Die Straße nach Caemlyn unterschied sich nicht wesentlich von der Nordstraße durch das Gebiet der Zwei Flüsse. Sie war natürlich um einiges breiter und zeigte deutlich mehr Merkmale von Beanspruchung, aber sie bestand immer noch aus festgetrampeltem Lehm und war auf beiden Seiten von Bäumen umrahmt, die man auch in den Zwei Flüssen hätte finden können, besonders jetzt, wo nur die Nadelbäume noch Grün zeigten.
Das umliegende Land sah allerdings anders aus, denn gegen Mittag erreichten sie ein Gebiet niedriger Hügel. Zwei Tage lang führte die Straße durch diese Hügel -schnitt sogar manchmal mitten hindurch, wo sie so breit waren, daß die Straße einen großen Bogen gemacht hätte, und nicht groß genug, um das Durchgraben zu schwierig zu gestalten. Als sich der Einfallswinkel des Sonnenlichts jeden Tag ein wenig veränderte, wurde ihnen klar, daß sich die so gerade erscheinende Straße auf ihrem Weg nach Osten ganz langsam in Richtung Süden krümmte. Rand hatte sich, wie die Hälfte aller Jungen in Emondsfeld, im Geist immer wieder mit Meister al'Veres alter Landkarte beschäftigt, und er erinnerte sich nun daran, daß sie etwas, genannt die ›Hügel von Abscher‹, umrundete und dann nach Weißbrücke führte.
Von Zeit zu Zeit ließ Lan sie alle auf der Spitze eines Hügels absteigen, von wo aus er die Straße voraus und hinter ihnen und natürlich auch das Land um sie herum gut überblicken konnte. Der Behüter sah sich dann alles sehr genau an, während die anderen sich die Beine vertraten oder sich unter einen Baum setzten und etwas aßen.
»Ich mochte Käse früher einmal«, sagte Egwene am dritten Tag, nachdem sie Baerlon verlassen hatten: Sie hatte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt und verzog das Gesicht bei diesem Mittagessen. Es war das gleiche wie beim Frühstück, und das Abendessen würde auch nicht anders aussehen. »Keine Gelegenheit, wenigstens Tee zu trinken. Schönen heißen Tee.« Sie zog den Umhang enger zusammen und veränderte ihre Stellung hinter dem Baum in einem vergeblichen Versuch, dem fauchenden Wind zu entgehen.
»Flachwurz-Tee und Andilei Wurzeln sind die besten Mittel gegen Erschöpfung«, sagte Nynaeve zu Moiraine. »Sie machen den Kopf wieder frei und dämpfen das Brennen der erschöpften Muskeln.«
»Da bin ich ganz Eurer Meinung«, murmelte die Aes Sedai und sah Nynaeve von der Seite her an.
Nynaeves Unterkiefer verkrampfte sich, doch sie fuhr im gleichen Tonfall fort. »Wenn man längere Zeit ohne Schlaf auskommen muß... «
»Kein Tee!« sagte Lan in scharfem Ton zu Egwene. »Kein Feuer! Wir können sie noch nicht sehen, aber sie sind irgendwo dort hinten, ein oder zwei Blasse und ihre Trollocs, und sie wissen, daß wir uns auf dieser Straße befinden. Wir müssen ihnen nicht auch noch genau zeigen, wo wir sind.«
»Ich habe keinen Tee verlangt«, murmelte Egwene in ihren Umhang hinein. »Ich habe es nur bedauert.«
»Wenn sie wissen, daß wir auf der Straße sind«, fragte Perrin, »warum kürzen wir dann nicht ab und reiten über Land nach Weißbrücke?«
»Selbst Lan kann querfeldein nicht so schnell vorwärtskommen wie über die Straße«, sagte Moiraine und unterbrach damit Nynaeve, »und vor allem nicht durch die Hügel von Abscher.« Die Seherin seufzte ergeben. Rand fragte sich, was sie wohl plante. Nachdem sie am ersten Tag die Aes Sedai vollständig ignoriert hatte, hatte sie anschließend versucht, ständig mit ihr über Kräuter zu sprechen. Moiraine entfernte sich von der Seherin, als sie fortfuhr: »Warum glaubt Ihr, daß die Straße einen Bogen um sie macht? Und wir müßten schließlich doch wieder auf diese Straße zurückkommen. Es könnte sein, daß sie sich dann vor uns befänden und nicht hinter uns.«
Rand sah zweifelnd drein, und Mat äußerte etwas von einem »langen Umweg«.
»Habt Ihr heute morgen einen Bauernhof gesehen?« fragte Lan. »Oder wenigstens Rauch aus einem Schornstein? Nein, denn zwischen Baerlon und Weißbrücke liegt nur Wildnis, und in Weißbrücke müssen wir den Arinelle überqueren. Dort ist die einzige Brücke über den Arinelle südlich von Maradon in Saldaea.«
Thom schnaubte und pustete die Enden seines Schnurrbarts hoch. »Was kann sie daran hindern, jemanden oder etwas bereits jetzt nach Weißbrücke zu schicken?«
Aus westlicher Richtung kam das durchdringende Wehklagen eines Horns. Lans Kopf fuhr herum, und er musterte die Straße hinter ihnen. Rand lief es kalt den Rücken herunter. Ein Teil seines Verstands jedoch blieb ganz ruhig und schätzte die Entfernung auf höchstens zehn Meilen ein.
»Nichts kann sie daran hindern, Gaukler«, sagte der Behüter. »Wir vertrauen dem Licht und unserem Glück.
Aber nun wissen wir sicher, daß Trollocs hinter uns her sind.«
Moiraine wischte sich die Hände ab. »Es wird Zeit für uns, weiterzureiten.« Die Aes Sedai bestieg ihre weiße Stute.
Das löste einen Ansturm auf die Pferde aus, der noch beschleunigt wurde, als das Horn ein zweites Mal erklang. Diesmal antworteten andere. Die dünnen Töne trieben vom Westen her wie ein Trauerlied durch die Lüfte. Rand bereitete sich darauf vor, Wolke gleich in vollem Galopp laufen zu lassen, und die anderen rissen mit der gleichen verzweifelten Mühe an ihren Zügeln. Alle außer Lan und Moiraine. Der Behüter und die Aes Sedai sahen sich lange an.
»Laßt sie weiterreiten, Moiraine Sedai«, sagte Lan schließlich. »Ich werde zurückkehren, sobald ich nur kann. Falls ich versage, werdet Ihr es wissen.« Er legte eine Hand auf den Sattel Mandarbs, sprang mit einem Satz auf den Rücken des schwarzen Hengstes und galoppierte den Hügel hinunter. Er ritt gen Westen. Die Hörner erklangen wieder.
»Das Licht sei mit Euch, letzter Lord der Sieben Türme«, sagte Moiraine so leise, daß Rand es kaum hören konnte. Sie holte tief Luft und wandte Aldieb in Richtung Osten. »Wir müssen weiter«, sagte sie und ritt in langsamem, gleichmäßigem Tempo los. Die anderen folgten ihr in einer Linie.
Rand drehte sich einmal im Sattel um und wollte nach Lan sehen, aber der Behüter war bereits zwischen den niedrigen Hügeln und kahlen Bäumen außer Sicht geraten. Letzter Lord der Sieben Türme hatte sie ihn genannt. Er fragte sich, was das heißen mochte. Er hatte nicht geglaubt, daß noch jemand außer ihm die Worte verstanden haben konnte, doch Thom kaute an den Enden seines Schnurrbarts, und sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, als spekuliere er... Der Gaukler schien eine Menge zu wissen.
Die Hörner riefen und antworteten noch einmal hinter ihnen. Rand rutschte im Sattel hin und her. Diesmal waren sie näher, da war er sich ganz sicher. Acht Meilen. Vielleicht sieben. Mat und Egwene blickten sich um, und Perrin duckte sich, als erwarte er, daß ihn etwas im Rücken treffen werde. Nynaeve ritt schneller, um mit Moiraine sprechen zu können.
»Können wir nicht schneller reiten?« fragte sie. »Diese Hörner kommen näher.«
Die Aes Sedai schüttelte den Kopf. »Und warum lassen sie uns wissen, daß sie da sind? Vielleicht gerade, damit wir uns beeilen und nicht darüber nachdenken, was uns da vorn erwarten mag.«
Sie behielten ihr Tempo gleichmäßig bei. Von Zeit zu Zeit schrien die Hörner hinter ihnen auf, und jedesmal klangen sie näher. Rand bemühte sich, nicht nachzurechnen, wie nahe sie sein könnten, aber jedesmal, wenn das blecherne Wehklagen erklang, rechnete sein Verstand ungebeten mit. Fünf Meilen, dachte er gerade voller Grauen, da kam Lan in vollem Galopp hinter ihnen den Hügel hoch.
Auf Moiraines Höhe hielt er den Hengst an. »Mindestens drei Fäuste Trollocs, und jede von einem Halbmenschen angeführt. Vielleicht sind es auch fünf.«
»Wenn Ihr ihnen nahe genug wart, um sie sehen zu können«, sagte Egwene besorgt, »dann könnten sie Euch auch gesehen haben. Sie sind Euch vielleicht auf den Fersen.«
»Sie sahen ihn nicht.« Nynaeve richtete sich im Sattel auf, als alle sie anblickten. »Erinnert Ihr euch? Ich bin seiner Spur gefolgt.«
»Ruhe!« befahl Moiraine. »Lan will uns sagen, daß uns vielleicht an die fünfhundert Trollocs folgen.« Erschüttertes Schweigen, und dann sagte Lan: »Und sie holen auf. In einer Stunde oder noch weniger haben sie uns erreicht.«
Die Aes Sedai meinte, mehr zu sich selbst als zu den anderen gewandt: »Wenn sie so viele zur Verfügung hatten, warum wurden sie nicht schon in Emondsfeld eingesetzt? Und wenn nicht, wie haben sie die alle so schnell hierherbekommen?«
»Sie rücken auf breiter Front an, um uns vor sich herzutreiben«, sagte Lan. »Dazu haben sie auch noch Kundschafter vorgeschickt.«
»Wohin wollen sie uns treiben?« überlegte Moiraine. Wie zur Antwort erklang im Westen in einiger Entfernung ein Horn wie ein langgezogener Klagelaut, der diesmal von anderen vor ihnen beantwortet wurde. Moiraine hielt Aldieb an. Die anderen folgten ihrem Beispiel. Thom und die Emondsfelder blickten sich angsterfüllt um. Hörnerklang vor ihnen und hinter ihnen. Rand glaubte, aus den Tönen einen gewissen Triumph herauszuhören.
»Was machen wir jetzt?« fragte Nynaeve zornig. »Wohin sollen wir uns wenden?«
»Alles, was noch übrigbleibt, sind der Norden und der Westen«, sagte Moiraine. Es war mehr ein lautes Denken als eine Antwort auf die Frage der Seherin. »Im Süden liegen die Hügel von Abscher, kahl und tot, und der Taren. Aber es gibt hier keinen Übergang und kein Boot. Im Norden könnten wir den Arinelle vor Einbruch der Dunkelheit erreichen, und dort ist es auch möglich, das Boot eines Händlers zu finden. Wenn das Eis bei Maradon mittlerweile gebrochen ist.«
»Es gibt einen Ort, an den die Trollocs nicht gehen werden«, sagte Lan, aber Moiraines Kopf fuhr sofort zu ihm herum.
»Nein!« Sie winkte den Behüter heran, und sie steckten die Köpfe zusammen, um nicht gehört zu werden.
Die Hörner erklangen, und Rands Pferd tänzelte nervös.
»Sie versuchen, uns Angst einzujagen«, murrte Thom, der sich bemühte, sein Pferd zu beruhigen. Er klang halb wütend und halb, als hätten die Trollocs damit Erfolg gehabt. »Sie versuchen, uns Angst einzujagen, damit wir in Panik davonlaufen. Dann erwischen sie uns gewiß.«
Egwenes Kopf drehte sich bei jedem Hornstoß. Zuerst sah sie nach vorn, dann nach hinten, als halte sie nach den ersten Trollocs Ausschau. Rand wollte eigentlich das gleiche tun, doch er bemühte sich, den Drang zu unterdrücken. Er trieb Wolke näher zu ihr hin. »Wir reiten nach Norden«, verkündete Moiraine.
Die Hörner tönten schrill, als sie die Straße verließen und zwischen die sie umgebenden Hügel ritten.
Die Hügel waren wohl niedrig, aber es war ein ständiges Auf und Ab; niemals ein ebenes Stück Wegs dazwischen, die Strecke führte unter Bäumen mit kahlen Asten hinweg und durch totes Unterholz. Die Pferde erkletterten mühsam einen Hang und galoppierten den nächsten wieder hinunter. Lan gab ein strammes Tempo vor; viel schneller als vorher auf der Straße.
Zweige peitschten auf Rands Gesicht und Brust. Alte Schlingpflanzen wickelten sich um seine Arme und zogen sogar manchmal seinen Fuß aus dem Steigbügel. Die durchdringenden Töne aus den Hörnern kamen immer näher und erklangen immer häufiger.
So sehr sich Lan auch bemühte, sie kamen einfach nicht sehr schnell vorwärts. Für jeden Schritt nach vorn mußten sie zwei nach oben und wieder einen nach unten tun, und jeder Schritt bedeutete ein mühsames Vorwärtsschieben. Und die Hörner kamen näher. Zwei Meilen, dachte er. Vielleicht noch weniger.
Nach einer Weile blickte Lan unruhig erst in die eine Richtung, dann in die andere. Sein Gesicht zeigte beinahe schon etwas wie Sorge. Einmal stand er aufgerichtet in den Steigbügeln und starrte nach hinten, woher sie gekommen waren. Alles, was Rand sehen konnte, waren Bäume. Lan setzte sich wieder in den Sattel und schob mit einer unbewußten Geste seinen Umhang zurück, um das Schwert griffbereit zu haben, während er mit Blicken den Wald absuchte.
Rand suchte fragend Mats Blick, aber Mat schnitt nur eine Grimasse in Richtung auf den Rücken des Behüters und zuckte hilflos die Achseln.
Dann sagte Lan über seine Schulter hinweg: »Trollocs sind nah.« Sie erreichten die Spitze eines Hügels und begannen den Abstieg. »Einige Kundschafter, die vor den anderen herlaufen. Möglicherweise jedenfalls. Wenn wir auf sie treffen, dann bleibt unter allen Umständen in meiner Nähe und macht dasselbe wie ich. Wir müssen auf dem einmal eingeschlagenen Weg verbleiben.«
»Blut und Asche!« murrte Thom. Nynaeve gab Egwene ein Zeichen, dicht bei ihr zu bleiben.
Verstreute Gruppen von Nadelbäumen boten die einzige wirkliche Deckung für sie. Rand versuchte, in alle Richtungen gleichzeitig zu blicken. Seine Phantasie ließ graue Baumstümpfe, die er aus den Augenwinkeln erblickte, zu Trollocs werden. Auch die Hörner waren wieder ein Stück näher. Und direkt hinter ihnen. Da war er sicher. Hinter ihnen, und sie holten weiter auf.
Wieder erreichten sie einen Hügelkamm. Unter ihnen begannen gerade Trollocs mit langen Stangen, an deren Enden sich Seilschlingen oder große Haken befanden, den Hügel hochzumarschieren. Viele Trollocs. Die Linie erstreckte sich weit nach beiden Seiten. Ein Ende war nicht in Sicht, doch in der Mitte, geradewegs vor Lan, ritt ein Blasser.
Der Myrddraal schien zu zögern, als auf dem Hügel oben die Menschen erschienen, aber im nächsten Augenblick schwang er ein Schwert mit der schwarzen Klinge, an die sich Rand so ungern erinnerte, über seinem Kopf. Die Trolloc-Kette rannte los.
Noch bevor sich der Myrddraal bewegte, hatte auch Lan sein Schwert in der Hand. »Bleibt bei mir!« schrie er, und dann stürzte sich Mandarb hügelabwärts auf die Trollocs. »Für die Sieben Türme!« rief Lan.
Rand schluckte und rammte dem Grauen die Fersen in die Flanken. Die ganze Gruppe galoppierte dem Behüter hinterher. Er war überrascht, Tams Schwert plötzlich in seiner Faust zu finden. Von Lans Schlachtruf mitgerissen, fand er einen eigenen: »Manetheren! Manetheren!«
Perrin fiel mit ein. »Manetheren! Manetheren!«
Aber Mat rief: »Carai an Caldazar! Carai an Ellisande! Al Ellisande!«
Der Kopf des Blassen wandte sich von den Trollocs den Reitern zu, die ihn angriffen. Das schwarze Schwert erstarrte über seinem Kopf, und die Öffnung seiner Kapuze drehte sich hin und her und suchte die auf ihn zu galoppierenden Reiter ab. Dann hatte Lan den Myrddraal erreicht, und gleichzeitig griffen die Menschen die Reihe der Trollocs an. Die Klinge des Behüters traf auf den schwarzen Stahl aus den Schmieden von Thakan'dar. Es gab ein Klingen wie von einer großen Glocke. Der Schlag wurde von den Hügeln als Echo zurückgeworfen, und ein blauer Blitz erfüllte die Luft wie Wetterleuchten. BeinaheMenschen mit Tierschnauzen drängten sich um jeden der Menschen herum. Fangseile und Haken wurden wild umhergeschwenkt. Sie mieden nur Lan und den Myrddraal. Diese beiden fochten in einem freigebliebenen Kreis. Die Rappen paßten ihren Schritt jeweils dem anderen an, und die Schwerter parierten einander Schlag für Schlag. In der Luft blitzte und läutete es.
Wolke rollte mit den Augen und wieherte laut. Er bäumte sich und schlug mit den Hufen nach den knurrenden Gesichtern mit ihren scharfen Reißzähnen, die ihn umgaben. Schwere Körper umringten ihn, Schulter an Schulter. Rand ließ den Grauen die Fersen spüren und trieb ihn rücksichtslos vorwärts. Sein Schwert schwang er — verglichen mit Lan — ungeschickt; er hackte drauflos, als müsse er Holz spalten. Egwene! Verzweifelt suchte er nach ihr, als er den Grauen weitertrieb. Er hackte sich einen Weg durch die haarigen Körper wie durch dichtes Unterholz.
Moiraines weiße Stute galoppierte und schlug bei der leisesten Bewegung der Aes Sedai an ihren Zügeln aus. Moiraines Gesicht war genauso hart wie das Lans, wenn sie ihren Stab auf die Gegner richtete. Trollocs wurden von Flammen eingehüllt, die dann mit einem Aufbrüllen explodierten, das nur noch gekrümmte Gestalten bewegungslos am Boden zurückließ. Nynaeve und Egwene ritten in verzweifelter Eile dicht neben der Aes Sedai. Sie bleckten die Zähne beinahe genauso wild wie die Trollocs und hatten Dolche in den Händen. Diese kurzen Klingen wurden ihnen überhaupt nichts nützen, wenn ein Trolloc ganz nahe kam. Rand versuchte, Wolke in ihre Richtung zu lenken, aber der Graue ging durch. Wiehernd und ausschlagend kämpfte er sich weiter vorwärts, gleich, wie stark Rand an den Zügeln zerrte.
Um die drei Frauen herum ergab sich ein wenig freier Raum, als Trollocs vor Moiraines Stab flüchteten, doch wie sie auch versuchten, ihr zu entgehen, so folgte sie ihnen. Feuer prasselte, und die Trollocs heulten vor Wut und Kampfeslust. Über dem Prasseln und Heulen donnerte der Glockenschlag der Schwerter des Behüters und des Myrddraal; die Luft um sie herum leuchtete blau auf, dann wieder und immer wieder.
Eine Schlinge am Ende einer Stange fuhr auf Rands Kopf zu. Mit einem ungeschickten Schlag spaltete er die Stange in zwei Teile und hackte dann auf den ziegenbockartigen Trolloc los, der sie hielt. Ein Haken erwischte seine Schulter von hinten und verfing sich in seinem Umhang, zog ihn mit einem Ruck nach hinten. Verzweifelt paßte er das Sattelhorn, um nicht zu stürzen, wobei er beinahe noch sein Schwert verloren hätte. Wolke wand sich und wieherte schrill. Rand klammerte sich voller Angst an Sattel und Zügel. Er fühlte, wie er Handbreit um Handbreit abrutschte, von dem Haken gezogen. Wolke drehte sich herum. Einen Augenblick lang sah Rand Perrin, halb aus dem Sattel hängend, der mit drei Trollocs um seine Axt kämpfte. Sie hielten ihn an einem Arm und beiden Beinen fest. Wolke warf sich nach vorn, und Rands Blickfeld war nur noch von Trollocs erfüllt.
Ein Trolloc stürmte auf ihn zu und packte sein Bein. Er zerrte Rands Fuß aus dem Steigbügel. Schwer atmend ließ er den Sattel fahren, um den Trolloc zu erstechen. Sofort zog ihn der Haken aus dem Sattel auf Wolkes Hinterhand.
Nur sein verkrampfter Haltegriff am Zügel hielt ihn noch oben. Wolke bäumte sich auf und wieherte. Und im gleichen Moment hörte das Zerren auf.
Der Trolloc an seinem Bein riß die Hände hoch und schrie. Alle Trollocs schrien — ein Heulen, als seien alle Hunde der Welt auf einmal verrückt geworden.
Um die Menschen herum fielen die Trollocs sich windend zu Boden, rissen an ihrem Haar und zerkratzten sich die Gesichter. Alle Trollocs. Sie bissen in den Boden, schnappten nach der leeren Luft und heulten, heulten, heulten.
Dann sah Rand den Myrddraal. Er saß noch aufrecht im Sattel seines wie wahnsinnig tänzelnden Pferdes, das schwarze Schwert schwang noch herum, doch er hatte keinen Kopf mehr.
»Er wird noch bis zum Anbruch der Nacht leben!« Der schwer atmende Thom mußte laut rufen, um über die nicht nachlassenden Schreie hinweg hörbar zu sein. »Er wird noch nicht vollständig sterben. Das habe ich jedenfalls gehört.«
»Reitet!« rief Lan ärgerlich. Der Behüter hatte bereits Moiraine und die anderen beiden Frauen bei sich, und sie befanden sich schon halb auf dem nächsten Hügel. »Das hier sind nicht alle!« Tatsächlich erklangen nun auch die Hörner wieder, trotz der Schreie der sich am Boden windenden Trollocs, und zwar aus Osten und Westen und Süden.
Erstaunlicherweise war Mat der einzige, der nicht mehr auf seinem Pferd saß. Rand trabte zu ihm hinüber, doch Mat warf schaudernd eine Schlinge weg, hob seinen Bogen auf und kletterte ohne Hilfe in seinen Sattel, wobei er sich allerdings noch die Kehle rieb.
Die Hörner jaulten wie Hunde auf der Spur eines Hirsches. Jagdhunde, die sich ihrem Opfer näherten. Wenn Lan schon vorher ein hohes Tempo gehalten hatte, dann verdoppelte er es jetzt, bis die Pferde schneller die Hügel hinaufgaloppierten, als sie es zuvor bergab geschafft hatten. Dann warfen sie sich schon fast auf die andere Seite. Und doch näherten sich die Hörner weiterhin, bis sie die rauhen Schreie der Verfolger hören konnten, wenn die Hörner eine Pause einlegten. Schließlich erreichten die Menschen die Spitze eines Hügels in dem Moment, in dem auf dem nächsten Hügel hinter ihnen Trollocs erschienen. Die Hügelspitze war im Nu schwarz von Trollocs mit ihren Tierschnauzen, die mit verzerrten Fratzen heulten, und über allen thronten drei Myrddraal. Nur hundert Spannen trennten die beiden Gruppen.
Rands Herz verschrumpelte wie eine alte Traube. Drei!
Die schwarzen Schwerter der Myrddraal hoben sich gleichzeitig. Eine Woge von Trollocs schäumte den Hang hinunter. Heftige, triumphierende Schreie erklangen, und schlingenbewehrte Stangen hüpften über ihren Köpfen beim Rennen auf und ab.
Moiraine kletterte von Aldiebs Rücken. Ruhig zog sie etwas aus ihrem Brustbeutel und packte es aus. Rand sah dunkles Elfenbein schimmern. Das Angreal. Mit dem Angreal in der einen Hand und dem Stab in der anderen stellte sich die Aes Sedai entschlossen hin, sah den heranrennenden Trollocs und den schwertschwingenden Blassen kühl entgegen, hob ihren Stab in die Luft und rammte ihn in die Erde.
Der Boden erzitterte und klang wie ein Eisenkessel, der von einem Holzhammer getroffen wird. Das hohle Klingen wurde schwächer und verschwand. Einen Augenblick lang war alles still. Alles schwieg, Der Wind erstarb. Die Schreie der Trollocs verstummten; sogar ihre Attacke verlangsamte sich und kam zum Stehen. Einen Herzschlag lang wartete alles. Langsam kehrte das stumpfe Klingen wieder, änderte sich zu einem leisen Rumpeln und wuchs an, bis die Erde aufstöhnte.
Der Boden erzitterte unter Wolkes Hufen. Das war das Werk einer Aes Sedai, wie es im Buch stand. Rand wünschte sich hundert Meilen weit fort. Das Zittern wurde zu einem Beben, das die Bäume um sie herum wanken ließ. Der Graue stolperte und stürzte beinahe. Sogar Mandarb und die reiterlose Aldieb torkelten wie betrunken, und diejenigen, die auf ihren Pferden saßen, mußten sich an Zügeln und Mähnen festklammern, an alles, was sie ergreifen konnten, um nicht aus dem Sattel zu fallen.
Die Aes Sedai stand immer noch wie zu Anfang, hielt das Angreal und den aufrecht in der Hügelspitze steckenden Stab, und weder sie noch der Stab bewegten sich auch nur eine Handbreit von ihrem Platz, obwohl der Boden wankte und um sie herum erzitterte. Nun wölbte sich der Boden von ihrem Stab weg; wie auf einem Teich rollten Wellen auf die Trollocs zu, Wellen, die schnell wuchsen, alte Büsche wegschwemmten, abgestorbene Blätter hochwirbelten, weiterwuchsen und als Erdwogen auf die Trollocs zuschwemmten. Die Bäume im Talkessel knickten wie Streichhölzer. Auf dem Abhang stürzten ganze Scharen von Trollocs zu Boden und überschlugen sich im Wüten der Erde.
Doch als erhöbe sich der Boden überhaupt nicht, so bewegten sich die Myrddraal nebeneinander vorwärts. Ihre nachtschwarzen Pferde verloren ihren Rhythmus nicht; sie hoben jeden Huf im Gleichschritt. Trollocs rollten um die schwarzen Reittiere auf dem Boden herum, heulten und griffen nach der kahlen Erde, die sich unter ihnen aufbäumte, doch die Myrddraal ritten langsam weiter.
Moiraine hob ihren Stab, und die Erde beruhigte sich, doch sie war nicht fertig. Sie zeigte auf den Einschnitt zwischen den Hügeln, und Flammen schossen aus dem Boden — eine zwanzig Fuß hohe Flammenfontäne. Sie breitete die Arme aus, und das Feuer breitete sich ebenfalls nach rechts und links aus, so weit das Auge blicken konnte. Es wurde zu einer Wand, die Menschen und Trollocs voneinander trennte. Die Hitze war so stark, daß Rand selbst oben auf dem Hügelkamm die Hände vors Gesicht schlug. Die schwarzen Reittiere der Myrddraal, welche seltsamen Kräfte sie auch immer besitzen mochten, wieherten wild, bäumten sich auf und kämpften gegen ihre Reiter an, obwohl die Myrddraal auf sie einschlugen und versuchten, sie durch die Flammenwand hindurchzuzwingen. »Blut und Asche«, sagte Mat mit ersterbender Stimme. Rand nickte betäubt.
Plötzlich wankte Moiraine und wäre gefallen, wäre nicht Lan von seinem Pferd gesprungen und hätte sie aufgefangen. »Reitet weiter«, sagte er zu den anderen. Die Härte seiner Stimme stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu der Sanftheit, mit der er die Aes Sedai in ihren Sattel hob. »Das Feuer wird nicht ewig brennen! Beeilt euch! Jede Minute zählt!«
Die Flammenwand tobte, als wolle sie tatsächlich die Ewigkeit überdauern, aber Rand widersprach nicht. Sie galoppierten nach Norden, so schnell ihre Pferde nur konnten. Die Hörner schrillten in einiger Entfernung ihre Enttäuschung in den Himmel, als wüßten sie bereits, was geschehen war, und dann schwiegen sie.
Lan und Moiraine holten die anderen schnell ein, auch wenn Lan Aldieb am Zügel führte, während die Aes Sedai schwankte und sich mit beiden Händen an das Sattelhorn klammerte. »Ich bin bald wieder in Ordnung«, sagte sie auf ihre besorgten Blicke hin. Sie klang müde, aber selbstbewußt, und ihr Blick war so unwiderstehlich wie immer. »Ich bin nicht so stark, wenn ich mit Erde und Feuer arbeiten muß. Eine Kleinigkeit.«
Die beiden begaben sich in schnellem Schritt wieder an die Spitze. Rand glaubte nicht, daß Moiraine bei noch höherem Tempo im Sattel hätte bleiben können. Nynaeve ritt nach vorn neben die Aes Sedai und hielt sie mit einer Hand aufrecht. Eine Weile lang, während sie über weitere Hügel ritten, flüsterten die beiden Frauen miteinander, dann suchte die Seherin in den Taschen ihres Umhangs und gab Moiraine ein kleines Päckchen. Moiraine entfaltete es und schluckte den Inhalt. Nynaeve sagte noch etwas zu ihr und ließ sich dann zu den anderen zurückfallen, ohne auf ihre neugierigen Blicke zu achten. Trotz der äußeren Umstände glaubte Rand, bei ihr einen leichten Ausdruck von Befriedigung zu entdecken.
Es war ihm eigentlich gleichgültig, was die Seherin machte. Er rieb ständig über den Griff seines Schwertes, und wenn es ihm bewußt wurde, dann blickte er staunend darauf hinunter. So also ist eine Schlacht. Er konnte sich kaum an etwas erinnern, jedenfalls nicht an irgendeine bestimmte Einzelheit. Alles floß in seinem Kopf zu einem Brei zusammen, einer geschmolzenen Masse von haarigen Gesichtern und Angst. Angst und Hitze. Während des Kampfes war es ihm so heiß vorgekommen wie an einem Mittsommermittag. Er konnte das nicht verstehen. Der eisige Wind versuchte, Schweißperlen an seinem Körper und Gesicht anzufrieren.
Er sah seine beiden Freunde an. Mat wischte sich mit einem Zipfel seines Umhangs Schweiß von der Stirn. Perrin, der in die Ferne zu blicken schien und offensichtlich den Anblick nicht gerade schön fand, war sich wohl nicht bewußt, daß auch auf seiner Stirn Schweißperlen glitzerten.
Die Hügel wurden flacher, und das Land wandelte sich langsam zu einer Ebene, doch anstatt flott weiterzureiten, hielt Lan an. Nynaeve wollte wieder an Moiraines Seite reiten, doch der Blick des Behüters hielt sie davon ab. Er und die Aes Sedai ritten ein wenig voraus und steckten wieder die Köpfe zusammen. Aus Moiraines Gesten wurde ersichtlich, daß sie sich stritten. Nynaeve und Thom beobachteten sie. Die Seherin zog besorgt die Stirn in Falten. Der Gaukler führte Selbstgespräche und blickte immer mal wieder zurück. Die anderen vermieden es, Lan und Moiraine überhaupt anzusehen. Wer wußte schon, was aus einem Streit zwischen einer Aes Sedai und einem Behüter entstehen konnte?
Nach ein paar Minuten sprach Egwene Rand leise an, wobei sie einen unangenehm berührten Blick auf das sich immer noch streitende Paar warf. »Diese Sachen, die Ihr den Trollocs entgegengeschrien habt...« Sie hielt inne, als sei sie nicht sicher, wie sie fortfahren solle.
»Was ist damit?« fragte Rand. Er fühlte sich schon ein wenig eigenartig dabei — Kriegsgeschrei mochte für die Behüter selbstverständlich sein, aber Leute von den Zwei Flüssen taten so etwas nicht, was auch immer Moiraine sagte — doch wenn sie sich deswegen über ihn lustig machte... »Mat muß diese Geschichte doch schon zehnmal wiederholt haben.«
»Und zwar schlecht«, warf Thom ein. Mat brummte protestierend.
»Wie er sie auch erzählt haben mag«, sagte Rand, »wir haben sie jedenfalls alle oft genug gehört. Außerdem mußten wir einfach irgend etwas rufen. Ich meine, das tut man eben in dem Fall. Du hast ja Lan gehört.«
»Und wir haben ein Anrecht darauf«, fügte Perrin gedankenverloren hinzu. »Moiraine sagt, daß wir alle Nachkommen dieser Leute von Manetheren sind. Sie haben gegen den Dunklen König gekämpft, und wir kämpfen gegen den Dunklen König. Das gibt uns doch ein Recht darauf!«
Egwene schnaubte verächtlich, als wolle sie zeigen, was sie davon hielt. »Davon habe ich doch gar nicht gesprochen. Was... was hast du denn eigentlich gerufen, Mat?«
Mat zuckte unsicher die Achseln. »Ich kann mich nicht erinnern.« Er sah sie um Rechtfertigung heischend an. »Na ja, es geht eben nicht. Alles ist verschwommen. Ich weiß nicht, was es war oder woher es kam oder was es bedeutet.« Er lachte über sich selbst. »Ich schätze, es hat nichts zu bedeuten.«
»Doch... ich glaube, es bedeutet etwas«, sagte Egwene langsam. »Als ihr geschrien habt, dachte ich einen Augenblick lang — ich verstünde euch. Aber nun ist alles wie weggeblasen.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Vielleicht hast du recht. Seltsam, was man sich in einer solchen Situation alles einbilden kann, nicht wahr?«
»Carai an Caldazar«, sagte Moiraine. Alle drehten die Köpfe zu ihr und sahen sie an. »Carai an Ellisande. Al Ellisande. Zur Ehre des Roten Adlers. Zur Ehre der Rose der Sonne. Die Rose der Sonne. Der uralte Schlachtruf von Manetheren und der Schlachtruf seines letzten Königs. Eldrene nannte man die Rose der Sonne.« Moiraines Lächeln galt Mat und Egwene, obwohl ihr Blick vielleicht etwas länger auf ihm ruhte. »Das Blut von Arads Familie rinnt immer noch in den Adern der Menschen der Zwei Flüsse. Das alte Blut singt immer noch.«
Mat und Egwene sahen einander an, und alle anderen sie beide. Egwene machte große Augen, und ihr Mund verzog sich immer wieder zum Anflug eines Lächelns. Sie verbiß es sich immer wieder, als sei sie nicht sicher, wie sie dieses Gespräch über das alte Blut verstehen solle. Mat dagegen war sich sicher, wie man an seiner finsteren Miene ablesen konnte.
Rand glaubte zu wissen, woran Mat dachte. Er dachte das gleiche. Wenn Mat ein Nachkomme der alten Könige von Manetheren war, dann waren die Trollocs vielleicht hinter ihm her und nicht hinter allen dreien. Er schämte sich bei diesem Gedanken. Seine Wangen röteten sich, und als er sah, wie schuldbewußt Perrin das Gesicht verzog, da wußte er, daß Perrin derselbe Gedanke gekommen war. »Ich kann nicht behaupten, daß ich je von so etwas gehört habe«, sagte Thom nach einer Weile. Er schüttelte sich, und sein Tonfall wurde wieder nüchtern. »Zu einer anderen Zeit würde ich möglicherweise eine Geschichte daraus machen, aber im Moment... Plant Ihr, den Rest des Tages hier zu verbringen, Aes Sedai?«
»Nein«, antwortete Moiraine und ergriff ihre Zügel.
Als wolle es ihre Worte unterstreichen, ertönte von Süden her ein Trolloc-Horn. Weitere Hörner antworteten aus Osten und Westen. Die Pferde wieherten leise und tänzelten nervös.
»Sie haben das Feuer passiert«, sagte Lan ruhig. Er wandte sich Moiraine zu: »Ihr seid nicht stark genug für das, was Ihr vorhabt, jedenfalls noch nicht. Nicht ohne Euch ausgeruht zu haben. Und weder Myrddraal noch Trolloc wird diesen Ort betreten.«
Moiraine hob eine Hand, als wolle sie ihn unterbrechen, seufzte aber dann und ließ sie wieder fallen. »Also gut«, sagte sie gereizt. »Ich schätze, du hast recht, aber mir wäre es lieber, wenn wir eine andere Wahl hätten.« Sie zog ihren Stab aus der Gurtschlinge ihres Sattels. »Kommt alle her zu mir. So nahe Ihr könnt! Noch näher!«
Rand trieb Wolke näher an die Stute der Aes Sedai heran. Moiraine bestand darauf, daß sie sich in einem engen Kreis um sie herum versammelten, so daß der Kopf jedes Pferdes über Kruppe oder Widerrist eines anderen hinwegragte. Erst dann war die Aes Sedai zufrieden. Dann stellte sie sich in ihre Steigbügel und schwang wortlos den Stab über ihre Köpfe. Sie streckte sich, damit auch jeder vollkommen einbezogen wurde.
Rand zuckte jedesmal zusammen, wenn der Stab über ihn hinwegging. Bei jedem Kreis durchrann ihn ein Prickeln. Er hätte der Bewegung des Stabs folgen können, ohne ihn zu sehen, nur durch das fortlaufende Zittern der Menschen unter ihm. Es überraschte ihn nicht, daß Lan der einzige war, den der Stab nicht beeinflußte.
Plötzlich streckte Moiraine den Stab nach Westen aus. Abgestorbene Blätter wirbelten durch die Luft, und Äste peitschten sie, als folge ein Luftwirbel der Richtung ihres Stabs. Als der unsichtbare Wirbelwind in der Entfernung verschwand, setzte sie sich mit einem Seufzer wieder im Sattel zurecht. »Den Trollocs«, sagte sie, »wird es erscheinen, als folgten unsere Spuren und Gerüche diesem Wind. Der Myrddraal wird es nach einer Weile durchschauen, aber bis dahin... «
»Bis dahin«, sagte Lan, »haben sie uns längst verloren.«
»Euer Stab ist sehr mächtig«, sagte Egwene, was ihr ein Schnauben von Nynaeve einbrachte.
Moiraine schnalzte mit der Zunge. »Ich habe dir gesagt, Kind, daß Dinge keine Macht haben. Die Eine Macht kommt aus der Wahren Quelle, und nur ein lebendiger Verstand kann sie anwenden. Das hier ist nicht einmal ein Angreal, sondern lediglich eine Konzentrationshilfe.« Müde steckte sie den Stab wieder in die Gurtschlaufe. »Lan?«
»Folgt mir«, sagte der Behüter, »und verhaltet euch still. Wenn die Trollocs uns hören, verdirbt es alles.«
Er führte sie wieder nach Norden, nicht in dem ermüdenden Tempo von zuvor, sondern eher in dem schnellen Schritt wie auf der Straße nach Caemlyn. Das Land wurde immer flacher; nur der Wald blieb genauso dicht.
Ihr Weg führte sie nicht mehr geradeaus wie zuvor. Lan wählte eine Route, die sich in Schlangenlinien über festen Boden und Felsausläufer wand. Er ließ sie auch nicht mehr durch das Unterholz reiten und nahm sich statt dessen die Zeit, es zu umgehen. Von Zeit zu Zeit ließ er sich an das Ende ihrer Reihe zurückfallen und betrachtete eingehend ihre Spuren. Wenn jemand auch nur hustete, brachte ihm das ein hartes Räuspern Lans ein.
Nynaeve ritt neben der Aes Sedai und machte ein Gesicht, als könne sie sich nicht zwischen Abneigung und Fürsorge entscheiden.
Und da war noch eine Andeutung von etwas anderem, dachte Rand, so, als sei für die Seherin irgendein Ziel in Sicht. Moiraines Schultern hingen nach unten, und sie hielt sich mit beiden Händen an Zügel und Sattel fest. Trotzdem schwankte sie bei jedem Schritt Aldiebs. Es war klar, daß sie die falsche Spur, die sie gelegt hatte, obwohl es neben dem Erdbeben und der Feuerwand nur eine ganz kleine Sache gewesen war, eine Menge Energie gekostet hatte, Energie, die zu verlieren sie sich einfach jetzt nicht mehr leisten konnte.
Rand wünschte sich schon beinahe den Klang der Hörner herbei. Zumindest konnte man daran ablesen, wie weit die Trollocs hinter ihnen zurückblieben. Und die Blassen.
Er sah immer wieder zurück, und so war er nicht der erste, der das erblickte, was vor ihnen lag. Als er es dann sah, war er verblüfft. Eine große, unregelmäßig geformte Masse erstreckte sich nach beiden Seiten, so weit das Auge blicken konnte. An den meisten Stellen war sie ebenso hoch wie die Bäume, die gleich davor wuchsen, und hier und da ragten noch höhere Spitzen daraus hervor. Kahle Schlingpflanzen und Ranken in dichten Massen bedeckten alles. Eine Klippe? Die Ranken werden uns das Klettern erleichtern, aber die Pferde bekommen wir niemals hinauf.
Plötzlich, als sie näher kamen, bemerkte er einen Turm. Es war ganz klar ein Turm und keine natürliche Felsformation. Auf der Spitze befand sich eine eigenartige, spitz zulaufende Kuppel. »Eine Stadt!« sagte er. Und eine Stadtmauer, und die Spitzen waren Wachtürme auf dieser Mauer. Sein Unterkiefer klappte herunter. Sie mußte zehnmal so groß sein wie Baerlon. Fünfzig mal so groß.
Mat nickte. »Eine Stadt«, stimmte er zu. »Aber was macht eine Stadt mitten in einem solchen Wald?«
»Und ohne Einwohner«, sagte Perrin. Als sie ihn ansahen, deutete er auf die Mauer. »Würden Einwohner Schlingpflanzen über alles hinwegwachsen lassen? Ihr wißt, wie diese Ranken eine Mauer zerstören können. Seht mal, wie sie eingefallen ist.«
Was Rand sah, ergab nun langsam ein richtiges Bild in seinem Kopf. Es war, wie Perrin gesagt hatte. Unter beinahe jedem niedrigeren Teil der Mauer befand sich ein von Unterholz überwachsener Hügel: Reste der zusammengebrochenen Mauer. Keine zwei Wachtürme hatten noch die gleiche Höhe. »Ich möchte wissen, was für eine Stadt das war«, überlegte Egwene. »Ich frage mich, was damit geschehen ist. Ich kann mich nicht erinnern, sie auf Papas Landkarte gesehen zu haben.«
»Sie wurde Aridhol genannt«, sagte Moiraine. »In den Tagen der Trolloc-Kriege war sie ein Verbündeter von Manetheren.« Sie betrachtete die massive Mauer so intensiv, daß sie sich der anderen kaum bewußt schien, nicht einmal Nynaeves, die sie mit einem Arm im Sattel stützte. »Später starb Aridhol, und dieser Ort erhielt einen anderen Namen.«
»Welchen Namen?« fragte Mat.
»Hier«, sagte Lan. Er hielt Mandarb vor etwas an, das früher wohl ein so breites Tor gewesen war, daß fünfzig Männer nebeneinander hindurchmarschieren konnten. Nur die zerfallenen, von Schlingpflanzen überwucherten Wachtürme waren geblieben; es war kein Überrest der Torflügel zu sehen. »Hier reiten wir hinein.« In einiger Entfernung schrillten Trolloc-Hörner auf. Lan spähte in die Richtung, aus der die Hörnerklänge kamen, und sah dann zur Sonne hoch, die sich bereits auf halbem Weg abwärts zu den Baumwipfeln im Westen befand. »Sie haben herausgefunden, daß es eine falsche Spur war. Kommt, wir müssen vor der Dunkelheit noch einen Unterschlupf finden.«
»Welchen Namen?« fragte Mat noch einmal.
Moiraine antwortete, während sie in die Stadt hineinritten. »Shadar Logoth«, sagte sie. »Sie wird Shadar Logoth genannt.«