Rand blickte vom hochgelegenen Fenster seines Zimmers in Der Königin Segen auf die Menschenmenge hinab. Sie rannten schreiend die Straße hinunter — alle in der gleichen Richtung -, schwenkten Wimpel und Flaggen, und so stand der weiße Löwe auf tausend roten Feldern gleichzeitig Wache. Einwohner von Caemlyn und Fremde rannten nebeneinander her, und zur Abwechslung einmal schien keiner dem anderen den Schädel einschlagen zu wollen. Heute gab es vielleicht einmal nur eine einzige Partei.
Er wandte sich grinsend vom Fenster ab. Abgesehen von dem Tag, an dem Egwene und Perrin lebendig und lachend ob des Gesehenen hereinspazieren würden, war dies der Tag, auf den er vor allem gewartet hatte. »Kommst du mit?« fragte er noch einmal.
Mat sah ihn finster an. Er lag zusammengerollt auf seinem Bett. »Nimm doch den Trolloc mit, den du so gut leiden kannst.«
»Blut und Asche, Mat, er ist kein Trolloc! Du stellst dich einfach dumm und stur an. Wie oft sollen wir uns noch deswegen streiten? Licht, du hast doch schließlich früher schon von Ogiern gehört!«
»Ich habe nicht gehört, daß sie wie Trollocs aussehen.« Mat steckte das Gesicht ins Kopfkissen und rollte sich noch enger zusammen.
»Sturer Dummkopf«, murmelte Rand. »Wie lange willst du dich hier noch verstecken? Ich werde dir nicht die ganze Zeit über dein Essen all diese Treppen hochschleppen. Du könntest auch einmal baden.« Mat zappelte auf dem Bett herum, als wolle er sich noch tiefer eingraben. Rand seufzte und ging zur Tür. »Die letzte Chance, gemeinsam zu gehen, Mat. Ich breche jetzt auf.« Er schloß die Tür langsam und hoffte immer noch, daß Mat seinen Entschluß ändere, doch sein Freund rührte sich nicht. Die Tür fiel ins Schloß.
Im Flur lehnte er sich gegen den Türrahmen. Meister Gill hatte gesagt, zwei Straßen weiter wohne eine alte Frau, Mutter Grubb, die Kräuter und Tinkturen verkaufte, Kinder zur Welt brachte, Kranke pflegte und die Zukunft voraussagte. Das klang ein wenig nach einer Seherin. Mat brauchte Nynaeve oder vielleicht Moiraine, aber er hatte eben nur Mutter Grubb. Wenn er sie in Der Königin Segen brachte, würde das vielleicht die falsche Art von Aufmerksamkeit erregen, falls sie überhaupt käme. Das könnte für sie genau wie für ihn und Mat unangenehme Folgen haben.
Kräuterweiblein und Quacksalber hielten sich zur Zeit in Caemlyn sehr zurück. Jede Art von Heilkunst oder Weissagung war gerade verrufen. Jede Nacht wurde großzügig der Drachenzahn auf Türen gekritzelt, manchmal sogar im hellen Tageslicht, und die Leute vergaßen schnell, wer sie vom Fieber geheilt oder ihre Zahnschmerzen beseitigt hatte, wenn der Ruf ›Schattenfreund‹ ertönte. So war die Stimmung in der Stadt.
Es war ja nicht so, daß Mat wirklich krank war. Er aß alles, was ihm Rand aus der Küche heraufbrachte -allerdings nahm er nichts von anderen an -, und er klagte auch nie über Schmerzen oder Fieber. Er weigerte sich einfach, das Zimmer zu verlassen. Aber Rand war sich so sicher gewesen, daß er an diesem Tag herauskommen würde.
Er legte seinen Umhang über die Schultern und schob den Schwertgürtel so herum, daß sein Schwert mit dem herumgewickelten roten Tuch besser verborgen war.
Am Fuß der Treppe traf er auf Meister Gill, der gerade hinaufgehen wollte. »Jemand hat euch in der Stadt gesucht«, sagte der Wirt. Er behielt dabei den Pfeifenstiel im Mund. Rand fühlte Hoffnung in sich aufkeimen. »Hat nach euch und euren Freunden gefragt und sogar die Namen genannt. Von euch Jünglingen jedenfalls. Er scheint vor allem euch drei Jungen zu suchen.«
Angst verdrängte die Hoffnung. »Wer?« fragte Rand. Er konnte nicht umhin, den Flur nach beiden Seiten hin zu beobachten. Außer ihnen beiden befand sich niemand darinnen. Er war leer — vom Hinterausgang bis zur Tür in den Schankraum.
»Ich kenne seinen Namen nicht. Habe nur von ihm gehört. Ich weiß meist schnell alles, was in Caemlyn herumgeht. Bettler.« Der Wirt knurrte. »Halb verrückt, wie man mir gesagt hat. Aber trotzdem könnte er Der Königin Spende im Palast in Empfang nehmen, selbst in so schweren Zeiten. An Feiertagen spendet die Königin mit eigener Hand den Armen, und keiner wird mit leeren Händen weggeschickt. In Caemlyn muß niemand betteln. Selbst ein Mann, der von der Garde gesucht wird, könnte nicht festgenommen werden, während er Der Königin Spende entgegennimmt.«
»Ein Schattenfreund?« fragte Rand zögernd. Falls die Schattenfreunde unsere Namen kennen...
»Ihr habt Flausen im Hirn mit Euren Schattenfreunden, mein Junge. Natürlich sind sie da, aber bloß, weil die Weißmäntel alles aufhetzen, braucht ihr nicht zu glauben, daß die Stadt voll davon ist. Weißt du, welches Gerücht diese Idioten als neuestes in die Welt gesetzt haben?
›Fremdartige Gestalten.‹ Kannst du so was begreifen? Fremdartige Gestalten, die sich in der Nacht außerhalb der Stadt herumtreiben.« Der Wirt lachte, bis sein Bauch wackelte.
Rand war nicht nach Lachen zumute. Hyam Kinch hatte von solch eigenartigen Gestalten erzählt, und es war ja dann auch ein Blasser dort gewesen. »Was für Gestalten?«
»Welche Art? Ich weiß es nicht. Fremdartige Figuren. Möglicherweise Trollocs. Der Schattenmann. Lews Therin Brudermörder selbst, aber diesmal fünfzig Fuß groß. Was glaubst du denn, was sich die Leute alles vorstellen, wenn sie nun einmal solche Flausen im Kopf haben? Das sollte dich nicht kümmern.« Meister Gill musterte ihn einen Moment lang. »Du willst ausgehen, nicht wahr? Na ja, ich kann nicht behaupten, daß ich mich darum reiße — selbst heute nicht -, aber es ist außer mir kaum noch jemand da. Dein Freund kommt nicht mit?«
»Mat fühlt sich nicht wohl. Vielleicht kommt er später nach.«
»Na ja, wie auch immer. Paß aber gut auf dich auf. Selbst heute werden die guten Anhänger der Königin dort draußen in der Minderheit sein. Das Licht versenge den Tag, an dem dieser Zustand begann. Am besten verläßt du das Haus durch die Gasse. Zwei von diesen verfluchten Verrätern sitzen auf der anderen Straßenseite und beobachten meinen Vordereingang. Sie wissen genau, wo ich stehe, beim Licht!«
Rand steckte den Kopf hinaus und sah sich nach beiden Seiten um, bevor er in die Gasse hinausschlüpfte. Ein grobschlächtiger Mann, den Meister Gill dafür bezahlte, stand am Ende der Gasse, stützte sich auf einen Speer und beobachtete gelangweilt die vorbeihastenden Leute. Das war aber nur der Schein, wie Rand wußte. Der Bursche -er hieß Lambgwin — sah alles mit diesen von schweren Lidern halbbedeckten Augen, und trotz seiner unförmigen Gestalt bewegte er sich wie eine Katze. Er glaubte ebenfalls, Königin Morgase sei das fleischgewordene Licht, oder jedenfalls so ähnlich. Es gab etwa ein Dutzend solcher Männer, die sich um Der Königin Segen herum verteilten.
Lambgwins Ohr zuckte, als Rand den Ausgang der Gasse erreichte, aber er wandte seine Aufmerksamkeit nicht von der Straße ab. Rand wußte, daß ihn der Mann hatte kommen hören.
»Haltet Euch heute den Rücken frei, Mann.« Lambgwins Stimme klang wie Kieselsteine in einer Pfanne. »Wenn die Ausschreitungen beginnen, seid Ihr der richtige Mann, um hier zu helfen, aber nicht, wenn Ihr irgendwo ein Messer in den Rücken bekommt.«
Rand sah den bulligen Mann an, doch seine Überraschung war gedämpft. Er bemühte sich immer, das Schwert nicht sichtbar zu tragen, aber dies war nicht das erste Mal, daß einer von Meister Gills Männern angenommen hatte, er könne damit in einem Kampf umgehen. Lambgwin sah ihn nicht mehr an. Der Mann sollte die Schenke bewachen, und das tat er auch.
Rand schob sein Schwert noch ein bißchen weiter unter seinen Umhang und schloß sich der strömenden Menge an. Er sah die beiden Männer, die der Wirt erwähnt hatte. Sie standen auf umgedrehten Fässern auf der Straßenseite gegenüber der Schenke, so daß sie über die Köpfe der Menge hinwegsehen konnten. Er glaubte nicht, daß sie ihn bemerkten, als er aus der Gasse heraustrat. Sie machten kein Hehl aus ihrer politischen Bindung. Nicht nur, daß ihre Schwerter in Weiß gehüllt und mit roter Kordel gebunden waren, sie trugen auch weiße Armbinden und weiße Abzeichen an den Hüten.
Er hatte sich noch nicht lange in Caemlyn aufgehalten, da wurde ihm klar, daß ein rot umhülltes Schwert, eine rote Armbinde oder ein rotes Abzeichen bedeutete, daß man Königin Morgase unterstützte. Weiß zeigte, daß die Königin und ihre Verbindung mit den Aes Sedai und Tar Valon schuld an allem waren, was unglücklich verlaufen war: am Wetter, an der Mißernte... vielleicht sogar an dem falschen Drachen.
Er wollte sich nicht in die politischen Probleme Caemlyns verwickeln lassen. Aber nun war es zu spät. Nicht nur, daß er bereits die Seite gewählt hatte — wohl mehr durch Zufall, aber immerhin. Die Lage in der Stadt ließ es kaum noch zu, daß man neutral blieb. Selbst Ausländer trugen Abzeichen und Armbinden oder verhüllten ihre Schwerter, und die Mehrheit von ihnen trug Weiß, nicht Rot. Vielleicht glaubten einige davon überhaupt nicht daran, aber sie waren weit von zu Hause entfernt, und so hatte sich eben die politische Meinung in Caemlyn entwickelt. Männer, die die Königin unterstützten, liefen zum eigenen Schutz in Gruppen umher, wenn sie überhaupt ausgingen.
Heute war es allerdings anders. Zumindest an der Oberfläche. Heute feierte Caemlyn den Sieg des Lichts über den Schatten. Heute brachte man den falschen Drachen in die Stadt, um ihn der Königin vorzuführen, bevor man ihn nach Tar Valon im Norden brachte.
Über diesen Teil der Ereignisse sprach niemand. Natürlich konnten nur die Aes Sedai einen Mann beherrschen, der tatsächlich die Eine Macht anwenden konnte, doch darüber wollte niemand sprechen. Das Licht hatte den Schatten besiegt, und Soldaten aus Andor waren in der vordersten Kampflinie dieser Schlacht dabeigewesen. Heute zählte nur das. Heute vergaß man alles andere.
Oder vielleicht doch nicht?, fragte sich Rand. Die Menge rannte singend und lachend und mit geschwenkten Fahnen durch die Straßen, aber Männer, die sich in Rot zeigten, hielten sich in Gruppen von zehn oder zwanzig zusammen, und sie hatten keine Frauen und Kinder dabei. Seiner Schätzung nach kamen auf jeden Anhänger der Königin mindestens zehn Männer, die Weiß trugen. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, daß der weiße Stoff damals der billigere gewesen sei. Aber hätte Meister Gill geholfen, wenn ich mich in Weiß gezeigt hätte?
Die Menge war so dicht, daß es unvermeidlich war, sich gegenseitig anzurempeln. Selbst um die Weißmäntel herum gab es diesmal keinen freien Raum inmitten der Menschenansammlung. Als Rand sich von der Menge in die Innenstadt mittreiben ließ, erkannte er, daß keineswegs alle Feindseligkeiten unter Kontrolle waren. Er sah, wie eines der Kinder des Lichts, einer von dreien, so hart angerempelt wurde, daß er beinahe stürzte. Der Weißmantel fing sich gerade noch und wollte soeben den Mann, der ihn angerempelt hatte, wütend anschreien, als ein anderer Mann ihn absichtlich mit einem gezielten Schulterstoß ins Wanken brachte. Bevor die Situation eskalierte, zogen die Gefährten des Weißmantels ihn auf die Seite der Straße hinüber, wo sie sich unter einem Torbogen in Sicherheit brachten. Die drei schienen hin-und hergerissen zwischen ihrem üblichen finsteren Gesichtsausdruck und ungläubigem Staunen. Die Menge strömte vorbei, als habe niemand etwas bemerkt, und vielleicht hatte das ja wirklich niemand.
Keiner hätte noch vor zwei Tagen so etwas gewagt. Nicht genug, so erkannte Rand, denn die Männer, die den Weißmantel angerempelt hatten, trugen weiße Abzeichen an den Hüten. Die Meinung war weit verbreitet, daß die Weißmäntel jene unterstützten, die sich gegen die Königin und ihre Aes-Sedai-Ratgeberin stellten, aber das machte wohl keinen Unterschied. Männer stellten Dinge an, an die sie zuvor noch nie auch nur gedacht hatten. Heute — einen Weißmantel anrempeln. Morgen — vielleicht eine Königin stürzen? Plötzlich wünschte er, es wären noch ein paar andere Männer in Rot in der Nähe. Von weißen Abzeichen und Armbinden gestoßen, fühlte er sich plötzlich sehr einsam.
Die Weißmäntel bemerkten, daß er sie ansah, und sie blickten herausfordernd zurück. Er ließ sich von einer singenden Gruppe in der Menge aus ihrer Sicht schwemmen und sang bei ihnen mit:
»Vor mit dem Löwen, vor mit dem Löwen, der Weiße Löwe zieht in den Kampf.
Fordere den Schatten heraus!
Vor mit dem Löwen, vorwärts, und Andor siegt.«
Die Strecke, auf der man den falschen Drachen nach Caemlyn hereinbringen würde, war wohl bekannt. Diese Straßen selbst hielt man durch dichte Reihen von Gardesoldaten der Königin und in Rot gehüllte Lanzenträger frei, aber hinter ihnen an den Straßenrändern drängten sich die Leute Schulter an Schulter, selbst in den Fenstern und auf den Dächern. Rand arbeitete sich in die Innenstadt vor. Er versuchte, näher an den Palast heranzukommen. Er dachte entfernt daran, wirklich zuzuschauen, wie Logain der Königin vorgezeigt würde. Beide — den falschen Drachen und eine echte Königin — auf einmal zu sehen... das hätte er sich zu Hause nie erträumt.
Die Innenstadt war auf Hügeln erbaut, und vieles von dem, was die Ogier gemacht hatten, war noch immer erhalten. Wo in der Neustadt die Straßen meistens wirr durcheinander und in alle möglichen Richtungen verliefen, folgten sie hier den Neigungen der Abhänge, als seien sie ein natürlicher Teil der Erde. Weitschweifende Anstiege und Senkungen präsentierten dem Auge nach jeder Kurve neue und überraschende Anblicke. Man konnte Parks von verschiedenen Blickwinkeln aus sehen, selbst von oben herab, wo ihre Wege und Denkmäler dem Auge wohltuende Muster ergaben. Allerdings war kaum irgendwo Grün zu sehen. Plötzlich enthüllten sich dem Blick Türme. Ihre Kachelwände glitzerten in zahlreichen sich ständig verändernden Farben im Sonnenschein. Unvermittelt stieg die Straße an, und die ganze Stadt bis zu den hügeligen Ebenen und Wäldern dahinter bot sich dem Blick dar. Alles in allem wäre das schon eine ganz besondere Sache gewesen, hätte ihn nicht die Menschenmenge immer weiter gedrängt, bevor er den Anblick wirklich in sich aufnehmen konnte. Und all jene verschlungenen Straßen machten es schwer, sehr weit vorauszublicken.
Die Menge trug ihn mit sich um eine Straßenbiegung herum, und plötzlich stand er vor dem Palast. Die Straßen waren so angelegt worden, daß sie spiralförmig auf den Palast zuliefen, obwohl sie ja den natürlichen Formen der Landschaft folgten. Der Palast selbst schien der Erzählung eines Gauklers zu entspringen: blasse Türmchen und goldene Kuppeln und kompliziert in sich verschlungener und durchbrochener Steinzierat, und von jedem Vorsprung flatterte die Flagge von Andor — der Mittelpunkt all jener Schaustücke der Baukunst und ihr Höhepunkt. Er schien eher von einem Künstler als Skulptur entworfen, als nur einfach gebaut.
Ein Blick reichte, um ihm zu zeigen, daß er nicht näher herankommen würde. Niemand wurde in die Nähe des Palastes durchgelassen. Gardesoldaten der Königin standen — zehn scharlachrote Reihen stark — zu beiden Seiten der Palasttore. Oben auf den weißen Mauern, auf hohen Balkonen und Türmen, standen weitere Gardesoldaten in Habachtstellung, die Bogen in vorgeschriebenem Winkel vor die gepanzerte Brust gehalten. Auch sie sahen aus, als entsprängen sie der Erzählung eines Gauklers; eine Ehrengarde, doch Rand glaubte nicht, daß sie sich aus diesem Grunde dort befanden. Die lärmende Menge an den Straßenrändern trug fast nur in Weiß gehüllte Schwerter, weiße Armbinden und weiße Abzeichen. Nur hier und da wurde diese weiße Mauer durch ein Bündel Rot unterbrochen. Die rotuniformierten Wachen schienen all diesem Weiß gegenüber nur wie eine sehr dünne Sperre.
Er gab den Versuch auf, näher an den Palast heranzukommen, und suchte sich einen Platz, an dem er seine Größe besser ausnützen konnte. Er mußte nicht in der ersten Reihe stehen, um alles sehen zu können. Die Menge war ständig in Bewegung. Die einen schoben sich weiter nach vorn, andere wieder eilten weg zu einem, wie sie glaubten, besseren Standpunkt. Nach einer solchen Unterströmung befand er sich plötzlich nur drei Reihen von der offenen Straße entfernt, und beinahe alle, die vor ihm standen, waren kleiner als er, sogar die Lanzenträger. Menschen drängten sich, schwitzend vom Druck so vieler Körper, von beiden Seiten her gegen ihn. Die hinter ihm beschwerten sich, weil sie nichts sehen konnten, und versuchten, sich an ihm vorbeizuschieben. Er wich nicht, und zusammen mit denen an seiner Seite stellte er eine undurchdringliche Menschenmauer dar. Er war es zufrieden. Wenn der falsche Drache vorbeikam, würde er sich nahe genug am Geschehen befinden, um das Gesicht des Mannes klar erkennen zu können.
Auf der anderen Straßenseite und unten beim Tor zur Neustadt schien eine Welle die dichte Menge zu durchlaufen. Vor der Kurve wichen die Leute gruppenweise zurück, um etwas vorbeizulassen. Das war nicht wie der Freiraum, der wohl nicht heute, aber sonst immer um die Weißmäntel herum verblieb. Diese Leute fuhren mit Überraschung im Blick zurück, und dann verzogen sich ihre Gesichter und zeigten Abscheu. Sie drückten sich nach hinten und wandten die Gesichter von — was immer es auch war — ab. Doch aus den Augenwinkeln beobachteten sie weiter, bis es vorbei war.
Auch andere Augen in seiner Nähe bemerkten die Störung. Man war wohl ganz auf das Kommen des Drachens eingestimmt, aber da die Menge nun nichts anderes tun konnte als warten, wurde über jede Kleinigkeit geschwatzt. Er hörte, wie die Vermutungen von einer Aes Sedai bis zu Logain selbst gingen, und außerdem noch ein paar anzügliche Bemerkungen, die bei den Männern rohes Gelächter auslösten, während die Frauen verachtungsvoll schnaubten. Die Welle pflanzte sich in Schlangenlinien durch die Menge fort und kam dabei dem Straßenrand immer näher. Niemand schien zu zögern, sie durchzulassen, wie sie wollte, selbst wenn das bedeutete, daß man einen guten Aussichtspunkt aufgeben mußte, wenn die Menge dahinter in sich selbst zurückflutete. Schließlich wölbte sich direkt Rand gegenüber die Menge in die Straße hinein, schob rotgekleidete Lanzenträger zur Seite, die sich bemühten, die Menschen zurückzudrängen, und öffnete sich. Die gebückte Gestalt, die zögernd ins Freie schlurfte, wirkte mehr wie ein Haufen dreckiger Lumpen denn wie ein Mann. Rand hörte angeekelte Kommentare um sich herum.
Der zerlumpte Mann blieb am entfernten Straßenrand stehen. Seine Kapuze, zerrissen und steif vom Schmutz, schwang hierhin und dorthin, als suche er etwas oder lausche. Plötzlich schrie er wortlos auf, hob die schmutzige Klaue, die eine Hand darstellte, und deutete genau auf Rand. Sofort krabbelte er wie ein Käfer über die Straße.
Der Bettler. Welcher schlimme Zufall den Mann auch dazu gebracht hatte, ihn so zu finden: Rand war sicher, daß er ihm — Schattenfreund oder nicht — keinesfalls von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen wollte. Er konnte den Blick des Bettlers spüren. Er wirkte wie schmutziges Wasser auf seiner Haut. Und vor allem wollte er den Mann nicht gerade hier an sich herankommen lassen, wo sie von Menschen umgeben waren, die sich sowieso am Rand gewalttätiger Ausschreitungen befanden. Dieselben Stimmen, die vorher gelacht hatten, verwünschten ihn nun, als er sich seinen Weg nach hinten bahnte, weg von der Straße.
Er beeilte sich, denn er wußte, daß die dichte Menschenmasse, durch die er sich schieben und winden mußte, den schmutzigen Mann durchlassen würde. Er erkämpfte sich seinen Weg durch die Menge und taumelte — fast wäre er gestürzt -, als er plötzlich abseits dastand. Er ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und aus dem Taumeln wurde Rennen. Menschen deuteten auf ihn; er war der einzige, der nicht in die entgegengesetzte Richtung drängte, und dazu rannte er auch noch. Rufe folgten ihm. Sein Umhang flatterte hinter ihm her und gab den Blick auf sein rotumhülltes Schwert frei. Als ihm das klar wurde, rannte er noch schneller. Ein einzelner Anhänger der Königin, der auch noch wegrannte, konnte durchaus eine Menge mit weißen Abzeichen in einen aufgebrachten Mob verwandeln, der ihn verfolgte, und das sogar heute. Er rannte, so schnell ihn seine langen Beine trugen, durch die gepflasterten Straßen. Erst als er die Schreie weit hinter sich gelassen hatte, erlaubte er sich, schwer atmend gegen eine Mauer zu sacken.
Er wußte nicht, wo er sich befand, außer daß er immer noch in der Innenstadt war. Er konnte sich nicht erinnern, wie viele Biegungen und Abzweigungen er in diesen kurvenreichen Straßen genommen hatte. Bevor er weiterrannte, blickte er dorthin zurück, woher er gekommen war. Nur ein Mensch bewegte sich auf der Straße: eine Frau, die gelassen mit einem Einkaufskorb einherschritt. Fast jeder in der Stadt war versammelt, um einen Blick auf den falschen Drachen zu erhaschen. Er kann mir nicht gefolgt sein. Ich muß ihn abgehängt haben.
Der Bettler wurde nicht aufgeben, dessen war er sich sicher, obwohl er nicht wußte, warum. Die zerlumpte Gestalt schob sich in dieser Minute weiter durch die Menge und suchte, und falls Rand zurückkehrte, um Logain zu sehen, riskierte er ein Zusammentreffen. Einen Augenblick lang überlegte er sich, ob er zu Der Königin Segen zurückgehen sollte, aber er war sicher, nie mehr eine Möglichkeit zu haben, eine Königin aus der Nähe zu sehen, und er hoffte, er werde nie mehr eine haben, einen falschen Drachen zu sehen. Es schien ihm irgendwie feige, sich von einem geduckten Bettler, selbst wenn es ein Schattenfreund war, in sein Versteck zurückjagen zu lassen.
Er sah sich überlegend um. So, wie die Innenstadt geplant war, hatte man die Gebäude niedrig gehalten, falls überhaupt welche dort standen, so daß jemand, der sich an einem bestimmten Punkt befand, wie vorgesehen einen freien Überblick hatte. Es mußte Punkte geben, von denen aus er die Prozession mit dem falschen Drachen vorbeikommen sehen konnte. Wenn er schon die Königin nicht sehen konnte, dann doch Logain. Schnell entschlossen machte er sich auf den Weg.
Während der nächsten Stunde fand er mehrere solcher Punkte, doch jeder bereits vollgepackt mit Menschen, die der Drängelei an der Prozessionsstrecke entgehen wollten. Sie bildeten eine einheitliche Linie weißer Abzeichen und Armbinden. Überhaupt kein Rot. Er dachte daran, was der Anblick seines Schwertes in einer solchen Menge auslösen konnte, und verdrückte sich schnell und vorsichtig.
Rufe drangen aus der Neustadt empor, Rufe und das Schmettern von Trompeten und martialischer Trommelwirbel. Logain und seine Eskorte befanden sich bereits in Caemlyn und waren auf dem Weg zum Palast.
Enttäuscht wanderte er durch die beinahe menschenleeren Straßen. Er hoffte immer noch ein wenig darauf, einen Weg zu finden, um Logain zu sehen. Sein Blick fiel auf einen unbebauten Abhang, der sich über der Straße erhob, durch die er gerade schritt. In einem normalen Frühling wäre dieser Abhang ein bunter Teppich von Gras und Blumen gewesen, aber jetzt war er braun bis hinauf zu der hohen Mauer ganz oben, einer Mauer, über die Baumwipfel hinwegragten.
Dieser Teil der Straße führte nicht zu irgendwelchen großartigen Aussichtspunkten, aber geradeaus konnte er über den Dächern einige Türmchen des Palastes sehen, auf denen Fahnen mit dem Weißen Löwen im Wind flatterten. Er war nicht sicher, in welche genaue Richtung die Straße nach der nächsten Kurve führen würde, wo sie den Hügel umrundete und aus seiner Sicht verschwand, aber ihm kam plötzlich eine Idee, als er die Mauer oben auf dem Hügel sah.
Die Trommeln und Trompeten näherten sich; die Rufe wurden lauter. Erregt stieg er den Abhang hinauf. Er war nicht zum Begehen geeignet, doch er drückte seine Stiefel in die abgestorbene Grasnarbe und zog sich hoch, wobei er kahle Sträucher zum Festhalten benützte. Er schnaufte schwer vor Aufregung und Anstrengung, als er die letzten Schritte zur Mauer zurücklegte. Sie ragte über ihm auf, gut doppelt so hoch wie er groß war, vielleicht auch mehr. Die Luft erzitterte unter dem Trommelschlag und dem Schmettern der Trompeten.
Man hatte die Steine der Mauer nur sehr wenig behauen. Die mächtigen Blöcke paßten so gut aufeinander, daß die Fugen fast unsichtbar waren. So rauh wie sie waren, schienen sie wie eine natürliche Klippe. Rand grinste. Die Klippen gleich hinter den Sandhügeln waren höher, und trotzdem hatte sogar Perrin sie bestiegen. Seine Hände suchten nach Auswüchsen im Gestein, seine stiefelbewehrten Füße fanden Vorsprünge. Die Trommeln spornten ihn beim Klettern an. Er wollte sie nicht gewinnen lassen. Er würde die Krone erreichen, bevor sie im Palast waren. In seiner Hast riß er sich die Hände am Stein auf und schürfte sich die Knie durch die Hosen hindurch auf, doch dann warf er die Arme über die Mauerkrone und zog sich mit dem Gefühl hoch, gewonnen zu haben.
Schnell wand er sich herum, um sich auf die ebene, enge Mauerkrone zu setzen. Die mit unzähligen Blättern geschmückten Äste eines mächtigen Baums ragten über seinen Kopf hinweg, aber er achtete nicht darauf. Er blickte über ziegelgedeckte Dächer hinweg, aber hier von der Mauer aus hatte er freie Sicht. Er beugte sich nur ein klein wenig vor und konnte die Palasttore sehen sowie die Gardesoldaten der Königin, die dort aufgestellt waren, und die erwartungsvolle Menge. Erwartungsvoll. Ihre Rufe gingen im Donnergrollen der Trommeln und Trompeten unter, aber sie warteten immer noch. Er grinste. Ich habe gewonnen.
Im gleichen Moment, als er sich hinsetzte, umrundete der erste Teil der Prozession die letzte Kurve vor dem Palast. Zwanzig Reihen von Trompetern kamen zuerst und zerschnitten die Luft mit einem triumphierenden Schmettern, einer Siegesfanfare nach der anderen. Hinter ihnen donnerten genauso viele Trommler. Dann kamen die Banner von Caemlyn, weiße Löwen auf rotem Grund, von Berittenen getragen, gefolgt von den Soldaten Caemlyns, unzähligen Reihen von Reitern in glänzender Rüstung mit stolz erhobenen Lanzen, an denen hellrote Wimpel flatterten. Lanzenträger und Bogenschützen, jeweils drei Reihen tief, flankierten die Reiter, und mehr und mehr von ihnen folgten, nachdem die Reiter bereits zwischen den wartenden Gardesoldaten durch die Palasttore ritten.
Die letzten Fußsoldaten kamen um die Kurve, und hinter ihnen befand sich ein massiver Wagen. Sechzehn Pferde in Viererreihen zogen ihn. In der Mitte der Ladefläche stand ein großer Käfig mit Eisenstangen, und in jeder Ecke der Ladefläche saßen zwei Frauen, die den Käfig so konzentriert beobachteten, als existiere die Menge gar nicht. Aes Sedai, da war er sicher. Zwischen dem Wagen und den Fußsoldaten ritten auf beiden Seiten jeweils ein Dutzend Behüter. Ihre Umhänge flatterten und verwirrten das Auge. Wenn auch die Aes Sedai die Menge ignorierten, so beobachteten die Behüter das Volk, als gebe es außer ihnen keine Wächter mehr.
Trotz alledem war es der Mann im Käfig, der Rands Blicke fesselte. Er war nicht nahe genug, um Logains Gesicht sehen zu können, wie er eigentlich beabsichtigt hatte, aber mit einemmal wußte er, daß er gar nicht näher herankommen wollte. Der falsche Drache war ein hochgewachsener Mann mit langem, dunklem Haar, das in Locken auf seine breiten Schultern fiel. Er hielt sich trotz des schwankenden Wagens aufrecht, indem er sich mit einer Hand an den Gitterstäben über seinem Kopf festhielt. Seine Kleidung schien ganz gewöhnlich: Umhang und Mantel und Kniebundhosen, die auf keinem Bauerndorf Aufsehen erregt hätten. Aber wie er sie trug! Seine ganze Haltung! Logain war jeder Zoll ein König. Der Käfig hätte genausogut überhaupt nicht vorhanden sein können. Er hielt sich aufrecht, mit hocherhobenem Kopf, und blickte über die Menge hinweg, als sei sie gekommen, ihm zu huldigen. Und wo auch immer sein Blick hinfiel, schwiegen die Menschen und sahen ihn ehrfurchtsvoll an. Wenn Logains Blick weiterwanderte, schrien sie doppelt so laut, als wollten sie ihr Schweigen vergessen machen, aber für den Mann spielte es keine Rolle, wie er so dastand, im Lärm oder in der ihn begleitenden Stille. Als der Wagen durch die Palasttore rollte, blickte er zurück auf die versammelte Volksmenge. Sie heulten ihm zu, fanden keine Worte mehr, eine Welle rein tierischen Hasses und Furcht überschlug sich, und Logain warf den Kopf zurück und lachte, während ihn der Palast verschluckte.
Andere Truppenteile folgten hinter dem Wagen und zeigten die Banner weiterer, die gegen den falschen Drachen gekämpft und ihn besiegt hatten. Die Goldenen Bienen von Illian, die drei Weißen Mondsicheln von Tear, die Aufgehende Sonne von Cairhien, andere, viele andere, Nationen und Städte und die Banner großer Männer mit ihren eigenen Trompetern, ihren eigenen Trommlern, die zu ihrem Ruhm den Takt schlugen. Nach Logain war alles nicht mehr so wichtig.
Rand beugte sich noch ein Stückchen weiter vor, um einen letzten Blick auf den Mann im Käfig erhaschen zu können. Er wurde besiegt, oder? Licht, er befände sich wohl kaum in so einem blutigen Käfig, wäre er nicht besiegt worden.
Er verlor das Gleichgewicht, rutschte weg, griff nach der Mauerkrone und zog sich zu einer etwas sichereren Stellung hinauf. Nun, da Logain weg war, bemerkte er das Brennen seiner Hände, wo der Stein seine Handflächen und Finger aufgeschurft hatte. Aber er konnte sich noch nicht von dem Anblick befreien. Der Käfig und die Aes Sedai! Logain, unbesiegt! Trotz des Käfigs war das kein geschlagener Mann gewesen. Er schauderte und rieb sich die brennenden Hände an den Hüften.
»Warum haben ihn die Aes Sedai bewacht?« fragte er sich laut.
»Sie halten ihn davon ab, die Wahre Quelle zu berühren, Dummkopf.«
Er fuhr hoch auf die Stelle zu, von der die Stimme des Mädchens erklungen war, und plötzlich konnte er sich in seiner unsicheren Stellung nicht mehr halten. Er hatte gerade noch Zeit, zu erkennen, daß er nach hinten stürzte; er fiel, und dann traf etwas seinen Kopf, und ein lachender Logain jagte ihn in die sich wild drehende Dunkelheit.