29 Gnadenlose Augen

Elyas ließ sie über die braune Grasebene hetzen, als wolle er die Zeit wieder aufholen, die sie beim Fahrenden Volk verbracht hatten. Sein Tempo Richtung Süden war so stramm, daß selbst Bela dankbar schient wenn sie beim Einbruch der Dämmerung anhielten. Trotz der angestrebten Eile traf er jedoch Vorsichtsmaßnahmen, die er zuvor nicht getroffen hatte. Nachts entzündeten sie nur dann ein Feuer, wenn genug trockenes Holz am Boden lag. Er ließ sie nicht einmal ein winziges Zweiglein von einem Baum abbrechen. Seine Lagerfeuer waren klein und immer in einer Kuhle verborgen, die er sorgfältig grub, nachdem er ein Stück Grasnarbe herausgeschnitten hatte. Sobald ihre Mahlzeit fertig war, vergrub er die Kohlen und schloß die Kuhle wieder mit dem Stück Grasnarbe. Bevor sie in der ersten Dämmerung aufbrachen, untersuchte er jeden Fingerbreit ihres Lagerplatzes, um sicherzugehen, daß es kein Anzeichen dafür gab, daß sich hier jemand aufgehalten hatte. Er richtete sogar umgetretene Stein wieder auf und glättete heruntergedrückte Halme. Das erledigte er schnell — er brauchte nie mehr als ein paar Minuten -, aber sie brachen erst auf, wenn er zufriedengestellt war.

Perrin glaubte nicht, daß diese Vorsichtsmaßnahmen gegen Träume helfen würden, aber wenn er darüber nachdachte, wogegen sie schützen sollten, dann wünschte er, sie würden nur der Träume wegen getroffen. Beim ersten Mal fragte Egwene ängstlich, ob die Trollocs zurückgekehrt seien, aber Elyas schüttelte den Kopf und trieb sie weiter voran. Perrin sagte nichts. Er wußte, daß keine Trollocs in der Nähe waren; die Wölfe witterten nur Gras und Bäume und Kleintiere. Es war nicht die Angst vor Trollocs, die Elyas so eilig vorwärtstrieb, sondern dieses andere Gefühl, dessen sich sogar Elyas nicht ganz sicher war. Die Wölfe wußten nichts darüber, aber sie fühlten Elyas' drängende Vorsicht, und deshalb erkundeten sie alles so genau, als klebe ihnen die Gefahr an den Füßen oder als warte hinter dem nächsten Hügel ein Hinterhalt.

Niedrige Landwellen, nicht hoch genug, um Hügel genannt zu werden, erhoben sich vor ihnen. Darüber breitete sich ein Teppich zähen Grases aus, noch wintergelb und mit wucherndem Unkraut durchsetzt. Es wogte unter einem Wind, der hundert Meilen weit auf kein Hindernis stieß. Die Baumgruppen wurden seltener. Die Sonne ging zögernd auf und verbreitete keine Wärme.

Zwischen diesen geduckten Höhenzügen folgte Elyas den Konturen des Landes so weit wie möglich. Er vermied es nach Möglichkeit, die Erhebungen direkt zu überschreiten. Er sprach selten, und wenn, dann...

»Wißt ihr überhaupt, wieviel Zeit uns das kostet, jeden verdammten kleinen Hügel einzeln zu umgehen? Blut und Asche! Ich werde bis zum Sommer brauchen, bis ich euch endlich los bin. Nein, wir können nicht einfach geradeaus laufen! Wie oft muß ich euch das noch sagen? Habt ihr eine blasse Ahnung, wie sehr sich ein Mensch abhebt, wenn er in einer solchen Landschaft auf einem Hügelkamm steht? Seng mich, aber wir marschieren genausoweit seitwärts und zurück wie vorwärts! Kriechen wie eine Schlange! Ich könnte mich noch mit zusammengebundenen Füßen schneller bewegen. Also was ist, wollt ihr mich angaffen oder weitergehen?«

Perrin wechselte einen schnellen Blick mit Egwene. Sie streckte die Zunge nach Elyas' Rücken aus. Keiner von beiden sagte etwas. Beim ersten Mal, als Egwene protestiert hatte, daß es ja Elyas sei, der um die Hügel herumlaufen wolle, und er sie nicht dafür verantwortlich machen solle, hatte sie eine Lektion darüber erhalten, wie weit man sie hören könne, und das in einem grollenden Ton, den man bestimmt eine Meile weit hören konnte. Er belehrte sie über die Schulter weg und lief nicht einmal langsamer dabei.

Ob er nun gerade redete oder schwieg, immer suchten Elyas' Augen die Umgebung ab. Manchmal blickte er so eindringlich auf etwas, als gebe es außer dem groben Gras wie unter ihren Füßen noch etwas zu sehen. Falls er etwas sah, konnte ihm Perrin nicht folgen, und auch die Wölfe sahen nichts. Auf Elyas Stirn bildeten sich noch ein paar Runzeln mehr, aber er gab keine Erklärung ab, weder warum sie es so eilig hatten, noch vor wessen Verfolgung er sich so sehr fürchtete.

Manchmal erstreckte sich ein noch längerer Höhenzug als sonst quer über ihren Weg und verlief meilenweit nach Westen und nach Osten. Dann mußte ihnen sogar Elyas zugestehen, daß es ein zu großer Umweg sei, ihn zu umgehen. Aber er ließ sie auch nicht einfach darübersteigen. Er verließ sie am unteren Ende des Abhangs, kroch auf dem Bauch bis zum Kamm hinauf und spähte so vorsichtig hinüber, als hätten die Wölfe nicht zehn Minuten zuvor hier alles abgesucht. Als sie so auf der Talsohle unten warteten, vergingen ihnen die Minuten so zäh wie Stunden, und die Ungewißheit drückte sie nieder. Egwene kaute auf der Lippe herum und klickte unbewußt ständig mit den Perlen, die ihr Aram gegeben hatte. Perrin wartete hartnäckig. Sein Magen war wie zu einem Knoten verschnürt, aber er brachte es fertig, das Gesicht nicht zu verziehen und den Aufruhr im Inneren zu verbergen.

Die Wölfe werden uns warnen, wenn eine Gefahr auftaucht. Es wäre wunderbar, wenn sie einfach wegliefen, wenn sie verschwänden, aber jetzt in diesem Augenblick... jetzt würden sie uns warnen. Wonach sucht er bloß? Wonach?

Nach langer Suche, während der er nur die Augen über den Hügelkamm erhob, bedeutete Elyas ihnen für gewöhnlich, nachzukommen. Jedesmal war der Weg nach vorn frei — bis zur nächsten Erhebung, die sie nicht umgehen konnten. Als das zum dritten Mal geschah, verkrampfte sich Perrins Magen vollkommen. Er stieß sauer auf und wußte, wenn er auch nur fünf Minuten lang warten mußte, würde er sich übergeben. »Ich... « Er schluckte. »Ich komme auch.«

»Duck dich«, war alles, was Elyas sagte.

Während er sprach, sprang Egwene von Belas Rücken.

Der in Felle gehüllte Mann schob seinen runden Hut nach vorn und spähte unter dem Rand hervor nach ihr. »Erwartest du, daß die Stute auf dem Bauch kriechen kann?« fragte er trocken.

Ihr Mund bewegte sich, doch sie brachte keinen Laut hervor. Schließlich zuckte sie die Achseln, und Elyas wandte sich wortlos ab und machte sich daran, den sanften Abhang zu erklimmen. Perrin eilte ihm nach.

Ein gutes Stück vor Erreichen des Hügelkammes machte Elyas eine Bewegung nach unten, und einen Augenblick später lag er schon flach am Boden und wand sich die letzten paar Schritte vorwärts. Perrin ließ sich auf den Bauch fallen.

Oben angekommen, nahm Elyas seinen Hut ab, bevor er den Kopf ganz langsam hob. Perrin lugte durch ein Dornengestrüpp hindurch, sah aber nur die gleiche wellige Ebene, wie sie hinter ihnen lag. Der Abhang auf der ihnen abgewandten Seite war kahl; nur unten an seinem Fuß stand eine kleine Baumgruppe — vielleicht hundert Schritte im Durchmesser — etwa eine halbe Meile südlich des Kammes. Die Wölfe waren bereits hier durchgekommen und hatten keine Witterung von Trollocs oder Myrddraal aufgenommen.

Im Osten wie im Westen sah das Land gleich aus, soweit Perrin blicken konnte — welliges Grasland und hier und dort etwas Unterholz. Nichts bewegte sich. Die Wölfe befanden sich mehr als eine Meile voraus außer Sichtweite; auf diese Entfernung konnte er sie kaum fühlen. Sie hatten nichts gesehen, als sie diesen Fleck erkundeten. Wonach sucht er? Es gibt hier nichts.

»Wir verschwenden unsere Zeit«, sagte er und wollte sich aufrichten, da brach aus den Bäumen unten ein ganzer Schwarm Raben hervor, fünfzig, hundert schwarze Vögel, und kreiste zum Himmel empor. Er erstarrte zusammengekauert, als sie über die Bäume flatterten. Die Augen des Dunklen Königs. Haben sie mich gesehen? Schweiß lief ihm übers Gesicht.

Als ob ein einziger Gedanke gleichzeitig hundert winzige Hirne erfaßt hätte, so flogen alle Raben in die gleiche Richtung los: Süden. Der Schwarm verschwand hinter der nächsten Erhebung, wobei er sich bereits wieder dem Boden entgegensenkte. Im Osten spie ein anderes Dickicht weitere Raben aus. Die schwarze Masse kreiste zweimal und flog dann nach Süden weiter.

Zitternd ließ er sich wieder am Boden nieder. Er versuchte zu sprechen, doch sein Mund war ausgetrocknet. Nach einer Minute brachte er wieder ein wenig Speichel hervor. »War es das, wovor du Angst hattest? Warum hast du nichts gesagt? Wieso haben die Wölfe sie nicht gesehen?«

»Wölfe schauen nicht oft in die Bäume hinauf«, grollte Elyas. »Und nein, danach habe ich nicht gesucht. Ich habe dir bereits gesagt, ich wußte nicht, was... « Weit weg im Westen erhob sich eine schwarze Wolke über einem anderen Hain und schwang sich Richtung Süden durch die Luft. Sie waren zu weit weg, um einzelne Vögel ausmachen zu können. »Dem Licht sei Dank, daß es noch nicht so viele sind. Sie wissen nichts. Selbst nach dem... « Er drehte sich um und blickte zurück, woher sie gekommen waren.

Perrin schluckte. Selbst nach diesem Traum, hatte Elyas sagen wollen. »Nicht viele?« sagte er. »Zu Hause sehen wir so viele Raben nicht einmal in einem ganzen Jahr.«

Elyas schüttelte den Kopf. »In den Grenzlanden habe ich Schwärme gesehen, das waren bestimmt tausend Raben auf einmal. Nicht zu oft — es gibt dort Raben im Überfluß -, aber es kam vor.« Er blickte immer noch nach Norden. »Ruhig jetzt!«

Perrin fühlte es jetzt: das Bemühen, Kontakt mit den entfernten Wölfen aufzunehmen. Elyas wollte, daß Scheckie und ihre Begleiter aufhörten, das Land voraus auszukundschaften; statt dessen sollten sie zurückkommen und ihre Spur nach hinten absichern. Bei der Anstrengung wurde sein sowieso schon hageres Gesicht noch schmaler und spannte sich an. Die Wölfe waren so weit entfernt, daß Perrin sie nicht einmal fühlen konnte. Beeilt euch. Beobachtet den Himmel. Schnell.

Schwach empfing Perrin eine Antwort von weit weg aus dem Süden. Wir kommen. Ein Bild huschte durch seinen Verstand — rennende Wölfe, die Schnauze in den Wind gestreckt, als sei ein Steppenfeuer hinter ihnen her, rennen, rennen — blitzte auf und war einen Augenblick später wieder verschwunden.

Elyas sank in sich zusammen und atmete tief ein. Mit gerunzelter Stirn spähte er über den Hügelkamm hinweg und dann wieder nach Norden. Er murmelte etwas in seinen Bart.

»Glaubst du, daß hinter uns noch mehr Raben sind?« fragte Perrin.

»Könnte sein«, antwortete Elyas unbestimmt. »Manchmal machen sie es so. Ich kenne einen Ort, den sollten wir bis zur Dunkelheit erreichen. Wir müssen sowieso bis tief in die Nacht weitergehen, auch wenn wir den Ort nicht erreichen, aber wir kommen nicht so schnell vorwärts, wie ich es gern hätte. Wir können es nicht riskieren, den Raben vor uns zu nahe zu kommen. Aber wenn sie auch hinter uns sind... «

»Warum bei Nacht?« fragte Perrin. »Was für ein Ort? Irgendwo, wo wir vor den Raben sicher sind?«

»In Sicherheit vor den Raben«, sagte Elyas, »aber zu viele Menschen kennen... Die Raben lassen sich die Nacht über nieder. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, daß sie uns in der Dunkelheit finden könnten. Das Licht wolle, daß wir uns nur über Raben den Kopf zerbrechen müssen.« Nach einem weiteren Blick über den Hügelkamm erhob er sich und winkte Egwene zu, sie solle Bela hochbringen. »Aber es ist noch lange nicht dunkel. Wir müssen weiter.« Er begann, den Abhang vor ihnen mit langen Schritten hinunterzurennen. Jeder Schritt ließ ihn beinahe stürzen. »Bewegt euch, Licht noch mal!«

Perrin kam ihm, halb rennend, halb rutschend, hinterher. Egwene überquerte den Hügelkamm hinter ihnen. Sie ließ Bela die Fersen spüren, und die Stute trabte hinunter. Ein Lächeln der Erleichterung überzog ihr Gesicht, als sie sie sah. »Was ist los?« rief sie ihnen zu, wobei sie die zerzauste Stute vorwärtstrieb, um aufzuholen. »Als ihr so plötzlich verschwunden seid, dachte ich... Was ist geschehen?«

Perrin ersparte sich die Antwort, bis sie bei ihnen war. Er erzählte ihr von den Raben und Elyas' sicherem Versteck, aber es war eine unzusammenhängende Erzählung. Nach einem erstickten »Raben!« unterbrach sie ihn ständig mit Fragen, auf die er genauso oft keine Antwort wußte. So beendete er das Gespräch nicht, bevor sie den nächsten Hügelkamm erreicht hatten.

Normalerweise — wenn auf dieser Reise irgend etwas normal genannt werden konnte — hätten sie diesen Hügel umrundet, anstatt ihn zu überqueren, aber Elyas bestand darauf, in jedem Fall zunächst das Terrain zu erkunden.

»Willst du mitten unter denen landen, Junge?« war sein mürrischer Kommentar.

Egwene sah den Hügelkamm an und leckte sich die Lippen, als wolle sie diesmal mit Elyas gehen und gleichzeitig lieber dort bleiben, wo sie war. Elyas war der einzige unter ihnen, der nicht zögerte.

Perrin fragte sich, ob die Raben je zur Sicherheit noch einmal zurückflögen. Das wäre eine schöne Bescherung, wenn sie den Kamm zur gleichen Zeit erreichten wie ein Schwarm Raben.

Oben hob er ganz vorsichtig den Kopf, bis er gerade hinüberblicken konnte, und ein Seufzer der Erleichterung entrang sich ihm. Alles, was er sah, war eine Baumgruppe ein wenig westlich von ihnen. Es waren keine Raben zu sehen. Plötzlich brach ein Fuchs aus der Baumgruppe hervor und rannte weg, so schnell er konnte.

Raben erhoben sich von den Ästen und folgten ihm. Ihr Flügelschlagen erstickte fast das ängstliche Winseln des Fuchses. Ein schwarzer Wirbelwind tauchte ab und schwärmte um ihn herum. Das Gebiß des Fuchses schnappte nach ihnen, aber sie stießen zu und waren pfeilschnell wieder weg, ohne daß er sie auch nur berühren konnte. Ihre schwarzen Schnäbel glänzten feucht. Der Fuchs wandte sich wieder der Baumgruppe zu und suchte nach der Sicherheit seines Baus. Er rannte nun plump und mit gesenktem Kopf, das Fell dunkel und blutig, und die Raben umflatterten ihn in immer größerer Zahl. Die flatternde Masse verdichtete sich, bis sie den Fuchs vollkommen verbarg. So schnell, wie sie sich über ihn gesenkt hatten, erhoben sie sich nun, kreisten und verschwanden über die nächste Bodenwelle im Süden. Ein verzerrter Klumpen zerrissenen Fells war alles, was von dem Fuchs übriggeblieben war.

Perrin schluckte schwer. Licht! Das könnten sie auch uns antun. Hundert Raben. Sie könnten... »Bewegt Euch!« brummte Elyas, der dabei aufsprang. Er winkte Egwene zu mitzukommen, und ohne zu warten setzte er sich in Trab auf die Bäume zu. »Macht schon, Licht noch mal!« rief er über die Schulter zurück. »Los!«

Egwene ließ Bela über die Anhöhe galoppieren und holte sie ein, bevor sie die Talsohle erreicht hatten. Es gab keine Zeit für Erklärungen, aber ihre Augen erspähten den Fuchs sofort. Ihr Gesicht wurde weiß wie Schnee.

Elyas erreichte die Bäume und drehte sich dort am Rand des Wäldchens um. Er winkte ihnen lebhaft zu, sie sollten sich beeilen. Perrin versuchte, schneller zu rennen, und stolperte. Mit wild rudernden Armen fing er sich gerade noch, bevor er auf der Nase lag. Blut und Asche! Ich renne doch schon, so schnell ich kann!

Ein einzelner Rabe flog aus dem Gehölz auf. Er hielt auf sie zu, schrie und wirbelte Richtung Süden. Er wußte, daß er zu spät dran war, aber trotzdem nestelte Perrin irgendwie seine Schleuder aus ihrer Halterung an seiner Hüfte. Er bemühte sich noch, einen Stein aus seiner Tasche in die Schlinge zu legen, als der Rabe plötzlich in der Luft die Flügel anlegte und wie ein Stein zu Boden stürzte. Sein Mund klappte auf, und dann sah er die Schleuder in Egwenes Hand. Sie grinste ihn unsicher an.

»Steht nicht da herum und zählt eure Zehen!« rief Elyas.

Aufschreckend hastete Perrin unter die Bäume und sprang dann schnell aus dem Weg, um nicht von Bela mit Egwene darauf niedergetrampelt zu werden.

Fern im Westen, beinahe außer Sichtweite, erhob sich etwas in die Luft, das wie ein dunkler Dunstschleier wirkte. Perrin fühlte, wie die Wölfe auf dem Weg nach Norden dessen Weg kreuzten. Er fühlte, wie sie zur Rechten und zur Linken Raben bemerkten, ihr Tempo aber nicht verringerten. Der dunkle Schleier schwirrte nach Norden, als wolle er die Wölfe verfolgen, drehte dann aber plötzlich nach Süden ab.

»Glaubst du, sie haben uns gesehen?« fragte Egwene. »Wir waren doch schon unter den Bäumen, oder? Sie konnten uns auf die Entfernung bestimmt nicht sehen. Oder doch?«

»Wir haben sie auf die Entfernung gesehen«, sagte Elyas trocken. Perrin trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, und Egwene atmete angstvoll ein. »Wenn sie uns gesehen hätten«, grollte Elyas, »dann wären sie auf uns heruntergestoßen wie auf diesen Fuchs. Ihr müßt euren Verstand gebrauchen, wenn ihr am Leben bleiben wollt. Die Angst wird euch umbringen, wenn ihr sie nicht beherrscht.« Sein durchdringender Blick traf jeden der beiden einen Moment lang. Schließlich nickte er. »Sie sind jetzt weg, und das sollten wir auch sein. Haltet die Schleudern bereit. Könnten wieder nützlich sein.«

Als sie aus dem Wäldchen heraustraten, ließ Elyas sie ein wenig westlich von ihrem bisherigen Kurs weitergehen. Perrin blieb beinahe die Luft weg: Es war, als jagten sie diese letzten Raben, die sie gesehen hatten. Elyas lief unermüdlich weiter, und sie konnten nichts anderes tun, als ihm zu folgen. Schließlich kannte Elyas einen sicheren Ort. Irgendwo. Sagte er.

Sie rannten zur nächsten Erhebung, warteten, bis die Raben weiterflogen, und rannten wieder, warteten und rannten. Die gleichmäßige Gangart von vorher war schon ermüdend genug gewesen, aber bei diesem unregelmäßigen Rennen erlahmten alle außer Elyas schnell. Perrins Brustkorb drohte zu zerspringen, und er sog gierig die Luft ein, als er auf einem Hügelkamm liegend ein paar Minuten Zeit hatte und Elyas die Suche überließ. Bela stand bei jedem Halt mit gesenktem Kopf und geblähten Nüstern da. Die Angst trieb sie voran, und Perrin wußte nicht, ob er sie beherrschte oder nicht. Er wünschte nur, die Wölfe würden ihnen mitteilen, was hinter ihnen her war, falls etwas hinter ihnen her war, was es auch sein mochte.

Voraus befanden sich mehr Raben, als Perrin jemals wieder sehen wollte. Die schwarzen Vögel flogen in Wolken links und rechts und im Süden auf. Dutzendmal erreichten sie das Versteck eines Wäldchens oder den spärlichen Schutz eines Abhangs nur Augenblicke bevor Raben über den Himmel fegten. Einmal — die Sonne sank gerade von ihrer Mittagshöhe herab — standen sie im Freien wie zu Statuen erstarrt, während hundert gefiederte Spione des Dunklen Königs eine knappe Meile von ihnen entfernt nach Osten schossen. Trotz des Windes lief Perrin der Schweiß übers Gesicht, bis der letzte schwarze Umriß zu einem Punkt zusammengeschrumpft und verschwunden war. Er zählte die Einzelgänger nicht mehr, die sie mit ihren Schleudern erlegten.

Er sah auf dem Weg, den die Raben zurückgelegt hatten, genügend Anzeichen dafür, daß ihre Furcht gerechtfertigt war. Mit aufsteigender Übelkeit hatte er ein Kaninchen angestarrt, das zu Fetzen zerrissen worden war. Der augenlose Schädel stand aufrecht, und die anderen Stücke — Läufe, Eingeweide — waren in einem unregelmäßigen Kreis darum herum verstreut. Auch Vögel hatten sie zu formlosen Federklumpen zerhackt. Und noch zwei weitere Füchse.

Er erinnerte sich an etwas, was Lan gesagt hatte. Alle Kreaturen des Dunklen Königs töten aus Lust daran. Die Macht des Dunklen Königs ist der Tod. Und falls die Raben sie fanden? Gnadenlose Augen, die wie schwarze Perlen schimmerten. Hackende Schnäbel überall um sie herum. Nadelspitze Schnäbel, die sie blutig hackten. Hundert? Oder können sie noch mehr von ihrer Sorte herbeirufen? Vielleicht alle, die an der Jagd beteiligt sind? Ein Bild entstand in seinem Geist, das ihn krank machte: ein hügelgroßer Haufen von Raben, wie Würmer durcheinanderkrabbelnd, die sich um ein paar blutige Fetzen rissen.

Plötzlich wurde dieses Bild von anderen verdrängt, jedes zu Beginn einen Moment lang klar, die dann wirbelten und sich neue formten. Die Wölfe hatten im Norden Raben vorgefunden. Kreischende Vögel stießen auf sie herab, flatterten auf und stießen wieder herab. Bei jedem Angriff ließen sie blutige Spuren zurück. Knurrende Wölfe wichen aus, sprangen hoch und drehten sich in der Luft mit schnappenden Kiefern herum. Wieder und wieder spürte Perrin Federn im Mund und den fauligen Geschmack flatternder Raben, die von den kräftigen Kiefern zermalmt wurden. Er spürte den Schmerz von blutenden Rissen am ganzen Körper und wußte — verzweifelt, doch nie auch nur in Gedanken aufgebend -, daß all seine Mühe vergebens war. Plötzlich wirbelten die Raben davon, kreisten mit einem letzten Kreischen der Wut über den Wölfen. Wölfe starben nicht so schnell wie Füchse, und sie hatten eine Aufgabe zu erfüllen. Ein kurzes Schlagen schwarzer Flügel, und sie waren weg. Ein paar schwarze Federn trieben herunter und senkten sich auf ihre Toten. Wind leckte über ein Loch in seinem linken Vorderbein. Mit einem von Springers Beinen stimmte auch etwas nicht. Scheckie ignorierte ihre eigenen Verwundungen und trieb sie mit schmerzerfüllten Sätzen in die Richtung, die die Raben genommen hatten. Ihr Fell war blutverschmiert. Wir kommen. Gefahr kommt noch vor uns.

In taumelndem Trab begriffen, sahen Perrin und Elyas einander an. Die gelben Augen des Mannes waren ausdruckslos, doch er wußte Bescheid. Er sagte nichts, beobachtete lediglich Perrin und wartete, ohne dieses mühelos scheinende Laufen zu unterbrechen.

Er wartet auf mich. Wartet darauf, daß ich zugebe, die Wölfe fühlen zu können.

»Raben«, schnaufte Perrin zögernd. »Hinter uns.«

»Er hatte recht«, hauchte Egwene. »Du kannst mit ihnen sprechen.«

Perrins Füße schienen ihm wie Eisenklumpen an Holzpfosten zu hängen, doch er bemühte sich, sie noch schneller zu bewegen. Wenn er nur schneller als diese Augen rennen könnte, schneller als die Raben, schneller als die Wölfe, aber vor allem schneller als Egwenes Blick! Nun hatte sie ihn durchschaut, wußte, was er war. Was bist du denn? Gezeichnet, Licht noch mal! Verflucht!

Seine Kehle brannte, wie sie selbst in Rauch und der Hitze von Meister Luhhans Schmiede nicht gebrannt hatte. Er taumelte und hängte sich an Egwenes Steigbügel, bis sie herabkletterte und ihn trotz seiner Proteste beinahe in den Sattel hob. Allerdings dauerte es nicht lang, und sie hielt sich mit einer Hand am Steigbügel fest, während sie mit der anderen ihre Röcke hochraffte. Kurze Zeit später stieg er mit wackligen Knien ab. Er mußte sie hochheben, damit sie seinen Platz übernehmen konnte, und sie war zu müde, um sich dagegen zu wehren.

Elyas dachte nicht daran, langsamer zu gehen. Er trieb sie an, schimpfte mit ihnen, und sie hielten sich so nah hinter den suchenden Raben im Süden, daß Perrin glaubte, ein Blick eines der Raben nach hinten würde genügen. »Bewegt euch gefälligst, Licht noch mal! Glaubt ihr, euch wurde es besser gehen als dem Fuchs, wenn sie uns fangen? Dem sie die Eingeweide auf den Schädel geworfen haben?« Egwene wankte aus dem Sattel und übergab sich geräuschvoll. »Ich wußte doch, daß ihr euch daran erinnert. Lauft nur noch ein Stück weiter! Das ist alles. Nur ein bißchen weiter noch. Das Licht versenge euch, aber ich dachte, Bauernkinder seien ausdauernd. Den ganzen Tag arbeiten und die Nacht durchtanzen. Es sieht eher so aus, als hättet ihr den ganzen Tag und die ganze Nacht über geschlafen! Bewegt eure blutigen Füße!«

Sie marschierten hügelabwärts, sobald der letzte Rabe über dem nächsten Hügelkamm verschwunden war, und später sogar dann schon, wenn noch die letzten Nachzügler über dem Hügel flatterten. Wenn ein Vogel zurückschaut! Die Raben suchten im Osten und Westen, während sie über die deckungslosen Landstriche dazwischen hasteten. Es ist nur ein einziger Vogel nötig.

Die Raben hinter ihnen holten schnell auf. Scheckie und die anderen Wölfe umgingen sie und rannten weiter, ohne anzuhalten und ihre Wunden zu lecken, aber sie hatten ihre Lektion in bezug auf das Beobachten des Himmels gelernt. Wie nah? Wie lange noch? Die Wölfe verstanden Zeit nicht so wie die Menschen. Sie hatten keinen Grund, den Tag in Stunden zu unterteilen. Ihnen genügten die Jahreszeiten und Helligkeit und Dunkelheit. Mehr brauchten sie nicht. Schließlich formte Perrin ein Bild in seinem Geist, wo die Sonne am Himmel stehen würde, wenn die Raben sie von hinten erreichten. Er blickte zurück zur sinkenden Sonne und leckte sich mit trockener Zunge über die Lippen. In einer Stunde, vielleicht sogar weniger, würden die Raben sie finden. Eine Stunde, und bis zum Sonnenuntergang waren es noch gut zwei Stunden; mindestens zwei bis zur völligen Dunkelheit.

Wir werden mit dem Sonnenuntergang sterben, dachte er. Er rannte taumelnd voran. Wie der Fuchs gemetzelt. Er fühlte nach seiner Axt und dann nach der Schleuder. Die wurde nützlicher sein. Aber es reicht trotzdem nicht. Nicht gegen hundert Raben, hundert pfeilschnelle Ziele, hundert hackende Schnäbel.

»Du bist mit Reiten dran«, sagte Egwene müde.

»Wart noch ein bißchen«, schnaufte er. »Ich kann noch ein paar Meilen rennen.« Sie nickte und blieb im Sattel. Sie ist müde. Soll ich es ihr sagen? Oder lasse ich sie im Glauben, wir hätten noch eine Chance zu entkommen? Eine Stunde Hoffnung, wenn auch verzweifelt, oder eine Stunde nur noch voller Verzweiflung?

Elyas beobachtete ihn wieder, sagte aber nichts. Er mußte es wissen, doch er sprach nicht darüber. Perrin sah Egwene wieder an und blinzelte sich heiße Tränen aus den Augen. Er berührte seine Axt und fragte sich, ob er den Mut aufbringen könne. Während der letzten Minuten, wenn die Raben sich auf sie herabsenkten, wenn alle Hoffnung dahin war, würde er den Mut aufbringen, ihr das gleiche Ende zu ersparen, wie es der Fuchs erlebt hatte? Licht, gib mir Kraft!

Die Raben vor ihnen schienen plötzlich zu verschwinden. Perrin konnte aber immer noch die dunklen Schleierwolken weit im Osten und im Westen ausmachen, doch vor ihnen... nichts. Wo sind sie hin? Licht, wenn wir sie überholt haben...

Plötzlich überlief ihn ein Schauder, ein kaltes, sauberes Prickeln, als sei er mitten im Winter in den Weinquellenbach gesprungen. Es durchfuhr ihn und schien ihm etwas von der Erschöpfung zu nehmen, ein wenig von den Schmerzen in seinen Beinen und dem Brennen seiner Lunge. Es hinterließ... irgend etwas. Er konnte nicht sagen, was, er fühlte sich einfach nur anders. Er blieb stolpernd stehen und blickte sich angsterfüllt um.

Elyas beobachtete ihn, beobachtete sie beide mit einem gewissen Glitzern in den Augen. Er wußte, was es bedeutete, da war Perrin sicher, aber er beobachtete sie nur.

Egwene brachte Bela zum Stehen und sah sich unsicher um, halb staunend und halb ängstlich. »Es ist... eigenartig«, flüsterte sie. »Ich fühle mich, als hätte ich etwas verloren.« Sogar die Stute hielt den Kopf erwartungsvoll erhoben. Ihre Nüstern blähten sich, als wittere sie den schwachen Geruch frischgemähten Heus.

»Was... was war das?« fragte Perrin.

Elyas lachte plötzlich meckernd los. Er beugte sich mit zitternden Schultern vor und stützte die Hände auf die Knie. »Sicherheit — das war es. Wir haben es geschafft, ihr blutigen Anfänger. Kein Rabe wird diese Linie überqueren... keiner, der die Augen des Dunklen Königs trägt! Einen Trolloc müßte man herübertreiben, und es wäre schon etwas Gewaltiges nötig, um einen Myrddraal dazu zu bringen, ihn herüberzutreiben. Auch keine Aes Sedai. Die Eine Macht wirkt hier nicht — sie können die Wahre Quelle nicht erreichen. Können sie nicht mal fühlen, so, als sei sie verschwunden. Das muß sie innerlich ganz schön jucken, sage ich euch. Läßt sie zittern wie einen, der sieben Tage lang besoffen war. Wir sind in Sicherheit.«

Zuerst erschien Perrin das Land unverändert — die gleichen welligen Hügel und Höhenzüge, die sie den ganzen Tag lang überquert hatten. Dann bemerkte er grüne Triebe im Gras, nicht viele, aber sie schienen sich durchzusetzen, mehr als er sonst irgendwo gesehen hatte. Es war auch weniger Unkraut zwischen den Gräsern. Er konnte sich nicht vorstellen, was es war, aber... irgend etwas war hier anders. Und etwas von dem, was Elyas gesagt hatte, nagte in seinem Gedächtnis.

»Was ist das?« fragte Egwene. »Ich fühle... Was ist das für ein Ort? Ich glaube nicht, daß er mir gefällt.«

»Ein Stedding«, grölte Elyas. »Hört ihr bei den Geschichten nie richtig zu? Klar, seit ungefähr dreitausend Jahren war kein Ogier mehr bei Euch, seit der Zerstörung der Welt, aber das Stedding bringt die Ogier hervor, und nicht die Ogier das Stedding.«

»Nur eine Legende«, stammelte Perrin. In den Geschichten waren Steddings immer eine sichere Zuflucht, ein Ort, wo man sich verstecken konnte, ob es vor den Aes Sedai war oder vor den Kreaturen des Vaters der Lügen.

Elyas richtete sich auf. Wenn er auch nicht unbedingt frisch wirkte, so zeigte er auch kein Anzeichen, daß er den größten Teil des Tages über gerannt war. »Kommt schon! Wir wollten noch tiefer in diese Legende hineingehen. Die Raben können nicht folgen, aber so nahe am Rand können sie uns immer noch sehen, und es könnten genug vorhanden sein, um die gesamte Grenze zu überwachen. Lassen wir sie daran vorbeijagen.«

Perrin wollte am liebsten da bleiben, wo er sich befand, nachdem er nun einmal stehengeblieben war. Seine Beine zitterten und sagten ihm, er solle sich eine Woche lang hinlegen. Alle Erfrischung hatte nur kurze Zeit angehalten; Erschöpfung und Muskelkater waren zurückgekehrt. Er zwang sich zu einem Schritt, dann einem weiteren. Es wurde nicht leichter, doch er gab nicht auf. Egwene schüttelte die Zügel, um Bela wieder in Bewegung zu setzen. Elyas sprang mühelos vorwärts und ging erst langsamer, als ihm klar wurde, daß die anderen nicht mithalten konnten. Ein schnelles Gehen.

»Warum — bleiben wir nicht hier?« keuchte Perrin. Er atmete durch den Mund und zwang die Worte zwischen tiefen, schmerzenden Atemzügen heraus. »Wenn das wirklich ein — Stedding ist. Dann sind wir doch in Sicherheit. Keine Trollocs. Keine Aes Sedai. Warum bleiben wir — bleiben wir nicht hier — bis alles vorbei ist?« Vielleicht kommen auch die Wölfe nicht hierher?

»Wie lange denn?« Elyas blickte sie über die Schulter hinweg mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was würdet ihr essen? Gras, wie die Pferde? Außerdem gibt es andere, die diesen Ort kennen, und nichts hält Menschen davon ab, ihn zu betreten, nicht einmal die schlimmsten unter ihnen. Und es gibt nur einen Ort hier, wo man immer noch Wasser finden kann.« Er zog unsicher die Stirn in Falten und drehte sich einmal um die eigene Achse, wobei er das umliegende Land betrachtete. Als er fertig war, schüttelte er den Kopf und murmelte etwas in seinen Bart hinein. Perrin fühlte, wie er nach den Wölfen rief. Schnell! Schnell! »Wir müssen zwischen zwei Übeln wählen. Die Raben sind uns sicher. Kommt mit. Es ist nur noch ungefähr eine Meile, vielleicht auch zwei.«

Perrin hätte stöhnen können, sparte sich aber die Luft fürs Laufen.

Große Felsblöcke lagen hier überall auf den niedrigen Hügeln; unregelmäßige Klumpen grauen, flechtenbewachsenen Steins, zur Hälfte im Boden vergraben — manche von der Größe eines Hauses. Dornbüsche umrankten sie, und niedriges Unterholz verbarg die meisten zum Teil. Hier und da im ausgedörrten Braun von Ranken und Unterholz bewies ein einzelner grüner Schößling, daß dies ein besonderer Ort war. Was auch das Land jenseits der Grenzen dieses Gebiets verwundet hatte, das hatte auch diesen Teil verletzt, doch die Wunden waren nicht so tief. Schließlich mühten sie sich über eine weitere Anhöhe, und am unteren Ende des folgenden Abhangs lag ein Teich. Jeder von ihnen hätte ihn mit zwei langen Schritten durchwaten können, doch das Wasser war klar und sauber genug, um den sandigen Grund wie unter einer Glasscheibe zu zeigen. Selbst Elyas eilte erwartungsvoll den Hang hinunter.

Perrin warf sich der Länge nach zu Boden, als er den Teich erreichte, und steckte den Kopf hinein. Einen Augenblick später prustete er, denn das aus den Tiefen der Erde emporquellende Wasser war kalt. Er schüttelte den Kopf. Aus seinen langen Haaren spritzte das Wasser. Egwene grinste und spritzte ihn naß. Perrins Blick wurde wieder nüchtern. Sie zog die Stirn kraus und öffnete den Mund, doch er steckte das Gesicht wieder unter Wasser. Keine Fragen. Nicht jetzt. Keine Erklärungen. Niemals. Aber eine schwache Stimme ließ ihm keine Ruhe. Aber du hättest es getan, nicht wahr?

Schließlich rief Elyas sie von dem Teich weg. »Falls jemand essen möchte — ich brauche Hilfe.«

Egwene arbeitete fröhlich. Sie lachte und scherzte, während sie ihr spärliches Mahl bereiteten. Es war nur noch Käse und Trockenfleisch übrig; zum Jagen hatten sie keine Gelegenheit gehabt. Wenigstens war noch Tee da. Perrin half mit, schwieg aber dabei. Er fühlte Egwenes Blick auf sich ruhen, sah die wachsende Besorgnis auf ihrem Gesicht, vermied es aber soweit wie möglich, ihr in die Augen zu sehen. Ihr Lachen wurde schwächer, und die Scherze waren seltener und jedesmal mehr an den Haaren herbeigezogen. Elyas sah zu und sagte nichts. Eine düstere Stimmung senkte sich über sie herab, und sie begannen, schweigend zu essen. Die Sonne im Westen färbte sich rot, und ihre Schatten streckten sich lang und dünn.

Keine Stunde mehr bis zur Dunkelheit. Wenn nicht das Stedding gewesen wäre, dann wärt ihr alle jetzt tot. Hättest du sie gerettet? Hättest du sie niedergehackt wie so viele Büsche zuvor? Büsche bluten nicht, oder? Sie schreien auch nicht, sehen dir nicht in die Augen und fragen nicht warum.

Perrin zog sich in sich selbst zurück. Er konnte fühlen, wie ihn etwas aus den Tiefen des eigenen Verstands auslachte. Etwas Grausames. Nicht der Dunkle König. Er wünschte sich fast, es wäre nur das. Nicht der Dunkle König — er selbst war es.

Ausnahmsweise hatte Elyas seine eigene Regel in bezug auf Feuer übertreten. Es gab keine Bäume, aber er hatte abgestorbene Zweige aus dem Unterholz gebrochen und entzündete ein Feuer neben einem riesigen Felsklotz, der aus dem Abhang des Hügels ragte. Den Rußschichten auf dem Stein nach zu schließen, dachte Perrin, war anzunehmen, daß Generationen auf Generationen von Reisenden diesen Fleck für ihre Feuer benutzt hatten.

Was von dem großen Felsen über dem Boden aufragte, war ein wenig abgerundet, und an der einen Seite brach er scharf ab. Dort bedeckte altes, braunes Moos die gezackte Oberfläche. Die vom Wetter geschaffenen Rillen und Aushöhlungen auf dem runden Teil kamen Perrin eigenartig vor, aber er war zu sehr in seiner trüben Stimmung befangen, um sich damit zu beschäftigen. Egwene aber betrachtete sie genau, während sie aß.

»Das«, stellte sie schließlich fest, »sieht wie ein Auge aus.« Perrin blinzelte; es sah wirklich unter all diesem Ruß wie ein Auge aus.

»Das ist es auch«, sagte Elyas. Er kehrte im Sitzen dem Feuer und dem Felsen den Rücken zu und betrachtete ihre Umgebung. Dabei kaute er auf einem Stück Trockenfleisch herum, das so zäh wie Leder war. »Das Auge von Artur Falkenflügel. Das Auge des Hochkönigs selbst. Das ist schließlich aus all der Macht und dem Ruhm geworden«, sagte er gedankenverloren. Sogar beim Kauen wirkte er abwesend; sein Blick und seine Aufmerksamkeit galten den Hügeln.

»Artur Falkenflügel!« rief Egwene. »Du erlaubst dir einen Scherz mit mir. Das ist doch überhaupt kein Auge. Warum sollte jemand Artur Falkenflügels Auge hier draußen in einen Felsen hauen?«

Elyas blickte sie über die Schulter hinweg an und murmelte: »Warum bringen sie euch Dorfwelpen nichts bei?« Er schnaubte und richtete sich wieder auf, um sein Beobachten fortzusetzen, sprach aber weiter: »Artur Paendrag Tanreall, Artur Falkenflügel, der Hochkönig, einte alle die Länder von der Großen Fäule bis zum Meer der Stürme, vom Aryth-Meer bis zur Aiel-Wüste und sogar noch ein paar jenseits der Wüste. Er sandte sogar Heere auf die andere Seite des Aryth-Meeres. Die Geschichten behaupten, er herrschte über die ganze Welt, aber was er wirklich regierte, hätte auch für jeden Menschen außerhalb einer Legende gereicht. Und er brachte Frieden und Gerechtigkeit für das ganze Land.«

»Alle waren vor dem Gesetz gleich«, sagte Egwene, »und niemand erhob die Hand gegen einen anderen.«

»Also habt ihr die Geschichten wenigstens gehört.« Elyas lachte leise. Es klang trocken. »Artur Falkenflügel brachte Frieden und Gerechtigkeit, aber das tat er mit Feuer und Schwert. Ein Kind konnte ganz allein mit einem Beutel voll Gold vom Aryth-Meer zum Rückgrat der Welt reiten und mußte dabei keinen Augenblick lang Angst haben, aber die Gerechtigkeit des Königs war hart wie ein Fels, sobald jemand seine Macht in Frage stellte, selbst wenn sie sich eben nur so gaben, wie sie waren, oder dachten, sie könnten ihn herausfordern. Die einfachen Menschen hatten Frieden und Gerechtigkeit und volle Bäuche, aber er belagerte Tar Valon zwanzig Jahre lang und setzte einen Preis von tausend Goldkronen auf den Kopf jeder Aes Sedai aus.«

»Ich dachte, du magst die Aes Sedai nicht«, sagte Egwene.

Elyas lächelte sie trocken an. »Es spielt keine Rolle, wen ich mag, Mädchen. Artur Falkenflügel war ein stolzer Narr. Eine Aes Sedai-Heilerin hätte ihn retten können, als er krank wurde — oder vergiftet, wie manche behaupten -, aber jede noch lebende Aes Sedai war hinter der Leuchtenden Mauer eingesperrt, und sie mußten all ihre Kräfte gebrauchen, um einem Heer zu widerstehen, dessen Lagerfeuer die Nacht zum Tage machten. Er hätte auch, davon abgesehen, keine in seine Nähe gelassen. Er haßte die Aes Sedai genauso inbrünstig wie den Dunklen König.«

Egwenes Lippen strafften sich, doch als sie sprach, sagte sie lediglich: »Was hat das alles damit zu tun, ob das hier Artur Falkenflügels Auge ist?«

»Nur soviel, Mädchen. Nachdem Friede herrschte, abgesehen von dem, was jenseits des Ozeans vorging, nachdem ihm die Menschen überall zujubelten, wo er auch auftauchte — seht ihr, sie liebten ihn wirklich; er war ein strenger Mann, aber niemals zu den einfachen Leuten -also, in dieser Lage beschloß er, es sei an der Zeit, sich eine Hauptstadt zu erbauen. Eine neue Stadt, die im Geist der Menschen nicht mit irgendeinem alten Zweck oder einem alten Zwist oder einer Rivalität verbunden war. Er wollte sie hier erbauen, im Mittelpunkt des vom Meer und der Wüste und der Fäule begrenzten Landes. Hier, wohin keine Aes Sedai jemals freiwillig kommen oder ihre Macht benützen würde, falls sie doch kam. Eine Hauptstadt, aus der eines Tages die ganze Welt Frieden und Gerechtigkeit empfangen würde. Als sie seine Proklamation vernahmen, sammelten die einfachen Leute genug Geld, um ihm ein Denkmal zu setzen. Die meisten betrachteten ihn mit einer Ehrfurcht, als befinde er sich nur eine Stufe unterhalb des Schöpfers. Eine kleine Stufe unterhalb. Es dauerte fünf Jahre, bis sie aus Stein gehauen und fertig gebaut war. Eine Statue Falkenflügels, hundertmal größer als der Mann selbst. Sie stellten sie genau hier auf, und die Stadt sollte darum herum entstehen.«

»Hier stand niemals eine Stadt«, spottete Egwene. »Falls doch, wäre irgend etwas davon übriggeblieben. Irgendwas.«

Elyas nickte, gab aber seinen Beobachtungsposten nicht auf. »Sie wurde tatsächlich nicht gebaut. Artur Falkenflügel starb an dem Tag, an dem die Statue fertiggestellt wurde, und seine Söhne und der Rest seiner Familie stritten sich darum, wer auf Falkenflügels Thron sitzen solle. Die Statue stand verlassen inmitten dieser Hügel. Die Söhne und Neffen und Vettern starben, und die letzte Spur von Falkenflügels Blut verschwand vom Angesicht der Erde — abgesehen vielleicht von denjenigen, die über das Aryth-Meer fuhren. Es gab welche, die hätten am liebsten sogar jedes Andenken an ihn ausradiert, hätte es in ihrer Macht gestanden. Bücher wurden verbrannt, nur weil sie seinen Namen enthielten. Am Ende blieb von ihm nichts außer den Geschichten übrig, und die meisten von ihnen stimmten nicht. So ging sein Ruhm zugrunde.

Die Kämpfe hörten natürlich nicht auf, nur weil Falkenflügel und seine Familie tot waren. Es galt immer noch, einen Thron zu gewinnen, und jeder Lord und jede Lady, die ein Heer aufbieten konnten, wollten ihn besteigen. Das war der Beginn des Hundertjährigen Krieges. Er dauerte in Wirklichkeit hundertdreiundzwanzig Jahre, und das meiste Wissen über diese Zeit ging mit dem Rauch brennender Städte zugrunde. Viele gewannen einen Teil des Landes, aber niemand das ganze, und irgendwann in dieser Zeit wurde die Statue niedergerissen. Vielleicht konnten sie es nicht mehr ertragen, an ihm gemessen zu werden.«

»Zuerst hast du danach geklungen, als verachtest du ihn«, sagte Egwene, »und nun klingt es so, als ob du ihn bewunderst.« Sie schüttelte ihren Kopf.

Elyas drehte sich um und sah sie an. Sein Blick schien nichtssagend. Er blinzelte nicht. »Nehmt euch jetzt noch mehr Tee, wenn ihr wollt. Ich möchte, daß das Feuer vor Einbruch der Dunkelheit erloschen ist.«

Perrin konnte das Auge nun klar ausmachen, obwohl das Tageslicht schwächer wurde. Es war größer als der Kopf eines Mannes und, in den darüberfallenden Schatten erschien es ihm wie das Auge eines Raben: hart und schwarz und gnadenlos. Er wünschte, sie würden irgendwo anders schlafen.

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