Rands Herz raste, weil er so schnell rannte. Voller Grauen starrte er auf die kahlen Hügel, die ihn umgaben. Dies war kein Ort, an dem der Frühling nur sehr spät einzog; hier hatte es nie einen Frühling gegeben, und es würde nie Frühling werden. Nichts wuchs in der kalten Krume, die unter seinen Stiefeln knirschte; nicht einmal kleine Flechten zeigten sich. Er stolperte vorbei an Felsbrocken, die zweimal so hoch waren wie er. Die Steine waren mit Staub überzogen, als hätte sie noch nie ein Regentropfen berührt. Die Sonne war ein angeschwollener blutroter Feuerball, feuriger noch als am heißesten Sommertag, und hell genug, um ihm die Augen zu versengen, und sie hob sich grell vom bleiernen Kessel des Himmels ab, an dem von Horizont zu Horizont scharf umrissene silberne und schwarze Wolken einherrollten und kochten. Trotz der vielen wirbelnden Wolken war jedoch kein Hauch einer Brise über dem Land zu spüren, und trotz der bösartigen Sonne brannte die Luft vor Kälte wie im tiefsten Winter.
Rand blickte beim Rennen oft über die Schulter zurück, doch er konnte seine Verfolger nicht sehen. Nur öde Hügel und zerklüftete schwarze Berge. Aus vielen dieser Erhebungen stiegen hohe schwarze Rauchsäulen, die sich mit den einherschwellenden Wolken vereinten. Zwar konnte er seine Jäger nicht sehen, doch er hörte sie, wie sie hinter ihm herheulten. Kehlige Stimmen schrien ihre Jagdlust heraus, heulten in Vorfreude auf das Blut, das bald fließen würde. Trollocs. Sie kamen näher, und seine Kraft war beinahe am Ende.
In verzweifelter Eile kletterte er zur Spitze eines scharfkantigen Grats hinauf und fiel dort mit einem Ächzen auf die Knie. Unter ihm befand sich eine steile Felswand, eine tausend Fuß hohe Klippe, die in eine riesige Schlucht abstürzte. Dicke Nebelschwaden bedeckten den Boden der Schlucht. Die dichte graue Masse rollte in zornigen Wellen, schlug gegen die Klippe unter ihm und brach sich daran, doch viel langsamer, als sich je eine Welle im Ozean bewegt hatte. Nebelfetzen glühten für einen Augenblick rot auf, als flammten unter ihnen große Feuer, und dann erstarb die Glut wieder. Donner grollte in den Tiefen der Schlucht, und Blitze zuckten durch das Grau. Manchmal zuckten die Blitze nach oben gen Himmel.
Es war nicht die Schlucht selbst, die ihm die Kraft aussaugte und die verbleibende Leere mit Hilflosigkeit füllte. Aus dem Mittelpunkt des zornigen Wolkengewühls erhob sich ein Berg, höher als alle, die er je in den Verschleierten Bergen gesehen hatte, ein Berg, so schwarz wie der Verlust aller Hoffnung. Diese düstere Steinspitze, ein Dolch, der den Himmel erstach, war der Ursprung seines Verderbens. Er hatte ihn nie zuvor gesehen, aber er wußte es. Die Erinnerung daran entschlüpfte ihm wie Quecksilber, als er sie zu fassen versuchte, aber sie war vorhanden. Er wußte, daß sie da war.
Unsichtbare Finger berührten ihn, zupften an seinen Armen und Beinen, versuchten, ihn zu dem Berg hinzuziehen. Sein Körper zuckte, bereit, zu gehorchen. Arme und Beine versteiften sich ihm, als könne er seine Finger und Zehen in den Stein eingraben. Geisterfäden wickelten sich um sein Herz, zogen ihn, riefen ihn hin zu dem aufragenden Berg.
Tränen rannen ihm über das Gesicht, und er sackte zu Boden. Er fühlte, wie sein Wille zerrann wie Wasser aus einem löchrigen Eimer. Nur ein wenig länger, und er würde gehen, wohin er gerufen wurde. Er würde gehorchen und tun, was man ihm befahl. Plötzlich entdeckte er ein weiteres Gefühl: Zorn. Schieb ihn, zieh ihn — er war doch kein Schaf, das man zum Pferch trieb. Der Zorn verknotete sich in ihm, und er klammerte sich daran, wie er sich in der Flut an ein Floß geklammert hätte.
Diene mir, flüsterte eine Stimme in seinen gelähmten Verstand hinein. Eine wohlbekannte Stimme. Wenn er genau genug hinhörte, da war er sicher, würde er sie erkennen. Diene mir. Er schüttelte den Kopf in dem Versuch, die Stimme loszuwerden. Diene mir! Er schwang die Faust in Richtung auf den schwarzen Berg zu. »Das Licht verschlinge dich, Shai'tan!«
Plötzlich lag der Geruch des Todes in der Luft. Eine Gestalt ragte über ihm auf mit einem Mantel von der Farbe getrockneten Blutes, eine Gestalt mit einem Gesicht... Er wollte das Gesicht nicht sehen, das auf ihn herunterblickte. Er wollte nicht an dieses Gesicht denken. Es tat weh, daran zu denken, verbrannte seinen Verstand zu Asche. Eine Hand streckte sich nach ihm aus. Es war ihm gleich, ob er über die Kante des Abgrunds fiel. Er warf sich aus dem Weg dieser Hand. Er mußte weg. Weit weg. Er fiel, schlug in der Luft um sich, wollte schreien und hatte den Atem dazu nicht. Er bekam keine Luft mehr.
Mit einem Mal war er nicht mehr in dem unfruchtbaren Land und fiel auch nicht mehr. Seine Stiefel trampelten über winterbraunes Gras, das wie ein Blumenteppich wirkte. Er lachte beinahe vor Glück, als er vereinzelte Bäume und Büsche sah, obwohl sie kahl waren; Punkte auf einer welligen Ebene, die ihn nun umgab. In einiger Entfernung ragte ein einzelner Berg auf, der Gipfel zerbrochen und gespalten, doch dieser Berg strahlte weder Angst noch Verzweiflung aus. Es war einfach ein Berg, wenn er auch ziemlich fehl am Platz wirkte, da kein weiterer Berg sichtbar war.
Ein breiter Strom floß vor dem Berg vorbei, und auf einer Insel in der Mitte dieses Stroms stand eine Stadt wie aus der Erzählung eines Gauklers, eine Stadt, eingeschlossen von hohen Mauern, die unter der warmen Sonne weiß und silbern glänzten. Erleichterung und Freude erfaßten ihn, als er sich den Mauern näherte. Er wußte irgendwie, daß er dahinter Ruhe und Geborgenheit finden würde. Beim Näherkommen entdeckte er himmelsstürmende Türme, viele von ihnen durch erstaunliche Stege miteinander verbunden. Hohe Brücken schwangen sich von beiden Flußufern zu der Inselstadt. Sogar aus dieser Entfernung erkannte er das kunstvoll durchbrochene Gemäuer der Pfeiler. Es schien zu zerbrechlich, um der starken Strömung zu widerstehen, die unter ihnen hinweg rauschte. Jenseits dieser Brücken lag die Sicherheit. Zuflucht.
Plötzlich rann ihm ein Schauer durch die Gebeine, seine Haut wurde eisig klamm und die ihn umgebende Luft modrig und feucht. Ohne zurückzublicken, rannte er los, rannte weg vor dem Verfolger, dessen eisige Finger seinen Rücken streiften und an seinem Umhang zupften, rannte weg vor der lichtfressenden Gestalt mit dem Gesicht, das... Er konnte sich an das Gesicht nicht erinnern, sah es nur als eine Maske des Schreckens. Er wollte sich nicht an das Gesicht erinnern. Er rannte, und der Boden glitt unter seinen Füßen davon, wellige Hügel und flache Ebene... Und er wollte heulen wie ein übergeschnappter Hund. Die Stadt entfernte sich von ihm. Je schneller er rannte, desto weiter weg trieben die leuchtenden weißen Mauern und die Sicherheit. Sie wurde kleiner und kleiner, bis nur ein blasser Fleck am Horizont übrig war. Die kalte Hand seines Verfolgers griff nach seinem Kragen. Er wußte: Berührten ihn diese Finger, dann würde er dem Wahn verfallen. Oder noch schlimmer. Viel schlimmer. Und in dem Moment, als ihn dieses Bewußtsein überfiel, stolperte und stürzte er... »Neeeiiin!« schrie er...
... und japste, als er auf die Pflastersteine aufschlug, daß ihm die Luft wegblieb. Erstaunt stand er auf. Er stand in der Auffahrt zu einer jener wundervollen Brücken, die er gesehen hatte, wie sie den Strom überspannten. Lächelnde Menschen gingen auf beiden Seiten an ihm vorbei, Menschen, die in so viele verschiedene Farben gekleidet waren, daß er an ein Feld wild wachsender Blumen erinnert wurde. Einige von ihnen sprachen ihn an, doch er verstand sie nicht, obwohl die Worte klangen, als sollte er sie verstehen. Aber die Gesichter waren freundlich, und die Menschen winkten ihm zu, er solle weitergehen — über die Brücke mit den kunstvoll verzierten Steingeländern und weiter zu den leuchtenden, mit Silber durchsetzten Mauern und den Türmen dahinter. In die Sicherheit, die auf ihn wartete.
Er schloß sich der Menge an, die über die Brücke und durch breite Tore und wuchtige hohe Mauern in die Stadt strömte. Drinnen fand er ein Wunderland, wo das unscheinbarste Gebäude noch wie ein Palast wirkte. Es war, als habe man den Erbauern aufgetragen, Stein und Ziegel und Platte zu ergreifen und damit Schönheit zu erschaffen, die sterblichen Menschen den Atem raubte.
Kein Gebäude, kein Denkmal, das er nicht mit großen Augen anstarrte. Musik erfüllte die Straßen, hundert verschiedene Lieder, und alle vereinten sich mit dem Lärm der Menge in einer großartigen, freudigen Harmonie. Die Düfte süßer Parfüme und beißender Gewürze, wundervoller Speisen und Myriaden von Blumen trieben durch die Luft, als habe sich jeder Wohlgeruch der Welt hier versammelt.
Die Straße, über die er die Stadt betreten hatte, breit und mit glatten grauen Steinen gepflastert, erstreckte sich kerzengerade vor ihm bis ins Zentrum der Stadt. An ihrem Ende ragte ein Turm auf, der breiter und höher war als alle anderen in der Stadt. Er war so weiß wie frisch gefallener Schnee. In diesem Turm lagen seine Sicherheit und das Wissen, das er suchte. Aber diese Stadt war so grandios, wie er es sich nie erträumt hatte. Bestimmt machte es nichts, wenn er den Gang zum Turm nur ein wenig hinauszögerte. Er bog in eine engere Straße ein, wo Jongleure zwischen Ständen mit fremdartigem Obst ihre Kunst zeigten.
Vor ihm am Ende dieser Straße lag ein schneeweißer Turm. Derselbe Turm. Ein Weilchen noch, dachte er und umrundete eine weitere Ecke. Auch am entfernten Ende dieser Straße lag der weiße Turm. Stur bog er erneut ab und dann wieder, und jedesmal fiel sein Blick auf den Alabasterturm. Er drehte sich um, wollte wegrennen -und hielt inne. Vor ihm — der weiße Turm. Er fürchtete sich davor, über die Schulter zurückzublicken, weil er Angst hatte, der Turm werde sich auch dort zeigen. Die Gesichter um ihn herum waren immer noch freundlich, doch nun erfüllt von zerschmetterter Hoffnung, Hoffnung, die er enttäuscht hatte. Immer noch bedeuteten ihm die Leute, weiterzugehen, gestikulierten bittend. Zum Turm hin. In ihren Augen stand verzweifelte Not, und nur er konnte sie lindern, nur er konnte sie retten. Also gut, dachte er. Schließlich wollte er ja sowieso zu diesem Turm gehen. Gleich nachdem er den ersten Schritt vorwärts getan hatte, verschwand die Enttäuschung von den Gesichtern der Umstehenden und wandelte sich zu einem Lächeln. Sie gingen mit ihm mit, und kleine Kinder streuten Blütenblätter vor ihm aus. Er blickte sich verwirrt um, da er sich fragte, für wen wohl die Blumen bestimmt seien, doch hinter ihm befanden sich nur weitere lächelnde Menschen, die ihm bedeuteten, weiterzugehen. Sie müssen für mich sein, dachte er und staunte darüber, daß ihm das plötzlich gar nicht mehr eigenartig vorkam. Das Staunen hielt sich einen Moment und verflog dann; alles war so, wie es sein sollte.
Zuerst begann einer dieser Menschen zu singen, dann ein anderer, und schließlich vereinigten sich alle Stimmen zu einer wunderbaren Hymne. Er konnte die Worte immer noch nicht verstehen, aber mindestens ein Dutzend ineinander verwobener Melodien sang von Freude und Rettung. Musikanten tollten durch die sich vorwärtsschiebende Menge und ergänzten die Hymne mit Flöten-, Harfen- und Trommelklängen. Alle die Lieder, die er vorher gehört hatte, gingen in diese neue Harmonie über. Mädchen tanzten um ihn herum, legten ihm Girlanden aus süßduftenden Blumen über und wanden sie um seinen Hals. Sie lächelten ihn an. Ihre Freude schwoll mit jedem Schritt, den er tat. Er konnte nicht anders als zurückzulächeln. Seine Füße wollten sich ihrem Tanz anschließen, und kaum hatte er daran gedacht, da tanzte er auch schon, und seine Schritte kamen so sicher, als kenne er sie bereits seit seiner Geburt. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte; seine Schritte waren beschwingter als je zuvor, wenn er mit... Er konnte sich an den Namen nicht erinnern aber es erschien ihm auch nicht wichtig.
Es ist dein Schicksal, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, und das Flüstern war wie ein Teil des gesamten Lobgesangs um ihn herum.
Wie ein Zweig, der vom Schaumkamm einer Woge getragen wird, schwemmte ihn die Menge auf einen riesigen Platz im Stadtzentrum, und zum ersten Mal sah er, daß sich der weiße Turm aus einem großen hellen Marmorpalast erhob, der weniger gebaut als vielmehr von einem Bildhauer geformt erschien, mit elegant geschwungenen Wänden, schwellenden Kuppeln und graziösen Türmchen, die nach dem Himmel griffen. Vor Ehrfurcht stockte ihm der Atem. Breite Treppen aus kantig geformtem Stein führten vom Platz aus hoch, und die Menschen blieben am Fuß dieser Treppen stehen, doch ihr Lied schwoll immer stärker an. Die andächtigen Stimmen trugen seine Füße empor. Dein Schicksal, flüsterte die Stimme eifrig und eindringlich.
Er tanzte nicht mehr, blieb aber keineswegs stehen. Ohne Zögern schritt er die Treppen hinauf. Er gehörte hierher.
Die massiven Türflügel am oberen Ende der Treppe waren mit Runen bedeckt, dermaßen verflochtenen und feinen Gravierungen, daß er sich keine Klinge vorstellen konnte, die fein genug wäre, um das fertigzubringen. Das Tor öffnete sich, und er schritt hinein. Die Türflügel schlossen sich mit einem Donnerhall hinter ihm.
»Wir haben auf dich gewartet«, zischte der Myrddraal.
Rand schnellte hoch, schnappte nach Luft und zitterte, die Augen weit aufgerissen. Tam schlief noch in seinem Bett. Langsam beruhigte sich Rands Atem. Halbverglühte Holzscheite loderten im Kamin. Um sie herum war ein schöner Ring aus Kohle aufgehäuft; jemand mußte das getan haben, während er schlief. Zu seinen Füßen lag eine Decke, die ihm beim Hochschnellen heruntergefallen war. Auch die provisorische Bahre war verschwunden, und die Umhänge waren ordentlich an der Tür aufgehängt worden. Mit einer immer noch zitternden Hand wischte er sich kalten Schweiß von der Stirn. Er fragte sich, ob es den Dunklen König auch dann auf ihn aufmerksam machen könne, wenn er ihn im Schlaf nannte und nicht im wachen Zustand.
Draußen dämmerte es, der Mond stand rund und fett hoch am Himmel, und über den Verschleierten Bergen glitzerten die Abendsterne. Er hatte den Tag verschlafen. Er rieb sich über einen schmerzenden Fleck an der Seite. Offensichtlich war er eingeschlafen, obwohl ihn der Schwertgriff in die Rippen drückte. Das und ein leerer Magen und die ereignisreiche Nacht zuvor: kein Wunder, wenn er Alpträume hatte.
Sein Magen knurrte, und so stand er steif auf und trat zum Tisch, auf dem Frau al'Vere das Tablett abgestellt hatte. Er zog das weiße Tuch beiseite. Obwohl er einige Zeit geschlafen hatte, war die Rindfleischbrühe noch warm, genau wie das Brot mit seiner knusprigen Rinde. Es wurde ihm schnell klar, was Frau al'Vere getan hatte: Das Tablett war ausgetauscht worden. Wenn sie einmal beschlossen hatte, daß jemand eine warme Mahlzeit brauchte, dann gab sie nicht auf, bis man sie gegessen hatte.
Er trank ein wenig Brühe, legte rasch Fleisch und Käse zwischen zwei Scheiben Brot und stopfte sich alles in den Mund. Zwischen den ersten großen Bissen ging er zum Bett zurück. Frau al'Vere hatte sich offensichtlich auch um Tam gekümmert. Er war ausgezogen worden. Seine Kleider lagen nun sauber und zusammengelegt auf dem Nachttisch, und eine Decke war ihm bis unter das Kinn hochgezogen worden. Als Rand die Stirn seines Vaters berührte, öffnete Tam die Augen. »Da bist du ja, Junge. Marin hat mir gesagt, daß du hier bist, aber ich war noch nicht einmal in der Lage, mich aufzusetzen, um nach dir zu sehen. Sie sagte, du seist zu müde, und sie könne dich nicht wecken, nur damit ich dich sehe. Selbst Bran kann da nichts ausrichten, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«
Tams Stimme klang schwach, doch sein Blick war klar und ruhig. Die Aes Sedai hatte recht, dachte Rand. Genügend ausgeruht wird er auch wieder ganz gesund. »Kann ich dir etwas zu essen holen? Frau al'Vere hat ein Tablett dagelassen.«
»Sie hat mich bereits gefüttert... Falls man das so nennen kann. Gab mir nur ein wenig Brühe. Wie kann ein Mann Alpträume meiden, wenn er nichts als Brühe im... « Tam befreite eine Hand aus der Decke und berührte das Schwert an Rands Hüfte. »Dann war es kein Traum. Als Marin mir sagte, ich sei krank, dachte ich, ich sei... Aber du bist in Ordnung. Das ist die Hauptsache. Was ist mit dem Hof?«
Rand holte tief Luft. »Die Trollocs haben die Schafe getötet. Ich glaube, auch die Kuh, na ja, und das Haus muß gesäubert werden.« Er brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Wir hatten mehr Glück als andere. Sie haben das halbe Dorf niedergebrannt.«
Er erzählte Tam alles, was geschehen war — oder zumindest das meiste. Tam hörte genau zu und schoß manche Frage auf ihn ab. So mußte er ihm wohl oder übel erzählen, daß er aus dem Wald nochmals zum Haus zurückgekehrt war, und das brachte ihr Gespräch auf den Trolloc, den er getötet hatte. Er mußte ihm erzählen, daß Nynaeve behauptet hatte, er werde sterben, um zu erklären, warum die Aes Sedai ihn behandelt hatte statt der Seherin. Tam machte große Augen, als er das hörte: eine Aes Sedai in Emondsfeld. Aber Rand fand es nicht notwendig, jeden Schritt ihrer Flucht vom Hof zu erklären, seine Ängste zu schildern oder den Myrddraal auf der Straße zu erwähnen. Und ganz bestimmt nicht seine Alpträume, als er neben dem Bett schlief. Er sah insbesondere auch keinen Grund, Tams Fiebergestammel zu wiederholen. Noch nicht. Aber Moiraines Geschichte zu erzählen, ließ sich natürlich nicht vermeiden.
»Das ist nun eine Geschichte, auf die selbst ein Gaukler stolz sein könnte«, murmelte Tam, als Rand fertig war. »Was wollen die Trollocs mit euch Jungen anfangen? Oder — das Licht helfe uns — der Dunkle König?«
»Glaubst du, sie lügt? Meister al'Vere sagt, sie habe die Wahrheit gesagt, daß nur zwei Bauernhöfe überfallen wurden. Und was sie über Meister Luhhans und Meister Cauthons Haus sagte.«
Einen Augenblick lang lag Tam schweigend da, bevor er bat: »Erzähl mir genau, was sie gesagt hat. Ihre eigenen Worte, bitte, so wie sie es ausgedrückt hat!«
Rand rang nach Worten. Wer erinnert sich schon jemals an die genauen Worte, die er gehört hatte? Er kaute auf der Lippe herum und kratzte sich am Kopf und brachte es schließlich Stückchen für Stückchen heraus, so gut er sich eben erinnern konnte. »An mehr kann ich mich nicht erinnern«, schloß er. »Bei einigem bin ich nicht ganz sicher, ob sie es wirklich genau so ausgedrückt hat, aber zumindest entspricht es ihren Worten.«
»Ist schon in Ordnung. Siehst du, Junge, die Aes Sedai haben viele Tricks auf Lager. Sie lügen nicht, jedenfalls nicht direkt, aber was dir eine Aes Sedai als Wahrheit erzählt, ist nicht immer das, was du glaubst. Du mußt vorsichtig sein.«
»Ich habe die Geschichten auch gehört«, gab Rand zurück. »Ich bin doch kein Kind.«
»Nein, bist du nicht.« Tam seufzte tief und zuckte dann die Achseln. »Trotzdem sollte ich mitkommen. Die Welt außerhalb der Zwei Flüsse ist ganz anders als Emondsfeld.«
Das war nun eine Gelegenheit, Tam zu fragen, ob er wirklich schon draußen gewesen sei und was Rand sonst noch auf der Seele brannte, doch er nahm sie nicht wahr. Statt dessen brachte er den Mund vor Staunen nicht zu. »Einfach so? Ich dachte, du würdest versuchen, mir das auszureden. Ich dachte, du würdest mir hundert Gründe nennen, warum ich nicht gehen soll.« Ihm wurde klar, daß er gehofft hatte, Tam werde hundert gute Gründe dafür nennen.
»Vielleicht keine hundert«, sagte Tam schnaubend, »aber ein paar sind mir schon eingefallen. Nur spielen die keine große Rolle. Wenn Trollocs hinter dir her sind, bist du in Tar Valon sicherer, als du es hier je sein könntest. Denk nur daran, mißtrauisch zu bleiben. Aes Sedai tun manches aus Gründen, die nicht immer dasselbe bedeuten, was du glaubst.«
»Das hat der Gaukler auch gesagt«, sagte Rand langsam.
»Dann weiß er, wovon er spricht. Du hörst genau zu, denkst gut nach und hältst deine Zunge im Zaum. Das ist ein guter Rat in bezug auf alles, was du außerhalb der Zwei Flüsse antriffst und ganz speziell, was die Aes Sedai betrifft. Und die Behüter. Erzähl Lan etwas, und du hast es auch Moiraine erzählt. Wenn er ein Behüter ist, dann ist er ihr so sicher zugeschworen, wie die Sonne heute morgen aufging, und er wird nicht viel, wenn überhaupt etwas vor ihr geheimhalten.«
Rand wußte wenig über das Zuschwören eines Behüters mit einer Aes Sedai, obwohl es eine wichtige Rolle in jeder Geschichte über die Behüter spielte. Es hatte etwas mit der Macht zu tun, so etwas wie ein Geschenk an den Behüter oder vielleicht auch irgendein Austausch. Den Geschichten nach hatten die Behüter jede Menge Vorteile davon. Ihre Wunden heilten schneller als bei anderen Menschen, und sie konnten länger ohne Essen oder Wasser oder Schlaf auskommen. Man nahm auch an, sie könnten Trollocs spüren, wenn sie nahe genug waren, oder auch andere Kreaturen des Dunklen Königs, und das erklärte auch, warum Lan und Moiraine versucht hatten, das Dorf vor dem Angriff zu warnen. Was die Aes Sedai davon hatten, darüber schwiegen die Geschichten, aber er konnte nicht glauben, daß sie keinen Vorteil aus dieser Verbindung zogen.
»Ich werde aufpassen«, sagte Rand. »Doch wüßte ich gern, warum. Es ergibt alles keinen Sinn. Warum ich? Warum wir?«
»Ich möchte es auch gern wissen, Junge. Blut und Asche, ich möchte es wirklich wissen!« Tam seufzte tief. »Na ja, man kann ein ausgeschlagenes Ei nicht wieder in die Schale zurückstecken. Wie bald mußt du weg? Ich bin in ein oder zwei Tagen wieder auf den Beinen... «
»Moiraine... Die Aes Sedai sagt, daß du im Bett bleiben mußt. Wochenlang, meinte sie.« Tam öffnete den Mund, doch Rand fuhr fort. »Und sie hat mit Frau al'Vere darüber gesprochen.«
»Oh? Na ja, vielleicht kann ich Marin doch kleinkriegen.« Allerdings klang Tams Stimme nicht sehr hoffnungsvoll. Er sah Rand scharf an. »Die Art, wie du eine klare Antwort vermieden hast, bedeutet wahrscheinlich, daß du bald weg mußt. Morgen? Oder heute nacht?«
»Heute nacht«, sagte Rand leise, und Tam nickte traurig.
»Ja. Also, wenn es schon sein muß, dann darfst du dich nicht aufhalten. Aber in bezug auf die ›Wochen‹ ist noch nicht das letzte Wort gesprochen.« Er zupfte eher ratlos als kraftvoll an seiner Decke herum. »Vielleicht komme ich sowieso in ein paar Tagen nach. Hole dich unterwegs ein. Wir werden ja sehen, ob mich Marin im Bett festhalten kann, wenn ich aufstehen will.«
Jemand klopfte an die Tür, und Lan steckte den Kopf herein. »Sag schnell auf Wiedersehen, Schäfer, und komm! Es könnte Schwierigkeiten geben.«
»Schwierigkeiten?« fragte Rand, und der Behüter knurrte ihn ungeduldig an. »Mach schnell!«
Hastig schnappte Rand sich seinen Umhang. Er wollte das Schwert abschnallen, doch Tam erhob Einspruch.
»Behalt es! Du wirst es vielleicht nötiger brauchen als ich, obwohl, so das Licht es will, vielleicht keiner von uns so etwas braucht. Paß auf dich auf, Junge! Verstanden?«
Rand überhörte Lans fortgesetztes Knurren und beugte sich über Tam. Sie nahmen sich in die Arme. »Ich komme zurück. Das verspreche ich dir.«
»Natürlich kommst du wieder.« Tam lachte. Er erwiderte die Umarmung schwach und klopfte Rand schließlich auf den Rücken. »Das weiß ich. Und wenn du zurückkehrst, werde ich doppelt so viele Schafe haben, die du dann hüten mußt. Jetzt geh aber, bevor dieser Bursche durchdreht.«
Rand rang nach Worten, um die Frage zu formulieren, die er eigentlich nicht hatte stellen wollen, aber Lan kam ins Zimmer, packte ihn am Arm und zog ihn hinaus in den Flur. Der Behüter hatte sich ein mit Metallschuppen bedecktes graugrünes Wams übergezogen. Seine Stimme klang rauh vor Ärger.
»Wir müssen uns beeilen! Verstehst du das Wort Schwierigkeiten nicht?«
Draußen wartete Mat. Er hatte Mantel und Umhang an und trug seinen Bogen. An seiner Hüfte hing ein Köcher. Er trippelte ängstlich hin und her und sah immer wieder zur Treppe hinüber. Sein Blick schien eine Mischung aus Ungeduld und Angst auszudrücken. »Das ist nicht ganz so wie in den Geschichten, Rand, oder?« fragte er heiser.
»Welche Schwierigkeiten denn?« wollte Rand wissen, aber statt zu antworten, rannte der Behüter voraus und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Mat hetzte ihm hinterher, nachdem er Rand mit einer schnellen Bewegung bedeutet hatte, ihnen zu folgen.
Er rannte los, wobei er sich auch noch den Umhang über den Kopf zog. Unten holte er sie ein. Der Schankraum war nur schwach beleuchtet; die Hälfte der Kerzen war ausgebrannt, und die andere Hälfte flackerte nur noch. Der Raum war leer. Mat stand neben einem Fenster und spähte hinaus, als wolle er von draußen nicht gesehen werden. Lan öffnete die Tür einen Spalt und blickte in den Hof hinaus.
Er fragte sich, wonach sie Ausschau hielten, und gesellte sich zu ihnen. Der Behüter raunte ihm zu, er solle vorsichtig sein, aber er öffnete die Tür ein wenig weiter, damit Rand auch hinaussehen konnte.
Zuerst war er sich nicht sicher, was da draußen wirklich geschah. Männer aus dem Dorf, drei Dutzend etwa, hatten sich neben dem ausgebrannten Gestell des Krämerwagens versammelt. Die Fackeln, die sie trugen, verdrängten die Nacht. Moiraine stand ihnen gegenüber, der Schenke den Rücken zugekehrt, und stützte sich scheinbar unbeteiligt auf ihren Wanderstock. Hari Coplin stand mit seinem Bruder Darl und Bili Congar etwas den anderen entfernt. Auch Cenn Buie war da. Er blickte ziemlich unglücklich drein. Rand war überrascht, als er sah, wie Hari Moiraine mit der Faust bedrohte.
»Verlaßt Emondsfeld!« rief der Bauer mit dem mürrischen Gesicht. Ein paar Stimmen aus der Menge unterstützten ihn, aber nur zögernd, und niemand drängte sich vor. Sie hatten den Mut, sich innerhalb einer Menschenmenge einer Aes Sedai zu stellen, aber keiner wollte ihr allein gegenüberstehen. Keiner Aes Sedai, die auch noch Grund hatte, sich angegriffen zu fühlen.
»Ihr habt diese Ungeheuer hergebracht!« brüllte Darl. Er schwenkte eine Fackel über dem Kopf, und man hörte Rufe wie: »Ihr habt sie hergebracht!« und »Es ist Eure Schuld!« Der lauteste Schreier war sein Vetter Bili.
Hari stieß Cenn Buie mit dem Ellbogen, und der alte Dachdecker spitzte die Lippen, wobei er ihn von der Seite her böse ansah. »Diese Dinger... diese Trollocs sind erst aufgetaucht, nachdem Ihr hierher kamt«, murmelte Cenn, gerade laut genug, um noch hörbar zu sein. Er drehte den Kopf mürrisch von Seite zu Seite, als wünsche er sich irgendwo anders hin und suche nach einem Weg, dorthin zu kommen. »Ihr seid eine Aes Sedai. Wir wollen keine von Euch hier bei den Zwei Flüssen. Aes Sedai bringen Unglück mit sich. Wenn Ihr bleibt, wird es nur noch schlimmer.«
Seine Rede rief keine Reaktion in den Reihen der versammelten Dorfbewohner hervor, und so blickte Hari enttäuscht und grimmig drein. Plötzlich riß er Darl die Fackel aus der Hand und schwenkte sie in ihre Richtung. »Geht fort!« schrie er. »Oder wir brennen Euch hinaus!«
Eisiges Schweigen folgte. Nur das Schlurfen von Füßen war hörbar, als sich die Männer zurückzogen. Die Leute von den Zwei Flüssen konnten sich zur Wehr setzen, wenn man sie angriff, aber Gewaltanwendung war nicht üblich, und es lag ihnen fern, Menschen zu bedrohen. Höchstens daß einer mal die Faust schwenkte. Cenn Buie, Bili Congar und die Coplins standen ganz allein vor den anderen. Bili machte den Eindruck, als wollte er sich auch am liebsten zurückziehen.
Hari schreckte leicht zusammen, als er merkte, wie wenig Unterstützung er bekam, aber er erholte sich schnell. »Geht fort!« schrie er wieder. Darl tat es ihm nach und schließlich, etwas leiser, auch Bili. Hari sah die anderen böse an. Die meisten in der Menge mieden seinen Blick.
Plötzlich traten Bran al'Vere und Haral Luhhan aus dem Schatten und blieben stehen, ein Stück von der Menge, aber auch von der Aes Sedai entfernt. In einer Hand trug der Bürgermeister wie zufällig den großen Holzhammer, den er benutzte, um Zapfhähne in die Fässer zu treiben. »Hat jemand vorgeschlagen, meine Schenke anzuzünden?« fragte er sanft.
Die beiden Coplins traten einen Schritt zurück, und Cenn Buie setzte sich von ihnen ab. Bili Congar schob sich in die Menge hinein. »Das nicht«, sagte Darl schnell. »Das haben wir nie gesagt, Bran... äh, Bürgermeister.«
Bran nickte. »Dann habe ich vielleicht gehört, wie ihr Gäste meiner Schenke bedroht habt?«
»Sie ist eine Aes Sedai«, begann Hari wütend, aber seine Worte brachen ab, als Haral Luhhan sich bewegte.
Der Schmied streckte sich einfach nur, erhob die dicken Arme über den Kopf, ballte die kräftigen Fäuste, bis die Gelenke knackten, doch Hari sah den bulligen Mann an, als hätte er ihm diese Fäuste unter die Nase gehalten. Haral verschränkte die Arme wieder vor der Brust. »Verzeihung, Hari. Ich wollte dich nicht unterbrechen. Was hattest du gesagt?«
Aber Hari zog die Schultern ein, als wolle er in sich selbst hineinkriechen und verschwinden, und schien nichts mehr zu sagen zu haben.
»Ich bin über euch Leute überrascht«, grollte Bran. »Paet al'Caar, deinem Jungen wurde letzte Nacht das Bein gebrochen, aber ich habe ihn heute wieder herumlaufen sehen — und das hat er ihr zu verdanken. Eward Candwin, du hast auf dem Bauch gelegen — mit einem Schnitt im Rücken wie ein Fisch, den man ausnehmen will, bis sie die Hände auf dich gelegt hat. Jetzt sieht es aus, als sei es vor einem Monat passiert, und wenn ich mich nicht irre, wird kaum eine Narbe bleiben. Und du, Cenn... « Der Dachdecker schob sich ein Stück rückwärts auf die Menge zu, blieb aber dann stehen, von Brans Blick festgehalten. »Ich wäre schon bestürzt genug, hier einen Mann aus dem Gemeinderat anzutreffen, aber am meisten, wenn es ausgerechnet du bist, Cenn. Wenn sie nicht gewesen wäre, hinge dein Arm immer noch schlaff an deiner Seite herab, mit unzähligen Verbrennungen und Abschürfungen. Wenn du schon keine Dankbarkeit kennst, schämst du dich dann nicht wenigstens?«
Cenn hob die rechte Hand ein Stück, blickte dann aber ärgerlich zur Seite. »Ich leugne nicht, was sie getan hat«, murmelte er, und es hörte sich tatsächlich an, als schäme er sich. »Sie hat mir und anderen geholfen«, fuhr er in einem beinahe bittenden Tonfall fort, »aber sie ist eine Aes Sedai, Bran. Wenn diese Trollocs nicht ihretwegen gekommen sind, warum dann? Wir wollen keine Aes Sedai bei den Zwei Flüssen. Sie sollen ihre Zwistigkeiten von uns fernhalten!«
Ein paar Männer, sicher in der Menge verborgen, riefen nun: »Wir wollen keinen Ärger mit den Aes Sedai!« »Schickt sie weg!« »Treibt sie davon!« »Warum sind sie gekommen, wenn nicht ihretwegen?«
Brans Gesicht verfinsterte sich zusehends, aber bevor er etwas sagen konnte, wirbelte Moiraine plötzlich ihren mit Ranken beschnitzten Stock hoch über dem Kopf durch die Luft. Sie drehte ihn mit beiden Händen. Rand schnappte genau wie die Dorfbewohner nach Luft, denn aus jedem Ende des Stocks fuhr zischend eine weiße Flamme. Trotz der wirbelnden Bewegung des Stocks stachen die Flammen gleichmäßig wie Speerspitzen heraus. Sogar Bran und Haral zogen sich zurück. Sie ließ die Arme fallen und hielt sie gerade ausgestreckt, den Stock parallel zum Boden. Aber das blasse Feuer zischte immer noch daraus hervor, heller als die Fackeln. Die Männer scheuten zurück, hielten die Hände vors Gesicht, um die Augen vor dem Schmerz zu bewahren, den das Strahlen verursachte.
»Ist Aemons Blut in euch so dünn geworden?« Die Stimme der Aes Sedai war nicht laut, doch sie übertönte jedes andere Geräusch. »Kleine Leute, die sich um das Recht zanken, sich wie die Kaninchen zu verstecken? Ihr habt vergessen, wer Ihr wart, vergessen, was Ihr wart, aber ich hatte gehofft, es sei noch ein wenig davon übriggeblieben, ein schwacher Abklatsch in Eurem Blut und Euren Knochen. Irgendein Überbleibsel, um Euch auf die lange Nacht vorzubereiten, die gerade anbricht.«
Keiner sagte ein Wort. Die beiden Coplins sahen aus, als wollten sie nie wieder den Mund öffnen.
Bran sagte: »Vergessen, wer wir waren? Wir sind, wer wir immer waren. Ehrliche Bauern und Schäfer und Handwerker. Die Leute der Zwei Flüsse.«
»Im Süden«, sagte Moiraine, »liegt der Fluß, den ihr den Weißen Fluß nennt, doch weit weg im Osten nennen ihn die Menschen immer noch bei seinem rechtmäßigen Namen: Manetherendrelle. In der Alten Sprache: Die Wasser der Bergheimat. Schimmernde Wasser, die einst durch ein Land der Schönheit und Tapferkeit flossen. Vor zweitausend Jahren floß der Manetherendrelle an den Mauern einer Bergstadt vorbei, die so schön anzusehen war, daß sogar Steinwerker der Ogier kamen, um sie staunend zu betrachten. Ackerland und Dörfer bedeckten diese Gegend und das Gebiet, das Ihr den Wald der Schatten nennt, und noch mehr. Aber diese Menschen betrachteten sich als die Leute der Bergheimat, die Einwohner von Manetheren.
Ihr König war Aemon al Caar al Thorin, Aemon, der Sohn des Caar, Sohn des Thorin, und Eldrene ay Carlan war seine Königin. Aemon war ein so furchtloser Mann, daß das größte Kompliment, das man jemandem für seinen Mut machen konnte, sogar unter seinen Feinden damals hieß: Der Mann hat Aemons Herz. Eldrene war so schön, daß man sich erzählte, die Blumen blühten nur, um sie zum Lächeln zu bringen. Mut und Schönheit und Weisheit und eine Liebe, die auch der Tod nicht zerbrechen konnte. Weint, wenn ihr noch ein Herz im Leib habt, weil sie verloren sind, weil sogar die Erinnerung an sie verlorenging. Weint, denn auch ihr Blut scheint verloren.«
Sie schwieg, und niemand sprach. Rand war wie die anderen in ihrem Bann gefangen. Als sie wieder begann, lauschte er begierig ihren Worten, genau wie die anderen.
»Beinahe zwei Jahrhunderte lang hatten die Trolloc-Kriege die Welt der Länge und der Breite nach verwüstet, und wo immer Schlachten tobten, da war das Banner von Manetheren mit seinem Roten Adler in der vordersten Linie zu finden. Die Männer von Manetheren waren ein Dorn im Fuß des Dunklen Königs und ein Stachel in seiner Hand. Singt von Manetheren, das nie sein Knie dem Schatten beugte. Singt von Manetheren, dem Schwert, das nicht zerbrochen werden konnte.
Sie waren weit weg, die Männer von Manetheren, auf dem Feld von Bekkar, das man auch das Feld des Blutes nennt, als sich die Nachricht verbreitete, daß eine Trolloc-Armee gegen ihre Heimat marschierte. Zu weit entfernt, um etwas anderes zu tun, als darauf zu warten, vom Tod ihres Landes zu hören, denn der Dunkle König wollte ihnen ein Ende bereiten. Töte die mächtige Eiche, indem du ihre Wurzeln abhackst. Zu weit weg, um etwas anderes zu tun, als zu trauern. Aber sie waren die Männer der Bergheimat.
Ohne zu zögern, ohne an die Entfernung zu denken, die sie zurücklegen mußten, marschierten sie direkt vom ruhmreichen Schlachtfeld los, immer noch mit Staub und Blut und Schweiß bedeckt. Tag und Nacht marschierten sie, denn sie hatten die Schrecken erlebt, die eine Armee von Trollocs hinter sich zurückläßt, und keiner von ihnen konnte ruhig schlafen, während eine solche Gefahr Manetheren bedrohte. Sie marschierten, als hätten sie Schwingen an den Füßen, weiter und schneller, als ihre Freunde hofften und ihre Feinde fürchteten. Zu jeder anderen Zeit hätte allein dieser Marsch schon Dichter und Sänger inspiriert. Als die Armeen des Dunklen Königs über die Ländereien von Manetheren herfallen wollten, standen die Mannen der Bergheimat bereits vor ihnen mit dem Rücken zum Tarendrelle.«
Irgendein Dorfbewohner brachte seinen Beifall zum Ausdruck, doch Moiraine fuhr fort, als habe sie es nicht gehört. »Die Heerschar, der sich die Mannen von Manetheren gegenübersahen, war gewaltig genug, um auch das tapferste Herz zum Zittern zu bringen. Raben verdunkelten den Himmel, Trollocs verdunkelten das Land. Trollocs und ihre menschlichen Verbündeten. Zehntausende und Aberzehntausende von Trollocs und Schattenfreunden, von Schattenlords geführt. In der Nacht sah man mehr Lagerfeuer als Sterne am Himmel, und in der Morgendämmerung sah man das Banner von Ba'alzamon an ihrer Spitze. Ba'alzamon, das Herz der Dunkelheit. Ein uralter Name für den Vater der Lügen. Der Dunkle König konnte noch nicht aus seinem Gefängnis am Shayol Ghul befreit sein, denn wäre das der Fall gewesen, hätte keine menschliche Macht ausgereicht, um ihm zu widerstehen, und doch war viel Macht hier versammelt. Schattenlords und so viel Böses, daß das lichtzerstörende Banner durchaus angebracht schien und die Seelen der Männer, die ihm gegenüberstanden, erzittern ließ.
Und doch wußten sie, was sie zu tun hatten. Ihre Heimat lag gleich jenseits des Flusses. Sie mußten diese Heerschar und die sie begleitenden Mächte von der Bergheimat fernhalten. Aemon hatte Boten ausgesandt. Hilfe wurde ihnen versprochen, wenn sie sich nur drei Tage lang am Tarendrelle halten konnten. Drei Tage lang aushalten gegen eine Übermacht, die sie schon während der ersten Stunde überwältigen würde. Und doch ertrugen sie den blutigen Angriff in verzweifelter Gegenwehr, hielten eine Stunde lang stand, eine zweite Stunde und eine dritte. Drei Tage lang kämpften sie, und obwohl das Land einem Schlachthof glich, gestatteten sie dem Feind keinen Übergang über den Tarendrelle. Als die dritte Nacht sich neigte, war immer noch keine Hilfe gekommen und auch kein Kurier. Sie kämpften allein weiter. Sechs Tage lang. Neun Tage. Und am zehnten Tag schmeckte Aemon den bitteren Geschmack des Verrats. Es kam keine Hilfe, und sie konnten die Flußübergänge nicht länger halten.«
»Was machten sie dann?« wollte Hari wissen. Fackeln flackerten im kalten Nachtwind, aber niemand bewegte sich, um einen Umhang enger um sich zu wickeln.
»Aemon überquerte den Tarendrelle«, sagte ihnen Moiraine, »und zerstörte die Brücken hinter ihnen. Und er sandte Boten durch das Land, um den Menschen zu sagen, sie sollten fliehen, denn es war ihm klar, daß die Mächte, die das Trolloc-Heer begleiteten, einen Weg finden würden, es über den Fluß zu schaffen. Und noch während die Boten forteilten, begannen die Trollocs, den Fluß zu überqueren, und die Soldaten von Manetheren stellten sich ihnen erneut, um ihren Landsleuten Zeit zur Flucht zu erkaufen. Von der Stadt Manetheren aus führte Eldrene die Flüchtlinge in die tiefsten Wälder und in die Schlupfwinkel der Berge.
Doch manche flohen auch nicht. Zuerst nur wenige, dann immer mehr, und schließlich strömten Männer nicht in Richtung Sicherheit, sondern zu der Armee, die für ihr Land kämpfte. Schäfer mit dem Bogen und Bauern mit der Mistgabel und Waldarbeiter mit der Axt. Auch Frauen kamen mit, schulterten an Waffen, was sie finden konnten, und marschierten an der Seite ihrer Männer in den Kampf. Keiner, der nicht wußte, daß er nie mehr zurückkehren würde. Aber es war ihr Land. Es war das Land ihrer Väter gewesen, und es würde ihren Kindern gehören, und sie waren bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Kein Fußbreit Boden wurde preisgegeben, bevor er nicht mit Blut getränkt war, doch am Ende wurde die Armee von Manetheren zurückgedrängt, hierher, an diesen Ort, den ihr nun Emondsfeld nennt. Und hier wurden sie von den Trolloc-Horden eingeschlossen.«
In ihrer Stimme schwangen kalte Tränen mit. »Tote Trollocs und die Leichen von Abtrünnigen lagen zu Hügeln aufgetürmt, doch immer mehr krochen über die Gebeinhaufen in endlosen Wellen des Todes. Es konnte nur einen Ausgang geben. Kein Mann und keine Frau, die zu Beginn dieses Tages unter dem Banner des Roten Adlers gestanden hatten, erlebte noch den Anbruch der Nacht. Das Schwert, das nicht zerbrochen werden konnte, zersplitterte.
In den Verschleierten Bergen, allein in der leeren Stadt Manetheren, fühlte Eldrene, wie Aemon starb, und ihr Herz starb mit ihm. Und wo ihr Herz gewesen war, da blieb nur noch ein Wunsch nach Rache übrig, Rache für ihre Liebe, Rache für ihre Untertanen und für ihr Land. Von Schmerz getrieben, verband sie sich mit der Wahren Quelle und lenkte die Eine Macht auf die Trolloc-Armee. Und die Schattenlords starben, wo sie gerade standen, gleichgültig, ob in einer geheimen Beratung oder bei der Inspektion ihrer Soldaten. Innerhalb eines Atemzugs brachen die Schattenlords und die Generale des Dunklen Königs in Flammen aus. Feuer verschlang ihre Körper, und Angst überwältigte ihre gerade noch siegreiche Armee.
Jetzt rannten sie wie die Tiere, die vor einem Waldbrand flüchteten, und dachten an nichts anderes als an Flucht. Nach Norden und Süden flohen sie. Tausende ertranken, als sie versuchten, ohne die Hilfe der Schattenlords den Tarendrelle zu überqueren, und am Manetherendrelle rissen sie die Brücken ein aus Angst vor den Verfolgern. Wo immer sie auf Menschen stießen, da mordeten und verbrannten sie, aber sie wurden von dem Gedanken an Flucht beherrscht. Bis schließlich keiner mehr im Lande Manetheren zurückblieb. Sie wurden verstreut wie Staub von einem Wirbelwind. Die endgültige Rache erfolgte langsamer, aber sie holte sie ein, als sie nämlich von anderen Völkern gejagt wurden, von den Heeren anderer Länder. Keiner von denen, die am Aemonsfeld gemordet hatten, blieb am Leben. Aber Manetheren zahlte einen hohen Preis. Eldrene hatte mehr Macht in sich vereint, als ein Mensch je ohne Hilfe beherrschen kann. Als die Generale des Feindes starben, starb auch sie, und das Feuer, das sie verschlang, verschlang auch die leere Stadt Manetheren, selbst die Steine bis hinunter auf den Grundfels des Gebirges. Und doch waren die Menschen gerettet.
Von ihren Bauernhöfen, ihren Dörfern oder ihrer großartigen Stadt war nichts übriggeblieben. Einige meinten, es sei überhaupt nichts mehr übrig für sie, und sie müßten in andere Länder fliehen, um dort neu zu beginnen. Sie sagten es aber nicht. Sie hatten einen solch hohen Preis an Blut und Hoffnung für ihr Land bezahlt, wie es noch nie zuvor geschehen war, und nun waren sie durch Bande, stärker als Stahl, an diese Erde gebunden. Sie wurden in späteren Jahren mit anderen Kriegen überzogen, bis schließlich ihre Ecke der Welt vergessen wurde und bis sie die Kriege und ihre Folgen vergessen hatten. Manetheren erhob sich niemals mehr. Ihre schwebenden Türme und plätschernden Brunnen wurden zu Teilen eines Traums, der langsam in der Erinnerung der Menschen verblaßte. Doch sie und ihre Kinder und Kindeskinder hielten dieses Land, das ihnen gehörte. Sie hielten es, auch wenn die langen Jahrhunderte das Warum aus ihren Gedächtnissen wuschen. Sie hielten es bis heute, bis zu euch. Weint um Manetheren. Weint um das, was für immer verloren ist.«
Die Flammen aus Moiraines Stock erloschen, und sie senkte ihn, als wöge er hundert Pfund. Lange Augenblicke war das Heulen des Windes der einzige Laut. Dann schob sich Paet al'Caar vor die Coplins.
»Ich weiß nichts von Eurer Geschichte«, sagte der Bauer mit dem langen Kinn. »Ich bin kein Dorn im Fuß des Dunklen Königs und werde es wahrscheinlich auch nie sein. Aber mein Wil kann dank Eurer Hilfe wieder laufen, und deshalb schäme ich mich, hier zu sein. Ich weiß nicht, ob Ihr mir vergeben könnt, aber ob Ihr könnt oder nicht, ich gehe jetzt. Und was mich betrifft, könnt Ihr so lange in Emondsfeld bleiben, wie es Euch beliebt.«
Mit einem geschwinden Kopfnicken, beinahe schon einer Verbeugung schob er sich in die Menge zurück. Nun murmelten auch andere, taten verschämt Buße, bevor sie ebenfalls davon schlichen. Die Coplins, mit finsterer Miene und heruntergezogenen Mundwinkeln, sahen die Gesichter der Menschen und verschwanden ohne ein Wort in der Nacht. Bili Congar hatte sich noch vor seinen Vettern verdrückt.
Lan zog Rand zurück und schloß die Tür. »Gehen wir, Junge!« Der Behüter trat in den hinteren Teil der Schenke. »Kommt mit, ihr beiden! Schnell!«
Rand zögerte und tauschte einen fragenden Blick mit Mat. Während Moiraine die Geschichte erzählt hatte, hätten ihn selbst Meister al'Veres Dhurran-Hengste nicht fortschleifen können, doch nun hemmte etwas anderes seine Schritte. Dies war der endgültige Moment, die Schenke zu verlassen und dem Behüter in die Nacht zu folgen... Er schüttelte sich und bemühte sich um Entschlossenheit. Er hatte keine andere Wahl, aber er würde nach Emondsfeld zurückkehren, wie weit ihn auch seine Reise führen mochte.
»Worauf wartet ihr?« fragte Lan an der Tür. Mat zuckte zusammen und eilte zu ihm.
Rand versuchte, sich selbst zu überzeugen, daß er am Beginn eines großen Abenteuers stand, und folgte ihnen durch die dunkle Küche in den Stallhof.