45 Was im Schatten folgt

Der Lichtschein ihrer Laternen reichte gerade bis auf die andere Seite der Lücke, wo das gegenüberliegende Ende wie der abgebrochene Zahn eines Riesen aus der Dunkelheit ragte. Loials Pferd stampfte nervös mit einem Huf auf, und ein loser Stein fiel in die bodenlose Schwärze hinunter. Falls es einen Laut gab, als der Stein auf festen Boden krachte, hörte ihn Rand nicht.

Er ließ den Braunen ein wenig näher an die Lücke herantänzeln. Soweit er seine Laterne an ihrer Stange hinunterschieben konnte, gab es nichts zu sehen. Schwärze unten und Schwärze oben, die das Licht abschnitt. Falls es einen Grund gab, konnte der tausend Fuß tiefer liegen. Oder auch nirgendwo. Andererseits konnte er wenigstens sehen, was unter der Brücke war und sie stützte: Nichts. Weniger als eine Spanne dick war sie, und es gab absolut nichts darunter.

Plötzlich erschien ihm der Steinbogen unter seinen Füßen dünn wie Papier, und der endlose Fall von der Kante zog ihn an. Laterne und Stange zusammen schienen mit einemmal schwer genug, um ihn aus dem Sattel zu ziehen. Mit schwimmendem Kopf ließ er den Braunen genauso vorsichtig rückwärts gehen, wie er sich vorher nach vorn geschoben hatte.

»Wohin hast du uns geführt, Aes Sedai?« fragte Nynaeve. »Alles nur, damit wir herausfinden, daß wir schließlich doch nach Caemlyn zurückkehren müssen?«

»Wir müssen nicht zurückkehren«, sagte Moiraine.

»Jedenfalls nicht bis Caemlyn. In den Kurzen Wegen gibt es viele Pfade zu allen Zielen hin. Wir müssen lediglich weit genug zurück, daß Loial einen anderen Weg findet, der uns nach Fal Dara führt Loial? Loial!«

Der Ogier riß sich mit sichtlicher Anstrengung vom Anblick der Tiefe los. »Was? Oh! Ja, Aes Sedai. Ich kann einen anderen Weg finden. Ich hatte... «

Sein Blick wanderte zurück zu dem Abgrund, und seine Ohren zuckten. »Ich hatte mir nicht träumen lassen, daß der Verfall schon so weit geht. Wenn die Brücken selbst einstürzen, kann ich vielleicht den Weg, den wir suchen, nicht mehr finden. Möglicherweise kann ich dann noch nicht einmal einen Weg zurück finden. Die Brücken könnten ja in diesem Moment hinter uns einstürzen.«

»Es muß einen Weg geben«, sagte Perrin mit tonloser Stimme. In seinen Augen fing sich das Licht, und sie glühten golden. Ein in die Enge getriebener Wolf, dachte Rand überrascht. Genauso sieht er aus.

»Es wird, wie das Rad es webt«, sagte Moiraine, »aber ich glaube nicht, daß der Verfall so schnell vonstatten geht, wie du fürchtest. Sieh den Stein doch an, Loial. Selbst ich kann erkennen, daß es sich um einen alten Bruch handelt.«

»Ja«, sagte Loial schwerfällig. »Ja, Aes Sedai. Ich kann es erkennen. Hier gibt es weder Regen noch Wind, aber dieser Stein an der Abbruchkante war zumindest zehn Jahre lang der Luft ausgesetzt.« Er nickte mit erleichtertem Grinsen. Er war so glücklich über diese Erkenntnis, daß er einen Augenblick lang seine Angst zu vergessen schien. Dann sah er sich um und zuckte unsicher die Achseln. »Ich könnte viel leichter andere Wege finden als ausgerechnet den nach Mafal Dadaranell. Nach Tar Valon zum Beispiel? Oder zum Stedding Schangtai? Von der letzten Insel aus sind es nur drei Brücken nach Schangtai. Ich denke, mittlerweile möchten die Ältesten gern mit mir reden.«

»Nach Fal Dara, Loial«, sagte Moiraine bestimmt. »Das Auge der Welt liegt jenseits von Fal Dara, und das Auge ist unser Ziel.«

»Also Fal Dara«, stimmte der Ogier zögernd zu.

Auf die Insel zurückgekehrt, studierte Loial die mit Schriftzeichen bedeckte Platte sehr eingehend. Die Augenbrauen hingen weit herunter, und er murmelte ständig vor sich hin. Bald führte er dann ausgiebige Selbstgespräche in der Ogier-Sprache. Diese musikalische Sprache klang, als ob Vögel mit tiefer Stimme sängen. Es erschien Rand eigenartig, daß so grobschlächtige Leute eine so musikalische Sprache hatten. Schließlich nickte der Ogier. Als er sie zu der auserwählten Brücke führte, drehte er sich noch einmal um und blickte sehnsüchtig hinüber zu einer anderen Wegweisersäule, die neben der befolgten stand. »Drei Brücken bis zum Stedding Schangtai.« Er seufzte. Aber dann führte er sie ohne anzuhalten daran vorbei und bog auf die dritte Brücke danach ein. Als sie losgingen, warf er einen bedauernden Blick zurück, obwohl die Brücke in seine Heimat im Dunkeln verborgen lag.

Rand ließ den Braunen neben dem Ogier hertraben. »Wenn dies alles vorbei ist, Loial, dann zeigst du mir dein Stedding, und ich zeige dir Emondsfeld. Allerdings werden wir dazu die Kurzen Wege nicht benützen. Wir laufen oder reiten, auch wenn wir den ganzen Sommer dazu brauchen.«

»Glaubst du, daß es jemals vorbei sein wird, Rand?«

Er sah den Ogier mit gerunzelter Stirn an. »Du hast gesagt, wir brauchen zwei Tage nach Fal Dara.«

»Nicht das mit den Kurzen Wegen, Rand — alles andere meine ich.« Loial blickte nach hinten zurück zu der Aes Sedai, die sich leise mit Lan unterhielt, der Seite an Seite mit ihr ritt. »Wieso glaubst du, daß es jemals vorbei sein wird?«

Die Brücken und Rampen führten sie hinauf und hinunter und kreuz und quer. Manchmal zog sich von einem Wegweiser eine weiße Linie in die Dunkelheit hinein, so wie die, der sie vom Wegetor in Caemlyn aus gefolgt waren. Rand bemerkte, daß er nicht der einzige war, der diese Linien neugierig und auch ein wenig wehmütig betrachtete. Nynaeve, Perrin, Mat und sogar Egwene verließen nur zögernd diese Linien. Am Ende von jeder befand sich ein Wegetor, ein Tor zurück in die Welt, wo es einen Himmel und Sonne und Wind gab. Selbst der Wind wäre ihnen willkommen gewesen. Aber sie ritten unter dem scharfen Blick der Aes Sedai weiter. Doch Rand war nicht der einzige, der zurückblickte, sogar dann noch, nachdem die Dunkelheit sowohl Insel als auch Wegweiser und Linie verschluckt hatte.

Als Moiraine schließlich verkündete, daß sie die Nacht auf einer der Inseln verbringen würden, gähnte Rand längst. Mat sah sich in der sie umgebenden Schwärze um, lachte höhnisch und schnaubte laut durch die Nase, doch er stieg genauso schnell wie die anderen vom Pferd. Lan und die Jungen sattelten die Pferde ab und legten ihnen Fußfesseln an, während Nynaeve und Egwene einen kleinen Ölofen aufstellten, um Tee zu bereiten. Der Ofen sah wie das Unterteil einer Laterne aus. Lan sagte, die Behüter benützten so etwas in der Fäule, wo es gefährlich sein konnte, das dort gewachsene Holz zu verbrennen. Der Behüter holte dreibeinige Stative aus einem der Körbe, die sie dem Packpferd umgeschnallt hatten, und so konnten sie ihre Laternenstangen im Kreis um ihren Lagerplatz herum aufstellen. Loial betrachtete kurze Zeit lang den Wegweiser, setzte sich dann aber mit übergeschlagenen Beinen hin und strich mit einer Hand über den staubigen, pockennarbigen Stein. »Einst wuchsen auf den Inseln Pflanzen«, sagte er traurig. »All die Bücher erzählen davon. Es gab grünes Gras, um darauf zu schlafen, weich wie ein Federbett. Obstbäume wuchsen hier, die einem das mitgebrachte Essen durch einen Apfel oder eine Birne oder eine Quitte ergänzten — süß und knusprig und saftig, ganz gleich, welche Jahreszeit draußen herrschte.«

»Nichts, was man jagen könnte«, murrte Perrin, und dann sah er überrascht drein, weil er das ausgesprochen hatte.

Egwene gab Loial eine Tasse Tee. Er hielt sie in der Hand, ohne zu trinken. Er starrte darauf, als könne er in ihren Tiefen die Obstbäume finden. »Wirst du keine Amulette um uns herum aufstellen?« fragte Nynaeve Moiraine. »Sicher gibt es hier drinnen Schlimmeres als Ratten. Auch wenn ich nichts gesehen habe, kann ich es immer noch fühlen.«

Die Aes Sedai rubbelte angeekelt mit den Fingerspitzen in ihren Handflächen. »Man kann die Verderbnis fühlen, die furchtbare Verwandlung der Macht, die die Wege geschaffen hat. Ich werde in den Wegen die Eine Macht nicht benützen, wenn ich nicht muß. Das Verderben ergreift alles derart, daß auch alles, was ich versuchen könnte, ganz sicher mit hineingezogen würde.«

Das ließ alle so wie Loial verstummen. Lan machte sich methodisch über sein Mahl her, als lege er die Scheite für ein Feuer nach. Das Essen an sich war weniger wichtig -der Körper brauchte eben Nahrung. Auch Moiraine aß kräftig und auf so vornehm gesittete Art und Weise, als säßen sie nicht mitten im Nichts auf einer blanken Steinplatte. Rand stocherte nur in seinem Essen herum. Die winzige Flamme des Ölofens gab gerade genug Hitze ab, um Wasser zum Kochen zu bringen, aber er drückte sich ganz nahe heran, als könne er die Wärme in sich aufsaugen. Er saß Schulter an Schulter mit Mat und Perrin. Sie saßen in einem engen Kreis um den Ofen herum. Mat hielt Brot und Fleisch und Käse gedankenverloren in den Händen, und Perrin stellte seinen Blechnapf nach nur wenigen Bissen weg. Die Stimmung wurde immer gedrückter, und jeder sah zu Boden und mied den Blick in die sie umgebende Dunkelheit.

Moiraine betrachtete sie beim Essen. Schließlich stellte sie ihren Teller weg und tupfte sich mit einer Serviette die Lippen. »Ich kann euch eine erfreuliche Sache mitteilen. Ich glaube gar nicht, daß Thom Merrilin tot ist.«

Rand blickte sie scharf an. »Aber... der Blasse...«

»Mat erzählte mir, was in Weißbrücke vorgefallen ist«, sagte die Aes Sedai. »Die Leute dort erwähnten einen Gaukler, aber sie sagten nichts davon, daß er gestorben sei. Ich glaube, wenn ein Gaukler getötet worden wäre, dann hätten sie es gesagt. Weißbrücke ist nicht so groß, daß ein Gaukler keine wichtige Figur wäre. Und Thom ist ein Teil des Musters, das sich um euch drei herum bildet. Ein zu wichtiger Teil, wie ich glaube, um so schnell abgeschnitten zu werden.«

Zu wichtig? dachte Rand. Wie kann Moiraine wissen...? »Min? Hat sie etwas in bezug auf Thom gesehen?«

»Sie hat eine Menge gesehen«, sagte Moiraine trocken. »Von euch allen. Ich wünschte, ich verstünde nur die Hälfte von dem, was sie sah, aber selbst sie versteht es nicht. Die alten Beschränkungen sind gefallen. Aber gleich, ob das, was Min macht, alt oder neu ist — sie sieht die Wahrheit. Eure Schicksale sind miteinander verknüpft. Auch Thom Merrilins.«

Nynaeve schniefte unbeeindruckt und goß sich noch eine Tasse Tee ein. »Ich kann nicht verstehen, wieso sie etwas über uns sehen konnte«, sagte Mat grinsend. »Wie ich mich erinnere, hat sie die meiste Zeit über Rand angehimmelt.«

Egwene zog die Augenbrauen hoch. »Oh? Das hast du mir gar nicht erzählt, Moiraine Sedai.«

Rand blickte sie an. Sie sah ihn wohl nicht an, aber ihr Tonfall hatte etwas übertrieben unbeteiligt geklungen. »Ich habe einmal mit ihr gesprochen«, sagte er. »Sie zieht sich wie ein Junge an, und ihr Haar ist so kurz wie meines.«

»Du hast mit ihr gesprochen. Einmal.« Egwene nickte langsam. Sie sah ihn immer noch nicht an und hob die Tasse an die Lippen.

»Min war eben nur jemand, der in der Schenke in Baerlon arbeitete«, sagte Perrin. »Nicht so wie Aram.«

Egwene verschluckte sich an ihrem Tee. »Zu heiß«, murmelte sie.

»Wer ist Aram?« fragte Rand. Perrin lächelte. Es sah sehr nach Mats altem Lächeln aus, wenn er früher etwas ausgeheckt hatte. Er versteckte es hinter seiner Tasse.

»Einer vom Fahrenden Volk«, sagte Egwene leichthin, aber auf ihren Wangen waren rote Flecke zu sehen.

»Einer vom Fahrenden Volk«, sagte Perrin verbindlich. »Er tanzt. Wie ein Vogel. Hast du das nicht gesagt, Egwene? Es war, als ob man mit einem Vogel flöge?«

Egwene stellte ihre Tasse energisch hin. »Ich weiß nicht, ob sonst noch jemand müde ist, aber ich gehe jetzt schlafen.«

Als sie sich in ihre Decken rollte, streckte Perrin die Hand aus und stupfte Rand in die Rippen. Dabei blinzelte er ihm zu. Rand stellte fest, daß er zurückgrinste. Verseng mich, aber diesmal hab ich das bessere Ende für mich gehabt. Ich wünschte, ich verstünde soviel von Frauen wie Perrin.

»Rand«, sagte Mat trocken, »vielleicht solltest du Egwene von Bauer Grinwells Tochter Else erzählen.« Egwene hob den Kopf und sah erst Mat und dann ihn an.

Er stand schleunigst auf und holte seine Decken. »Ich würde jetzt auch gern schlafen.«

Alle Emondsfelder suchten sich nun ihre Decken zusammen. Loial schloß sich ihnen an. Moiraine blieb sitzen und schlürfte ihren Tee. Lan auch. Der Behüter wirkte nicht, als habe er jemals vor schlafenzugehen oder als brauche er überhaupt Schlaf.

Selbst zum Schlafen zusammengerollt, wollte keiner sich weit von den anderen entfernen. Sie bildeten einen engen Kreis deckenumhüllter Erhebungen um den Ofen herum. Beinahe berührten sie sich gegenseitig.

»Rand«, flüsterte Mat, »war irgend etwas zwischen dir und Min? Ich habe sie kaum einmal richtig gesehen. Sie war hübsch, aber sie muß fast so alt wie Nynaeve sein.«

»Wie steht es mit dieser Else?« fügte Perrin von der anderen Seite her hinzu. »'ne Hübsche?«

»Blut und Asche«, nuschelte er. »Kann ich noch nicht einmal mit einem Mädchen sprechen? Ihr zwei seid genauso schlimm wie Egwene.«

»Wie die Seherin bemerken würde«, schimpfte Mat scherzend, »hüte deine Zunge! Also, wenn du nicht erzählen willst, dann schlafe ich jetzt ein wenig.«

»Gut«, brummte Rand. »Das ist das erste vernünftige Wort, das du herausgebracht hast.«

Aber das Einschlafen fiel ihm nicht leicht. Der Stein war hart, gleich auf welche Seite sich Rand legte, und er konnte die Löcher durch seine Decke hindurch fühlen. Es gab keine Möglichkeit sich vorzustellen, daß man sich anderswo als in den Kurzen Wegen befand, die von den Männern gebaut worden waren, die vom Dunklen König gezeichnet waren und die Welt zerstört hatten. Er stellte sich immer wieder die zerstörte Brücke vor und das Nichts darunter.

Wenn er sich nach der einen Seite drehte, dann sah er, wie Mat ihn anblickte, oder besser, wie er durch ihn hindurchblickte. Aller Spott war vergessen, wenn man sich an die Dunkelheit um sie herum erinnerte. Also rollte er sich zur anderen Seite herum, und da hatte Perrin die Augen ebenfalls offen. Perrins Gesicht wirkte nicht so ängstlich wie das Mats, aber er hatte die Hände vor der Brust und klopfte ständig besorgt mit den Daumen gegeneinander.

Moiraine machte eine Runde, kniete sich neben jedem Kopf nieder und sprach leise auf die betreffende Person ein. Rand konnte nicht hören, was sie zu Perrin sagte, aber die Bewegung seiner Daumen hörte auf. Als sie sich über Rand beugte und ihr Gesicht seines beinahe berührte, sagte sie mit leiser, beruhigender Stimme: »Selbst hier beschützt dich dein Schicksal. Nicht einmal der Dunkle König kann das Muster völlig verändern. So lange ich dir nahe bin, bist du vor ihm sicher. Deine Träume sind sicher. Eine Weile lang sind sie das noch.«

Als sie zu Mat weiterging, fragte er sich, ob sie sich das wirklich so leicht vorstellte, daß sie ihm sagen konnte, er sei sicher, und er würde das glauben. Aber irgendwie fühlte er sich sicher — sicherer zumindest. Bei dem Gedanken schlief er ein, und er träumte nichts.

Lan weckte sie. Rand fragte sich, ob der Behüter geschlafen hatte. Er wirkte nicht müde, nicht einmal so müde wie diejenigen, die ein paar Stunden auf dem harten Stein gelegen hatten. Moiraine gestattete ihnen genug Zeit, um Tee zu bereiten, aber nur eine Tasse für jeden. Sie frühstückten im Sattel. Loial und der Behüter führten sie an. Es war das gleiche Essen wie sonst — Brot und Fleisch und Käse. Rand dachte sich, wie leicht es doch sei, dessen überdrüssig zu werden.

Nicht lang, nachdem der letzte Krümel vom Finger abgeleckt war, sagte Lan ruhig: »Jemand folgt uns. Oder etwas.« Sie befanden sich in der Mitte einer Brücke. Die beiden Enden waren verborgen.

Mat riß einen Pfeil aus seinem Köcher und, bevor ihn jemand aufhalten konnte, schoß er ihn in die Dunkelheit hinter ihnen.

»Ich wußte, daß ich das nie hätte tun sollen«, murmelte Loial. »Gib dich nie mit einer Aes Sedai ab, außer in einem Stedding.«

Lan drückte den Bogen herunter, bevor Mat einen weiteren Pfeil auflegen konnte. »Hör damit auf, du Idiot! Man kann doch nie wissen, wer das ist.«

Der Ogier setzte hinzu: »Das ist der einzige Ort, an dem sie harmlos sind.«

»Was sonst kann es an einem solchen Ort geben, als etwas Böses?« wollte Mat wissen.

»Das behaupten auch die Ältesten, und ich hätte auf sie hören sollen.«

»Zum Beispiel gibt es uns hier«, sagte der Behüter trocken.

»Vielleicht ist es ein anderer Reisender«, sagte Egwene voller Hoffnung. »Vielleicht ein Ogier?«

»Ogier sind zu vernünftig, um die Kurzen Wege zu benützen«, grollte Loial. »Alle außer Loial, der überhaupt nicht vernünftig ist. Das hat der Älteste Haman immer gesagt, und er hatte recht.«

»Was hast du für ein Gefühl, Lan?« fragte Moiraine. »Ist es etwas, das dem Dunklen König dient?«

Der Behüter schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte er, als überrasche ihn diese Tatsache. »Ich kann es nicht sagen. Vielleicht liegt es an den Wegen und an dem verderblichen Einfluß. Alles ist irgendwie falsch.

Aber wer es auch sein mag oder was — es versucht nicht, uns einzuholen. Beinahe hätte er uns an der letzten Brücke eingeholt, und dann ist er über die Brücke zurückgehetzt, um das zu vermeiden. Allerdings könnte ich ihn vielleicht überraschen, wenn ich zurückbliebe, und sehen, wer oder was er ist.«

»Wenn du zurückbleibst, Behüter«, sagte Loial mit fester Stimme, »dann wirst du den Rest deines Lebens in den Kurzen Wegen verbringen. Selbst wenn du die Ogierschrift lesen kannst, habe ich doch noch nie von einem Menschen gehört oder gelesen, der sich auch nur von der ersten Insel aus ohne einen Ogierführer zurechtgefunden hätte. Kannst du die Ogierschrift lesen?«

Lan schüttelte erneut den Kopf, und Moiraine sagte: »Solange er uns nicht belästigt, solange tun wir ihm auch nichts. Wir haben keine Zeit. Keine Zeit.«

Als sie von der Brücke auf die nächste Insel ritten, sagte Loial: »Wenn ich mich richtig an den letzten Wegweiser erinnere, gibt es von hier aus einen direkten Weg nach Tar Valon. Höchstens einen Halbtagesritt weit. Nicht so lang, wie wir nach Mafal Dadaranell brauchen werden. Ich bin sicher, daß... «

Er brach ab, als der Schein ihrer Laternen den Wegweiser erreichte. Nahe der Spitze der Platte schnitten tief eingemeißelte Linien scharfe und eckige Wunden in den Stein. Plötzlich trat Lans Wachsamkeit klar zutage. Er hielt sich entspannt aufgerichtet im Sattel, aber Rand hatte plötzlich den Eindruck, daß der Behüter alles um sie herum fühlen könne, ja, sogar fühlte, wie sie atmeten. Lan lenkte seinen Hengst um den Wegweiser herum und ritt dann in Spirallinien weiter nach draußen. Er ritt, als sei er auf einen Angriff vorbereitet oder darauf, selbst angreifen zu müssen.

»Das erklärt viel«, sagte Moiraine leise, »und es ängstigt mich. So viel! Ich hätte es wissen müssen. Die Verderbnis, der Verfall. Ich hätte es wissen müssen.«

»Was wissen?« fragte Nynaeve im gleichen Moment, als Loial fragte: »Was denn? Wer hat das gemacht? Ich habe niemals etwas Ähnliches gesehen oder davon gehört.«

Die Aes Sedai blickte sie ruhig an. »Trollocs.« Sie mißachtete ihr ängstliches Nach-Luft-Schnappen. »Oder Blasse. Das hier sind Trolloc-Runen. Die Trollocs haben herausgefunden, wie man die Kurzen Wege betritt. So müssen sie unentdeckt auch die Zwei Flüsse erreicht haben; durch das Wegetor in Manetheren. Es gibt in der Fäule auch zumindest ein Wegetor.« Sie blickte zu Lan hinüber, bevor sie fortfuhr. Der Behüter war weit genug entfernt, daß man nur noch den schwachen Schein seiner Laterne sehen konnte. »Manetheren wurde zerstört, aber es gibt fast nichts, was ein Wegetor zerstören könnte. Auf diese Weise konnten die Blassen eine kleine Armee in die Umgebung von Caemlyn bringen, ohne in jeder Nation zwischen der Fäule und Andor einen Alarm auszulösen.« Sie schwieg und berührte in Gedanken ihre Lippen. »Aber sie kennen bestimmt noch nicht alle Wege, sonst wären sie durch das gleiche Tor nach Caemlyn hineingestürmt, das wir benützten. Ja.«

Rand schauderte. Durch ein Wegetor gehen, und dann warteten Trollocs in der Dunkelheit — Hunderte davon, vielleicht Tausende, hybride Giganten mit halb tierischen Fratzen, die sie anfauchten, wenn sie aus der Schwärze sprangen, um zu töten. Oder noch Schlimmeres taten.

»Es fällt ihnen nicht leicht, die Kurzen Wege zu benützen«, rief Lan ihnen zu. Seine Laterne befand sich nicht mehr als zwanzig Spannen weit entfernt, aber ihr Lichtschein war nur wie ein verfilzter, trüber Ball, der jenen am Wegweiser sehr weit entfernt schien. Moiraine führte sie zu ihm hin. Rand wünschte, sein Magen sei leer, als er sah, was der Behüter gefunden hatte.

Am Fuß einer der Brücken erhoben sich die erstarrten Körper von Trollocs, die in dem Moment eingefangen waren, als sie mit Hakenäxten und Sichelschwertern um sich schlugen. Grau und rissig wie der Stein selbst, waren die riesigen Körper halb in die geschwollene, blasendurchsetzte Oberfläche eingesunken. Einige der Blasen waren geplatzt, und darin sah man weitere Gesichter mit Tierschnauzen, die in ewiger Furcht fauchten. Rand hörte, wie jemand hinter ihm würgte, und er mußte ganz schön schlucken, um es demjenigen nicht gleichzutun. Selbst für Trollocs war das ein fürchterlicher Tod gewesen.

Wenige Fuß hinter den Trollocs war die Brücke zu Ende. Die Wegweisersäule war in tausend Scherben zerschlagen.

Loial stieg übervorsichtig vom Pferd und beäugte die Trollocs, als glaube er, daß sie wieder zum Leben erwachen könnten. Er untersuchte eilig die Überreste der Säule, wobei er versuchte, die in den Stein eingelassene Metallschrift zu entziffern. Dann kletterte er in den Sattel zurück. »Das war die erste Brücke des Wegs von hier nach Tar Valon«, sagte er.

Mat rieb sich mit dem Handrücken den Mund, von den Trollocs abgewandt. Egwene verbarg ihr Gesicht in den Händen. Rand ließ sein Pferd näher an Bela herantreten und berührte ihre Schulter. Sie wand sich herum und klammerte sich schaudernd an ihn. Er hätte auch am liebsten gezittert, aber ihre Umklammerung bewahrte ihn davor.

»Dann ist es ja gut, daß wir noch nicht nach Tar Valon gehen«, sagte Moiraine.

Nynaeve fuhr die Aes Sedai an: »Wie kannst du das so gelassen hinnehmen? Uns könnte dasselbe passieren!«

»Vielleicht«, sagte Moiraine ernst, und Nynaeve knirschte so laut mit den Zähnen, daß Rand es noch hören konnte. »Es ist allerdings wahrscheinlicher«, fuhr Moiraine unbeeindruckt fort, »daß die Männer, die Aes Sedai, die die Wege gemacht haben, sie auch schützten und für die Kreaturen des Dunklen Königs Fallen einbauten. Sie müssen das doch damals schon befürchtet haben, bevor die Halbmenschen und Trollocs in die Fäule getrieben wurden. Auf jeden Fall können wir hier nicht verweilen, und jeder Weg, den wir auch wählen, vorwärts oder rückwärts, könnte uns in eine Falle führen. Loial, weißt du, welche Brücke wir als nächste nehmen müssen?«

»Ja. Ja, den entsprechenden Teil des Wegweisers haben sie, dem Licht sei Dank, nicht zerstört.« Zum ersten Mal schien Loial genauso darauf bedacht, schnell weiterzureiten, wie Moiraine. Sein großes Pferd war schon in Bewegung, als er noch nicht einmal ausgeredet hatte.

Egwene hing noch zwei Brücken lang an Rands Arm. Er fand es schade, als sie ihn schließlich mit einer leisen Entschuldigung und einem verlegenen Lachen wieder losließ, und das nicht nur, weil es ein schönes Gefühl gewesen war, daß sie sich so an ihm festgehalten hatte. Es war leichter, tapfer zu sein, das war ihm klar geworden, wenn jemand seinen Schutz benötigte.

Moiraine glaubte vielleicht nicht, daß sie in eine Falle liefen, aber trotz aller Hast ließ sie die Gruppe langsamer vorrücken als bisher und wartete, bevor sie jemand auf eine Brücke oder von einer Brücke auf eine Insel ließ. Sie ließ Aldieb jedesmal vortreten und prüfte die Luft vor sich mit einer ausgestreckten Hand. Nicht einmal Loial oder Lan erlaubte sie vorwärtszureiten, bevor sie den Weg freigegeben hatte.

Rand mußte sich in bezug auf Fallen auf ihr Urteilsvermögen verlassen, doch er spähte angestrengt in die Dunkelheit hinein, als könne er weiter als nur zehn Fuß blicken, und er lauschte genauso angespannt. Wenn die Trollocs die Kurzen Wege benutzen konnten, dann war ihr Verfolger möglicherweise eine weitere Kreatur des Dunklen Königs. Oder mehr als eine. Lan hatte gesagt, in den Wegen könne er das einfach nicht feststellen. Aber als sie eine Brücke nach der anderen überquerten, ihr Mittagessen im Sattel verzehrten und dann weitere Brücken hinter sich ließen, war alles, was er hören konnte, das Knarren ihrer eigenen Sättel, das Klappern der Pferdehufe und manchmal das Husten eines der anderen. Gelegentlich führte der eine oder andere auch Selbstgespräche. Später hörte er auch den fernen Wind irgendwo in der Schwärze draußen. Er wußte nicht, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Zuerst dachte er, er bilde sich das nur ein, doch mit der Zeit war er sicher.

Es wäre gut, wieder Wind zu spüren, selbst wenn er kalt ist.

Plötzlich riß er die Augen auf. »Loial, hast du nicht gesagt, in den Wegen gebe es keinen Wind?«

Loial brachte sein Pferd kurz vor der nächsten Insel zum Stehen und neigte den Kopf, um zu lauschen. Langsam wich die Farbe aus seinem Gesicht, und er leckte sich die Lippen. »Machin Shin«, flüsterte er heiser. »Der Schwarze Wind. Das Licht leuchte und beschütze uns. Es ist der Schwarze Wind.«

»Wie viele Brücken noch?« fragte Moiraine in scharfem Ton. »Loial, wie viele Brücken sind es noch?«

»Zwei. Ich glaube, zwei.«

»Also, dann schnell«, sagte sie und ließ Aldieb auf die Insel traben. »Findet schnell den Weg!«

Loial führte ein Selbstgespräch, oder er redete mit dem, der eben gerade zuhörte, während er die Schrift auf dem Wegweiser las. »Sie kamen wahnsinnig heraus und schrien etwas von Machin Shin. Licht, hilf uns! Selbst die von den Aes Sedai geheilten... « Hastig überflog er die Schrift im Stein und galoppierte los, auf die erwählte Brücke zu, wobei er rief: »Hier entlang!«

Diesmal wartete Moiraine nicht, um sich erst zu orientieren. Sie ließ sie hinterhergaloppieren. Die Brücke erzitterte unter den Hufen ihrer Pferde, und die Laternen schwankten wild an ihren Stangen. Loial überflog gehetzt die Schrift an der nächsten Säule und riß wie ein Rennreiter sein großes Reittier herum, bevor es überhaupt noch richtig zum Stehen gekommen war. Das Geräusch des Windes hinter ihnen wurde lauter. Rand konnte es über den Lärm der Hufschläge auf dem Steinboden hinweg hören. Und die Windstöße kamen naher.

Sie kümmerten sich nicht um den letzten Wegweiser. Sobald im Laternenschein die davon ausgehende weiße Linie sichtbar wurde, bogen sie im Galopp in diese Richtung ein. Die Insel verschwand hinter ihnen, und es gab nur noch den zerklüfteten, grauen Steinboden unter ihren Füßen sowie die weiße Linie. Rand atmete so schwer, daß er sich nicht mehr sicher war, ob er den Wind noch hörte.

In der Dunkelheit vor ihnen tauchte das Tor auf; mit Ranken verziert stand es einsam in der Schwärze wie ein winziges Stück Mauer in der Nacht. Moiraine beugte sich aus dem Sattel und streckte die Hand nach den Verzierungen aus. Plötzlich fuhr sie zurück. »Das Avendesora-Blatt ist nicht da!« sagte sie. »Der Schlüssel ist weg!«

»Licht!« schrie Mat. »Verdammtes Licht!« Loial warf den Kopf in den Nacken und stieß einen traurigen Laut aus, ähnlich einem Todesschrei.

Egwene berührte Rand am Arm. Ihre Lippen zitterten, aber sie sah ihn nur an. Er legte seine Hand auf die ihre und hoffte, daß er nicht noch ängstlicher dreinblickte als sie. Er fühlte es. Hinter dem Wegweiser heulte der Wind. Er bildete sich fast ein, er könne darin Stimmen unterscheiden, Stimmen, die unsagbar Furchtbares riefen, das ihm — wenn er es auch nur halb verstand -Magenkrämpfe bereitete.

Moiraine hob ihren Stab, und von seinem Ende stach eine Flamme hervor. Es war nicht die reine, weiße Flamme, an die sich Rand von Emondsfeld und von dem Kampf vor Shadar Logoth her erinnerte. Das Feuer war von krankhaftem Gelb und langsam hindurchtreibenden schwarzen Flecken durchsetzt, die wie Rußflocken wirkten. Dünner, säuerlich riechender Rauch erhob sich von der Flamme, ließ Loial husten und die Pferde nervös tänzeln, aber Moiraine richtete die Flamme auf das Tor. Der Rauch biß in Rands Kehle und brannte in ihm in der Nase.

Stein schmolz wie Butter. Blatt und Ranke verschmorten in der Flamme und verschwanden. Die Aes Sedai führte die Flamme, so schnell sie nur konnte, aber eine Öffnung hineinzuschneiden, die groß genug war, daß alle hindurchkommen konnten, war keine schnell zu lösende Aufgabe. Rand schien es, als kröche die Schnittlinie geschmolzenen Steins im Schneckentempo vorwärts. Sein Umhang flatterte, als sei er von einer leichten Brise erfaßt worden, und sein Herz erstarrte.

»Ich kann ihn fühlen«, sagte Mat mit bebender Stimme. »Licht, ich kann ihn verdammt noch mal fühlen!«

Die Flamme erlosch, und Moiraine senkte ihren Stab. »Geschafft«, sagte sie. »Zur Hälfte jedenfalls.«

Eine dünne Schnittlinie zog sich über die verzierte Steinplatte. Rand bildete sich ein, er könne Licht — düster, aber doch eben Licht — durch den Spalt sehen. Aber trotz des Schnittes standen die beiden großen, geschwungenen Steinbögen immer noch fest da. Die Öffnung würde groß genug sein, daß jeder durchreiten konnte — nur Loial mußte sich wohl platt auf sein Pferd legen. Wenn die beiden Steinpfeiler weg waren, würde es passen. Er fragte sich, wieviel sie wohl wiegen mochten. Tausend Pfund? Vielleicht müssen wir uns alle bücken und schieben. Vielleicht können wir einen der beiden wegbekommen, bevor der Wind da ist. Ein Windstoß zerrte an seinem Umhang. Er bemühte sich, nicht zuzuhören, was die Stimmen schrien.

Als Moiraine zurücktrat, sprang Mandarb nach vorn, geradewegs auf das Tor zu. Lan duckte sich im Sattel. Im letzten Moment drehte sich das Streitroß zur Seite und prallte mit der Schulter gegen den Stein, so wie es gelernt hatte, im Kampf andere Pferde zu rammen. Mit einem Krachen kippte der Stein nach außen, und der Behüter und sein Pferd wurden von ihrem Schwung durch das rauchige Schimmern eines Wegetores getragen. Das Licht, das von außen hereinfiel, war der blasse, dünne Lichtschein eines trüben Vormittags, aber Rand schien es, als brenne ihm die Mittagssommersonne ins Gesicht.

Auf der anderen Seite des Tors verlangsamten sich die Bewegungen von Lan und Mandarb. Sie kamen ins Wanken, als der Behüter sein Pferd in Richtung auf das Tor herumriß. Rand wartete nicht. Er schob Belas Kopf in Richtung auf die Öffnung und klatschte der ewig zerzausten Stute auffordernd auf die Kruppe. Egwene hatte gerade noch genug Zeit, um sich überrascht nach ihm umzuschauen, dann trug Bela sie aus den Kurzen Wegen heraus.

»Ihr alle — raus!« befahl Moiraine. »Schnell! Reitet!«

Beim Sprechen erhob die Aes Sedai ihren Stab und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm von sich. Sie zeigte damit zurück zu dem Wegweiser. Etwas fuhr aus dem Ende des Stabs — wie flüssiges Licht, zu zähflüssigem Feuer verwandelt -, ein leuchtender, weißer, roter und gelber Speer, der in die Schwärze hineinzuckte, explodierte, wie zerschmetterte Diamanten in tausend Kristallen funkelte. Der Wind kreischte in Todesangst und schrie vor Wut. Die tausend verschiedenen Stimmen, die sich im Wind verbargen, brüllten donnernd auf. Es war das Brüllen Wahnsinniger. Halb hörbare Stimmen lachten gackernd und heulten Versprechen, bei denen Rand schwindelte, sowohl der Freude wegen, die darin lag, als auch der Dinge wegen, die er beinahe verstand.

Er ließ den Braunen die Stiefel spüren und drängte sich hinter den anderen in die Öffnung. Alle zwängten sich gleichzeitig durch das rauchige Schimmern. Wieder durchlief ihn der eisige Schauer, das eigenartige Gefühl, langsam mit dem Gesicht nach unten in einen winterlichkalten Teich gelegt zu werden. Das kalte Wasser kroch Stückchen für Stückchen an seiner Haut hoch. Wie zuvor schien es ewig so weiterzugehen, während sein Verstand raste. Er fragte sich, ob der Wind sie wohl einholen könne, während sie so festgehalten wurden.

So plötzlich wie eine Blase platzte, verschwand die Kälte, und er war draußen. Sein Pferd bewegte sich einen Moment lang zweimal so schnell wie vorher, stolperte, und er flog beinahe über seinen Kopf nach vorn weg. Er warf dem Braunen beide Arme um den Hals und klammerte sich verzweifelt an ihn. Während er sich dann wieder richtig in den Sattel zog, schüttelte der Braune sich und trabte so gelassen, als sei gar nichts Besonderes geschehen, zu den anderen hinüber. Es war kalt — nicht die beißende Kälte des Wegetores, sondern eine willkommene, natürliche Winterkälte, die ihnen langsam, aber stetig in die Knochen zog.

Er zog seinen Umhang enger um sich. Sein Blick ruhte auf dem matten Glänzen des Wegetores. Neben ihm beugte sich Lan im Sattel vor, eine Hand am Schwert. Mann und Pferd waren angespannt, als rechneten sie damit, zurückreiten zu müssen, falls Moiraine nicht auftauchte.

Das Wegetor stand in einer Geröllhalde am Fuß eines Hügels, von Büschen verdeckt, außer an den Stellen, wo die fallenden Steinbrocken die kahlen, braunen Äste abgebrochen hatten. Neben den Verzierungen auf den Überresten des Tores wirkte das Unterholz lebloser als der Stein.

Langsam beulte sich die rauchige Oberfläche aus, als steige eine eigenartige, lange Blase in einem Teich hoch. Moiraines Rücken brach durch die Blase. Zeitlupenhaft traten die Aes Sedai und ihr Spiegelbild getrennt hervor. Sie hielt immer noch ihren Stab vor sich gestreckt und ließ ihn auch dort, als sie Aldieb hinter sich aus dem Wegetor zog. Die weiße Stute tänzelte mit angstvoll verdrehten Augen. Moiraine zog sich zurück, beobachtete aber immer weiter das Tor.

Das Wegetor verdunkelte sich. Das verschwommene Schimmern wurde trüber, wandelte sich von Grau zu Anthrazit und dann zu einem so tiefen Schwarz wie im Herzen der Wege. Wie aus großer Entfernung heulte der Wind zu ihnen herüber, versteckte Stimmen, von einer unstillbaren Gier nach lebendigen Dingen erfüllt, einer Gier nach Schmerz, doch voller Enttäuschung.

Die Stimmen schienen Rand direkt in die Ohren zu flüstern, am Rande der Verständlichkeit und sogar innerhalb des Verständlichen. So feines Fleisch, so fein zu zerfetzen, die Haut zu schlitzen; Haut zum Abziehen, zum Flechten, so schön, die Streifen zu flechten, so schön, so rot sind die fallenden Tropfen; so rot das Blut, so rot, so süß; süße Schreie, singende Schreie, schrei dein Lied, sing deine Schreie...

Das Flüstern verflog, die Schwärze lichtete sich, verblaßte, und das Wegetor war wieder ein verschwommenes Schimmern, das man durch einen verzierten Steinbogen hindurch sah.

Rand atmete lang und bebend aus. Er war nicht der einzige, der so aufatmete — er hörte das auch von anderen. Egwene hatte Bela neben Nynaeves Pferd treten lassen, und die beiden Frauen hatten sich in die Arme genommen und jeweils den Kopf an die Schulter der anderen gelehnt. Selbst Lan wirkte erleichtert, obwohl sein kantiges Gesicht nichts aussagte. Es lag mehr an der Art, wie er auf Mandarb saß; seine Schulterpartie wirkte entspannter, als er Moiraine ansah, der Kopf war etwas geneigt.

»Er konnte nicht durchkommen«, sagte Moiraine. »Ich dachte es mir und hoffte darauf. Pffffff!« Sie warf ihren Stab zu Boden und wischte sich die Hände an ihrem Umhang ab. Mehr als die Hälfte der Länge des Stabes war von dickem, schwarzem Ruß bedeckt. »Das Mal des Dunklen Königs verdirbt alles an jenem Ort.«

»Was war das?« wollte Nynaeve wissen.

Loial schien verwirrt. »Na, Machin Shin natürlich. Der Schwarze Wind, der die Seelen stiehlt.«

»Aber was ist das?« bohrte Nynaeve weiter. »Selbst bei einem Trolloc ist es doch so, daß man ihn anschauen kann und sogar berühren, wenn man keinen schwachen Magen hat. Aber das...« Sie zitterte krampfartig.

»Vielleicht etwas, das aus der Zeit des Wahns übriggeblieben ist«, antwortete Moiraine. »Oder sogar vom Schattenkrieg her, dem Krieg um die Macht. Etwas, das sich schon so lange in den Kurzen Wegen versteckt gehalten hat, daß es nicht mehr herauskann. Niemand, nicht einmal unter den Ogiern, weiß, wie weit oder wie tief die Wege wirklich führen. Es könnte sogar ein Teil der Wege selbst sein. Wie Loial schon sagte, sind die Wege lebendige Wesen, und alles, was lebt, hat auch Parasiten. Vielleicht sogar eine Kreatur der Verderbnis, etwas, das aus dem Verfall geboren wurde. Etwas, das Leben und Licht haßt.«

»Halt!« rief Egwene. »Ich will nichts mehr hören! Ich konnte hören, wie es sagte... « Sie brach zitternd ab.

»Es gibt noch Schlimmeres, dem wir die Stirn bieten müssen«, sagte Moiraine sanft. Rand glaubte nicht, daß diese Bemerkung für ihre Ohren bestimmt gewesen war.

Die Aes Sedai kletterte erschöpft in ihren Sattel zurück und setzte sich mit einem dankbaren Seufzer zurecht. »Das ist gefährlich«, sagte sie und blickte zu dem zerschmetterten Tor hinüber. Ihrem verkohlten Stab widmete sie nur einen kurzen Blick. »Das Wesen kann nicht hinaus, aber irgend jemand könnte hineingeraten. Agelmar muß Männer ausschicken, die es einmauern, sobald wir Fal Dara erreichen.« Sie deutete nach Norden, wo sich in dunstverhüllter Entfernung über den kahlen Baumwipfeln Türme erhoben.

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