem Gespann mit vier oder sechs Pferden, deren Geschirr mit Zierfedern geschmückt war. Überall waren Sänften zu sehen. Ihre Träger schoben sich einfach durch die Menge, ohne Rücksicht auf die zu nehmen, die sie beiseite drückten.

Rand beobachtete, wie aus diesem Grund eine Schlägerei begann. Ein Haufen wüst schreiender Männer schwang die Fäuste, während ein blaßhäutiger Mann im rotgestreiften Mantel aus der Sänfte kletterte, die am Straßenrand umgekippt auf der Seite lag. Zwei Männer in grober Kleidung, die scheinbar nur zufällig vorbeigekommen waren, stürzten sich auf ihn, bevor er ganz ausgestiegen war. Die Stimmung unter den vielen Zuschauern wurde langsam giftig. Die Leute schrien erregt und schwangen drohend die Fäuste. Rand zog Mat am Ärmel weiter, und sie hasteten davon. Mat benötigte keine zweite Aufforderung. Der Lärm eines kleineren Aufruhrs folgte ihnen die Straße hinunter.

Mehrmals wurden die beiden von anderen Männern angesprochen, anstatt umgekehrt. Ihre verstaubte Kleidung zeigte, daß sie Neuankömmlinge waren, und sie schienen wie Magnete auf manche Typen zu wirken. Heimlichtuerische Kerle boten Andenken an Logain zum Kauf an. Ihre Blicke huschten unruhig hin und her, und ihre Füße schienen allzeit zum Rennen bereit. Rand schätzte, daß man ihm genug Fetzen vom Umhang des falschen Drachen und Bruchstücke seines Schwertes anbot, um daraus zwei Schwerter und ein halbes Dutzend Umhänge zu machen. Mats Gesicht hellte sich voller Interesse auf, jedenfalls beim ersten Mal, aber Rand beschied alle nur mit einem kurz angebundenen Nein, und sie nahmen es mit einem Kopfnicken und einem schnellen ›Das Licht leuchte der Königin, guter Herr‹ hin und verschwanden. In den meisten Geschäften lagen Teller und Pokale aus, die mit phantasievollen Bildern geschmückt waren, auf denen man sah, wie der falsche Drache in Ketten der Königin vorgeführt wurde. Und man sah Weißmäntel auf der Straße. Jeder von ihnen schritt innerhalb eines Freiraums einher, wie es schon in Baerlon der Fall gewesen war.

Rand dachte viel darüber nach, wie sie wohl unbemerkt bleiben konnten. Er behielt den Umhang über dem Schwert, aber das würde nicht mehr lange ausreichen. Früher oder später würde sich jemand fragen, was er da verbarg. Er würde aber Bunts Ratschlag nicht befolgen -konnte ihn nicht befolgen -, das Schwert nicht mehr zu tragen. Sein Bindeglied zu Tam. Zu seinem Vater.

Viele andere in der Menge trugen Schwerter, aber keines mit einem aufsehenerregenden Reiherzeichen. Alle Männer aus Caemlyn aber und auch einige der Fremden hatten ihre Schwerter, Scheide wie Griff, mit Stoffstreifen umwickelt, mit roter und weißer Schnur umwunden oder in Weiß und Rot eingebunden. Unter diesen Umhüllungen konnte man hundert Reiherzeichen verbergen, und niemand würde sie bemerken. Außerdem wäre es günstig, einer solchen örtlichen Sitte zu folgen, um besser angepaßt zu erscheinen.

Vor einer ganzen Reihe der Läden standen Tische mit solchen Stoffbahnen und Schnüren, und Rand blieb bei einem stehen. Der rote Stoff war billiger als der weiße, obwohl er außer der Farbe keinen Unterschied entdecken konnte, also kaufte er diesen und die dazugehörige weiße Schnur. Mat beklagte sich, wie wenig Geld sie noch übrig hätten. Der Ladeninhaber blickte sie mit zusammengepreßten Lippen von oben bis unten an und verzog dann den Mund doch etwas, als er Rands Kupfermünzen annahm. Er fluchte, als ihn Rand auch noch darum bat, sein Schwert im Inneren des Ladens umwickeln zu dürfen. »Wir sind nicht gekommen, um Logain zu sehen«, sagte Rand geduldig. »Wir sind nur gekommen, um uns Caemlyn anzusehen.« Er dachte an Bunt und fügte hinzu: »Die großartigste Stadt der Welt.« Die Grimasse des Ladeninhabers veränderte sich nicht. »Das Licht leuchte der guten Königin Morgase«, sagte Rand hoffnungsvoll.

»Wenn ihr mir irgendwelche Schwierigkeiten macht«, sagte der Mann mürrisch, »dann wird meine Stimme hundert Männer herbeirufen, die euch fertigmachen, wenn es die Garde nicht schon tut.« Er unterbrach sich, um auszuspucken, und verfehlte ganz knapp Rands Fuß. »Kümmert euch um eure schmutzigen Geschäfte, und haut ab.«

Rand nickte, als habe der Mann ihnen freundlich Lebewohl gesagt, und zog Mat weg. Mat schaute sich noch weiter zum Laden hin um und grollte in sich hinein, bis ihn Rand in eine leere Einfahrt schleifte. Mit dem Rücken zur Straße, so daß kein Passant sehen konnte, was sie machten, nahm Rand den Schwertgürtel ab und machte sich daran, Scheide und Griff zu umwickeln.

»Ich wette, er hat dir den doppelten Preis für diesen dummen Stoff abverlangt«, sagte Mat. »Oder den dreifachen.«

Es war nicht so leicht, wie es ausgesehen hatte, die Stoffstreifen und die Schnur so zu befestigen, daß das Ganze nicht wieder herunterfiel.

»Sie werden alle versuchen, uns übers Ohr zu hauen, Rand. Sie glauben, wir seien wie alle anderen gekommen, um den falschen Drachen zu sehen. Wir haben Glück, wenn uns nicht irgendeiner über den Kopf haut, während wir schlafen. Das ist kein Ort für uns. Es sind zu viele Leute hier. Machen wir uns doch gleich jetzt auf den Weg nach Tar Valon. Oder nach Süden, nach Illian. Ich hätte nichts dagegen, zuzusehen, wie sie sich versammeln, um auf die Jagd nach dem Horn zu gehen. Wenn wir schon nicht heim können, dann laß uns jetzt gehen.«

»Ich bleibe«, sagte Rand. »Wenn sie nicht schon hier sind, dann kommen sie früher oder später und suchen uns.«

Er war nicht sicher, daß er das Schwert so umwickelt hatte wie die anderen, aber die Reiher auf der Scheide und dem Knauf waren verborgen, und er hielt es so für sicher genug. Als er zur Straße zurückging, hatte er keinen Zweifel daran, daß er sich um ein Problem weniger Gedanken machen mußte. Mat ging an seiner Seite so zögernd einher, als ziehe er ihn an einer Hundeleine voran.

Stück für Stück erlangte Rand die Auskünfte, die er brauchte. Zuerst waren die Angaben nur sehr vage, etwa ›ungefähr in dieser Richtung‹ und ›dort drüben irgendwo‹. Je näher sie jedoch kamen, desto eindeutiger wurden die Richtungsangaben, bis sie schließlich vor einem breiten Steingebäude standen, über dessen Eingang ein Schild im Wind knarrte. Ein Mann war darauf zu sehen, der vor einer Frau mit rotgoldenem Haar und einer Krone kniete. Eine ihrer Hände ruhte auf seinem gebeugten Haupt. Der Königin Segen.

»Bist du dir auch sicher?« fragte Mat.

»Natürlich«, sagte Rand. Er holte tief Luft und stieß die Tür auf. Der Schankraum war groß und mit dunklem Holz getäfelt. Feuer in zwei Kaminen erwärmte ihn. Eine Bedienung fegte den Boden, obwohl er sauber war, und eine andere polierte in der Ecke Kerzenhalter. Beide lächelten die zwei Neuankömmlinge an, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandten.

Nur an wenigen Tischen saßen Gäste, aber so früh am Tag war ein halbes Dutzend Männer schon eine ganze Menge, und wenn auch niemand besonders glücklich über Mats und sein Eintreten zu sein schien, so wirkten sie doch sauber und nüchtern. Der Geruch nach Rinderbraten und frisch gebackenem Brot trieb aus der Küche herein, und Rand lief das Wasser im Mund zusammen.

Der Wirt war fett, wie er mit Freude feststellte; ein Mann mit rosafarbenem Gesicht und einer gestärkten weißen Schürze. Das ergraute Haar war zurückgekämmt, um einen kahlen Fleck zu verbergen, der jedoch nicht ganz bedeckt war. Seine scharfen Augen betrachteten sie von Kopf bis Fuß, die staubigen Kleider und die Bündel und die abgetragenen Stiefel, aber er lächelte sofort und auf sehr nette Art und Weise. Er hieß Basel Gill.

»Meister Gill«, sagte Rand, »ein Freund von uns riet uns, hierher zu kommen. Thom Merrilin. Er... « Das Lächeln des Wirts verflog. Rand sah Mat an, doch der war zu sehr damit beschäftigt, die Düfte aus der Küche in sich einzusaugen, als daß er etwas anderes bemerkt hätte. »Stimmt etwas nicht? Ihr kennt ihn doch?«

»Ich kenne ihn«, sagte Gill kurz angebunden. Er schien im Moment mehr an dem Flötenbehälter an Rands Seite interessiert als an sonst etwas. »Kommt mit!« Er deutete mit einer Kopfbewegung nach hinten. Rand rüttelte Mat kurz, um ihn aus seinem Schmachten zu reißen, und folgte dem Wirt. Er fragte sich, was da los sei.

In der Küche blieb Meister Gill stehen und sprach mit der Köchin, einer rundlichen Frau, die das Haar zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden hatte und beinahe Pfund für Pfund ein Gegenstück zum Wirt darstellte. Sie rührte weiter in ihren Kochtöpfen herum, während der Wirt redete. Die Düfte waren so köstlich -zwei Tage Hunger lieferten eine gute Sauce für beinahe alles Eßbare, aber hier roch es ebenso gut wie in der Küche von Frau al'Vere -, daß Rands Magen vernehmlich knurrte. Mat beugte sich, Nase voraus, über die Töpfe. Rand stieß ihn an; Mat wischte sich schnell über das Kinn. Ihm war wirklich das Wasser aus dem Mund gelaufen.

Dann führte sie der Wirt hastig aus dem Hinterausgang. Im Stallhof blickte er sich um, ob auch wirklich niemand in der Nähe war, und dann wandte er sich Rand zu. »Was ist in dem Behälter, Junge?«

»Thoms Flöte«, sagte Rand bedächtig. Er öffnete den Kasten, als werde es helfen, die mit Gold und Silber verzierte Flöte vorzuzeigen. Mats Hand kroch unter seinen Mantel.

Meister Gill sah Rand unverwandt an. »Ja, ich erkenne sie. Ich habe ihn oft genug damit spielen sehen, und es gibt wohl kaum eine zweite von der Art außerhalb eines Königshofes.« Das freundliche Lächeln war wie weggeblasen, und sein Blick war mit einem Mal messerscharf. »Wie bist du dazu gekommen? Thom würde eher seinen Arm hergeben als diese Flöte.«

»Er hat sie mir gegeben.« Rand nahm Thoms gebündelten Umhang vom Rücken und legte ihn am Boden ab. Er entfaltete das Bündel gerade soweit, um die farbigen Flicken und das Ende des Harfenbehälters zu zeigen. »Thom ist tot, Meister Gill. Wenn er ein Freund von Euch war, dann tut es mir leid. Er war auch meiner.«

»Tot, sagst du? Wie ist das geschehen?«

»Ein... ein Mann versuchte, uns zu töten. Thom gab mir das in die Hand und befahl uns wegzurennen.« Die Flicken flatterten wie Schmetterlinge im Wind. Rands Kehle war wie zugeschnürt. Er faltete sorgfältig den Umhang zusammen. »Wir wären tot, wenn er nicht gewesen wäre. Wir wollten zusammen nach Caemlyn. Er sagte uns, wir sollten hierher, zu Eurer Schenke, kommen.«

»Ich glaube erst, daß er tot ist«, sagte der Wirt bedächtig, »wenn ich seinen Leichnam sehe.« Er stieß mit dem großen Zeh gegen das Bündel und räusperte sich laut. »Nee, nee, ich glaube schon, daß ihr beobachtet habt, was immer es zu sehen gab, aber ich glaube einfach nicht, daß er tot ist. Er ist schwerer zu töten, als ihr glaubt, der alte Thom Merrilin.«

Rand legte eine Hand auf Mats Schulter. »Es ist schon gut, Mat. Er ist ein Freund.«

Meister Gill sah Mat an und seufzte. »Ich denke, das bin ich.«

Mat richtete sich langsam auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Er beobachtete den Wirt immer noch mißtrauisch, und in seiner Wange zuckte ein Muskel.

»Er wollte nach Caemlyn, sagt ihr?« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Das ist der letzte Ort auf der Welt, von dem ich annahm, daß Thom ihn besuchen werde, außer vielleicht noch Tar Valon.« Er wartete, bis ein Stallbursche vorbeigegangen war, und senkte auch dann noch die Stimme. »Ich nehme an, ihr habt Probleme mit den Aes Sedai.«

»Ja«, antwortete Mat zur gleichen Zeit, als Rand sagte: »Wie kommt Ihr darauf?«

Meister Gill lachte trocken auf. »Ich kenne den Mann doch. Er wird sich in diese Art von Schwierigkeiten geradezu hineinstürzen, besonders um ein paar Jungen in eurem Alter zu helfen... « Der Glanz der Erinnerungen verschwand aus seinen Augen, und sein Blick wurde zurückhaltender. »Nun, äh... ich will ja keine Anschuldigungen vorbringen, wirklich, aber... äh... ich nehme an, keiner von euch kann... äh... also, was ich sagen will, ist... äh... welche Probleme habt ihr nun eigentlich mit Tar Valon, falls ihr mir die Frage verzeiht?«

Rands Haut prickelte, als ihm klar wurde, was der Mann da annahm. Die Eine Macht. »Nein, nein, nichts dergleichen! Das schwöre ich. Uns hat sogar eine Aes Sedai geholfen. Moiraine war... « Er biß sich auf die Zunge, aber der Gesichtsausdruck des Wirts änderte sich nicht.

»Ich bin froh, das zu hören. Nicht, daß ich für die Aes Sedai sehr viel übrig hätte, aber lieber sie, als... die andere Seite.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Man spricht zuviel von solchen Dingen, seit Logain hierhergebracht wurde. Ich wollte euch nicht kränken, das versteht ihr doch sicher, aber... na ja, ich mußte doch sichergehen, nicht wahr?«

»Wir nehmen Euch das nicht übel«, sagte Rand. Mats Gemurmel konnte alles bedeuten, aber der Wirt nahm es als Zustimmung zu dem, was Rand gesagt hatte.

»Ihr zwei seht schon so aus, als wärt ihr in Ordnung, und ich glaube, daß ihr Freunde von Thom wart — seid -, aber die Zeiten sind schlecht, und die Tage mühsam. Ich schätze, ihr könnt nicht zahlen? Nein, ich habe es auch nicht erwartet. Es gibt von nichts genug, und was es gibt, ist unwahrscheinlich teuer. Also gebe ich euch Betten -nicht die besten, doch warm und trocken — und etwas zu essen, aber mehr kann ich nicht versprechen, so leid mir das tut.«

»Ich danke Euch«, sagte Rand mit einem fragenden Blick zu Mat hinüber. »Das ist mehr, als ich erwartet habe.« Wen betrachtete er als ›in Ordnung‹, und warum sollte er eigentlich mehr versprechen?

»Na ja, Thom ist ein guter Freund. Ein alter Freund. Ein Hitzkopf, der manchmal die schlimmsten Sachen ausgerechnet der Person an den Kopf wirft, bei der er das nicht tun sollte, aber trotzdem ein guter Freund. Wenn er nicht kommt... also, dann werden wir uns schon was überlegen. Am besten, ihr erwähnt nichts mehr davon, daß euch eine Aes Sedai hilft. Ich bin ein treuer Anhänger der Königin, aber es gibt gerade jetzt in Caemlyn viele, die sowas in die falsche Kehle bekommen könnten, und damit meine ich nicht nur die Weißmäntel.«

Mat schnaubte. »Wenn's nach mir ginge, dann könnten die Raben jede Aes Sedai direkt nach Shayol Ghul befördern!«

»Hüte deine Zunge!« fauchte Meister Gill. »Ich sagte, ich liebe sie nicht gerade, aber ich habe nicht gesagt, daß ich ein Narr bin und glaube, sie steckten hinter allem Schlechten. Die Königin unterstützt Elaida, und die Garde steht zur Königin. Das Licht helfe uns, damit sich das nicht ändert. Jedenfalls sind in letzter Zeit einige Gardesoldaten so weit gegangen, daß sie Leute, von denen sie hörten, wie sie etwas gegen die Aes Sedai sagten, ziemlich rauh behandelt haben. Nicht im Dienst, dem Licht sei Dank, aber es ist trotzdem geschehen. Ich kann keine Gardesoldaten außer Dienst gebrauchen, die meinen Schankraum auseinandernehmen, weil sie euch eine Lektion erteilen wollen, und ich kann keine Weißmäntel gebrauchen, die jemanden dazu anstiften, einen Drachenfang an meine Tür zu malen. Wenn ihr also wollt, daß ich euch helfe, dann behaltet eure Gefühle für die Aes Sedai für euch, ob sie nun gut oder schlecht sind.« Er schwieg nachdenklich und fügte dann hinzu: »Vielleicht ist es am besten, wenn ihr auch Thoms Namen nicht erwähnt, wo ihn irgend jemand anders außer mir hören kann. Einige Gardesoldaten haben ein gutes Gedächtnis, und die Königin ebenfalls. Man muß ja kein Risiko eingehen.«

»Hatte Thom Schwierigkeiten mit der Königin?« fragte Rand ungläubig, und der Wirt lachte.

»Also hat er euch doch nicht alles erzählt. Warum hätte er das auch tun sollen? Andererseits weiß ich auch nicht, warum ihr das wissen müßt. Es ist nicht gerade ein Geheimnis. Glaubt ihr, daß jeder Gaukler so selbstbewußt ist wie Thom? Na ja, vielleicht schon, aber ich habe mir immer gedacht, daß Thom noch eine Extraportion Selbstbewußtsein abbekommen hat. Er war nicht immer Gaukler, müßt ihr wissen; es war nicht immer so, daß er von Dorf zu Dorf zog und die Hälfte der Zeit unter Hecken schlief. Es gab eine Zeit, da war Thom Merrilin der Hofbarde hier in Caemlyn und bekannt an jedem Königshof von Tear bis Maradon.«

»Thom?« fragte Mat.

Rand nickte bedächtig. Er konnte sich Thom am Hof der Königin vorstellen — mit seinem höfischen Benehmen und seinen großartigen Gesten.

»Das war er«, sagte Meister Gill. »Es war nicht lange nach dem Tod von Taringail Damodred, da... tauchten die Sorgen über seinen Neffen auf. Es gab Leute, die behaupteten, Thom stünde der Königin näher, als die guten Sitten gestatteten. Aber Morgase war eine junge Witwe, und Thom in seinen besten Jahren, und ich sehe es so, daß die Königin tun kann, was sie will. Aber sie ist ganz schön launisch, unsere gute Morgase, und er ging, ohne ihr etwas zu sagen, als er erfuhr, in welchen Schwierigkeiten sich sein Neffe befand. Das gefiel der Königin überhaupt nicht. Es gefiel ihr auch nicht, daß er sich in Angelegenheiten der Aes Sedai einmischte. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich es richtig fand, Neffe hin oder her. Als er jedenfalls zurückkehrte, sagte er ihr einige unfeine Dinge ins Gesicht. Sachen, die man einer Königin nicht sagt. Sachen, die man keiner Frau mit Morgases Temperament sagt. Elaida hatte etwas gegen ihn, weil er versuchte, sich in die Angelegenheit mit seinem Neffen einzumischen, und in der Klemme zwischen der Laune der Königin und der Feindseligkeit Elaidas verließ Thom Caemlyn einen halben Schritt vor einer Reise ins Gefängnis oder sogar vor der Axt des Henkers. Soweit ich weiß, besteht das Urteil immer noch.«

»Wenn das vor so langer Zeit war«, sagte Rand, »erinnert sich vielleicht niemand mehr daran.«

Meister Gill schüttelte den Kopf. »Gareth Bryne ist Generalhauptmann der Garde der Königin. Er kommandierte persönlich die Gardesoldaten, die auf Befehl Morgases Thom in Ketten zurückbringen sollten, und ich zweifle daran, daß er jemals vergessen wird, wie er mit leeren Händen zurückkehrte und herausfand, daß Thom bereits wieder im Palast gewesen und schon wieder weg war. Und die Königin vergißt grundsätzlich überhaupt nichts. Habt ihr je eine Frau kennengelernt, die vergißt? Meine Güte, Morgase war vielleicht wütend! Ich schwöre euch, die ganze Stadt ging einen Monat lang auf Zehenspitzen, und alle flüsterten nur. Viele andere Gardesoldaten sind auch alt genug, um sich noch daran zu erinnern. Nein, am besten behandelt ihr Thom genauso als Geheimnis wie eure Aes Sedai. Kommt, ich hole euch etwas zu essen. Ihr seht aus, als kauten eure Mägen schon an eurem Rückgrat herum.«

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