Perrin wälzte sich herum, so gut es eben mit hinter dem Rücken gefesselten Armen ging, aber schließlich gab er es seufzend auf. Jeder Stein, den er auf diese Art mied, brachte ihm zwei neue ein. Ungeschickt bemühte er sich, seinen Umhang wieder über sich zu ziehen. Die Nacht war kalt, und der Boden schien alle Wärme aus seinem Körper zu saugen, so wie jede Nacht, seit die Weißmäntel sie gefangen hatten. Die Kinder hielten nichts davon, daß Gefangene Decken oder einen warmen Unterschlupf benötigten. Besonders keine gefährlichen Schattenfreunde.
Egwene hatte sich der Wärme wegen an seinen Rücken gekuschelt und schlief den tiefen Schlaf der Erschöpfung. Sie murmelte noch nicht einmal etwas, als er sich umdrehte. Die Sonne war schon vor vielen Stunden untergegangen, und sein ganzer Körper schmerzte — von Kopf bis Fuß -, nachdem er den Tag über mit einem Ring um den Hals hinter einem Pferd hermarschiert war. Doch nun konnte er nicht schlafen.
Die Kolonne bewegte sich nicht so schnell. Da sie die meisten Reservepferde an die Wölfe im Stedding verloren hatten, konnten die Weißmäntel nicht so schnell nach Süden reiten, wie sie vorgehabt hatten. Auch diese Verzögerung lasteten sie den Emondsfeldern an. Die doppelte Schlangenlinie bewegte sich gleichmäßig vorwärts — Lord Bornhald wollte Caemlyn aus irgendeinem Grund rechtzeitig erreichen -, und Perrin saß immer die Angst im Nacken, daß der Weißmantel, der seine Leine hielt, nicht anhalten werde, falls er stürzte, obwohl Lordhauptmann Bornhalds Befehl gelautet hatte, ihr Leben für die Folterknechte in Amador zu bewahren. Er wußte, daß er sich in diesem Fall nicht selbst retten konnte. Seine Hände wurden nur befreit, wenn man ihm zu essen gab oder wenn er die Latrinengrube besuchen durfte. Der Halsring machte ihm jeden Schritt zur Qual. Jeder lose Stein unter seinen Füßen konnte zur Todesfalle werden. Er marschierte mit angespannten Muskeln und beobachtete mit ängstlichen Blicken den Boden. Immer wenn er sich nach Egwene umsah, tat sie dasselbe. Wenn sich ihre Blicke trafen, wirkte ihr Gesicht angespannt und verängstigt. Keiner von ihnen wagte es, mehr als einen kurzen Moment lang den Blick vom Boden zu heben.
Meist fiel er total ausgelaugt in sich zusammen, sobald ihn die Weißmäntel anhalten ließen, aber heute abend drehte sein Verstand durch. Seine Haut kribbelte vor einer Angst, die sich über Tage hinweg gesteigert hatte. Wenn er die Augen schloß, sah er nur die Dinge vor sich, die Byar ihnen angedroht hatte, sobald sie Amador erreichten.
Er war sicher, daß Egwene immer noch nicht glauben konnte, was ihnen Byar in seiner ausdruckslosen Stimme gesagt hatte. Wenn sie es glauben würde, könnte sie keinen Schlaf mehr finden, wie müde sie auch sein mochte. Anfangs hatte auch er Byar nicht geglaubt. Er wollte eigentlich immer noch nicht daran glauben — Menschen taten so etwas anderen Menschen einfach nicht an! Aber Byar drohte eigentlich gar nicht; er sprach über glühende Brandeisen und Zangen, über Messer, die Haut abschälten, und peinigende Nadeln so, als ob er nur erwähne, er wolle sich ein Glas Wasser holen. Er schien sie nicht erschrecken zu wollen. In seinen Augen lag nie eine Spur von Häme. Es interessierte ihn gar nicht, ob sie Angst hatten oder nicht, ob sie gefoltert würden oder nicht, ob sie lebten oder nicht. Das war es, was Perrin den kalten Schweiß auf die Stirn trieb, sobald er es begriffen hatte. Das hatte ihn schließlich davon überzeugt, daß Byar die Wahrheit sagte.
Die Umhänge der beiden Wachsoldaten schimmerten grau im schwachen Mondschein. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, doch er wußte, daß sie alles beobachteten. Als ob sie irgend etwas anstellen könnten, an Händen und Füßen gefesselt, wie sie waren. Er erinnerte sich an die Verachtung in ihren Augen und ihren verkniffenen Gesichtsausdruck, als das Licht noch hell genug gewesen war, um das zu erkennen. Es war, als habe man sie als Wächter zu schmutzbedeckten, stinkenden und abstoßenden Ungeheuern abkommandiert. Alle Weißmäntel sahen sie so an. Das änderte sich nicht. Licht, wie kann ich sie davon überzeugen, daß wir keine Schattenfreunde sind, wenn sie sich dessen doch bereits sicher sind? Sein Magen drehte sich bei dem Gedanken um. Am Ende würde er möglicherweise alles gestehen, damit die Folterknechte von ihrem Tun abließen.
Jemand kam näher — ein Weißmantel, der eine Laterne trug. Der Mann blieb stehen und sprach mit den Wächtern, die voller Respekt antworteten. Perrin konnte nicht hören, was sie sagten, aber er erkannte die hochgewachsene, hagere Gestalt.
Er blinzelte, als ihm die Laterne direkt vors Gesicht gehalten wurde. Byar trug Perrins Axt in der freien Hand; er hatte die Waffe für sich selbst beansprucht. Jedenfalls sah ihn Perrin niemals ohne sie.
»Wach auf«, sagte Byar kalt, als glaube er, Perrin habe mit erhobenem Kopf geschlafen. Er begleitete die Worte mit einem heftigen Tritt in die Rippen.
Perrin stöhnte durch zusammengebissene Zähne. Sein Oberkörper wies eine Menge blauer Flecken von Byars Stiefeln auf.
»Ich sagte, wach auf!« Der Fuß hob sich noch einmal, und Perrin sagte schnell: »Ich bin wach.« Man mußte Byars Worte bestätigen, oder er fand andere Wege, um die Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Byar stellte die Laterne auf den Boden und bückte sich, um die Fesseln zu überprüfen. Der Mann riß roh an seinen Handgelenken und verdrehte ihm die Arme in den Schultern. Nachdem er die Knoten noch genauso fest vorfand, wie er sie zurückgelassen hatte, zog Byar an seinem Halteseil, das an einem Fuß festgemacht war, und zerrte ihn über den steinigen Untergrund. Der Mann sah zu sehr wie ein Skelett aus, um Kraft zu haben, doch Perrin hätte genausogut ein Kind sein können. Es war jede Nacht das gleiche.
Als Byar sich aufrichtete sah Perrin, daß Egwene noch schlief. »Wach auf!« rief er. »Egwene! Wach auf!«
»Wa...? Was?« Egwenes Stimme klang verängstigt und schlaftrunken. Sie hob den Kopf und blinzelte in den Laternenschein. Byar zeigte keine Enttäuschung darüber, daß er sie nicht wachtreten konnte — das tat er nie. Er riß nur an ihren Fesseln wie vorher an denen Perrins und ignorierte ihr Ächzen. Schmerzen zu verursachen war eine weitere Sache, die ihn in keiner Weise zu beeindrucken schien. Nur Perrin quälte er offensichtlich mit Absicht. Obwohl Perrin sich nicht daran erinnern konnte, vergaß Byar nicht, daß er zwei der Kinder getötet hatte.
»Warum sollten Schattenfreunde denn schlafen?« fragte Byar leidenschaftslos, »wenn anständige Männer aufbleiben müssen, um sie zu bewachen?«
»Zum hundertsten Mal«, sagte Egwene müde, »wir sind keine Schattenfreunde.«
Perrin verkrampfte sich. Manchmal brachte eine solche Erwiderung eine beinahe monoton heruntergerasselte Predigt ein — über Geständnisse und Reue -, die mit einer Beschreibung dessen endete, mit welchen Methoden die Folterknechte dies erreichten. Manchmal wurde die Predigt von einem Tritt unterstützt. Zu seiner Überraschung ging Byar diesmal nicht auf die Bemerkung ein.
Statt dessen kauerte sich der Mann vor sie hin — überall kantig und eingefallen -, und legte die Axt auf seine Knie. Die goldene Sonne auf der linken Brustseite seines Umhangs und die beiden goldenen Sterne darunter glitzerten im Laternenschein. Er nahm den Helm ab und legte ihn neben die Laterne. Zur Abwechslung stand etwas anderes in seinem Gesicht geschrieben außer Verachtung und Haß: etwas Eindringliches und nicht klar Erkennbares. Er stützte die Arme auf den Schaft der Axt und betrachtete Perrin schweigend. Perrin bemühte sich, unter diesem hohläugigen Blick nicht hin und her zu rutschen.
»Ihr haltet uns auf, Schattenfreund, du und deine Wölfe. Der Rat der Gesalbten hat Berichte über solche Dinge vorliegen, und sie wollen mehr darüber wissen, also müßt ihr nach Amador gebracht und den Folterknechten übergeben werden, aber ihr haltet uns auf. Ich hatte gehofft, wir könnten auch ohne die Reservepferde schnell genug vorwärtskommen, aber ich habe mich geirrt.« Er schwieg und blickte sie finster an. Perrin wartete. Byar würde weitersprechen, wenn er soweit war.
»Der Lordhauptmann steckt in einer Zwickmühle«, sagte Byar schließlich. »Der Wölfe wegen müssen wir euch zum Rat bringen, doch er muß auch nach Caemlyn. Wir haben keine Pferde für euch zur Verfügung, aber wenn wir euch weiterhin laufen lassen, werden wir Caemlyn nicht zum ausgemachten Zeitpunkt erreichen. Der Lordhauptmann sieht seine Pflicht sehr klar, und er beabsichtigt, euch vor den Rat zu bringen.«
Egwene gab einen Laut von sich. Byar sah Perrin unverwandt an, und er erwiderte den Blick. Er wagte dabei kaum zu zwinkern. »Ich verstehe nicht«, sagte er bedächtig.
»Es gibt nichts zu verstehen«, antwortete Byar. »Nichts als Gedankenspiele. Würdet ihr entkommen, dann hätten wir keine Zeit, euch zu suchen. Wir können keine einzige Stunde verschwenden, wenn wir Caemlyn rechtzeitig erreichen wollen. Wenn ihr, sagen wir, eure Fesseln an einem scharfkantigen Stein aufscheuern und in der Nacht verschwinden würdet, wären die Probleme des Lordhauptmanns gelöst.« Er wandte den Blick nicht von Perrin, griff unter seinen Umhang und warf etwas auf den Boden.
Automatisch sah Perrin hin. Als er erkannte, was es war, keuchte er. Ein Stein. Ein gespaltener Stein mit einer scharfen Kante.
»Einfach nur Gedankenspiele«, sagte Byar. »Eure Wachen heute nacht spekulieren auch.«
Perrins Mund war plötzlich ganz trocken. Denk darüber nach! Licht, hilf mir, aber denk genau darüber nach, und mache keine Fehler!
Konnte es wahr sein? Konnte die Notwendigkeit, schnell nach Caemlyn zu kommen, für die Weißmäntel so wichtig sein, daß sie als Schattenfreunde Verdächtigte laufen ließen? Es hatte keine Zweck, darüber zu spekulieren — er wußte zu wenig. Byar war der einzige Weißmantel, der mit ihnen sprach, außer natürlich Lordhauptmann Bornhald, und keiner von beiden war geneigt, sie großzügig zu informieren. Also andersherum. Wenn Byar wollte, daß sie entkamen, warum zerschnitt er nicht einfach ihre Fesseln? Falls Byar wirklich wollte, daß sie entkamen. Byar, der bis aufs Mark überzeugt war, daß sie Schattenfreunde seien? Byar, der Schattenfreunde mehr haßte als den Dunklen König selbst? Byar, der jeden Grund suchte, um ihm Schmerzen zuzufügen, weil er zwei Weißmäntel getötet hatte? Byar wollte sie entkommen lassen?
Wenn er vorher geglaubt hatte, sein Verstand arbeite schnell, dann wurde das Tempo seiner Gedanken nun halsbrecherisch. Trotz der Kälte rann ihm der Schweiß in Rinnsalen übers Gesicht. Er sah zu den Wachen hinüber. Sie waren nur blaßgraue Schatten, aber es schien ihm, als warteten sie gespannt. Wenn Egwene und er bei einem Fluchtversuch getötet würden, nachdem sie ihre Fesseln an einem Stein aufgeschnitten hätten, der zufällig dort lag... Das Problem des Lordhauptmanns wäre dann allerdings gelöst. Und Byar hätte sie getötet, was er ja sowieso wollte.
Der hagere Mann hob seinen Helm vom Boden neben der Laterne auf und war im Begriff, sich zu erheben.
»Wartet«, sagte Perrin heiser. Seine Gedanken überstürzten sich, als er vergeblich nach einem Ausweg suchte. »Wartet, ich will mit Euch sprechen. Ich... «
Es kommt Hilfe!
Der Gedanke blühte in seinem Verstand auf, ein Lichtausbruch mitten im Chaos, so überraschend, daß er einen Augenblick lang alles vergaß, sogar wo er sich befand. Scheckie lebte! Elyas, sprach er den Wolf in seinen Gedanken an, und ohne Worte wollte er wissen, ob der Mann ebenfalls noch lebte. Ein Bild formte sich als Antwort. Elyas, der neben einem kleinen Feuer auf einem Bett aus den Ästen von Nadelbäumen lag — in einer Höhle — und eine Wunde an seiner Seite verband. Es dauerte nur einen Augenblick lang. Er gaffte Byar an, und sein Gesicht verzog sich zu einem närrischen Grinsen. Elyas lebte. Scheckie lebte. Hilfe nahte.
Byar unterbrach seine Bewegung halb aufgerichtet und sah ihn an. »Dir ist ein Gedanke gekommen, Perrin von den Zwei Flüssen, und ich möchte wissen, was er bedeutet.«
Einen Moment lang glaubte Perrin, er meine den Gedanken, den ihm Scheckie gesandt hatte. Panik überzog sein Gesicht, von Erleichterung gefolgt. Byar konnte das auf keinen Fall wissen.
Byar beobachtete die Veränderungen seines Gesichtsausdrucks, und zum ersten Mal wanderte der Blick des Weißmantels zu dem Stein hin, den er auf den Boden geworfen hatte.
Er überlegte es sich doch noch einmal, erkannte Perrin. Wenn er seine Meinung in bezug auf den Stein änderte, würde er dann riskieren, sie am Leben zu lassen, da sie ihn ja verraten konnten? Fesseln konnte man auch durchwetzen, wenn die Menschen, die sie trugen, tot waren, selbst wenn man damit die Entdeckung riskierte. Er blickte Byar in die Augen — durch die dunklen Ringe und die tief eingefallenen Augenhöhlen des Mannes wirkte es, als starre er ihn aus tiefen Höhlen heraus an -, und er sah, daß sein Tod beschlossen war.
Byar öffnete den Mund, und während Perrin darauf wartete, daß er sein Todesurteil aussprach, begannen gedankenschnell viele Dinge auf einmal zu geschehen.
Plötzlich verschwand eine der Wachen. Im ersten Moment gab es noch zwei undeutliche Gestalten dort, im nächsten verschluckte die Nacht eine davon. Der zweite Wachsoldat drehte sich um, seine Lippen formten einen Schrei, doch bevor noch die erste Silbe seiner Kehle entwich, hörte man ein hartes Tschank, und er fiel wie ein gefällter Baum. Byar fuhr schnell wie eine Viper herum.
Die Axt wirbelte so schnell in seinen Händen, daß sie summte. Perrin machte große Augen, als die Nacht in den Laternenschein hineinzufließen schien. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber seine Kehle war vor Angst zugeschnürt. Einen Moment lang vergaß er sogar, daß Byar sie töten wollte. Der Weißmantel war ein menschliches Geschöpf, und die Nacht war zum Leben erwacht, um sie alle zu verschlingen.
Dann entstand aus der Dunkelheit, die in das Licht eindrang, Lan, dessen Umhang bei seiner Bewegung verschiedene Grauschattierungen annahm. Die Axt in Byars Hand fuhr wie ein Blitz auf ihn zu... und Lan beugte sich nur ganz locker zur Seite. Die Schneide zischte so knapp an ihm vorbei, daß er den Luftzug gespürt haben mußte. Byars Augen weiteten sich, als ihn die Wucht des Schlags aus dem Gleichgewicht brachte, als der Behüter in schneller Folge mit Händen und Füßen zuschlug, so schnell, daß Perrin nicht sicher war, was er eigentlich gerade gesehen hatte. Er war sich allerdings sicher, daß Byar wie ein Mehlsack zusammenbrach. Bevor noch der stürzende Weißmantel richtig am Boden lag, befand sich der Behüter bereits auf den Knien und löschte die Laterne. In der plötzlich wieder eingebrochenen Dunkelheit konnte Perrin nichts erkennen. Lan war wieder verschwunden.
»Seid Ihr wirklich...?« Egwene schluchzte unterdrückt. »Wir dachten, Ihr seid tot. Wir glaubten, Ihr seid alle tot.«
»Noch nicht.« Das tiefe Flüstern des Behüters klang amüsiert.
Hände berührten Perrin, fanden seine Fesseln. Ein Messer zerschnitt die Seile; ein leichtes Ziehen, und er war frei. Seine schmerzenden Muskeln protestierten, als er sich aufsetzte. Er rieb sich die Handgelenke und spähte zu dem grauen Bündel hinüber, das Byar war. »Habt Ihr... ? Ist er...?«
»Nein«, antwortete Lans Stimme ruhig aus der Finsternis. »Ich töte nicht, wenn ich es nicht will. Aber er wird eine Weile lang niemanden mehr belästigen. Hört auf, Fragen zu stellen, und besorgt euch Umhänge von denen. Wir haben nicht viel Zeit.«
Perrin kroch hinüber, wo Byar lag. Er hatte Hemmungen, den Mann zu berühren, und als er das Heben und Senken der Brust des Weißmantels spürte, zuckte seine Hand beinahe wieder zurück. Seine Haut prickelte, als er sich zwang, den weißen Umhang zu lösen und wegzuziehen. Trotz der Worte Lans stellte er sich vor, der Mann mit dem Totenschädelgesicht werde sich plötzlich aufrichten. Hastig tastete er herum, bis er seine Axt fand, und kroch dann zu einem anderen Wächter. Zuerst kam es ihm seltsam vor, daß er nicht zögerte, den bewußtlosen Mann zu berühren, aber der Grund wurde ihm schnell klar. Alle Weißmäntel haßten ihn, aber das war ein menschliches Gefühl. Byar fühlte nichts, er wollte nur seinen Tod; es lag kein Haß darin — überhaupt kein Gefühl.
Er legte sich die beiden Umhänge über den Arm und drehte sich um. Panik überkam ihn. In der Dunkelheit hatte er plötzlich die Orientierung verloren und wußte nicht, in welcher Richtung er Lan und Egwene suchen sollte. Seine Füße schienen Wurzeln zu schlagen. Er wagte nicht, sich zu rühren. Sogar Byar war ohne seinen weißen Umhang in der Nacht verborgen. Es gab nichts, woran er sich hätte halten können. Jeder Weg, den er wählte, konnte ihn hinaus ins Lager führen.
»Hier.«
Er stolperte auf Lans Flüstern zu, bis Hände ihn aufhielten. Egwene war ein undeutlicher Schatten und Lans Gesicht verschwommen — der Rest des Behüters schien überhaupt nicht vorhanden zu sein. Er konnte fühlen, wie ihre Blicke auf ihm ruhten, und er fragte sich, ob er ihnen eine Erklärung schuldig sei.
»Legt die Umhänge über«, sagte Lan leise. »Schnell. Rollt eure eigenen zusammen. Und macht keinen Laut. Ihr seid noch nicht in Sicherheit.«
Hastig reichte Perrin Egwene einen der Umhänge. Er war erleichtert darüber, daß er nicht von seinen Ängsten hatte erzählen müssen. Er rollte seinen eigenen Umhang zu einem Bündel zusammen, das er leicht tragen konnte, und schwang den weißen Umhang statt dessen um seine Schultern. Seine Haut prickelte, als er sich auf seine Schultern legte. Es gab ihm einen Stich zwischen die Schulterblätter. War es Byars Umhang, den er erwischt hatte? Er bildete sich fast ein, den hageren Mann daran riechen zu können.
Lan bedeutete ihnen, sich an den Händen zu halten, und so packte Perrin seine Axt mit einer Hand und nahm Egwenes in die andere. Er wünschte, der Behüter werde schnell mit ihnen fliehen, damit seine Phantasie nicht inzwischen mit ihm durchginge. Aber sie standen nur so herum, von den Zelten der Kinder umgeben — zwei Gestalten in weißen Umhängen und eine, die man fühlen, aber nicht sehen konnte.
»Bald«, flüsterte Lan. »Sehr bald.«
Ein Blitz zerriß die Nacht über dem Lager, so nah, daß Perrin fühlte, wie sich ihm die Haare an den Armen und auf dem Kopf sträubten, als der Blitzschlag die Luft auflud. Genau jenseits der Zelte explodierte der Boden unter dem Einschlag. Die Explosion am Boden verschmolz mit der am Himmel. Bevor das Licht verblaßte, führte Lan sie auch schon los.
Beim ersten Schritt zerschnitt ein weiterer Blitz die Schwärze. Nun hagelte es Blitze, so daß die Nacht flackerte, als käme die Dunkelheit nur in sekundenschnellen Intervallen. Donner rollte wild. Ein Grollen ging in das nächste über — ein fortwährendes, wellenschlagendes Läuten. Verängstigte Pferde wieherten. Ihr Wiehern ging im Donner unter, bis auf die Momente, wenn der Donner verhallte. Männer taumelten aus ihren Zelten, einige in ihren weißen Umhängen, andere nur halb bekleidet. Einige rannten in Panik hin und her, andere standen wie betäubt da.
Lan zerrte sie im Laufschritt mitten durch das Durcheinander. Perrin bildete den Abschluß. Weißmäntel sahen sie mit wildaufgerissenen Augen an, als sie vorbeikamen. Ein paar schrien ihnen etwas zu, doch die Schreie verloren sich im Trommelschlag des Himmels. Sie hatten ihre weißen Umhänge eng um sich gewickelt, und so versuchte niemand, sie aufzuhalten. Sie hasteten zwischen den Zelten hindurch, aus dem Lager hinaus und in die Nacht hinein, und keiner erhob seine Hand gegen sie.
Der Boden unter Perrins Füßen wurde uneben, und Unterholz peitschte ihn, als er sich weiterziehen ließ. Der letzte Blitz zuckte krampfhaft und war verblaßt. Echos des Donners rollten über den Himmel und verklangen ebenfalls. Perrin sah nach hinten. Zwischen den Zelten brannten eine Handvoll Feuer. Einige der Blitze mußten dort eingeschlagen haben, oder vielleicht hatten Männer in ihrer Panik Lampen umgestoßen. Immer noch schrien Männer mit dünnen Stimmen durch die Nacht, bemühten sich, die Ordnung wiederherzustellen und herauszufinden, was geschehen war. Der Boden stieg an, und Zelte und Feuer und Schreie lagen bald hinter ihnen.
Plötzlich trat er beinahe Egwene in die Fersen, als Lan stehenblieb. Vor ihnen im Mondschein standen drei Pferde. Ein Schatten bewegte sich, und Moiraines Stimme erklang, angespannt und ärgerlich. »Nynaeve ist nicht zurückgekommen. Ich fürchte, diese junge Frau hat eine Dummheit begangen.« Lan fuhr auf der Stelle herum, als wolle er zurück, woher sie gekommen waren, aber ein Ruf Moiraines, der wie ein Peitschenknall klang, hielt ihn zurück. »Nein!« Er stand da und sah sie von der Seite her an. Nur sein Gesicht und seine Hände waren wirklich sichtbar, doch selbst sie nur als undeutliche und schattenhafte Flecke. Sie fuhr in sanfterem Tonfall fort; sanfter, aber nicht weniger fest. »Manche Dinge sind wichtiger als andere. Das weißt du.« Der Behüter rührte sich nicht, und ihre Stimme wurde wieder härter. »Denk an deine Eide, al'Lan Mandragoran, Herr der Sieben Türme! Wie steht es mit dem Eid eines mit dem Diadem ausgezeichneten Feldherrn der Malkieri?«
Perrin blinzelte. Das alles war Lan? Egwene murmelte etwas, aber er konnte den Blick nicht von der Szene vor ihm wenden. Lan stand da wie ein Wolf aus Scheckies Rudel, ein Wolf, der von der kleinen Aes Sedai in die Enge getrieben worden war und der vergeblich versuchte, dem Untergang zu entrinnen.
Die erstarrte Szene wurde durch das Krachen brechender Äste im Wald unterbrochen. Mit zwei langen Schritten befand sich Lan zwischen Moiraine und dem Geräusch. Der blasse Mondschein spielte über sein Schwert. Unter dem Krachen und Knacken des Unterholzes brachen zwei Pferde aus dem Wald hervor; eines mit einem Reiter darauf.
»Bela!« rief Egwene zur selben Zeit, als Nynaeve vom Rücken der zotteligen Stute her sagte: »Ich hätte euch beinahe nicht mehr gefunden. Egwene! Dem Licht sei Dank, daß du lebst!«
Sie glitt von Bela herunter, aber als sie auf die Emondsfelder zuging, packte Lan sie am Arm, und sie blieb abrupt stehen und sah zu ihm hoch.
»Wir müssen gehen, Lan«, sagte Moiraine, die nun wieder ruhiger klang, und der Behüter ließ Nynaeves Arm los.
Nynaeve rieb sich den Arm, während sie zu Egwene eilte und sie umarmte, aber Perrin glaubte, ein leises Lachen von ihr gehört zu haben. Das verblüffte ihn, denn er konnte sich nicht denken, daß es etwas mit ihrer Wiedersehensfreude zu tun gehabt hatte.
»Wo sind Rand und Mat?« fragte er.
»Woanders«, antwortete Moiraine, und Nynaeve äußerte etwas in so scharfem Tonfall, daß Egwene vor Überraschung nach Luft schnappte. Perrin blinzelte. Er hatte einen Teil verstanden — einen Wagenlenkerfluch, und einen deftigen noch dazu. »Das Licht behüte sie«, fuhr die Aes Sedai fort, als habe sie nichts bemerkt.
»Keinem von uns wird es gutgehen«, sagte Lan, »wenn uns die Weißmäntel finden. Wechselt eure Umhänge und steigt auf die Pferde.«
Perrin kletterte auf das Pferd, das Nynaeve hinter Bela hergeführt hatte. Es störte ihn nicht, daß kein Sattel vorhanden war; zu Hause war er nicht oft geritten, aber wenn, dann meistens ohne Sattel. Er trug immer noch den weißen Umhang, jetzt aber zusammengerollt und an seinen Gürtel gehängt. Der Behüter hatte gesagt, sie sollten so wenig Spuren wie möglich für die Weißmäntel hinterlassen. Er glaubte immer noch, Byars Geruch daran zu spuren.
Als sie losritten, Lan auf seinem hohen schwarzen Hengst voraus, fühlte Perrin noch einmal Scheckies gedankliche Berührung. Noch ein Tag. Mehr ein Gefühl als Worte, so hauchte es das Versprechen eines vorbestimmten Zusammentreffens, Vorfreude auf das Kommende, Enttäuschung über das, was kommen würde, alles in sich überlagernden Schichten. Er versuchte, zu fragen, wann und warum, und stammelte vor Eile und plötzlich aufkommender Angst. Die Spur der Wölfe wurde schwächer und verflog. Seine angsterfüllten Fragen brachten nur die gleiche schwerfällige Antwort: Noch ein Tag. Sie verfolgte ihn noch, lange nachdem das Bewußtsein der Nähe der Wölfe aus seinem Verstand verschwunden war.
Lan führte sie langsam, aber gleichmäßig, nach Süden. Die in tiefe Nacht gehüllte Wildnis — welliger Boden mit verborgenem Unterholz, das man erst zu spüren bekam, wenn man darüber stolperte, dazu schattenhafte Bäume, die sich in dichten Gruppen vom Nachthimmel abhoben -ließ sowieso keine schnellere Gangart zu. Zweimal verließ der Behüter sie und ritt zurück in Richtung auf die Mondsichel. Er und Mandarb verschmolzen mit der Nacht hinter ihnen. Beide Male kehrte er zurück und hatte nichts von einer Verfolgung bemerkt.
Egwene hielt sich nahe bei Nynaeve. Leise Bruchstücke einer erregten Unterhaltung drangen an Perrins Ohren. Die beiden waren so froh, als hätten sie die Heimat schon wieder erreicht. Er hielt sich am Ende der kleinen Kolonne. Manchmal drehte sich die Seherin im Sattel um und sah ihn an, und jedesmal winkte er ihr zu, als wolle er sagen, er sei schon in Ordnung, aber er blieb, wo er war. Er mußte über eine Menge nachdenken, auch wenn in seinem Kopf noch immer ein großes Durcheinander herrschte. Was würde kommen? Was würde kommen?
Perrin glaubte, es könne nicht mehr lange bis zur Morgendämmerung sein, als Moiraine sie endlich anhalten ließ. Lan fand ein ausgetrocknetes Bachbett, wo er in einer Aushöhlung in einer der Uferböschungen ein Feuer entzündete.
Schließlich konnten sie ihre weißen Umhänge loswerden. Sie vergruben sie in einem Loch nahe dem Feuer. Als er gerade dabei war, den Umhang, den er benutzt hatte, hineinzuwerfen, fiel ihm die auf die Brust aufgestickte goldene Sonne auf und die beiden goldenen Sterne darunter. Er ließ den Umhang fallen, als sei er brennend heiß, und ging zur Seite, wobei er sich die Hände an seinem Mantel abwischte. Er setzte sich abseits von den anderen hin.
»Aber jetzt«, sagte Egwene, während Lan Erde in das Loch schaufelte, »könnte mir doch jemand sagen, wo Rand und Mat sind!«
»Ich glaube, sie sind in Caemlyn«, sagte Moiraine vorsichtig, »oder auf dem Weg dorthin.« Nynaeve schnaubte laut und vernehmlich, aber die Aes Sedai fuhr fort, als habe es keine Unterbrechung gegeben: »Wenn nicht, werde ich sie trotzdem finden. Das verspreche ich.«
Sie aßen schweigend Brot und Käse und tranken heißen Tee. Selbst Egwenes Begeisterung unterlag nun langsam der Erschöpfung. Die Seherin holte eine Tinktur aus ihrer Tasche, die sie auf die Spuren der Fesseln an Egwenes Handgelenken auftrug, und eine andere für die übrigen Abschürfungen. Als sie dorthin kam, wo Perrin am Rande des Feuerscheins saß, blickte er nicht auf.
Sie stand eine Weile schweigend da und blickte auf ihn hinunter. Dann kauerte sie sich nieder — ihre Tasche neben sich — und sagte knapp: »Zieh deinen Mantel und dein Hemd aus, Perrin. Ich habe gehört, daß einer der Weißmäntel dich offensichtlich nicht leiden konnte.«
Er zog sich langsam aus, immer noch in Gedanken an Scheckie und ihre Botschaft versunken, bis Nynaeve erschreckt nach Luft schnappte. Überrascht sah er erst sie an und dann seinen nackten Oberkörper. Er wirkte wie eine verfärbte Masse. Die neueren blauen Flecken überlagerten ältere, die schon zu Braun- und Gelbschattierungen verblaßt waren. Nur dicke Muskelpakete, die er sich in den Stunden in Meister Luhhans Schmiede erworben hatte, hatten ihn vor Rippenbrüchen bewahrt. Da er sich innerlich mit den Wölfen beschäftigt hatte, hatte er den Schmerz vergessen können, doch jetzt wurde er daran erinnert, und der Schmerz kehrte froh zurück. Unwillkürlich holte er tief Luft und biß die Zähne zusammen, um nicht zu stöhnen.
»Wieso haßte er dich denn so sehr?« fragte Nynaeve erstaunt.
Ich habe zwei Menschen getötet. Laut sagte er: »Ich weiß nicht.«
Sie kramte in ihrer Tasche herum, und er zuckte zusammen, als sie ihm eine schmierige Paste auf die Schwellungen auftrug. »Jungfernrebe, roter Fingerhut und Rosettenwurzel«, zählte sie auf.
Es war gleichzeitig heiß und kalt und ließ ihn erschauern, während ihm gleichzeitig der Schweiß ausbrach, aber er protestierte nicht. Er hatte mit Nynaeves Tinkturen und Packungen schon früher Erfahrungen gesammelt. Während ihre Finger die Mixtur sanft einmassierte, verschwanden Hitze und Kälte und nahmen den Schmerz mit. Die blauen Flecken verblaßten zu braunen, die braunen und gelben verschwanden zum Teil ganz. Zur Probe holte er ganz tief Luft. Er verspürte kaum noch ein Zwicken.
»Du wirkst überrascht«, sagte Nynaeve. Auch sie selbst sah ein wenig überrascht drein, und seltsamerweise schien sie sich zu fürchten. »Das nächste Mal gehst du eben zu ihr.«
»Nicht überrascht«, sagte er beruhigend. »Nur froh.« Manchmal wirkten Nynaeves Tinkturen schnell und manchmal langsam, aber sie wirkten immer. »Was... was ist mit Rand und Mat passiert?«
Nynaeve räumte ihre Fläschchen und Tiegel zurück in die Tasche. Sie stieß sie förmlich hinein, als müsse sie damit eine Sperre durchbrechen. »Sie sagt, daß es ihnen gutgeht. Sie sagt, wir würden sie finden. In Caemlyn, sagt sie. Sie sagt, es sei wichtig für uns, keine Zeit zu verlieren, was das nun auch wieder heißen mag. Sie sagt viel, wenn der Tag lang ist.«
Perrin mußte nun doch grinsen. Was sich auch immer geändert haben mochte, die Seherin war immer noch derselbe Mensch geblieben, und sie und die Aes Sedai waren nach wie vor alles andere als Freundinnen.
Mit einem Mal erstarrte Nynaeve und sah entgeistert sein Gesicht an. Sie ließ ihre Tasche fallen und preßte die Handrücken auf seine Wangen und seine Stirn. Er versuchte, zurückzuweichen, doch sie nahm seinen Kopf in beide Hände und zog mit den Daumen seine Augenlider hoch. Sie sah sich seine Augen ganz genau an und murmelte etwas vor sich hin. Trotz ihrer geringen Größe konnte sie sein Gesicht leicht festhalten; es war niemals leicht, Nynaeve zu entkommen, wenn sie einen nicht loslassen wollte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie schließlich, ließ ihn los und hockte sich zurück auf die Fersen. »Hättest du Gelbaugenfieber, dann wärst du nicht in der Lage, auch nur aufzustehen. Aber du hast überhaupt kein Fieber, und das Weiße in deinen Augen ist auch nicht gelb geworden -nur die Pupillen!«
»Gelb?« fragte Moiraine, und Perrin wie auch Nynaeve fuhren auf ihren Plätzen zusammen. Die Aes Sedai hatte sich völlig lautlos genähert. Egwene lag schlafend am Feuer, in ihren Umhang gehüllt, wie Perrin sah. Seine eigenen bleischweren Lider wollten sich ebenfalls schließen.
»Es ist nichts«, sagte er, doch Moiraine hielt sein Kinn mit der Hand hoch und drehte sein Gesicht herum, so daß sie wie zuvor Nynaeve in seine Augen blicken konnte. Er zuckte mit prickelnder Haut zurück. Die beiden Frauen behandelten ihn wie ein Kind. »Ich sagte, es ist nichts.«
»Das war nicht vorauszusehen.« Moiraine sprach mehr zu sich selbst. Ihr Blick ging durch ihn hindurch in die Ferne. »Etwas, das im Gewebe vorgesehen war, oder eine Änderung im Muster? Wenn es eine Änderung ist, wer hat sie dann verursacht? Das Rad webt, wie das Rad es will. Das muß es sein.«
»Wißt Ihr, was es bedeutet?« fragte Nynaeve widerwillig. Sie zögerte. »Könnt Ihr etwas für ihn tun? Eure Heilkunst?« Die Bitte um Hilfe, das Zugeständnis, daß sie nichts tun konnte, entrangen sich ihr nur schwerfällig.
Perrin funkelte die beiden Frauen an. »Wenn Ihr über mich sprechen wollt, dann sprecht gefälligst mit mir. Ich sitze hier vor Euch!« Keine sah ihn an.
»Heilkunst?« Moiraine lächelte. »Daran ist nichts, was man heilen könnte. Es ist keine Krankheit, und es wird nicht...« Sie zögerte kurz. Dann blickte sie zu Perrin hinüber; ein kurzer Blick, der vieles zu bedauern schien. Der Blick schloß ihn aber nicht mit ein, und er knurrte beleidigt vor sich hin, während sie sich wieder Nynaeve zuwandte. »Ich wollte sagen, es wird ihm nicht schaden, aber wer weiß schon, was am Ende dabei herauskommt? Zumindest kann ich behaupten, daß es ihm nicht direkt schaden wird.«
Nynaeve stand auf, klopfte sich den Staub von den Knien, stellte sich vor die Aes Sedai und sah ihr in die Augen. »Das reicht mir nicht. Wenn etwas mit ihm nicht... «
»Was geschehen ist, ist geschehen. Was bereits gewebt wurde, kann man nicht mehr ändern.« Moiraine wandte sich unvermittelt ab. »Wir müssen schlafen, solange wir können, und beim ersten Tageslicht aufbrechen. Wenn die Hand des Dunklen Königs zu stark wird... Wir müssen Caemlyn schnell erreichen.«
Ärgerlich schnappte Nynaeve ihre Tasche und stolzierte weg, bevor Perrin den Mund aufbrachte. Er wollte grollend fluchen, doch dann traf ihn ein Gedanke wie ein Blitzschlag, und er saß mit offenem Mund da. Moiraine wußte Bescheid. Die Aes Sedai wußte von den Wölfen. Und sie glaubte, es könne das Werk des Dunklen Königs sein. Ein Schaudern durchlief ihn. Hastig schlüpfte er wieder in sein Hemd, stopfte es ungeschickt in die Hose und zog Mantel und Umhang wieder an. Die Kleidung half nicht viel; er fühlte sich eiskalt bis auf die Knochen. Sein Mark war wie zu Eis erstarrt.
Lan ließ sich mit überkreuzten Beinen am Boden nieder und warf seinen Umhang zurück. Perrin war froh darüber. Es war unangenehm, wenn man den Behüter anschaute und der Blick dabei immer abglitt. Einen Augenblick lang sahen sie sich einfach nur an. Die kantigen Flächen des Gesichts des Behüters ließen keinen Rückschluß auf seine Gedanken zu, aber Perrin glaubte, in seinen Augen etwas zu entdecken... irgend etwas. Sympathie? Neugier? Beides?
»Ihr wißt Bescheid?« fragte er, und Lan nickte.
»Ich weiß einiges, nicht alles. Kam es einfach über dich, oder hast du einen Mittler getroffen, einen Führer?«
»Da war ein Mann«, sagte Perrin bedächtig. Er weiß Bescheid, aber glaubt er dasselbe wie Moiraine? »Er sagte, sein Name sei Elyas. Elyas Machera.« Lan atmete tief durch, und Perrin warf ihm einen scharfen Blick zu. »Ihr kennt ihn?«
»Ich kannte ihn. Er hat mich viel gelehrt, über die Fäule und über all dies.« Lan berührte seinen Schwertknauf. »Er war ein Behüter, bevor... bevor das geschah. Die Roten Ajah...« Er blickte hinüber zu Moiraine, die vor dem Feuer lag.
Es war das erste Mal, daß Perrin an dem Behüter eine Unsicherheit entdeckte. In Shadar Logoth war Lan sicher und stark gewesen und auch dann, als er Blassen und Trollocs gegenüberstand. Er hatte auch jetzt keine Angst -davon war Perrin überzeugt -, aber er war sehr vorsichtig, als könne er zuviel sagen. Als könne das, was er sagte, gefährlich sein.
»Ich hab von den Roten Ajah gehört«, sagte er zu Lan.
»Und zweifellos stimmt das meiste von dem nicht, was du gehört hast. Du mußt verstehen, daß es... in Tar Valon verschiedene Parteien gibt. Einige wollen den Dunklen König auf eine Art bekämpfen, andere wieder auf eine andere Art. Das Ziel ist das gleiche, aber die Unterschiede... die unterschiedlichen Auffassungen bedeuten, daß Leben sich ändern oder beendet werden können. Die Leben vieler Männer oder Nationen. Geht es Elyas gut?«
»Ich denke schon. Die Weißmäntel behaupteten, sie hätten ihn getötet, aber Scheckie... « Perrin sah den Behüter unsicher an. »Ich weiß nicht.« Lan schien das zögernd zu akzeptieren, und das wiederum ermutigte ihn fortzufahren. »Diese Verständigung mit den Wölfen. Moiraine scheint zu glauben, es habe etwas... etwas mit dem Dunklen König zu tun. Aber das stimmt doch nicht, oder?« Er wollte nicht glauben, daß Elyas ein Schattenfreund sei.
Doch Lan zögerte, und Schweiß trat Perrin auf die Stirn, kühle Tropfen, die von der Nachtkälte noch kühler wurden. Als der Behüter endlich wieder sprach, rannen sie ihm bereits die Wangen hinunter.
»An sich nicht, nein. Einige glauben das, aber sie irren sich; es war schon uralt, bevor der Dunkle König gefunden wurde. Aber wie steht es mit der Wahrscheinlichkeit, Schmied? Manchmal scheint das Muster auf Zufällen zu beruhen — zumindest soweit wir das sehen können -, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß man einen Mann trifft, der einen in diese Sache einführen kann, und daß man seiner Führung auch folgt? Das Muster formt sich zu einem Großen Gewebe, das von einigen Zeitgewebe genannt wird, und ihr Burschen spielt dabei eine zentrale Rolle. Ich glaube nicht, daß in deinem Leben der Zufall noch eine große Rolle spielen wird. Bist du also auserwählt worden? Und wenn, vom Licht oder vom Schatten?«
»Der Dunkle König kann uns nicht berühren, solange wir ihn nicht beim Namen nennen.« Sofort mußte Perrin an die Träume von Ba'alzamon denken, die Träume, die mehr als nur Träume darstellten. Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Er kann es nicht.«
»Stur bis zum letzten«, meinte der Behüter. »Vielleicht stur genug, um dich am Ende zu retten. Bedenke die Zeiten, in denen wir leben, Schmied. Denke daran, was Euch Moiraine Sedai gesagt hat. In diesen Zeiten lösen sich viele Dinge auf, zerbrechen. Alte Grenzen wanken, alte Mauern zerbröckeln. Die Grenzen zwischen dem, was ist, und dem, was war, zwischen dem, was ist, und dem, was sein wird.« Seine Stimme wurde noch ernster. »Die Mauern um das Gefängnis des Dunklen Königs. Dies könnte sehr wohl das Ende eines Zeitalters sein. Vielleicht erleben wir ein neues Zeitalter, bevor wir sterben. Oder vielleicht ist es auch das Ende aller Zeitalter, das Ende der Zeit selbst. Das Ende der Welt.« Plötzlich grinste er, aber sein Grinsen war düster wie ein grimmiger Blick; seine Augen funkelten fröhlich, lachten den Fuß eines Galgens an. »Aber es sind nicht wir, die sich darüber Gedanken machen müssen, wie, Schmied? Wir werden gegen die Schatten kämpfen, solange wir atmen, und wenn sie uns überrennen, dann gehen wir beißend und kratzend unter. Ihr Leute von den Zwei Flüssen seid zu stur, um euch zu ergeben. Mach dir keine Gedanken darüber, ob sich der Dunkle König in dein Leben eingemischt hat. Du bist jetzt wieder unter Freunden. Denke daran, das Rad webt, wie das Rad will, und das kann nicht einmal der Dunkle König ändern, solange Moiraine dich beschützt. Doch wir sollten eure Freunde möglichst schnell finden.« »Was meint Ihr damit?«
»Sie haben keine Aes Sedai zum Schutz bei sich, die sich der Wahren Quelle bedienen kann. Schmied, vielleicht sind die Mauern nun schwach genug, so daß der Dunkle König selbst die Dinge beeinflussen kann. Er hat noch keine völlige Freiheit, sonst lebten wir nicht mehr, aber er sorgt vielleicht für viele winzige Veränderungen in den Webfäden. Ein zufälliges Abbiegen an einer Ecke, statt an der anderen, ein zufälliges Zusammentreffen, ein zufälliges Wort oder etwas, das eben wie Zufall wirkt, und sie könnten so weit unter dem Einfluß des Schattens stehen, daß nicht einmal Moiraine sie zurückbringen könnte.«
»Wir müssen sie finden«, sagte Perrin, und der Behüter lachte knurrig dazu.
»Was habe ich denn gesagt? Schlaf ein wenig, Schmied.« Lans Umhang schlang sich wieder um ihn, als er aufstand. Im schwachen Lichtschein des Feuers und des Mondes erschien er fast wie ein Teil der Schatten im Hintergrund. »Wir haben ein paar schwere Tage bis Caemlyn vor uns. Bete nur darum, daß wir sie dort finden.«
»Aber Moiraine... sie kann sie doch überall aufspüren, nicht wahr? Sie behauptet, daß sie das kann.«
»Aber kann sie sie auch noch rechtzeitig finden? Falls der Dunkle König stark genug ist, um selbst einzugreifen, wird die Zeit knapp. Bete darum, daß wir sie in Caemlyn finden, Schmied, oder wir sind vielleicht alle verloren.«