14 Zum ›Hirsch und Löwen‹

Im Innern war die Schenke mindestens so belebt, wie es die Geräusche von draußen schon angedeutet hatten. Die Gesellschaft aus Emondsfeld folgte Meister Fitch durch den Hintereingang und mußte sich bald neben und zwischen einem Strom von Männern und Frauen in langen Schürzen hindurchwinden, die ihre Tabletts mit Essen und Getränken hoch über die Köpfe hielten. Die Träger murmelten hastige Entschuldigungen, wenn sie jemandem im Weg waren, aber sie mäßigten ihre Schritte keineswegs. Einer der Männer erhielt eilige Anweisungen von Meister Fitch und verschwand im Trab.

»Ich fürchte, die Schenke ist beinahe voll«, sagte der Wirt zu Moiraine. »Fast bis zum Dach. Jede Schenke in der Stadt ist überfüllt. Bei dem Winter, den wir hinter uns haben... Na ja, sobald das Wetter so gut war, daß man aus den Bergen herunterkommen konnte, wurden wir regelrecht überschwemmt — ja, das ist das richtige Wort -, überschwemmt von Bergleuten und Schmelzern, die alle die schlimmsten Geschichten erzählten. Wölfe und noch Schlimmeres. Eben die Sachen, die Männer erzählen, wenn sie den ganzen Winter über miteinander eingesperrt waren. Ich kann nicht glauben, daß dort oben noch irgend jemand lebt, so viele haben wir hier. Aber keine Angst. Es mag ein wenig eng zugehen, aber ich werde mein Bestes für Euch und Meister Andra tun. Und natürlich auch für Eure Freunde.« Er sah Rand und die anderen ein- oder zweimal neugierig an; außer in Thoms Fall wies die Kleidung sie als Landvolk aus, und Thoms Gauklerumhang machte ihn für ›Frau Alys‹ und ›Meister Andra‹ zu einem höchst eigenartigen Reisebegleiter. »Ich werde mein Bestes tun, da könnt Ihr sicher sein.«

Rand beobachtete das Treiben rundum und bemühte sich zu vermeiden, daß jemand ihn über den Haufen rannte, obwohl die Helfer eigentlich nicht den Eindruck machten. Er mußte daran denken, wie Meister al'Vere und seine Frau die Weinquellenschenke lediglich mit gelegentlicher Hilfe ihrer Töchter geführt hatten.

Mat und Perrin verdrehten sich die Hälse in Richtung auf den Schankraum, aus dem jedesmal eine Welle von Gelächter, Gesang und freundschaftlichem Geschrei erklang, wenn die breite Tür am Ende des Flurs sich öffnete. Nachdem er etwas wie ›Neuigkeiten erfahren‹ gemurmelt hatte, verschwand der Behüter mit ernster Miene durch diese Schwingtür und wurde von einer Welle der Fröhlichkeit verschluckt.

Rand wäre ihm gern gefolgt, doch noch mehr sehnte er sich nach einem heißen Bad. Leute und Gelächter wären ihm wohl gerade recht gewesen, doch die Gäste im Schankraum würden seine Gegenwart in sauberem Zustand noch mehr begrüßen. Mat und Perrin wurden offensichtlich von denselben Gedanken bewegt; Mat kratzte sich verstohlen.

»Meister Fitch«, sagte Moiraine, »ich habe gehört, daß sich Kinder des Lichts in Baerlon aufhalten. Könnte es Schwierigkeiten geben?«

»Oh, macht Euch keine Sorgen deswegen, Frau Alys. Sie machen viel Aufhebens, wie üblich. Behaupten, daß eine Aes Sedai in der Stadt sei.« Moiraine hob eine Augenbraue, und der Wirt breitete die fetten Hände aus. »Sorgt Euch nicht. Sie haben das auch früher schon behauptet. Es gibt keine Aes Sedai in Baerlon, und der Statthalter weiß das. Die Weißmäntel glauben, wenn sie eine Aes Sedai vorweisen oder eine Frau, von der sie das behaupten, dann wird man sie in unsere Mauern hereinlassen. Na ja, ich schätze, einige täten das gern. Einige schon. Aber die meisten Leute wissen, was die Weißmäntel vorhaben, und sie unterstützen den Statthalter. Keiner will, daß irgendeine harmlose alte Frau verletzt wird, damit die Kinder eine Ausrede dafür haben, die Leute aufzuhetzen.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Moiraine trocken. Sie legte eine Hand auf den Arm des Wirts. »Ist Min noch da? Wenn ja, möchte ich gern mit ihr sprechen.«

Rand konnte Meister Fitchs Antwort nicht verstehen, da in diesem Moment Bedienstete ankamen, die sie ins Bad führen sollten. Moiraine und Egwene verschwanden im Schlepptau einer molligen Frau mit offenem Lächeln und einer Ladung Handtücher auf dem Arm. Der Gaukler, Rand und seine Freunde wurden von einem schlanken dunkelhaarigen Burschen namens Ara geleitet. Rand versuchte, Ara über Baerlon auszufragen, doch der Mann war ziemlich einsilbig. Er erwähnte nur, daß Rand einen eigenartigen Akzent habe, und dann vertrieb der erste Anblick des Baderaums alle Gedanken an ein Gespräch aus Rands Kopf. Ein Dutzend hoher Kupferbadewannen stand im Kreis auf dem mit Platten belegten Fußboden, der sich leicht zu einem Abfluß in der Mitte des großen Raums mit hohen Steinwänden neigte. Auf einem Hocker hinter jeder Wanne lagen ein dickes Handtuch und ein großes Stück gelber Seife, und an einer Wand standen große schwarze Eisenkessel voll Wasser auf geöffneten Herdplatten. An der Wand gegenüber flammten Holzscheite in einem tiefen offenen Kamin, der noch zu der Wärme im Raum beitrug.

»Fast so gut wie die Weinquellenschenke zu Hause«, sagte Perrin gönnerhaft, wenn auch nicht gerade besonders wahrheitsgemäß. Thom lachte schallend, und Mat spöttelte: »Es klingt, als hätten wir einen Coplin mitgebracht, ohne es zu merken.«

Rand legte seinen Umhang ab und zog sich aus, während Ara vier der Kupferbadewannen füllte. Auch die anderen zögerten nicht und taten es Rand nach, der als erster seine Wanne auswählte. Sobald die Kleider auf den Hockern aufgestapelt lagen, brachte Ara jedem einen großen Eimer heißen Wassers und eine Schöpfkelle. Danach setzte er sich auf einen Hocker neben der Tür, lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand und blieb so in Gedanken versunken sitzen.

Während sie den Schmutz einer Woche wegschrubbten und mit Kellen voll heißen Wassers wegspülten, kam kaum ein Gespräch auf. Dann setzten sie sich hinein in die Wannen, um sich darin lange Zeit zu aalen. Ara hatte das Wasser so erhitzt, daß es unter Seufzern des Wohlbefindens eine Weile dauerte, bis sie endlich drin lagen. Die sowieso schon warme Luft im Raum wurde langsam feucht und heiß. Lange Zeit hörte man überhaupt nichts, bis auf ein gelegentliches langes Ausatmen, wenn sich verspannte Muskeln lösten und das Frösteln, das sie schon für gegeben erachtet hatten, aus ihren Knochen verschwand.

»Braucht ihr noch was?« fragte Ara plötzlich. Er hatte keinen Anlaß, sich über die Akzente anderer auszulassen, denn er und Meister Fitch klangen, als hätten sie den Mund voll Brei. »Mehr Handtücher? Noch heißes Wasser?«

»Nichts«, sagte Thom in seiner volltönenden Stimme. Die Augen geschlossen, wedelte er großzügig mit der Hand. »Geht und genießt den Abend. Später werde ich dafür sorgen, daß Ihr für Eure Dienste mehr als großzügig entlohnt werdet.« Er rutschte tiefer in die Wanne hinein, bis er bis auf Augen- und Nasenhöhe von Wasser bedeckt war.

Ara betrachtete die Hocker hinter den Wannen, auf denen Kleider und sonstigen Besitztümer aufgestapelt lagen. Er sah den Bogen an, doch am längsten verweilte sein Blick auf Rands Schwert und Perrins Axt. »Gibt es da unten, wo ihr herkommt, auch Unruhen?« fragte er plötzlich. »In den Flüssen oder wie ihr es nennt?«

»Die Zwei Flüsse«, sagte Mat, wobei er jedes Wort betonte. »Es heißt: die Zwei Flüsse. Was Unruhen betrifft, warum... «

»Was meinst du mit ›auch‹?« fragte Rand. »Gibt es hier irgendwelche Unruhen?«

Perrin, der das Liegen in der Wanne sichtlich genoß, murmelte: »Gut! Gut!« Thom richtete sich ein wenig auf und öffnete die Augen.

»Hier?« schnaubte Ara. »Unruhen? Bergleute, die sich in der Morgendämmerung auf der Straße prügeln, bedeuten noch keine Unruhen. Oder... « Er schwieg und blickte sie einen Moment lang an. »Ich meinte die Art von Unruhen wie in Ghealdan«, erklärte er schließlich. »Nein, bei euch wahrscheinlich nicht. Nichts als Schafe da unten, wie? Nicht böse gemeint... Ich meinte einfach, daß es bei euch wahrscheinlich ruhig ist. Aber es war schon ein eigenartiger Winter. Seltsame Geschichten in den Bergen. Neulich hörte ich, daß oben in Saldaea Trollocs aufgetaucht sind. Aber das ist natürlich eines der Grenzlande, nicht wahr?« Er redete nicht weiter, ließ den Mund zunächst offen und klappte ihn dann zu, als sei er selbst überrascht, soviel geredet zu haben.

Rand hatte sich bei dem Wort Trollocs verkrampft, aber er bemühte sich, es zu verbergen, indem er seinen Waschlappen über dem Kopf auswand. Als der Bursche weitersprach, entspannte er sich wieder. Aber nicht alle hielten den Mund.

»Trollocs?« gluckste Mat. Rand spritzte mit Wasser nach ihm, doch Mat wischte es sich nur grinsend aus dem Gesicht. »Laß mich erstmal von Trollocs erzählen!«

Zum ersten Mal, seit er in die Wanne geklettert war, sprach Thom. »Warum kannst du das nicht lassen? Ich bin es allmählich leid, meine eigenen Geschichten von dir wieder zu hören.«

»Er ist ein Gaukler«, sagte Perrin, worauf Ara ihm einen verächtlichen Blick zuwarf.

»Ich habe den Mantel gesehen. Werdet Ihr Eure Kunst hier zeigen?«

»Augenblick mal!« protestierte Mat. »Was soll das heißen, daß ich Thoms Geschichten erzähle? Seid ihr alle... «

»Du erzählst sie eben nicht so gut wie Thom«, schnitt ihm Rand hastig das Wort ab, und Perrin hieb in dieselbe Kerbe. »Du fügst immer Sachen hinzu, um die Geschichten zu verbessern, aber das schaffst du nicht.«

»Und dann bringst du auch noch alles durcheinander«, fügte Rand hinzu. »Überlaß das am besten Thom.«

Sie sprachen alle so schnell, daß Ara sie mit offenem Mund anstarrte. Mat blickte ganz verwirrt drein, als seien alle anderen plötzlich verrückt geworden. Rand fragte sich, wie man ihn wohl zum Schweigen bringen könne, ohne sich mit ihm zu streiten.

Die Tür schlug auf, und Lan trat ein, den braunen Mantel über die Schulter geworfen. Mit ihm kam ein Schwall kühler Luft, der für einen Augenblick den Dampf im Raum etwas lichtete. »Also«, sagte der Behüter und rieb sich die Hände, »genau darauf habe ich gewartet.« Ara ergriff einen Eimer, doch Lan winkte ihm zu, er solle es lassen. »Nein, ich werde mich selbst darum kümmern.« Er ließ seinen Umhang auf einen der Hocker fallen, beförderte den Bediensteten trotz seines Protestes aus dem Raum und schloß die Tür fest hinter ihm zu. Er wartete ein paar Augenblicke an der Tür, den Kopf zum Lauschen geneigt, und als er sich dann wieder den anderen zuwandte, war seine Stimme kalt, und seine Augen funkelten Mat an. »Es ist gut, daß ich gerade in diesem Augenblick zurückgekommen bin, Bauernjunge. Hörst du nie auf das, was man dir sagt?«

»Ich habe doch nichts getan«, protestierte Mat. »Ich wollte ihm bloß gerade von den Trollocs erzählen und nicht von... « Er hielt inne und lehnte sich unter dem Blick des Behüters gegen die Rückseite der Wanne.

»Sag nichts über Trollocs!« befahl Lan ernst. »Denk nicht einmal an Trollocs.« Mit ärgerlichem Schnauben begann er, eine Wanne für sich zu füllen »Blut und Asche, ihr solltet euch besser daran erinnern, daß der Dunkle König Augen und Ohren hat, wo man sie am wenigsten erwartet. Und wenn die Kinder des Lichts hören, daß hinter dir die Trollocs her sind, dann brennen sie darauf, dich in die Finger zu bekommen. Für sie würde es im Grunde dasselbe bedeuten, als würde man dich Schattenfreund nennen. Auch wenn es euch schwerfällt -bis wir unser Ziel erreicht haben, traut niemandem, außer Frau Alys oder ich sagen euch etwas anderes.« Mat zuckte zusammen, als er den Namen betonte, den Moiraine hier benutzte.

»Das war etwas, das uns dieser Bursche nicht sagen wollte«, erklärte Rand. »Etwas, das er als Unruhen bezeichnete, aber er wollte nicht sagen, was es war.«

»Vielleicht die Kinder«, sagte Lan und goß heißes Wasser in die Wanne. »Die meisten Leute betrachten sie als Unruhestifter. Ein paar allerdings nicht, und er kannte euch nicht lange genug, um etwas zu riskieren. Was wußte er schon? Ihr hättet ja gleich zu den Weißmänteln rennen können.«

Rand schüttelte den Kopf. Dieser Ort schien bereits jetzt schlimmer zu sein, als Taren-Fähre jemals werden konnte. »Er sagte, es seien Trollocs in... in Saldaea, nicht wahr?« sagte Perrin. Lan warf den leeren Eimer zu Boden, daß es krachte. »Ihr müßt wohl einfach darüber reden, was? In den Grenzlanden gibt es immer Trollocs, Schmied. Und jetzt begreift endlich, daß wir nicht mehr Aufmerksamkeit erregen wollen als eine Maus auf dem Acker. Vergeßt das nicht. Moiraine will euch alle lebend nach Tar Valon bringen und ich natürlich auch, wenn irgend möglich, aber falls ihr Moiraine Schwierigkeiten macht... «

Der Rest ihres Badevergnügens spielte sich schweigend ab, genau wie nachher das Anziehen.

Als sie den Baderaum verließen, stand Moiraine mit einem schlanken Mädchen, kaum größer als sie selbst, am Ende des Flurs. Zumindest hielt Rand sie für ein Mädchens obwohl das schwarze Haar kurzgeschnitten war und sie ein Männerhemd und Männerhosen trug. Moiraine sagte etwas, das Mädchen betrachtete die Männer einen Moment lang genau, nickte Moiraine zu und eilte davon.

»Na also«, sagte Moiraine, als sie näher kamen, »ich bin sicher, das Bad hat euch allen Appetit gemacht. Meister Fitch hat ein eigenes Eßzimmer für uns vorbereitet.« Sie unterhielt sich weiter über belanglose Dinge mit ihnen, während sie ihnen den Weg zeigte: über ihre Zimmer und die vielen Leute im Ort und daß der Wirt hoffe, Thom werde im Schankraum musizieren und ein, zwei Geschichten zum besten geben. Sie erwähnte das Mädchen nicht, falls es überhaupt ein Mädchen gewesen war. Der private Speisesaal wies einen großen glänzenden Eichentisch auf, um den ein Dutzend Stühle stand. Auf dem Boden lag ein dicker Teppich. Als sie eintraten, drehte sich eine frischgewaschene Egwene mit glänzendem, feuchtem, glatt ausgekämmtem Haar nach ihnen um. Sie hatte sich die Hände an dem im Herd prasselnden Feuer gewärmt. Rand hatte während der langen Stille im Baderaum viel Zeit zum Nachdenken gehabt.

Lans ständige Mahnungen, niemandem zu trauen, und besonders die Tatsache, daß Ara davor zurückscheute, ihnen zu vertrauen, hatten ihm klargemacht, wie einsam sie nun wirklich waren. Es schien, als könnten sie wirklich niemandem außer sich selbst trauen, und er war sich immer noch nicht sicher, inwieweit sie Moiraine oder Lan vertrauen konnten. Nur auf sich allein gestellt. Und Egwene war immer noch Egwene. Moiraine behauptete, es sei so oder so geschehen, daß sie die Wahre Quelle berühren würde. Sie konnte das nicht bestimmen, und das hieß: Es war nicht ihre Schuld. Und sie war immer noch dieselbe Egwene wie vorher.

Er öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, doch Egwene versteifte sich und wandte ihm den Rücken zu, bevor er ein Wort herausbringen konnte. Er blickte mürrisch ihren Rücken an und schluckte hinunter, was er hatte sagen wollen. Auch gut. Wenn sie es so will, dann kann ich nichts daran ändern.

Meister Fitch schlüpfte herein. Vier Frauen in weißen Schürzen folgten ihm. Sie trugen ein Tablett mit drei Brathähnchen, Silberbestecken, verdeckten Schüsseln und Steinguttellern. Die Frauen begannen sofort mit dem Tischdecken. Derweil verbeugte sich der Wirt vor Moiraine.

»Entschuldigt vielmals, Frau Alys, daß ich Euch so warten ließ, aber bei so vielen Gästen in meiner Schenke wundere ich mich manchmal, daß überhaupt jemand bedient wird. Ich fürchte, das Essen ist auch nicht das, was Euch gebührte. Nur die Hähnchen, ein paar Rüben und Erbsen und hinterher ein wenig Käse. Nein, es ist wirklich nicht das, was es sein sollte. Ich möchte mich ehrlich entschuldigen.«

»Ein Festessen.« Moiraine lächelte. »In diesen schweren Zeiten ist das aber wirklich ein Festessen, Meister Fitch.«

Der Wirt verbeugte sich wieder. Sein büscheliges Haar, das nach allen Seiten abstand, als fahre er ständig mit den Händen hindurch, machte die Verbeugung eher komisch, doch sein Grinsen war so sympathisch, daß jeder, der lachte, mit ihm und nicht über ihn lachte. »Vielen Dank, Frau Alys, vielen Dank!« Als er sich aufrichtete, runzelte er die Stirn und wischte mit einem Schürzenzipfel ein eingebildetes Staubkorn vom Tisch. »Natürlich ist es nicht das, was ich Euch noch vor einem Jahr auf den Tisch gestellt hätte. Nicht annähernd. Der Winter. Ja, der Winter. Meine Keller sind fast leer, und auf dem Markt gibt es kaum etwas zu kaufen. Aber wer kann es den Bauern übel nehmen? Wer? Niemand kann vorhersagen, wann sie wieder eine Ernte einfahren können. Niemand weiß es. Und die Wölfe bekommen das Hammelfleisch oder Rindfleisch, das eigentlich auf den Tischen der Menschen landen sollte, und... «

Plötzlich schien ihm bewußt zu werden, daß dies wohl kaum das richtige Thema war, um seine Gäste zu einem angenehmen Mahl zu laden. »Ich lasse mich wieder einmal hinreißen. Ein alter Windbeutel bin ich. Mari, Cinda, laßt diese guten Leute in Ruhe speisen.« Gestenreich scheuchte er die Frauen aus dem Raum, und als sie hinauseilten, wandte er sich erneut Moiraine zu und verbeugte sich. »Ich hoffe, Ihr genießt das Mahl, Frau Alys. Falls Ihr irgend etwas anderes braucht, dann sagt es nur, und ich werde es besorgen. Sagt nur, was Ihr braucht. Es ist ein Vergnügen, Euch und Meister Andra zu bedienen. Ein Vergnügen.« Er verbeugte sich noch einmal tief und war weg. Sanft schloß sich die Tür hinter ihm.

Lan hatte sich währenddessen an die Wand gelehnt, als schliefe er schon beinahe. Nun sprang er auf und war mit zwei langen Schritten an der Tür. Er drückte ein Ohr gegen ein Stück der Türverkleidung, lauschte angespannt, bis er langsam auf dreißig gezählt hatte; dann riß er die Tür auf und steckte den Kopf in den Flur. »Sie sind weg«, sagte er schließlich und schloß die Tür wieder. »Wir können frei sprechen.«

»Ich weiß, daß Ihr sagt, wir könnten keinem trauen«, sagte Egwene, »aber wenn Ihr dem Wirt mißtraut, warum bleiben wir dann hier?«

»Ich mißtraue ihm nicht mehr als jedem anderen«, erwiderte Lan. »Aber wie auch immer, bis wir Tar Valon erreichen, muß ich eben jedem mißtrauen. Dort dann nur noch jedem zweiten.«

Rand lächelte, da er glaubte, der Behüter wolle einen Scherz machen. Dann erkannte er, daß Lans Gesicht keine Spur von Humor zeigte. Er würde wohl tatsächlich selbst Menschen in Tar Valon mißtrauen. Gab es überhaupt einen sicheren Ort?

»Er übertreibt«, sagte ihnen Moiraine zur Beruhigung. »Meister Fitch ist ein guter Mann, ehrlich und vertrauenswürdig. Aber er redet gern, und auch bei den besten Absichten kann es geschehen, daß ihm etwas entschlüpft und in falsche Ohren gerät. Und ich habe mich noch nie in einer Schenke aufgehalten, in der nicht die Hälfte aller Stubenmädchen an den Türen lauschten und mehr Zeit damit verbrachten, miteinander zu klatschen, als Betten zu machen. Kommt, setzen wir uns, bevor das Essen kalt wird.«

Sie nahmen am Tisch Platz. Moiraine saß an einem Ende, Lan am anderen. Eine Zeitlang war jeder zu sehr damit beschäftigt, seinen Teller zu füllen, als daß eine Unterhaltung aufkam. Es war vielleicht kein wirkliches Festessen, aber nach fast einer Woche Fladenbrot und Trockenfleisch schmeckte alles köstlich.

Nach einer Weile fragte Moiraine: »Was hast du im Schankraum erfahren?« Messer und Gabeln verhielten mitten in der Luft in der Bewegung, und alle Augen wandten sich dem Behüter zu.

»Wenig Gutes«, antwortete Lan. »Avin hatte recht, jedenfalls bezüglich dessen, was die Leute so erzählen. Es gab eine Schlacht in Ghealdan, und Logain war der Sieger. Es sind ein Dutzend verschiedener Geschichten darüber im Umlauf, aber in diesem Punkt waren sie sich alle einig.«

Logain? Das mußte der falsche Drache sein. Es war das erste Mal, daß Rand den Namen des Mannes hörte. Es klang bei Lan beinahe so, als kenne er ihn persönlich. »Die Aes Sedai?« fragte Moiraine leise, und Lan schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nichts. Einige behaupten, sie seien alle getötet worden, andere sagen, keine einzige sei umgekommen.« Er schnaubte. »Es gibt sogar welche, die behaupten, sie seien zu Logain übergelaufen. Es gibt keine zuverlässigen Informationen, und ich wollte auch nicht zuviel Interesse zeigen.«

»Ja«, sagte Moiraine, »wenig Gutes also.« Sie atmete tief ein und war wieder hellwach. »Und was gibt es in bezug auf uns selbst?«

»Da habe ich bessere Neuigkeiten. Keine unerklärlichen Vorkommnisse, keine Fremden in der Gegend, die vielleicht Myrddraal sein könnten, und ganz gewiß keine Trollocs. Und die Weißmäntel sind damit beschäftigt, dem Statthalter Adan Schwierigkeiten zu bereiten, weil er nicht mit ihnen zusammenarbeiten will. Sie werden uns nicht bemerken, wenn wir sie nicht selbst auf uns aufmerksam machen.«

»Gut«, sagte Moiraine. »Das stimmt mit dem überein, was das Bademädchen erzählt hat. Klatsch hat auch seine Vorzüge. Nun«, sprach sie die gesamte Gesellschaft an, »wir haben immer noch eine lange Reise vor uns, aber die letzte Woche war wirklich nicht ganz einfach. So schlage ich vor, wir bleiben heute und morgen hier und reiten früh am folgenden Morgen wieder los.« Die jüngeren unter ihnen grinsten erfreut — zum ersten Mal in einer Stadt! Moiraine lächelte. Trotzdem fragte sie: »Was hält Meister Andra davon?«

Lan sah die grinsenden Gesichter nüchtern an. »In Ordnung, falls sie sich ausnahmsweise einmal daran erinnern, was ich ihnen gesagt habe.«

Thom schnaubte durch seinen Schnurrbart. »Diese Landpomeranzen in eine... eine Stadt loslassen.« Er schnaubte nochmals und schüttelte seinen Kopf.

Da die Schenke so überfüllt war, standen für sie nur drei Zimmer zur Verfügung, eines für Moiraine und Egwene und zwei für die Männer. Rand teilte sich das Zimmer mit Lan und Thom. Es war hinten im vierten Stock, direkt unter dem überhängenden Dach, und aus dem kleinen Fenster blickte man auf den Stallhof hinab. Die Nacht hatte sich nun über die Stadt gesenkt, und das Licht aus der Schenke beleuchtete einen Teil des Hofs. Es war sowieso schon ein kleines Zimmer, und das Zusatzbett für Thom, das man hineingestellt hatte, schränkte den Raum noch mehr ein, auch wenn die Betten alle schmal waren. Und hart. Das fand Rand heraus, als er sich darauf warf. Ganz bestimmt nicht das beste Zimmer.

Thom blieb nur so lange, wie er brauchte, um Flöte und Harfe auszupacken, dann ging er, wobei er bereits einige grandiose Gesten ausprobierte. Lan begleitete ihn.

Seltsam, dachte Rand als er sich auf dem unbequemen Bett herumwälzte. Noch vor einer Woche wäre er wie der Blitz unten gewesen, um sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen, einem Gaukler bei der Arbeit zuzusehen. Aber nachdem er Thoms Geschichten eine Woche lang gelauscht hatte, waren sie einfach nicht mehr so interessant. Thom würde außerdem auch morgen da sein und am nächsten Abend, na Ja, und das heiße Bad hatte seine Muskeln entspannt, und die erste warme Mahlzeit seit einer Woche machte ihn auch nicht gerade munterer. Schläfrig fragte er sich, ob Lan den falschen Drachen, Logain, wirklich kannte. Von unten hörte er einen gedämpften Aufschrei. Der Schankraum begrüßte Thoms Ankunft, doch Rand war bereits eingeschlafen.

Der Flur zwischen den Steinwänden war düster und von Schatten erfüllt und — bis auf Rand — leer. Er konnte nicht sagen, woher das Licht kam, das bißchen Helligkeit, das ihn überhaupt sehen ließ; an den grauen Wänden befanden sich keine Kerzen oder Lampen, nichts, das den schwachen Lichtschimmer verursachte, der einfach da war. Die Luft roch abgestanden und modrig, und irgendwo in einiger Entfernung tropfte Wasser mit einem stetigen hohlen Plonk auf den Boden. Wo auch immer er sich befand, es war nicht in der Schenke. Er runzelte die Stirn und rieb sich mit der Hand darüber. Schenke? Sein Kopf schmerzte, und es fiel ihm schwer, die Gedanken festzuhalten. Da war etwas mit einer... einer Schenke gewesen! Der Gedanke war weg, wie fortgeblasen.

Er leckte sich die Lippen und wünschte sich etwas zum Trinken herbei. Er war schrecklich durstig, richtig ausgetrocknet. Das ständige Tropfen machte ihm die Entscheidung leicht. Da er keinen anderen Impuls hatte als seinen Durst, hielt er auf das Plonk-Plonk-Plonk zu. Der Flur zog sich hin, ohne von einem anderen Korridor unterbrochen zu werden und ohne jede Veränderung im Aussehen. Die einzigen Merkmale waren die groben Türen, die paarweise in regelmäßigen Abständen auftauchten, auf jeder Seite eine, das Holz aufgesplittert und trotz der feuchten Luft ganz trocken. Die Schatten zogen sich vor ihm zurück, blieben immer gleich, und das Tropfen wollte nicht näher kommen. Nach langer Zeit entschloß er sich, eine der Türen zu öffnen. Sie öffnete sich ganz leicht, und er betrat ein düsteres Zimmer mit rohen Steinwänden.

Eine Wand öffnete sich in einer Reihe von Bögen zu einem grauen Steinbalkon und dahinter erkannte er einen Himmel, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Zu Streifen zerfledderte Wolken in Schwarz- und Grautönen, in Rot und Orange, strömten vorbei wie vom Sturmwind getrieben. Sie trennten sich, verbanden sich wieder miteinander und lösten sich erneut. Niemand konnte jemals einen solchen Himmel gesehen haben, weil er nicht existierte.

Er riß seinen Blick von dem Balkon los, aber der Rest des Zimmers war auch nicht besser. Eigenartige Krümmungen und seltsame Winkel, als habe man das Zimmer beinahe planlos aus dem Fels herausgeschmolzen, und dazu Säulen, die aus dem grauen Fußboden herauszuwachsen schienen. Im Kamin prasselten Flammen wie das Feuer in einer Schmiede, wenn der Blasebalg mit voller Kraft bedient würde, aber sie gaben keine Wärme ab. Dieser Kamin war aus seltsamen ovalen Steinen gemauert. Wenn er sie von vorn ansah, wirkten sie wie Steine, feucht und schlüpfrig trotz des Feuers, doch aus den Augenwinkeln betrachtet schienen sie Gesichter zu bilden, die Gesichter von Männern und Frauen, die sich vor Schmerz wanden und lautlos schrien. Die hochlehnigen Stühle und der mattglänzende Tisch in der Mitte des Raums waren wieder ganz normal, aber gerade das betonte die Fremdartigkeit der Umgebung. An der Wand hing ein einzelner Spiegel, und der war nun überhaupt nicht gewöhnlich. Als er hinein blickte, sah er nur einen verschwommenen Schimmer, wo eigentlich sein Spiegelbild sein sollte. Alles andere im Raum wurde scharf umrissen reflektiert, doch er nicht.

Ein Mann stand vor dem Kamin. Als er hereinkam, hatte er den Mann nicht bemerkt. Wenn er nicht genau gewußt hatte, daß das unmöglich war, hätte er behauptet, es sei niemand dagewesen, bis er ihn direkt ansah. Er war dunkel angezogen — die Kleidung von hoher Qualität -und schien sich im besten Mannesalter zu befinden. Rand stellte sich vor, daß Frauen den Mann bestimmt als gutaussehend betrachtet hätten. »Wieder einmal stehen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber«, sagte der Mann, und einen Augenblick lang wurden seine Augen und sein Mund zu Toren in endlose Flammenhöhlen. Mit einem Schrei warf sich Rand rückwärts aus dem Zimmer, so heftig, daß er über den Flur taumelte, gegen die Tür auf der anderen Seite prallte und diese aufstieß. Er drehte sich um und griff nach der Klinke, um sich vor einem Sturz auf den Fußboden zu bewahren — und starrte mit weitaufgerissenen Augen in einen Raum mit Steinwänden, Torbögen, die auf einen Balkon führten, einen unmöglichen Himmel dahinter und einen Kamin...

»So leicht kannst du mir nicht entkommen«, sagte der Mann.

Rand drehte sich um, taumelte aus dem Zimmer und versuchte sich auf den Beinen zu halten, ohne langsamer zu werden. Diesmal erreichte er keinen Korridor. Er erstarrte verkrümmt unweit des glänzendpolierten Tisches und sah den Mann am Kamin an. Das war besser, als die Steine des Kamins anzusehen oder diesen Himmel.

»Das ist ein Traum«, sagte er beim Aufrichten. Hinter sich hörte er das Klicken der sich schließenden Tür. »Es ist eine Art Alptraum.« Er schloß die Augen und dachte angespannt an das Erwachen. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte ihm die Seherin gesagt, wenn er das in einem Alptraum fertigbringe, werde der Traum verschwinden. Die... Seherin? Was? Wenn ihm nur die Gedanken nicht so schnell entglitten wären! Wenn nur sein Kopf aufgehört hätte zu schmerzen, dann könnte er wieder klar denken.

Wieder öffnete er die Augen. Der Raum war derselbe wie vorher mit dem Balkon und dem Himmel und dem Mann am Kamin. »Ist es ein Traum?« fragte der Mann. »Spielt es eine Rolle?« Wieder wurden seine Augen und sein Mund einen Augenblick lang zu Gucklöchern in einem Brennofen, der sich in die Ewigkeit erstreckte. Seine Stimme änderte sich nicht; er schien es gar nicht zu bemerken.

Rand fuhr diesmal ein wenig zusammen, aber er beherrschte sich rechtzeitig, um nicht aufzuschreien. Das ist ein Traum. Es muß so sein. Trotzdem ging er ein paar Schritte rückwärts zur Tür, ohne den Blick von dem Mann am Feuer abzuwenden, dann drückte er die Klinke hinunter. Die Tür bewegte sich nicht; sie war verschlossen.

»Du scheinst Durst zu haben«, sagte der Mann am Kamin. »Trink!«

Auf dem Tisch stand ein Pokal aus glänzendem Gold, mit Rubinen und Amethysten verziert. Er hatte sich schon vorher dort befunden. Wenn er nur nicht jedesmal so zusammengefahren wäre!. Es war doch nur ein Traum. In seinem Mund schien sich nur Staub zu befinden.

»Ich bin tatsächlich ein wenig durstig«, sagte er und nahm den Pokal. Der Mann beugte sich gespannt vor, eine Hand auf der Lehne eines Stuhls, und beobachtete ihn. Der Geruch nach Glühwein machte Rand erst richtig bewußt, wie durstig er war, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu trinken bekommen. Stimmt das?

Der Pokal befand sich schon auf halbem Weg zu seinem Mund, da hielt er inne. Kleine Rauchwölkchen erhoben sich von der Stuhllehne, wo die Finger des Mannes lagen. Und diese Augen beobachteten ihn so genau und wechselten schnell zwischen richtigen Augen und Flammen. Rand leckte sich die Lippen und stellte den Wein wieder zurück auf den Tisch. »Ich habe nicht so viel Durst, wie ich glaubte.« Der Mann richtete sich brüsk auf. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Seine Enttäuschung hätte nicht deutlicher sein können, wenn er geflucht hätte. Rand fragte sich, was der Wein wohl enthielt. Aber das war natürlich eine dumme Frage. Dies war ja alles ein Traum. Warum endet er dann nicht? »Was willst du?« fragte er scharf. »Wer bist du?«

Flammen erhoben sich aus Augen und Mund des Mannes. Rand glaubte sie prasseln zu hören. »Einige nennen mich Ba'alzamon.«

Rand stand an der Tür und rüttelte verzweifelt an der Klinke. Alle Gedanken an Träume waren verschwunden. Der Dunkle König. Die Klinke gab nicht nach, aber er hörte nicht auf mit dem Rütteln. »Bist du der, den ich erwarte?« fragte Ba'alzamon plötzlich. »Du kannst es nicht vor mir verbergen. Du kannst dich nicht vor mir verstecken, nicht auf dem höchsten Berg oder in der tiefsten Höhle. Ich kenne dich bis zum kleinsten Haar.«

Rand drehte sich um und sah dem Mann — Ba'alzamon -in die Augen. Er schluckte schwer. Ein Alptraum. Er griff hinter sich, um noch einmal die Klinke zu drücken, dann richtete er sich gerade auf.

»Erwartest du Ruhm?« fragte Ba'alzamon. »Macht? Haben sie dir gesagt, das Auge der Welt werde dir dienen? Welchen Ruhm oder welche Macht hat denn eine Marionette? Die Fäden, an denen du hängst, sind über Jahrhunderte hinweg gewebt worden. Dein Vater wurde im Weißen Turm auserwählt wie ein Hengst, den man einfängt und seiner Pflicht zuführt. Deine Mutter war nicht mehr als eine Zuchtstute zur Verwirklichung ihrer Pläne. Und diese Pläne führen zu deinem Tod.«

Rands Hände ballten sich zu Fäusten. »Mein Vater ist ein guter Mann, und meine Mutter war eine gute Frau. Sprich nicht so über sie.«

Die Flammen lachten. »Also steckt doch noch Widerstandsgeist in dir. Vielleicht bist du wirklich derjenige. Es wird dir nicht viel helfen. Der Amyrlin-Sitz wird dich benutzen, bis du verbraucht bist, so wie Davian und Yurian Steinbogen und Guaire Amalasan und Raolin Dunkelbann benutzt wurden. So wie sie Logain benutzen.

Benutzt, bis nichts mehr von dir übrig ist.«

»Ich weiß nicht... « Rand drehte den Kopf hin und her. Dieser eine Moment klaren Denkens, aus dem Zorn geboren, war verflogen. Als er ihn wieder zu erlangen suchte, wußte er nicht mehr, wie er dazu gekommen war. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er ergriff einen davon wie ein Floß in einem Mahlstrom. Er zwang Worte aus sich heraus. Seine Stimme wurde kräftiger, je mehr er sprach. »Du... bist gebunden... in Shayol Ghul. Du und mit dir alle Verlorenen... gebunden durch den Schöpfer bis ans Ende der Zeit.«

»Das Ende der Zeit?« spöttelte Ba'alzamon. »Du lebst wie ein Käfer unter einem Felsbrocken und glaubst, dein Schleim sei das Universum. Der Tod der Zeit wird mir solche Macht verleihen, wie du sie dir nicht einmal erträumen kannst, Wurm.«

»Du bist gebunden... «

»Narr, ich bin niemals gebunden worden!« Die Flammen loderten so heiß, daß Rand zurücktrat und das Gesicht mit vorgehaltenen Händen schützte. Der Schweiß der Handflächen trocknete in der Hitze. »Ich stand an Lews Therin Brudermörders Schulter, als er tat, was ihm seinen Namen einbrachte. Ich war es, der ihm sagte, er solle seine Frau, seine Kinder und alle von seinem Blut und jede lebende Person töten, die ihn liebte oder die er liebte. Ich war es, der ihm einen Moment der Klarheit verschaffte, so daß er erkannte, was er getan hatte.

Hast du jemals einen Mann seine Seele ausschreien hören, Wurm? Er hätte mich in dem Augenblick schlagen können. Er hätte nicht gewonnen, doch er hätte es versuchen können. Statt dessen rief er seine geliebte Eine Macht auf sich selbst herab, und dies so heftig, daß die Erde sich auftat und den Drachenberg ausspie, um sein Grabstein zu werden.

Tausend Jahre später sandte ich die Trollocs nach Süden, und drei Jahrhunderte lang brandschatzten sie die Welt. Diese blinden Narren in Tar Valon behaupteten, ich sei am Ende geschlagen worden, aber der Zweite Pakt, der Pakt der Zehn Nationen, war unwiderruflich zerschlagen, und wer war dann noch übrig, mir zu widerstehen? Ich flüsterte in Artur Falkenflügels Ohr, und landauf, landab starben die Aes Sedai. Ich flüsterte wieder, und der Hochkönig sandte seine Armeen über das Aryth-Meer, über das Weltmeer, und besiegelte zwei Schicksale damit. Sein Traum von einem Land und einem Volk starb mit ihm, und dann noch ein zukünftiger Traum. Ich stand an seinem Totenbett, als seine Berater ihm sagten, nur eine Aes Sedai könne sein Leben retten. Ich sprach, und er befahl, seine Berater hinzurichten. Ich sprach, und die letzten Worte, die der Hochkönig ausrief, waren der Befehl, Tar Valon zu zerstören.

Wenn schon Männer wie diese mir nicht widerstehen konnten, was willst du dann ausrichten — eine Kröte, die neben einer Pfütze im Wald kauert? Du wirst mir dienen, oder du wirst nach der Pfeife der Aes Sedai tanzen, bis du stirbst. Und dann wirst du mir gehören. Die Toten gehören mir!«

»Nein«, murmelte Rand, »das ist ein Traum. Es ist ein Traum.«

»Glaubst du, in deinen Träumen seist du sicher vor mir? Schau!« Ba'alzamon streckte befehlend die Hand aus, und Rands Kopf drehte sich in die Richtung, in die er zeigte, obwohl er ihn nicht bewegen wollte; er wollte sich nicht umdrehen.

Der Pokal war vom Tisch verschwunden. Wo er sich befunden hatte, duckte sich nun eine große Ratte, zwinkerte in das grelle Licht und prüfte vorsichtig die Luft. Ba'alzamon machte den Finger krumm, und mit einem Quietschen krümmte die Ratte den Rücken, hob die Vorderpfoten in die Luft und stand unsicher auf den Hinterbeinen. Der Finger krümmte sich noch mehr, und die Ratte fiel um, strampelte verzweifelt, krallte sich ins Nichts, quietschte schrill, während sich ihr Rücken immer mehr durchbog. Mit einem scharfen Knacken wie beim Zerbrechen eines Zweigs zitterte die Ratte noch einmal heftig und lag still, völlig verkrümmt.

Rand schluckte. »In einem Traum kann alles geschehen«, murmelte er. Ohne sich umzusehen, schwang er erneut die Faust und traf das Tor. Seine Hand schmerzte, doch er wachte immer noch nicht auf.

»Dann geh doch zu den Aes Sedai. Geh zum Weißen Turm und erzähl ihnen alles. Erzähl dem Amyrlin-Sitz von diesem... Traum.« Der Mann lachte, und Rand fühlte die Hitze der Flammen im Gesicht. »Das ist eine Möglichkeit, um ihnen zu entkommen. Sie werden dich dann nicht benutzen wollen. Nein, nicht wenn sie wissen, daß ich alles weiß. Aber werden sie dich am Leben lassen, um zu berichten, was sie tun? Bist du ein solcher Narr, daß du glaubst, sie würden dich am Leben lassen? Die Asche von vielen anderen, die so waren wie du, liegt überall verstreut auf den Hängen des Drachenbergs.«

»Das ist ein Traum«, keuchte Rand. »Es ist ein Traum, und ich werde erwachen.«

»Tatsächlich?« Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich der Finger des Mannes bewegte und auf ihn deutete. »Wirst du tatsächlich erwachen?« Der Finger krümmte sich, und Rand schrie auf, als sein Körper sich rückwärts bog. Jeder Muskel zwang ihn weiter nach hinten. »Wirst du jemals wieder erwachen?«

Verkrampft zuckte Rand in der Dunkelheit hoch. Seine Hände krallten sich in Stoff. Eine Decke. Bleiches Mondlicht schien durch das einzige Fenster. Die schattenhaften Umrisse auf den anderen beiden Betten. Von einem erklang ein Schnarchen, als ob Segeltuch zerrisse: Thom Merrilin. Ein paar Kohlen glimmten in der Asche im Kamin. Es war also ein Traum gewesen, wie der Alptraum in der Weinquellenschenke an Bel Tine -alles, was er gehört oder getan hatte, vermischt mit alten Geschichten und blankem Unsinn. Er zog sich die Decke über die Schultern, aber die Kälte war es nicht, die ihn zittern ließ. Auch sein Kopf schmerzte. Vielleicht konnte Moiraine etwas gegen diese Träume tun. Sie sagte, sie könne gegen Alpträume etwas unternehmen.

Mit einem Schnauben legte er den Kopf wieder hin. Waren die Träume wirklich so schlimm, daß er eine Aes Sedai um Hilfe bitten mußte? Andererseits, konnte ihn irgend etwas, was er jetzt tat, noch tiefer in die Sache verwickeln? Er hatte die Zwei Flüsse verlassen und war mit einer Aes Sedai hierhergekommen. Aber er hatte natürlich keine andere Wahl gehabt. Hatte er nun eine andere Wahl, als ihr zu vertrauen? Einer Aes Sedai? Darüber nachzusinnen, war genauso schlecht wie die Träume. Er kuschelte sich unter seine Decke und versuchte im Nichts Ruhe zu finden, so wie Tam es ihn gelehrt hatte. Doch es dauerte lange, bis er wieder einschlief.

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