Sonnenschein auf seinem schmalen Bett weckte Rand schließlich aus tiefem, aber unruhigem Schlaf auf. Er zog sich ein Kissen über den Kopf, doch es konnte das Licht nicht abhalten, und er wollte eigentlich auch nicht mehr einschlafen. Nach dem ersten Traum waren noch mehr Träume gekommen. Er konnte sich nur noch an den ersten erinnern, aber er wußte, daß er kein Bedürfnis hatte, noch weitere zu erleben.
Mit einem Seufzer warf er das Kissen weg und setzte sich auf. Beim Strecken verzog er schmerzgeplagt das Gesicht. Alle Schmerzen, die er vermeintlich in der Badewanne losgeworden war, meldeten sich wieder. Und auch sein Kopf tat immer noch weh. Es überraschte ihn nicht. Ein Traum wie jener in dieser Nacht war dazu angetan, jedem Kopfschmerzen zu bereiten. Die anderen Träume waren schon verflogen, doch jener eine nicht.
Die anderen Betten waren leer. Der Sonnenschein kam bereits in einem steilen Winkel durch das Fenster. Zu Hause auf dem Hof hätte er zu dieser Zeit bereits etwas zum Essen bereitet und mit seinen täglichen Arbeiten begonnen. Er stieg aus dem Bett, wobei er ärgerlich in sich hineinbrummte. Eine Stadt, die man sich ansehen sollte, und sie hatten ihn nicht einmal geweckt. Zumindest aber hatte jemand dafür gesorgt, daß in der Kanne Wasser war, warmes Wasser sogar.
Er wusch sich rasch und zog sich hastig an. Bei Tams Schwert zögerte er für einen Augenblick. Lan und Thom hatten ihre Satteltaschen und Bettrollen hinten im Zimmer abgestellt, ganz klar, aber das Schwert des Behüters war nirgends zu finden. Lan hatte sein Schwert auch in Emondsfeld getragen, lange bevor es irgendein Anzeichen für Schwierigkeiten gab. Er wollte dem Vorbild des älteren Mannes folgen und redete sich ein, es habe nichts damit zu tun, daß er sich oft vorgestellt hatte, mit einem Schwert an der Hüfte durch die Straßen einer richtigen Stadt zu spazieren. So schnallte er es sich um und warf seinen Umhang wie einen Sack über die Schulter.
Er nahm zwei Treppenstufen mit einem Schritt und eilte hinunter zur Küche. Das war sicher der Ort, an dem er am schnellsten etwas zu essen bekam, und an seinem einzigen Tag in Baerlon wollte er nicht noch mehr Zeit verschwenden, als sowieso schon vertan war. Blut und Asche, sie hätten mich wirklich wecken können.
Meister Fitch stand in der Küche und schimpfte mit einer molligen Frau, deren Arme bis zu den Ellbogen mit Mehl bedeckt waren — offensichtlich der Köchin. Doch nein, sie schimpfte mit ihm und hielt ihm den Finger drohend unter die Nase. Kellnerinnen und Küchenjungen, Schankkellner und Putzer arbeiteten um sie herum und kümmerten sich nicht darum, was da vor ihnen geschah. »... mein Cirri ist ein guter Kater«, sagte sie gerade in scharfem Ton zu Meister Fitch, »und ich will keine Widerrede hören, verstanden? Ihr beklagt Euch darüber, daß er seine Aufgaben zu gut erfüllt, jawohl, wenn Ihr mich fragt!«
»Es sind Klagen gekommen«, warf Meister Fitch mit Mühe ein. »Beschwerden, meine Liebe. Die Hälfte der Gäste... «
»Ich will nichts davon hören. Ich will einfach nichts davon hören! Wenn sie sich über meine Katze beschweren wollen, dann sollen sie doch kochen! Meine arme alte Katze, die nur ihre Aufgaben erfüllt, und ich, wir werden woandershin gehen, wo man uns mehr schätzt, paßt nur auf!« Sie band ihre Schürze los und wollte sie über den Kopf streifen.
»Nein!« jammerte Meister Fitch und sprang vor, um sie aufzuhalten. Sie tanzten im Kreis herum. Die Köchin versuchte, die Schürze auszuziehen, und der Wirt versuchte, sie ihr wieder anzuziehen. »Nein, Sara!« schnaufte er. »Das ist nicht nötig. Nicht nötig, sage ich! Was fange ich ohne dich an? Cirri ist eine gute Katze. Eine ausgezeichnete Katze. Die beste Katze in Baerlon. Wenn sich noch mal jemand beschwert, werde ich ihm sagen, er soll dankbar sein, daß die Katze ihre Aufgaben erfüllt. Ja, dankbar! Du darfst nicht gehen! Sara? Sara!«
Die Köchin hörte mit der Herumlauferei auf und brachte es fertig, ihm ihre Schürze zu entreißen. »In Ordnung. Ist schon gut.« Sie hielt ihre Schürze in beiden Händen, band sie sich aber immer noch nicht um. »Aber wenn Ihr wollt, daß bis zum Mittag das Essen fertig ist, dann verschwindet jetzt aus der Küche und laßt mich arbeiten. Es ist vielleicht Eure Schenke, aber dies ist meine Küche. Es sei denn, Ihr wollt selbst kochen... « Sie tat so, als wolle sie ihm die Schürze reichen.
Meister Fitch trat mit weit gespreizten Armen zurück. Er öffnete den Mund, hielt inne und sah sich zum ersten Mal um. Die Küchenhilfen übersahen noch immer — sehr betont — Köchin und Wirt, während Rand intensiv in seinen Manteltaschen zu suchen begann, obwohl außer Moiraines Münze nichts darin war als ein paar Kupferstücke und eine Handvoll Krimskrams. Sein Taschenmesser und der Wetzstein. Zwei ReserveBogensehnen und ein Stück Schnur, das er für alle Fälle immer dabei hatte.
»Ich bin sicher, Sara«, sagte Meister Fitch vorsichtig, »daß alles so vorzüglich wie immer bei dir schmecken wird.« Damit blickte er zum letzten Mal die Küchenhilfen mißtrauisch an und verließ den Raum mit aller Würde, die er aufbringen konnte.
Sara wartete, bis er draußen war, und band sich entschlossen die Schürze wieder um, bevor sie Rand anblickte. »Ich schätze, du möchtest etwas zum Essen haben, wie? Also dann komm rein.« Sie lächelte ihn verschmitzt an. »Ich beiße nicht, wirklich nicht, gleichgültig, was du vielleicht gesehen haben magst, auch wenn es nicht für deine Augen bestimmt war. Ciel, hol Brot, Käse und Milch für den Jungen! Das ist alles, was im Augenblick da ist. Setz dich, Junge. Deine Freunde sind alle ausgegangen, außer einem, der sich nicht wohl fühlte, wie man mir sagte, und ich denke, du wirst auch weg wollen.«
Eine der Kellnerinnen brachte ein Tablett, während sich Rand auf einen Hocker am Tisch setzte. Er aß, und die Köchin knetete weiter ihren Brotteig. Ihr Wortschwall war aber keineswegs beendet.
»Du mußt das nicht so ernstnehmen, was du gesehen hast. Meister Fitch ist durchaus ein guter Mann. Die Beschwerden der Leute machen ihn nervös, und worüber beschweren sie sich? Möchten sie lieber lebendige Ratten finden als tote? Auch wenn nicht zu Cirri paßt, seine Beute einfach zurückzulassen. Und mehr als ein Dutzend? Cirri würde niemals so viele in die Schenke hereinlassen, er nicht! Dies ist außerdem ein sauberes Haus und wird von Ratten nicht so heimgesucht. Und alle mit gebrochenem Rückgrat.« Sie schüttelte den Kopf über so viele Ungereimtheiten.
Brot und Käse verwandelten sich in Rands Mund zu Asche. »Ihr Rückgrat war gebrochen?«
Die Köchin wedelte mit mehliger Hand. »Denk einfach an schönere Dinge, das ist meine Meinung. Es ist ein Gaukler da, weißt du. Im Augenblick ist er im Schankraum. Aber ach, du bist ja mit ihm zusammen gekommen, nicht wahr? Du bist einer von denen, die gestern abend mit Frau Alys angekommen sind, ja? Das habe ich mir gedacht. Ich werde nicht viel Gelegenheit haben, dem Gaukler zuzusehen, fürchte ich, nicht bei einer so überfüllten Schenke, und die meisten Gäste noch dazu dieses Pack aus den Bergwerken.« Sie klatschte besonders heftig auf einen Klumpen Teig. »Nicht die Sorte, die wir sonst gern hereinlassen, nur daß der ganze Ort voll von ihnen ist. Aber ich denke, so schlimm sind sie auch wieder nicht. Sag mal, ich habe tatsächlich seit der Zeit vor dem Winteranbruch keinen Gaukler mehr gesehen, und... «
Rand aß mechanisch. Er schmeckte nichts und hörte der Köchin nicht zu. Tote Ratten mit gebrochenem Rückgrat. Er beendete hastig sein Frühstück, stammelte einen Dank und eilte hinaus. Er mußte mit jemandem sprechen.
Der Schankraum im ›Hirsch und Löwen‹ hatte außer dem Zweck wenig mit dem der Weinquellenschenke gemein. Er war zweimal so breit und dreimal so lang, und auf die Wände waren farbenfrohe Bilder von geschmückten Gebäuden mit Gärten voller hoher Bäume und leuchtender Blumen aufgemalt. Statt eines großen Kamins gab es hier an jeder Wand einen, und Dutzende von Tischen füllten den Raum. Fast jeder Stuhl, jeder Hocker und jede Bank waren besetzt.
Die Pfeife im Mund und den Krug in der Faust, beugten sich die Gäste vor und richteten die Aufmerksamkeit auf dieselbe Gestalt. Thom stand auf einem Tisch in der Mitte des Raums. Den vielfarbigen Umhang hatte er über einen Stuhl geworfen. Selbst Meister Fitch hielt einen silbernen Krug und ein Poliertuch in erstarrten Händen.
»... tänzelnd, silberne Hufe und stolz gekrümmte Hälse«, deklamierte Thom und schien dabei irgendwie nicht nur auf einem Pferd zu reiten, sondern sich auch noch in einer langen Prozession von Reitern zu befinden. »Seidenfeine Mähnen flattern, wenn die Köpfe hochgeworfen werden. Tausend flatternde Banner weben Regenbogen in den endlosen Himmel. Hundert messingtönende Trompeten lassen die Luft erzittern und Trommeln rasseln wie Donner. Hurrarufe erheben sich Welle um Welle von Tausenden von Zuschauern, ergießen sich über die Dächer und Türme von Illian, brechen und prallen ungehört auf die tausend Ohren von Reitern, deren Augen und Herzen von ihrer heiligen Aufgabe beseelt glänzen. Die Wilde Jagd nach dem Horn reitet hinaus, reitet, um das Horn von Valere zu suchen, das die Helden vergangener Zeitalter aus den Gräbern zurückholt, um für das Licht zu kämpfen... «
Es war die Darbietung, die der Gaukler das Einfache Lied genannt hatte, als er ihnen in den Nächten neben dem Feuer auf ihrem Weg nach Norden von seiner Arbeit erzählt hatte. Geschichten, hatte er gesagt, wurden in drei Formen erzählt: das Hohe Lied, das Einfache Lied und das Volkslied, das einfach so erzählt wurde, als berichte man einem Nachbarn über die Ernteaussichten. Thom erzählte manchmal Geschichten in der Volksliedform, und es kümmerte ihn nicht, daß in seiner Stimme Verachtung mitschwang.
Rand schloß die Tür, ohne einzutreten, und ließ sich gegen die Wand sacken. Von Thom konnte er keinen Rat erwarten. Moiraine — was würde sie tun, wenn sie es wüßte?
Er bemerkte, daß ihn die Leute im Vorübergehen anstarrten und daß er Selbstgespräche führte. Er strich seinen Mantel glatt und richtete sich auf. Er mußte mit jemandem sprechen. Die Köchin hatte gesagt, einer der anderen sei nicht mit ausgegangen. Es kostete ihn Mühe, nicht zu rennen.
Als er an die Tür des Zimmers klopfte, wo die anderen Jungen geschlafen hatten, und schließlich den Kopf hineinsteckte, war nur Perrin da, der noch unangezogen im Bett lag. Er verdrehte den Kopf auf dem Kissen, um Rand anzusehen, und schloß die Augen wieder. Mats Bogen und Köcher standen in einer Ecke.
»Ich hörte, daß du dich nicht wohl fühlst«, sagte Rand. Er trat ein und setzte sich auf das danebenstehende Bett. »Ich wollte nur reden. Ich... « Er wußte nicht, wie er anfangen sollte. »Wenn dir schlecht ist«, sagte er halb im Aufstehen, »solltest du vielleicht besser schlafen. Ich kann ja gehen.«
»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder schlafen werde«, seufzte Perrin. »Ich hatte einen schlimmen Traum, wenn du es schon wissen willst, und ich konnte danach nicht mehr einschlafen. Mat wird es dir bestimmt auch erzählen. Er lachte heute morgen, als ich den anderen erzählte, warum ich zu müde war, um mit ihnen auszugehen, aber er hat auch geträumt. Ich habe ihm einen großen Teil der Nacht zugehört, denn er wälzte sich im Bett hin und her und sprach im Schlaf, und keiner kann mir weismachen, daß er gut geschlafen hat.« Er hielt sich einen starken Arm vor die Augen. »Licht, bin ich vielleicht müde! Wenn ich ein oder zwei Stunden hierbleibe, fühle ich mich vielleicht wohler und kann aufstehen. Mat wird es mir nie verzeihen, wenn ich Baerlon wegen eines Traums nicht anschaue.«
Rand leckte sich die Lippen und fragte: »Hat er eine Ratte getötet?«
Perrin senkte den Arm und blickte ihn an. »Du auch?« fragte er schließlich. Als Rand nickte, fügte er hinzu: »Ich wünschte, ich wäre wieder zu Hause. Er erzählte mir... Er sagte... Was sollen wir tun? Hast du es Moiraine erzählt?«
»Nein. Noch nicht. Vielleicht lasse ich es auch bleiben. Ich weiß nicht. Wie steht's mit dir?«
»Er sagte... Blut und Asche, Rand, ich weiß es nicht.« Perrin stützte sich auf den Ellbogen. »Glaubst du, daß Mat den gleichen Traum hatte? Er lachte, aber es klang gezwungen, und er schaute mich so komisch an, als ich erzählte, ich hätte wegen eines Traums nicht mehr geschlafen.«
»Vielleicht träumte er das gleiche«, sagte Rand. Er hatte ein schlechtes Gewissen, daß er sich so erleichtert fühlte, nicht der einzige mit Alpträumen zu sein. »Ich wollte Thom um Rat fragen. Er hat viel von der Welt gesehen. Du... du denkst wohl auch, wir sollten es Moiraine nicht erzählen, oder?«
Perrin ließ sich in die Kissen zurückfallen. »Du hast gehört, was man sich über die Aes Sedai erzählt. Glaubst du, wir können Thom vertrauen? Wenn wir überhaupt jemandem vertrauen können. Rand, wenn wir lebend aus dieser Sache herauskommen, wenn wir jemals heimkommen und du hörst mich sagen, ich wolle Emondsfeld wieder verlassen — auch wenn es nur für eine Reise nach Wachhügel ist -, dann gib mir einen Tritt.
Klar?«
»So solltest du nicht sprechen«, sagte Rand. Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln, so gutgelaunt, wie er es gerade fertigbrachte. »Natürlich kehren wir wieder heim. Komm, steh auf! Wir sind in einer Stadt und haben einen ganzen Tag Zeit, sie anzusehen. Wo sind deine Kleider?«
»Geh du nur. Ich will nur eine Weile hier liegenbleiben.« Perrin legte den Arm wieder über die Augen. »Geh du nur vor. Ich komme in ein oder zwei Stunden nach.«
»Du bist der Leidtragende«, sagte Rand beim Aufstehen. »Denk mal daran, was du alles versäumst.« Er blieb an der Tür noch einmal stehen. »Baerlon. Wie oft haben wir darüber gesprochen, daß wir eines Tages Baerlon sehen wollten!« Perrin lag mit bedeckten Augen da und sagte kein Wort. Kurz darauf verließ Rand das Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Im Flur lehnte er sich an die Wand. Sein Lächeln verflog. Sein Kopf schmerzte nach wie vor, und zwar schlimmer als zuvor. Er konnte nicht mehr viel Begeisterung für Baerlon empfinden. Er konnte überhaupt keine Begeisterung für irgend etwas aufbringen.
Ein Zimmermädchen kam mit einem Arm voller Bettlaken an ihm vorbei und sah ihn besorgt an. Bevor sie etwas sagen konnte, eilte er den Flur entlang und schlüpfte in seinen Umhang. Thom würde noch stundenlang im Schankraum beschäftigt sein. Er konnte sich also genausogut die Stadt anschauen. Vielleicht würde er Mat aufspüren und herausfinden, ob Ba'alzamon auch durch seine Träume gegeistert war. Er ging diesmal langsamer die Treppe hinunter und rieb sich die Schläfen.
Die Treppe führte zur Küche, und so wählte er diesen Weg nach draußen. Er nickte Sara zu, doch dann beeilte er sich, als sie allem Anschein nach ihre Unterhaltung wieder aufnehmen wollte. Der Stallhof war fast leer. Nur Mutch, der an der Stalltür stand, und einer der Stallknechte, der einen Sack auf der Schulter hatte und ihn in die Ställe trug, befanden sich dort. Rand nickte Mutch zu, aber der Pferdepfleger warf ihm einen gehässigen Blick zu und ging hinein. Er hoffte, die übrigen Städter würden eher Sara ähneln als Mutch. Er war neugierig, den Charakter dieser Stadt kennenzulernen, und beschleunigte seine Schritte.
Am offenen Tor des Stallhofes blieb er stehen und sah sich um. Die Straßen waren von Menschen gefüllt wie ein Pferch mit Schafen. Die Menschen waren bis zu den Augen in Umhänge und Mäntel gehüllt, hatten die Hüte zum Schutz gegen die Kälte tief heruntergezogen und begaben sich mit schnellen Schritten in die Menge hinein oder wieder heraus, als bliese der über die Dächer pfeifende Wind sie immer weiter. Achtlos schoben sie sich aneinander vorbei, grußlos und ohne die anderen anzuschauen. Alles Fremde, dachte er. Keiner von ihnen kennt den anderen.
Auch die Gerüche waren fremdartig, scharf und sauer und süß, alles zu einem Durcheinander vermischt, das ihn in der Nase juckte. Noch nicht einmal auf dem Höhepunkt eines Festes hatte er bisher erlebt, daß sich so viele Menschen zusammendrängten. Nicht einmal halb so viele. Und dies war nur eine einzige Straße. Die ganze Stadt... War es überall so? Er trat langsam vom Tor zurück nach hinten, weg von dieser mit Menschen gefüllten Straße. Es war nicht richtig, wegzugehen und Perrin krank im Bett zurückzulassen. Und wenn Thom mit dem Erzählen fertig würde, während er noch draußen in der Stadt war? Der Gaukler würde dann vielleicht selbst ausgehen, und Rand mußte mit jemandem sprechen. Viel besser, ein wenig zu warten. Er atmete erleichtert auf, als er der überfüllten Straße den Rücken kehrte.
Bei seinem Kopfweh hatte er aber auch keine Lust, zurückzukehren in die Schenke. Er setzte sich auf ein Faß, das umgedreht an der Rückwand der Schenke stand, und hoffte, die kalte Luft möge seinem Kopf guttun. Von Zeit zu Zeit kam Mutch an die Stalltür und starrte ihn an. Sogar auf die Entfernung konnte Rand die böse Miene des Burschen deutlich erkennen. Mochte der Mann keine Leute vom Land? Oder hatte ihn Meister Fitch so in Verlegenheit gebracht, als er sie begrüßte, nachdem Mutch versucht hatte, sie zu verscheuchen, als sie von der Rückseite her hereingekommen waren? Vielleicht ist er ein Schattenfreund, dachte er. Eigentlich hätte er von sich erwartet, bei diesem Gedanken zu schmunzeln, aber nun war es alles andere als lustig. Er streichelte mit der Hand über den Knauf von Tams Schwert. Es gab überhaupt kaum noch etwas Lustiges.
»Ein Schafhirte mit einem Schwert, das ein Reiherzeichen trägt«, sagte eine leise Frauenstimme. »Da kann man ja gleich alles glauben. In welchen Schwierigkeiten steckst du denn, Junge vom Land?«
Überrascht sprang Rand auf. Es war die junge Frau mit dem kurzgeschnittenen Haar, die bei Moiraine gestanden hatte, als er aus dem Bad kam. Sie trug immer noch Hosen und Mantel eines Jungen. Sie war ein wenig älter als er, wie er glaubte, und hatte dunkle Augen, noch größer als Egwenes Augen und seltsam intensiv im Blick. »Du heißt Rand, nicht wahr?« fuhr sie fort. »Ich heiße Min.«
»Ich bin nicht in Schwierigkeiten«, sagte er. Er hatte keine Ahnung, was Moiraine ihr alles erzählt hatte, aber er erinnerte sich an Lans Weisung, keine Aufmerksamkeit zu erregen. »Wieso glaubst du, ich sei in Schwierigkeiten? Die Zwei Flüsse sind ein ruhiges Gebiet, und wir sind alle ruhige Leute. Kein Ort für Schwierigkeiten, es sei denn, sie hängen mit der Ernte oder den Schafen zusammen.«
»Ruhig?« fragte Min mit leichtem Lächeln. »Ich habe gehört, was man über euch Zwei-Flüsse-Leute so sagt. Ich habe die Witze gehört, die man über holzköpfige Schäfer gerissen hat, aber es gibt auch Männer, die wirklich dort unten gewesen sind.«
»Holzköpfe?« fragte Rand mit finsterer Miene. »Was für Witze?«
»Diejenigen, die euch kennen«, fuhr sie fort, als habe er nichts gesagt, »berichten, daß ihr immer lächelnd und höflich herumlauft, so sanft und butterweich im Verhalten. Jedenfalls an der Oberfläche. Darunter, sagen sie, seid ihr so zäh wie alte Eichenwurzeln. Wenn du sie zu hart anpackst, behaupten sie, beißt du auf Granit. Aber in dir und deinen Freunden liegt der Granit ziemlich an der Oberfläche. Es ist, als hätte ein Sturm die Erde weggeblasen, die ihn bedeckte. Moiraine hat mir nicht alles erzählt, aber ich habe ja Augen im Kopf.«
Alte Eichenwurzeln? Granit? Das klang kaum nach den Geschichten der Händler und anderer Leute. Der letzte Satz allerdings ließ ihn zusammenfahren.
Er sah sich schnell um. Der Stallhof war leer und die nächsten Fenster geschlossen. »Ich kenne niemanden namens — wie war der Name doch gleich wieder?«
»Also dann eben Frau Alys, wenn dir das lieber ist«, sagte Min mit belustigtem Blick, der Rand die Röte in die Wangen trieb. »Es ist niemand in der Nähe, der uns belauschen könnte.«
»Wieso glaubst du, daß Frau Alys noch einen anderen Namen hat?«
»Weil sie es mir erzählt hat«, sagte Min so geduldig, daß er schon wieder errötete. »Allerdings hatte sie keine andere Wahl, denke ich. Ich erkannte, daß sie... anders war... gleich vom ersten Augenblick an... als sie auf dem Weg zu euch hier vorbeikam. Sie erkannte mich ebenfalls. Ich habe früher schon mit... anderen von ihrer Art gesprochen.«
»Du erkanntest — sie?« fragte Rand.
»Na ja, ich glaube nicht, daß du gleich zu den Kindern rennen wirst. Vor allem, wenn man bedenkt, wer deine Reisegenossen sind. Den Weißmänteln würde das, was ich tue, genausowenig gefallen wie das, was sie tut.«
»Ich verstehe nicht.«
»Sie sagt, daß ich Teile des Musters sehen kann.« Min lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Hört sich toll an -zu toll, was mich betrifft. Ich sehe einfach nur Dinge, wenn ich die Leute anblicke, und manchmal weiß ich, was sie wirklich wollen. Ich sehe einen Mann und eine Frau an, die noch nie miteinander gesprochen haben, und weiß, daß sie heiraten werden. Und das tun sie dann auch. Das sind die Dinge, die ich sehe. Sie wollte, daß ich dich kennenlerne. Euch alle zusammen.«
Rand schauderte. »Und was hast du gesehen?«
»Wenn ihr alle zusammen seid? Funken schwirren um euch herum, Tausende, und ein großer Schatten, dunkler als Mitternacht. Diese Erscheinung ist so stark, daß ich mich schon fast frage, warum es nicht jeder sieht. Die Funken versuchen, den Schatten zu füllen, und der Schatten versucht, die Funken zu verschlingen.« Sie zuckte die Achseln. »Ihr seid alle in irgend etwas Gefährlichem verstrickt, und ich kann einfach nicht mehr darüber herausfinden.«
»Wir alle?« murmelte Rand. »Auch Egwene? Aber sie waren nicht hinter... Ich meine... «
Min schien seinen Versprecher nicht zu bemerken.
»Das Mädchen? Sie gehört auch dazu. Und der Gaukler. Ihr alle. Und du bist in sie verliebt.« Er sah sie entgeistert an. »Das kann ich sagen, ohne mein inneres Auge bemühen zu müssen. Sie liebt dich auch, aber sie ist nicht für dich bestimmt und du nicht für sie. Jedenfalls nicht in der Art, die ihr euch beide wünscht.« »Was soll das heißen?«
»Wenn ich sie ansehe, erblicke ich das gleiche wie bei... Frau Alys. Auch andere Dinge, die ich nicht verstehe, doch zumindest weiß ich, was das bedeutet. Sie wird es nicht verweigern.«
»Das ist doch alles Unsinn«, sagte Rand unsicher. Sein Kopfweh verflog langsam; der Kopf war wie taub, als ob man ihn voll Wolle gepackt hätte. Er wollte weg von diesem Mädchen und den Dingen, die sie sah. Und doch... »Was siehst du, wenn du den Rest von uns anblickst?«
»Alles mögliche«, sagte Min mit einem Lächeln, als wisse sie, was er wirklich fragen wollte. »Der Krieg... äh... Meister Andra hat sieben zerstörte Festungen um den Kopf und ein Kind in der Wiege um sich, das ein Schwert hält und...« Sie schüttelte den Kopf. »Männer wie er -verstehst du? — haben so viele Bilder um sich herum, daß ein Bild das andere verdrängt. Die stärksten Eindrücke, die den Gaukler umgeben: ein Mann — nicht er selbst -, der Feuer schluckt, und der Weiße Turm. Bei einem Mann ergibt das überhaupt keinen Sinn. Die stärksten Eindrücke bei dem großen krausköpfigen Burschen sind ein Wolf, eine zerbrochene Krone und Bäume, die um ihn herum blühen. Und bei dem anderen — ein roter Adler, ein Auge auf einer Waagschale, ein Dolch mit einem Rubin, ein Horn und ein lachendes Gesicht. Da gibt es noch mehr, aber ich denke, du siehst, was ich meine. Diesmal kann ich einfach nichts Rechtes damit anfangen.«
Dann wartete sie, immer noch lächelnd, bis er sich schließlich räusperte und fragte: »Wie steht's bei mir?«
Ihr Lächeln wurde zu einem offenen Lachen. »Dieselben Dinge wie bei den anderen. Ein Schwert, das kein Schwert ist, eine goldene Krone in Form von Lorbeerblättern, ein Bettelstab, du, wie du Wasser auf Sand schüttest, eine blutende Hand und ein weißglühendes Eisen, drei Frauen, die bei einer Beerdigung an der Bahre stehen, auf der du liegst, schwarzer Fels, naß von Blut... «
»Ist schon gut«, unterbrach er sie verlegen. »Du mußt nicht alles aufzählen.«
»Vor allem sehe ich Blitze um dich herum. Manche zucken auf dich zu, manche kommen aus dir heraus. Ich weiß nicht, was das alles bedeutet, außer bei einer Sache. Du und ich, wir werden uns wiedersehen.« Sie sah ihn fragend an, als verstehe sie auch das nicht.
»Warum auch nicht?« fragte er. »Ich werde auf dem Heimweg wieder hier durchkommen.«
»Ich denke schon.« Plötzlich war ihr Lächeln wieder da, versonnen und geheimnisvoll, und sie tätschelte ihm die Wange. »Aber wenn ich dir alles erzähle, was ich sah, dann wäre dein Haar genauso kraus wie bei deinem Freund mit den breiten Schultern.«
Er zuckte vor ihrer Hand zurück, als sei sie rotglühend. »Was meinst du damit? Siehst du irgend etwas über Ratten? Oder Träume?«
»Ratten! Nein, keine Ratten. Und was die Träume betrifft, vielleicht träumst du so was gern, aber ich habe sonst nie davon geträumt.«
Er fragte sich, ob sie übergeschnappt sei, so lächelte sie ihn an. »Ich muß gehen«, sagte er und schob sich an ihr vorbei. »Ich... ich muß meine Freunde treffen.«
»Also geh. Aber du wirst nicht entkommen.«
Er rannte nicht gerade weg, wurde aber doch mit jedem Schritt etwas schneller. »Renn, wenn du willst!« rief sie ihm nach. »Du kannst mir nicht entkommen.«
Ihr Lachen verfolgte ihn über den Hof und hinaus auf die Straße in das Menschengewühl hinein. Ihre letzten Worte glichen zu sehr denen von Ba'alzamon. Er rempelte Leute an, als er sich durch die Menge schob, was ihm scharfe Blicke und böse Worte einbrachte, aber er verlangsamte seine Schritte nicht, bis er einige Straßen von der Schenke entfernt war.
Nach einer Weile begann er, wieder auf seine Umgebung zu achten. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Ballon, aber er sah sich trotzdem um und genoß den Anblick. Er fand, Baerlon war schon eine tolle Stadt, wenn auch nicht auf dieselbe Art wie die Städte in Thoms Geschichten. Er wanderte durch breite Straßen, meist mit großen Platten gepflastert, und durch kleine gewundene Gassen, wohin auch immer der Zufall und die Menschenmenge ihn trieben. Es hatte in der Nacht geregnet, und die ungepflasterten Straßen waren von der Menge bereits zu Matsch zertrampelt worden. Doch schlammige Straßen waren für ihn nichts Neues. Keine der Straßen in Emondsfeld war gepflastert.
Es gab nun bestimmt auch keine Paläste, und nur wenige Häuser waren sehr viel größer als die zu Hause, aber jedes Haus hatte ein Ziegel- oder Schieferdach, das genauso schön war wie das der Weinquellenschenke. Er schätzte, daß es in Caemlyn vielleicht ein oder zwei Paläste gab. Was Schenken betraf, so zählte er neun, und keine davon war kleiner als die Weinquelle. Die meisten waren genauso groß wie der ›Hirsch und Löwe‹, und es gab ja noch eine Menge Straßen, die er nicht gesehen hatte.
An jeder Straße gab es Läden mit Markisen, die mit Waren vollgeladene Tische schützten. Man bekam alles -vom Stoff, über Bücher bis zu Töpfen und Stiefeln. Es war, als hätten hundert Händlerwagen ihren Inhalt verstreut. Er sah sich alles so auffällig an, daß er mehr als einmal unter den mißtrauischen Blicken eines Ladeninhabers flüchten mußte. Beim ersten Ladeninhaber hatte er noch nicht verstanden, warum er ihn so ansah. Als er endlich kapierte, wurde er zuerst wütend, bis er sich daran erinnerte, daß er hier der Fremde war. Er hätte sowieso nicht viel kaufen können. Er schnappte nach Luft, als er sah, wie viele Kupfermünzen man für ein Dutzend verfärbte Äpfel oder eine Handvoll verschrumpelter Rüben hinlegen mußte — die man bei den Zwei Flüssen an die Pferde verfüttert hätte, aber die Leute zahlten ganz eifrig.
Es gab hier für seinen Geschmack wirklich mehr als genug Leute. Für eine Weile überwältigte ihn der Anblick der Massen beinahe. Einige trugen feinere Kleider, als irgend jemand in den Zwei Flüssen besaß — beinahe die Qualität von Moiraines Kleidung -, und recht viele waren in pelzbesetzte lange Mäntel gehüllt, die bis zu den Knöcheln reichten. Die Bergarbeiter, von denen man in der Schenke soviel geredet hatte, gingen gebeugt einher wie alle Männer, die unter der Erde gruben. Doch die meisten Menschen sahen auch nicht anders aus als jene, mit denen er aufgewachsen war, weder was die Gesichter noch was die Kleidung betraf. Er hatte irgendwie mehr Unterschiede erwartet. Und nun erinnerten ihn manche Gesichter so sehr an die Zwei Flüsse, daß er sich vorstellen konnte, sie gehörten der einen oder anderen Familie an, die er aus der Gegend von Emondsfeld kannte. Ein zahnloser grauhaariger Bursche mit Ohren wie die Henkel an einem Bierkrug, der auf einer Bank vor einer Schenke saß und trauernd in den leeren Humpen blickte, hätte sehr wohl ein Vetter Bili Congars sein können. Der Schneider mit dem kantigen Kinn, der vor seinem Laden nähte, mochte Jon Thanes Bruder sein — bis hin zu dem kahlen Fleck auf dem Hinterkopf. Ein Beinahe-Spiegelbild von Samel Crawe drängte sich an Rand vorbei, als er um eine Ecke kam und...
Ungläubig starrte er den kleinen hageren Mann mit langen Armen und großer Nase an, der sich hastig durch die Menge schob. Seine Kleider wirkten wie ein Bündel Lumpen. Die Augen waren von dunklen Ringen umgeben, und das Gesicht wirkte eingefallen, als hätte er tagelang nicht geschlafen und nichts gegessen, aber Rand hätte schwören können... Der zerlumpte Mann sah ihn und erstarrte mitten im Schritt. Er achtete nicht auf die Menschen, die ihn aus Versehen beinahe anrempelten. Rands letzter Zweifel verschwand.
»Meister Fain!« rief er. »Wir dachten alle, Ihr wärt... «
Schnell wie der Blitz eilte der Händler davon, aber Rand lief ihm hinterher. Er rief den Leuten, die er anrempelte, über die Schulter Entschuldigungen zu. Durch die Menge hindurch erhaschte er einen Blick auf Fain, als dieser gerade in eine Gasse rannte. Rand bog hinter ihm in dieselbe Gasse ein. Der Händler war nach ein paar Schritten stehengeblieben. Ein hoher Zaun machte die Gasse zu einer Sackgasse. Als Rand sich abfing und mit Mühe stehenblieb, tat Fain so, als wolle er gleich über ihn herfallen. Er duckte sich, zog sich dann aber zurück. Mit schmutzigen Händen bedeutete er Rand, nicht näher zu kommen. In seinem Mantel war mehr als ein Riß zu erkennen, und der Umhang war so abgetragen und zerfleddert, als sei er eher mißbraucht als getragen worden. »Meister Fain«, fragte Rand zögernd, »was ist los? Ich bin es, Rand al'Thor aus Emondsfeld. Wir dachten alle, die Trollocs hätten Euch gefangengenommen.«
Fain gestikulierte mit abgehackten Bewegungen und rannte gebückt ein paar Schritte in Richtung auf das offene Ende der Gasse zu. Er versuchte aber nicht, an Rand vorbeizukommen oder sich ihm auch nur zu nähern. »Nicht!« krächzte er. Sein Kopf war ständig in Bewegung, da er sich bemühte, die Straße jenseits von Rand immer im Auge zu behalten. »Erwähne nicht... « Seine Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. Er drehte den Kopf weg und beobachtete Rand von der Seite her. »Erwähne sie nicht! Es sind Weißmäntel in der Stadt.«
»Sie haben keinen Grund, uns zu belästigen«, sagte Rand. »Kommt mit zurück zum ›Hirsch und Löwen‹! Ich bin dort mit meinen Freunden. Ihr kennt die meisten von ihnen. Sie werden sich freuen, Euch zu sehen. Wir dachten alle, Ihr wärt tot.«
»Tot?« fauchte der Händler beleidigt. »Nicht Padan Fain. Padan Fain weiß, wie man wieder auf den Füßen landet.« Er richtete seine Lumpenkleider, als seien sie ein Festtagsgewand. »Das habe ich immer geschafft, und das werde ich auch immer schaffen. Ich werde lange leben. Länger als... « Plötzlich straffte sich sein Gesicht, und die Hände verkrampften sich in dem Vorderteil seines Mantels. »Sie haben meinen Wagen und alle Waren verbrannt. Hatten keinen Grund, das zu tun, nicht wahr? Ich konnte meine Pferde nicht holen. Meine Pferde, aber dieser fette alte Wirt ließ sie in seinen Stall sperren. Ich mußte schnell entkommen, um meinen Hals zu retten, und was habe ich davon? Alles, was mir bleibt, sind die Sachen, die ich anhabe. Ist das etwa anständig? Wirklich?«
»Eure Pferde sind in Sicherheit in Meister al'Veres Stall. Ihr könnt sie jederzeit abholen. Wenn Ihr mit mir zur Schenke kommt, sorgt Moiraine sicher dafür, daß Ihr zu den Zwei Flüssen zurückkommt.«
»Aaaah! Sie ist... sie ist die Aes Sedai, ja?« Fains Gesicht nahm einen lauernden Ausdruck an. »Vielleicht aber auch... « Er schwieg und leckte sich nervös über die Lippen. »Wie lange bleibt Ihr in dieser... Wie heißt das? Wie hast du die Schenke genannt? ›Hirsch und Löwe‹?«
»Wir reisen morgen ab«, sagte Rand. »Aber was hat das mit... «
»Du kannst das einfach nicht nachfühlen«, winselte Fain, »wie du da mit vollem Bauch und nach einer Nacht in einem weichen Bett dastehst. Ich habe seit der bewußten Nacht kaum ein Auge zugetan. Meine Stiefel sind fast durchgelaufen, und was ich essen mußte... « Sein Gesicht verzog sich. »Ich will mich lieber meilenweit entfernt von einer Aes Sedai aufhalten« — bei diesem Namen spuckte er beinahe aus -, »meilenweit, aber vielleicht muß ich doch... Ich habe keine Wahl, nicht wahr? Der Gedanke, daß sie mich ansieht, daß sie überhaupt weiß, wo ich mich aufhalte... « Er streckte die Hände nach Rand aus, als wolle er ihn am Mantel packen, doch hielt er kurz davor zitternd inne und trat statt dessen einen Schritt zurück. »Versprich mir, daß du ihr nichts erzählst. Ich habe Angst vor ihr. Es ist nicht notwendig, ihr von mir zu erzählen. Eine Aes Sedai muß nicht wissen, daß ich noch lebe. Du mußt es mir versprechen. Du mußt!«
»Ich verspreche es«, sagte Rand in beruhigendem Ton. »Aber Ihr habt keinen Grund, Euch vor ihr zu fürchten. Kommt mit! Zumindest bekommt Ihr dann eine heiße Mahlzeit.«
»Vielleicht. Vielleicht.« Fain rieb sich nachdenklich das Kinn. »Morgen, sagst du? Während dieser Zeit... Du wirst dein Versprechen doch nicht vergessen? Du erzählst ihr bestimmt nicht...?«
»Ich werde dafür sorgen, daß sie Euch nichts tut«, versprach Rand und fragte sich insgeheim, wie er wohl eine Aes Sedai aufhalten sollte, was auch immer sie vorhatte.
»Sie wird mir nichts tun«, sagte Fain. »Nein, das wird sie nicht. Ich lasse es nicht zu.« Wie der Blitz schnellte er an Rand vorbei und verschwand in der Menge.
»Meister Fain!« rief Rand. »Wartet!«
Er rannte gerade rechtzeitig aus der Sackgasse heraus, um einen zerfledderten Mantel um die nächste Ecke herum verschwinden zu sehen. Er rief nochmals nach Fain und rannte hinterher. Als er um die Ecke flitzte, konnte er gerade noch den Rücken eines Mannes sehen, bevor er auch schon mit ihm zusammenstieß. Sie beide landeten aufeinander im Matsch.
»Kannst du nicht aufpassen, wohin du rennst?« kam eine Stimme unter ihm hervor, und Rand rappelte sich überrascht hoch.
»Mat?«
Mat setzte sich mit vorwurfsvollem Blick auf und streifte mit den Händen den Matsch von seinem Umhang. »Du scheinst dich wirklich in einen Stadtmenschen zu verwandeln. Den ganzen Morgen schlafen und dann Leute über den Haufen rennen.« Er stand auf, betrachtete seine verschmierten Hände, fluchte leise und wischte sie sich am Umhang ab. »Paß mal auf! Du wirst nie erraten, wen ich gerade eben sah.«
»Padan Fain«, sagte Rand.
»Padan Fa... Woher weißt du das?«
»Ich habe mit ihm gesprochen, aber er rannte weg.«
»Also haben die Tro... « Mat hielt inne und sah sich mißtrauisch um, doch die Menge marschierte vorbei, ohne ihnen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Rand war froh, daß Mat ein wenig vorsichtiger geworden war. »Also haben sie ihn nicht erwischt. Ich frage mich, warum er Emondsfeld so heimlich verlassen hat. Möglich, daß er weglief und nicht mehr innehielt, bis er hier ankam. Aber warum ist er jetzt wieder weggelaufen?«
Rand schüttelte den Kopf und verwünschte die Bewegung gleich wieder. Es war ein Gefühl, als werde ihm der Kopf gleich abfallen. »Ich weiß auch nicht... außer er hat Angst vor M... vor Frau Alys.« Es war nicht leicht, die Zunge immer im Zaum zu halten. »Sie soll nicht erfahren, daß er hier ist. Ich mußte ihm versprechen, daß ich es ihr nicht erzähle.«
»Also, dieses Geheimnis werde ich auch wahren«, sagte Mat. »Ich wünschte, sie wüßte auch nicht, wo ich bin.«
»Mat?« Die Leute strömten immer noch vorbei, ohne sie zu beachten, aber Rand senkte trotzdem die Stimme und beugte sich näher zu Mat hinüber. »Mat, hattest du letzte Nacht einen Alptraum? Von einem Mann, der eine Ratte tötete?«
Mat sah ihn mit großen Augen an. »Du auch?« fragte er schließlich. »Und Perrin auch, schätze ich. Ich hätte ihn heute morgen beinahe gefragt, aber... Er muß es auch geträumt haben. Blut und Asche! Jetzt bringt uns jemand dazu, scheußliche Dinge zu träumen. Rand, ich wünschte, niemand wüßte, wo ich bin.«
»Heute morgen lagen überall in der Schenke tote Ratten herum.« Er fühlte die Angst nicht in solchem Maß in sich aufsteigen, wie er sie vorher beim Erzählen noch gefühlt hätte. Er fühlte überhaupt nicht viel. »Ihr Rückgrat war gebrochen.« Die eigene Stimme hallte ihm in den Ohren wider. Falls er krank wurde, mußte er zu Moiraine gehen. Er war überrascht, daß ihn der Gedanke, die Eine Macht werde bei ihm angewandt, nicht weiter störte. Mat holte tief Luft und blickte sich um, als überlege er, wohin er gehen könne. »Was geschieht mit uns, Rand? Was?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde Thom um Rat fragen. Ob ich... jemandem davon erzählen soll?«
»Nein! Nicht ihr. Vielleicht ihm, aber ihr nicht.«
Die Schärfe in Mats Reaktion überraschte Rand. »Dann hast du ihm geglaubt?« Er mußte gar nicht erklären, wen er mit ›ihm‹ meinte; die Grimasse auf Mats Gesicht verriet ihm, daß er verstand.
»Nein«, sagte Mat langsam. »Es sind alles Möglichkeiten... Wenn wir es ihr sagen und er hat gelogen, dann geschieht vielleicht gar nichts. Vielleicht. Aber vielleicht ist die Tatsache, daß er in unseren Träumen war, genug, um... Ich weiß nicht.« Er schwieg und schluckte. »Wenn wir ihr nichts erzählen, haben wir vielleicht weitere Träume. Ratten oder nicht, Träume sind besser als... Erinnerst du dich an die Fähre? Ich sage, wir halten den Mund.«
»In Ordnung.« Rand erinnerte sich an die Fähre und auch an Moiraines Drohung, aber alles schien bereits so weit zurückzuliegen. »In Ordnung.«
»Perrin wird nichts verraten, oder?« fuhr Mat fort. Er stellte sich auf die Zehenspitzen. »Wir müssen zu ihm zurück. Wenn er es ihr erzählt, dann kommt es heraus, daß wir alle diese Träume hatten. Du kannst darauf wetten. Komm!« Er marschierte strammen Schrittes durch die Menge. Rand stand da und blickte ihm nach, bis Mat zurückkam und ihn packte. Bei der Berührung durch seinen Arm zwinkerte er und folgte dann dem Freund.
»Was ist mit dir los?« fragte Mat. »Schläfst du schon wieder ein?«
»Ich denke, ich bin erkältet«, sagte Rand. Sein Kopf war so angespannt wie ein Trommelfell und fast so leer wie eine Trommel.
»Du kannst etwas Hühnersuppe essen, wenn wir wieder in der Schenke sind«, sagte Mat. Er schwatzte andauernd weiter, während sie sich durch die vollen Straßen drängten. Rand strengte sich an, ihm zuzuhören und sogar von Zeit zu Zeit etwas einzuwerfen, aber es strengte ihn an. Er war nicht müde; er wollte nicht schlafen. Er fühlte sich nur so, als ob er dahintriebe. Nach einer Weile bemerkte er, daß er Mat von Min erzählte. »Ein Dolch mit einem Rubin, eh?« fragte Mat. »Das gefällt mir. Aber ich weiß nichts von dem Auge. Bist du sicher, daß sie es nicht erfunden hat? Mir scheint, wenn sie wirklich eine Wahrsagerin ist, müßte sie eigentlich wissen, was das alles bedeuten soll.«
»Sie sagte nicht, daß sie Wahrsagerin sei«, sagte Rand. »Ich glaube, sie sieht nur Dinge. Denk daran, Moiraine sprach mit ihr, als wir badeten. Und sie weiß, wer Moiraine ist.«
Mat sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich dachte, wir sollten diesen Namen nicht benutzen.«
»Nein«, murmelte Rand. Er rieb sich mit beiden Händen den Kopf. Es war so schwer, sich auf irgend etwas zu konzentrieren.
»Ich glaube, du bist wirklich krank«, sagte Mat mit hochgezogenen Augenbrauen. Plötzlich hielt er Rand am Mantelärmel fest. »Schau mal die an!«
Drei Männer mit Brustpanzer und konisch zulaufenden Stahlkappen, die so poliert waren, daß sie wie Silber glänzten, gingen die Straße hinunter auf Rand und Mat zu. Sogar die Kettenringe an ihren Armen glänzten. Ihre langen Umhänge, jungfräulich weiß und mit einem aufgestickten goldenen Sonnenaufgang auf der linken Brust, endeten gerade eben über dem Matsch und den Pfützen der Straße. Ihre Hände ruhten auf den Griffen ihrer Schwerter, und sie blickten drein, als sähen sie nur Dinge, die sich unter einem fauligen Baumstamm hervorringelten. Niemand sah sie an. Niemand schien sie auch nur zu bemerken. Trotzdem mußten sich die drei ihren Weg durch die Menge nicht bahnen; sie teilte sich wie zufällig, wich auf beiden Seiten aus und ließ sie so in einem leeren Raum einherschreiten, der sich mit ihnen weiterbewegte. »Glaubst du, sie gehören zu den Kindern des Lichts?« fragte Mat mit lauter Stimme. Ein Passant sah Mat böse an und beschleunigte seine Schritte.
Rand nickte. Kinder des Lichts. Weißmäntel. Männer, die Aes Sedai haßten. Männer, die anderen Leuten befahlen, wie sie zu leben hatten, und allen denen Schwierigkeiten bereiteten, die sich zu gehorchen weigerten. Falls man niedergebrannte Bauernhöfe und noch Schlimmeres unter ›Schwierigkeiten‹ einordnen wollte. Ich sollte Angst haben, dachte er. Oder neugierig sein. Jedenfalls irgendeine Reaktion zeigen. Statt dessen starrte er sie nur passiv an.
»Für mich sehen sie nicht so toll aus«, meinte Mat. »Ziemlich von sich eingenommen, nicht wahr?«
»Sie spielen keine Rolle«, sagte Rand. »Die Schenke. Wir müssen mit Perrin sprechen.«
»Wie Eward Congar. Der hat auch immer seine Nase in der Luft.« Plötzlich grinste Mat mit glitzernden Augen. »Erinnerst du dich daran, wie er von der Wagenbrücke fiel und klitschnaß nach Hause laufen mußte? Das hat ihn für einen Monat vom hohen Roß geholt.«
»Was hat das mit Perrin zu tun?«
»Siehst du das?« Mat deutete auf einen Karren, der in einer Einfahrt ein Stück von den Kindern entfernt stand. Eine einzige Strebe hielt ein Dutzend gestapelter Fässer auf der Ladefläche des Karrens. »Paß auf!« Lachend verschwand er im Laden eines Messerschmieds zu ihrer Linken.
Rand sah ihm nach und wußte, daß Rand etwas anstellen würde. Dieser Blick in Mats Augen verhieß immer wieder einen seiner Streiche. Aber seltsamerweise freute er sich darauf, was Mat wieder anstellen würde. Irgend etwas sagte ihm, daß dieses Gefühl falsch war, ja sogar gefährlich, aber trotzdem lächelte er erwartungsvoll. Nach einer Minute erschien Mat über ihm. Er beugte sich aus einem Giebelfenster im Ziegeldach des Ladens. In den Händen hielt er seine Schleuder. Sie begann sich bereits zu drehen. Rands Augen wanderten zu dem Karren zurück. Beinahe im gleichen Moment hörte er einen scharfen Knall und die Strebe, die die Fässer hielt, zerbrach, just in dem Moment, als die Weißmäntel sich daneben befanden. Menschen sprangen aus dem Weg, als die Fässer mit hohlem Poltern herunterrollten und auf der Straße aufprallten. Matsch und schmutziges Wasser spritzten nach allen Seiten. Die drei Männer sprangen nicht weniger schnell als die anderen. Die Überlegenheit in ihrem Blick verwandelte sich in Bestürzung. Ein paar Passanten fielen hin. Es platschte wieder. Doch die drei bewegten sich geschickt und mieden mühelos den Aufprall der Fässer. Allerdings konnten sie dem herumfliegenden Schmutz nicht ausweichen, und so wurden ihre weißen Umhänge bespritzt.
Ein bärtiger Mann in einer langen Schürze eilte aus der Einfahrt, schwenkte die Arme und schrie zornig, doch ein Blick auf die drei, die vergebens versuchten, den Schmutz von ihren Umhängen abzustreifen, und er verschwand schneller wieder in seiner Einfahrt, als er herausgekommen war. Rand sah zu dem Dach des Ladens hinauf; Mat war weg. Es war ein leichter Schuß für einen Jungen der Zwei Flüsse gewesen, aber die Wirkung übertraf fast noch die Absicht. Er konnte nicht anders — er mußte lachen. Der Humor schien in Wolle gehüllt, aber die Szene wirkte trotzdem noch lustig. Als er sich wieder der Straße zuwandte, sahen ihn die drei Weißmäntel an. »Du findest irgend etwas lustig, wie?« Der Sprecher stand ein wenig vor den anderen. Er wirkte hochmütig, und in seinen Augen stand geschrieben, daß er etwas sehr Wichtiges wußte, er allein und niemand anders.
Rands Lachen erstarb. Er und die Weißmäntel standen allein zwischen Matsch und Fässern. Die Menge, die sich vorher noch um sie gedrängt hatte, hatte offenbar die Straße hinauf oder hinunter Wichtiges zu tun.
»Schweigt deine Zunge aus Angst vor dem Licht?« Der Zorn machte das schmale Gesicht des Weißmantels noch schmaler und härter, als es von Haus aus war. Er blickte verächtlich auf den Schwertknauf, der unter Rands Umhang sichtbar war. »Vielleicht bist du dafür verantwortlich, wie?« Im Unterschied zu den anderen trug er unter dem Sonnenzeichen noch einen goldenen Knoten.
Rand wollte sein Schwert bedecken, aber statt dessen schob er seinen Umhang nach hinten zurück. Im Hinterkopf fragte er sich verzweifelt, was er da tat, aber es war nur ein entfernter Gedanke. »Unfälle geschehen nun mal«, sagte er. »Auch bei den Kindern des Lichts.«
Der Mann mit dem schmalen Gesicht hob eine Augenbraue. »Bist du so gefährlich, Jüngling?« Er war nicht viel älter als Rand.
»Das Reiherzeichen, Lord Bornhald«, sagte einer der anderen warnend.
Der schmalgesichtige Mann sah noch einmal Rands Schwertknauf an — der bronzene Reiher war klar zu sehen -, und seine Augen weiteten sich für einen Moment. Dann erhob er den Blick zu Rands Gesicht und schniefte voller Verachtung. »Er ist zu jung. Du bist nicht von hier, wie?« fragte er Rand kalt. »Woher kommst du?«
»Ich bin gerade in Baerlon angekommen.« Ein Schauer rann über Rands Arme und Beine. Er fühlte sich erhitzt, beinahe sommerlich warm. »Ihr kennt wohl keine gute Schenke hier, oder?«
»Du weichst meinen Fragen aus«, fauchte Bornhald. »Was hast du Böses in dir, daß du mir nicht antwortest?« Seine Begleiter traten an seine Seite, die Gesichter hart und ausdruckslos. Trotz der Schmutzflecken auf ihren Umhängen war jetzt nichts mehr Lustiges an ihnen.
Ein Kribbeln erfüllte Rand; die Hitze war zu einem Fieber geworden. Er wollte lachen; das war so ein schönes Gefühl. Eine dünne Stimme in seinem Hinterkopf rief ihm zu, daß etwas nicht stimme, aber er konnte nur daran denken, wie energieerfüllt er sich fühlte. Er platzte beinahe vor Energie. Lächelnd verlagerte er sein Gewicht auf die Fersen und wartete darauf, was wohl geschehen werde. Ganz undeutlich und entfernt fragte er sich, was es wohl sein werde.
Das Gesicht des Anführers verfinsterte sich. Einer der anderen zog sein Schwert ein Stück aus der Scheide und sagte mit zornbebender Stimme: »Wenn die Kinder des Lichts dich etwas fragen, du grauäugiger Bauerntölpel, dann erwarten sie Antworten, oder... « Er hielt inne, als der schmalgesichtige Mann ihm einen Arm über die Brust legte. Bornhald bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, er solle die Straße hinaufblicken.
Die Stadtwache war eingetroffen, ein Dutzend Männer mit runden Stahlkappen und metallbeschlagenen Lederwämsern. Sie trugen ihre Schlagstöcke, als wüßten sie damit umzugehen. Sie standen da und beobachteten schweigend die Szene aus etwa zehn Schritten Entfernung. »Diese Stadt hat das Licht vergessen«, grollte der Mann mit dem halbgezogenen Schwert. Er erhob die Stimme und rief der Wache zu: »Baerlon steht im Schatten des Dunklen Königs!« Auf eine Geste Bornhalds hin rammte er sein Schwert wieder in die Scheide.
Bornhald wandte seine Aufmerksamkeit wieder Rand zu. Das Licht der Erkenntnis brannte in seinen Augen. »Schattenfreunde entkommen uns nicht, Jüngling, nicht einmal in einer Stadt, die im Schatten steht. Wir treffen uns wieder. Da kannst du sicher sein!«
Er drehte sich auf der Stelle um und schritt weiter, seine beiden Begleiter dicht hinter ihm, als hätte Rand zu existieren aufgehört. Zumindest für diesen Augenblick. Als sie den dicht bevölkerten Teil der Straße erreichten, öffnete sich der gleiche scheinbar zufällige Freiraum wie zuvor, um sie durchzulassen. Die Wachen zögerten und sahen Rand an. Dann schulterten sie ihre Schlagstöcke und folgten den drei Weißgekleideten. Sie mußten sich durch die Menge schieben und riefen deshalb: »Platz für die Wache!« Nur wenige machten ihnen murrend Platz.
Rand balancierte immer noch auf den Fersen und wartete. Das Prickeln war so stark, daß er beinahe zitterte; er fühlte sich so, als verbrenne er innerlich.
Mat trat aus dem Laden und starrte ihn an. »Du bist nicht krank«, sagte er schließlich. »Du bist verrückt!«
Rand atmete tief ein, und mit einem Schlag war alles vorbei wie eine geplatzte Seifenblase. Er taumelte, als ihm bewußt wurde, was er getan hatte. Er leckte sich die Lippen und bemühte sich, Mats Blick standzuhalten. »Ich denke, wir kehren jetzt besser zur Schenke zurück«, sagte er unsicher.
»Ja«, sagte Mat. »Ja, ich glaube auch, das ist das beste.«
Die Straße hatte sich langsam wieder gefüllt, und mehr als ein Passant sah die beiden Jungen an und murmelte einem Begleiter etwas zu. Rand war sicher, daß sich die Geschichte wie ein Lauffeuer ausbreiten würde. Ein Verrückter hatte versucht, sich mit drei Kindern des Lichts herumzustreiten. Das war ein guter Gesprächsstoff. Vielleicht treiben die Träume mich zum Wahnsinn.
Die beiden verliefen sich mehrmals in den unregelmäßig angelegten Straßen, doch nach einer Weile schlossen sie sich Thom Merrilin an, der allein wie eine ganze Prozession wirkte, als er so durch die Menge stolzierte. Der Gaukler sagte, er sei hier, um sich etwas die Beine zu vertreten und frische Luft zu schnappen, aber immer wenn jemand seinen vielfarbigen Umhang näher betrachtete, verkündete er mit hallender Stimme: »Ich werde nur heute abend im ›Hirsch und Löwen‹ auftreten.«
Es war Mat, der ziemlich wirr von dem Traum von ihrem Problem zu erzählen begann und, ob sie Moiraine davon etwas sagen sollten oder nicht, aber Rand griff dann und wann ein, denn es gab Unterschiede in ihren Erinnerungen. Vielleicht war ja auch jeder Traum ein bißchen anders, dachte er. Der Hauptteil der Träume war allerdings jeweils der gleiche.
Sie waren mit dem Erzählen noch nicht weit gekommen, als Thom ihnen endlich die volle Aufmerksamkeit widmete. Als Rand Ba'alzamon erwähnte, packte der Gaukler beide Jungen an den Schultern und befahl ihnen, den Mund zu halten, erhob sich auf Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge blicken zu können, und führte sie dann aus dem Gewühl in eine Sackgasse, die bis auf ein paar Kisten und einen abgemagerten hellbraunen Hund, der in einer Ecke vor der Kälte Schutz suchte, leer war.
Thom blickte in die Menge hinaus und suchte nach Leuten, die möglicherweise stehenblieben, um sie zu belauschen, bevor er sich wieder Rand und Mat zuwandte. Der Blick aus seinen blauen Augen bohrte sich in ihren Blick, zwischendurch aber wanderte er in Richtung Straßeneinmündung. »Sagt niemals mehr diesen Namen, wenn Fremde zuhören können.« Seine Stimme war leise, aber sehr eindringlich. »Nicht einmal dort, wo ein Fremder vielleicht zuhören könnte. Es ist ein sehr gefährlicher Name, sogar dann, wenn sich keine Kinder des Lichts auf den Straßen befinden.«
Mat schnaubte. »Ich könnte dir etwas über die Kinder des Lichts erzählen«, sagte er mit einem sarkastischen Seitenblick auf Rand. Thom überhörte die Bemerkung. »Wenn nur einer von euch diesen Traum gehabt hätte... « Er zupfte zornig an seinem Schnurrbart. »Sagt mir alles, woran ihr euch erinnern könnt. Jede Einzelheit.« Während er zuhörte, blieb er stets wachsam und beobachtete die Straße. »... er nannte die Namen von Männern, die angeblich benutzt wurden«, sagte Rand schließlich. Er war sicher, alles andere berichtet zu haben. »Guaire Amalasan. Raolin Dunkelbann.«
»Davian«, fügte Mat hinzu, bevor Rand weitersprechen konnte. »Und Yurian Steinbogen.«
»Und Logain«, beendete Rand die Aufzählung.
»Gefährliche Namen«, sagte Thom leise. Seine Augen schienen sie noch eindringlicher als zuvor zu durchbohren. »Fast genauso gefährlich wie jener andere, so oder so. Alle sind tot bis auf Logain. Einige davon schon lange. Raolin Dunkelbann seit beinahe zweitausend Jahren. Aber immer noch gefährlich. Am besten sprecht ihr die Namen nicht laut aus, selbst wenn ihr allein seid. Die meisten Leute können nichts damit anfangen, aber wenn der Falsche zuhört... «
»Aber wer waren sie?« fragte Rand.
»Männer«, murmelte Thom, »Männer, die an den Säulen des Himmels rüttelten und die Grundmauern der Welt erschütterten.« Er schüttelte den Kopf. »Es spielt keine Rolle. Vergeßt sie. Sie sind zu Staub geworden.«
»Haben die... wurden sie benutzt, wie er behauptete?« fragte Mat. »Und getötet?«
»Man könnte sagen, daß der Weiße Turm sie getötet hat. Man könnte das durchaus sagen.« Thoms Mund verzog sich einen Augenblick lang, und dann schüttelte er nochmals den Kopf. »Aber benutzt... ? Nein, das kann ich nicht behaupten. Das Licht weiß, wie viele Intrigen der Amyrlin-Sitz im Moment wieder schmiedet, aber diese Sache gehörte nicht dazu, soweit ich das sagen kann.«
Mat lief ein Schauer den Rücken hinunter. »Er hat soviel behauptet. Verrückte Sachen. All das von Lews Therin Brudermörder und Artur Falkenflügel. Und vom Auge der Welt. Was, beim Licht, soll das denn sein?«
»Eine Legende«, sagte der Gaukler langsam. »Vielleicht. Als Legende genauso berühmt wie die vom Horn von Valere, zumindest in den Grenzlanden. Dort droben gehen junge Männer auf die Suche nach dem Auge der Welt, so wie in Illian die jungen Männer das Horn suchen. Vielleicht ist es eine Legende.«
»Was sollen wir tun, Thom?« fragte Rand. »Es ihr erzählen? Ich möchte keine weiteren Träume dieser Art erleben. Vielleicht könnte sie etwas tun?«
»Vielleicht würde uns nicht gefallen, was sie tut«, grollte Mat.
Thom betrachtete sie, überlegte und strich sich dabei mit einem Finger über den Schnurrbart. »Ich sage, haltet Frieden«, sagte er schließlich. »Erzählt niemandem davon, jedenfalls im Augenblick. Ihr könnt es euch immer noch anders überlegen, wenn es nötig ist, aber wenn ihr es einmal erzählt habt, dann ist es draußen, und Ihr seid mehr als zuvor an sie... gebunden.« Plötzlich richtete er sich auf. Seine gebückte Haltung verschwand fast vollständig. »Der andere Junge! Ihr sagt, er hatte den gleichen Traum? Ist er vernünftig genug, den Mund zu halten?«
»Ich denke schon«, sagte Rand zur gleichen Zeit, als Mat heraussprudelte: »Wir wollten zur Schenke zurückgehen und ihn warnen.«
»Ich hoffe beim Licht, daß es nicht zu spät ist!« Mit wehendem Umhang — die Flicken flatterten im Wind -schritt Thom aus der Gasse. Ohne sich aufzuhalten blickte er über die Schulter auf sie zurück. »Also, was ist? Sind eure Füße am Boden festgefroren?«
Rand und Mat eilten ihm hinterher, aber er wartete nicht darauf, daß sie ihn einholten. Diesmal blieb er nicht stehen, wenn Leute seinen Umhang anschauten oder ihn als Gaukler ansprachen. Er bahnte sich einen Weg durch die überfüllten Straßen, als seien sie leer. Rand und Mat mußten beinahe rennen, um ihm folgen zu können. In viel kürzerer Zeit, als Rand erwartet hatte, erreichten sie den ›Hirsch und Löwen‹.
Als sie gerade hineingehen wollten, kam Perrin herausgerannt und versuchte beim Rennen seinen Umhang überzuziehen. Er wäre beinahe gestürzt, so mußte er sich bremsen, um nicht in sie hineinzurennen. »Ich wollte nach euch suchen«, brachte er schnaufend heraus, nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Rand ergriff seinen Arm. »Hast du irgend jemandem von dem Traum erzählt?«
»Sag bitte, daß du es nicht getan hast!« verlangte Mat.
»Es ist sehr wichtig«, sagte Thom.
Perrin sah sie verwirrt an. »Nein, habe ich nicht. Ich bin bis vor einer Stunde nicht mal aus dem Bett gekommen.« Seine Schultern sackten nach unten. »Ich habe schon Kopfschmerzen von der Anstrengung bekommen, nicht daran zu denken, geschweige denn darüber zu reden. Warum habt ihr es ihm erzählt?« Er nickte in Richtung Gaukler.
»Wir mußten einfach mit jemand darüber sprechen, sonst hätten wir durchgedreht«, sagte Rand.
»Ich erkläre es euch später«, fügte Thom mit einem bedeutungsvollen Blick auf die Leute hinzu, die in den ›Hirsch und Löwen‹ hineingingen oder herauskamen.
»In Ordnung«, antwortete Perrin langsam. Er wirkte immer noch verwirrt. Plötzlich schlug er sich vor die Stirn. »Jetzt hätte ich beinahe vergessen, weswegen ich euch suchte. Ich vergäße es ja gern, aber... Nynaeve ist drinnen.«
»Blut und Asche!« jaulte Mat auf. »Wie ist sie hierhergekommen? Moiraine... Die Fähre...«
Perrin schnaubte. »Glaubst du, eine Kleinigkeit wie eine gesunkene Fähre könnte sie aufhalten? Sie hat Hochturm aus dem Bett geworfen — ich weiß nicht, wie er über den Fluß zurückgekommen ist, aber sie sagte, er habe sich in seinem Schlafzimmer versteckt und wollte nicht einmal mehr in die Nähe des Flusses gehen -jedenfalls hat sie ihn so eingeschüchtert, daß er ein Boot für sie und ihr Pferd auftrieb und sie hinüberruderte. Persönlich. Sie hat ihm nur soviel Zeit gelassen, daß er einen seiner Helfer holen konnte, um ein zweites Paar Ruder zu bedienen.« »Licht!« hauchte Mat.
»Was tut sie da drinnen?« wollte Rand wissen. Mat und Perrin warfen ihm einmütig einen spöttischen Blick zu. »Sie ist uns gefolgt«, sagte Perrin. »Sie ist jetzt bei... bei Frau Alys und da drinnen ist es kalt genug, daß es schneien könnte.«
»Könnten wir nicht eine Weile woandershin gehen?« fragte Mat. »Mein Pa sagt immer, nur ein Narr steckt seine Hand in ein Hornissennest, wenn er es nicht unbedingt muß.«
Rand warf ein: »Sie kann uns nicht zwingen, zurückzukehren. Die Winternacht sollte ihr zu dieser Einsicht verholfen haben. Wenn nicht, müssen wir es ihr beibringen.«
Mats Augenbrauen hoben sich bei jedem seiner Worte und als Rand fertig war, stieß er einen leisen Pfiff aus. »Hast du jemals versucht, Nynaeve etwas beizubringen, was sie nicht lernen wollte? Ich hab's probiert. Ich meine, wir sollten bis zum Abend wegbleiben und uns dann hineinschleichen.«
»Nach allem, was ich an dieser jungen Frau beobachtet habe«, sagte Thom, »glaube ich nicht, daß sie aufhören wird, bevor sie nicht alles gesagt hat. Wenn ihr nicht gestattet wird, schnell alles loszuwerden, dann macht sie vielleicht so lange weiter, bis sie eine Aufmerksamkeit erregt, an der keiner von uns Interesse hat.«
Bei der Vorstellung fuhren alle zusammen. Sie sahen sich an, atmeten tief durch und marschierten hinein, als erwarteten sie, Trollocs zu sehen.