25 Das fahrende Volk

Bela trottete gelassen unter der blassen Sonne einher, als seien die drei Wölfe, die unweit von ihr nebenherliefen, nur Dorfhunde, doch an der Art, wie sie von Zeit zu Zeit die Augen rollte, wenn sie die Wölfe ansah, merkte man, daß sie sich ganz anders fühlte. Egwene, die auf dem Rücken der Stute saß, erging es genauso. Sie beobachtete die Wölfe ständig aus den Augenwinkeln und drehte sich manchmal im Sattel nach hinten blickend um. Perrin war sicher, sie suche nach dem Rest des Rudels, als er das aber ihr gegenüber andeutete, stritt sie es ärgerlich ab. Sie bestritt, sich vor den Wölfen zu fürchten, die mit ihnen durch den Wald liefen; bestritt, sich Gedanken über den Rest des Rudels und sein weiteres Verhalten zu machen. Sie bestritt alles und sah sich weiter mit zusammengekniffenen Augen um, wobei sie sich andauernd die Lippen befeuchtete.

Der Rest des Rudels war weit entfernt; das hätte auch er ihr sagen können. Was nützt es, selbst wenn sie mir glaubt? Oder gerade, wenn sie mir glaubt? Er hatte keine Lust, sich ihrem Zorn auszusetzen, solange es nicht nötig war. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, wieso er das wußte. Der in Felle gekleidete Mann sprang vor ihnen her. Manchmal wirkte er beinahe selbst wie ein Wolf. Er sah sich nie um, wenn Scheckie, Springer und Wind auftauchten, aber es war auch ihm bewußt.

Die Emondsfelder waren in der Morgendämmerung des ersten Tages erwacht und hatten gesehen, wie Elyas weitere Kaninchen zubereitete und sie über seinen Vollbart hinweg ausdruckslos beobachtete. Außer Scheckie, Springer und Wind waren keine Wölfe zu sehen. Im blassen Licht des frühen Tages lag unter der großen Eiche noch tiefer Schatten, und die kahlen Bäume dahinter wirkten wie Finger, die man bis auf die Knochen abgenagt hatte.

»Sie sind in der Gegend«, antwortete Elyas, als ihn Egwene fragte, wohin der Rest des Rudels verschwunden war. »Nahe genug, um zu helfen, falls es nötig ist. Weit genug entfernt, um Problemen mit Menschen aus dem Weg zu gehen, selbst wenn wir darin verwickelt sind. Früher oder später gibt es immer Schwierigkeiten, wenn auch nur zwei Menschen zusammen sind. Wenn wir sie brauchen, sind sie da.«

Etwas kitzelte im hintersten Winkel von Perrins Verstand, als er einen Bissen Röstkaninchen mit den Zähnen herausriß. Eine verschwommen wahrgenommene Richtung. Natürlich! Dort sind... Der heiße Bratensaft in seinem Mund verlor plötzlich jeglichen Geschmack. Er aß ein wenig von den Knollen, die Elyas auf der Kohle geröstet hatte — sie schmeckten ein bißchen wie Rüben -, aber der Appetit war ihm vergangen. Als sie aufgebrochen waren, hatte Egwene darauf bestanden, daß sie sich alle beim Reiten abwechselten, und Perrin hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihr zu widersprechen. »Zuerst bist du dran«, sagte er zu ihr. Sie nickte. »Und dann Ihr, Elyas.«

»Meine eigenen Beine sind gut genug für mich«, sagte Elyas. Er sah Bela an, und die Stute rollte die Augen, als sei er einer der Wölfe. »Außerdem glaube ich nicht, daß sie mich auf ihr reiten lassen möchte.«

»Das ist Unsinn«, erwiderte Egwene entschlossen. »Es hat keinen Zweck, in der Hinsicht stur zu sein. Es ist nur vernünftig, wenn jeder von uns hin und wieder reitet. Nach Euren Worten haben wir noch einen langen Weg vor uns.«

»Ich habe nein gesagt, Mädchen.«

Sie atmete tief ein, und Perrin fragte sich, ob es ihr gelingen würde, Elyas genauso wie ihn herumzukommandieren, doch dann bemerkte er, daß sie mit geöffnetem Mund dastand und kein Wort herausbrachte. Elyas sah sie an; blickte sie einfach nur mit den gelben Wolfsaugen an. Egwene trat zurück, nur weg von dem grobknochigen Mann, leckte sich die Lippen und trat nochmals einen Schritt zurück. Bevor sich Elyas abwandte, war sie rückwärts bis zu Bela gekommen und kletterte hastig auf den Rücken der Stute. Als der Mann sich abwandte, um sie weiter nach Süden zu führen, verglich Perrin dessen Grinsen ebenfalls mit dem eines Wolfs.

Drei Tage lang reisten sie so, gingen oder ritten den ganzen Tag nach Südosten und rasteten erst, wenn sich die Dämmerung senkte. Elyas schien wohl die typische Betriebsamkeit der Stadtmenschen zu verachten, doch er verschwendete gewiß keine Zeit, wenn er irgendein Ziel anstrebte.

Die drei Wölfe ließen sich selten sehen. Jede Nacht kamen sie für eine Weile ans Feuer, und manchmal tauchten sie auch am Tag kurz auf, wenn man sie am wenigsten erwartete, und verschwanden wieder auf die gleiche Art und Weise. Perrin wußte allerdings, daß sie dort draußen waren und wo. Er wußte, wenn sie den Weg vor ihnen erkundeten und wenn sie ihnen den Rücken deckten. Er wußte, wenn sie das übliche Jagdrevier des Rudels verließen und wenn Scheckie das Rudel zurückschickte, um auf sie zu warten. Gelegentlich verblaßten die drei übriggebliebenen in seinem Geist, aber nach kurzer Zeit, bevor sie wieder nahe genug waren, um sich blicken zu lassen, fühlte er sie zurückkehren. Selbst als der Baumbestand dünner wurde und sich in weit verstreute Haine auflöste, die durch weite Flächen winterwelken Grases voneinander getrennt waren, wirkten sie wie Gespenster, wenn sie nicht gesehen werden wollten. Er hätte jedoch jederzeit geradewegs auf sie deuten können. Er wußte nicht, woher diese Fähigkeit kam, und er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, daß ihm lediglich seine Phantasie einen Streich spielte, aber es half nichts. Genau wie Elyas wußte er immer, wo sie sich befanden.

Er bemühte sich, nicht an Wölfe zu denken, doch sie schlichen sich immer wieder in seine Gedanken. Er hatte nicht mehr von Ba'alzamon geträumt, seit er Elyas und die Wölfe kennengelernt hatte. In seinen Träumen, soweit er sich in wachem Zustand daran erinnern konnte, ging es um alltägliche Dinge, von denen er auch zu Hause geträumt hätte... vor Winternacht... vor Baerlon. Normale Träume — mit einer Ergänzung. In jedem Traum, an den er sich erinnern konnte, kam ein Punkt, wo er sich von der Arbeit an Meister Luhhans Amboß aufrichtete, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, oder vom Dorfgrün ging, wo er mit den Mädchen getanzt hatte, oder seinen Kopf von einem Buch hob, das er vor dem Kamin las, und gleichgültig, ob er sich unter einem Dach oder im Freien aufhielt, es war immer ein Wolf in der Nähe. Immer drehte ihm der Wolf den Rücken zu, und er wußte auch immer — in den Träumen erschien ihm dies ganz selbstverständlich, sogar bei Alsbet Luhhans Abendessen -, daß die gelben Augen des Wolfs danach Ausschau hielten, was kommen könnte, um ihn davor zu behüten. Nur im wachen Zustand erschienen ihm die Träume eigenartig.

Drei Tage ging es so, und Scheckie, Springer und Wind brachten ihnen Kaninchen und Eichhörnchen, und Elyas zeigte ihnen Pflanzen, von denen Perrin nur wenige erkannte, die sie gut essen konnten. Einmal brach ein Kaninchen fast unter Belas Hufen hervor. Bevor Perrin noch einen Stein in seine Schleuder legen konnte, nagelte Elyas es auf zwanzig Schritt Entfernung mit seinem langen Wurfmesser fest. Ein andermal schoß Elyas mit seinem Bogen einen fetten Fasan in der Luft. Sie aßen viel besser als zuvor allein, doch Perrin wäre auch mit den alten Kleinportionen zufrieden gewesen, wenn damit andere Gesellschaft verbunden gewesen wäre. Er war sich nicht sicher, wie Egwene darüber dachte, doch er wäre auch zum Hungern bereit gewesen, falls das ohne die Wölfe notwendig gewesen wäre. Bis zum Nachmittag des dritten Tages.

Ein Wald lag vor ihnen, ausgedehnter als die meisten zuvor, gute vier Meilen breit. Die Sonne stand niedrig am Westhimmel und sandte schräge Schatten nach rechts hinüber. Der Wind frischte auf. Perrin fühlte, wie die Wölfe die Nachhut aufgaben und ohne Eile nach vorne kamen. Sie hatten nichts Gefährliches gewittert und gesehen. Egwene war gerade mit dem Reiten auf Bela dran. Es war Zeit, sich nach einem Nachtlager umzusehen, und das große Waldstück kam ihnen da gerade recht.

Als sie den Bäumen näher kamen, brachen drei Mastiff-Kampfhunde aus der Deckung des Waldes hervor, breit gebaute Hunde, genauso groß wie die Wölfe und noch schwerer, die die Zähne unter lautem, grollendem Knurren fletschten. Sie blieben stehen, sobald sie sich im Freien befanden, aber kaum mehr als dreißig Fuß trennten sie von den drei Menschen, und in ihren dunklen Augen glühte die Lust, zu töten.

Bela, bereits durch die Wölfe nervös gemacht, wieherte und warf Egwene beinahe ab, aber Perrin hatte im Nu seine Schleuder in der Hand und ließ sie um seinen Kopf wirbeln. Unnötig, bei Hunden eine Axt zu verwenden; ein Stein in die Rippen wurde den schlimmsten Hund vertreiben.

Elyas winkte ihm zu, ohne den Blick von den steifbeinigen Hunden abzuwenden. »Pssst! Laß das jetzt!«

Perrin sah ihn erstaunt an, ließ aber die Schleuder langsamer kreisen und schließlich schlaff an seine Seite fallen. Egwene schaffte es, Bela wieder unter Kontrolle zu bringen; sie und die Stute beobachteten mißtrauisch die Hunde.

Die Nackenhaare der Mastiffs sträubten sich, ihre Ohren waren angelegt, und ihr Knurren klang wie ein Erdbeben. Plötzlich erhob Elyas einen Finger auf Höhe seiner Schulter und pfiff lang und durchdringend. Der Pfiff wurde im Ton höher und höher und wollte nicht enden. Das Knurren brach ungleichmäßig ab. Die Hunde traten zurück, winselten und drehten die Köpfe weg, als wollten sie gehen und würden doch festgehalten. Ihr Blick war starr auf Elyas Finger gerichtet.

Langsam senkte Elyas die Hand, und damit wurde der Ton seines Pfeifens tiefer. Die Hunde folgten dem Finger, bis sie platt auf dem Boden lagen und die Zungen aus den Schnauzen hängen ließen. Drei Schwänze wedelten.

»Siehst du«, sagte Elyas und ging zu den Hunden hinüber. »Dazu braucht man keine Waffen.« Die Mastiffs leckten seine Hände, und er streichelte ihre breiten Köpfe und kraulte sie hinter den Ohren. »Sie sehen schlimmer aus als sie sind. Sie sollen uns abschrecken, und sie hätten uns nicht gebissen, außer wir hätten versucht, zwischen die Bäume zu gehen. Na ja, darüber brauchen wir uns jetzt keine Gedanken mehr machen. Wir können es bis zum Einbruch der Dunkelheit bis zu dem nächsten Waldstück dort drüben schaffen.«

Als Perrin Egwene ansah, bemerkte er, daß ihr Mund aufklaffte. Er selbst schloß den Mund mit hörbarem Zähneklicken.

Während Elyas noch die Hunde streichelte, betrachtete er das angedeutete Waldstück. »Dort werden Tuatha'an sein. Das Fahrende Volk.« Sie blickten ihn verständnislos an, und er fügte hinzu: »Kesselflicker.«

»Kesselflicker?« rief Perrin. »Ich wollte immer schon Kesselflicker sehen! Manchmal lagern sie bei Taren-Fähre auf der anderen Seite des Flusses, aber soviel ich weiß, kommen sie nie ins Gebiet der Zwei Flüsse. Ich weiß nicht, warum.«

Egwene schnaubte. »Vielleicht weil die Leute aus Taren-Fähre genauso große Diebe sind wie die Kesselflicker. Zweifellos würden sie sich gegenseitig das letzte Hemd stehlen. Meister Elyas, wenn wirklich Kesselflicker in der Nähe sind, sollten wir dann nicht weiterziehen? Wir wollen doch nicht, daß Bela gestohlen wird und... na ja, wir haben sonst nicht viel, aber jeder weiß ja, daß die Kesselflicker alles stehlen, was nicht niet-und nagelfest ist.«

»Auch Babys?« fragte Elyas trocken. »Entführen sie auch Kinder und so?« Er spuckte aus, und sie errötete. Diese Geschichten über Babys wurden gelegentlich erzählt, am häufigsten von Cenn Buie oder einem der Coplins oder Congars. Die anderen Geschichten waren allgemein bekannt. »Die Kesselflicker machen mich auch manchmal krank, aber sie stehlen nicht mehr als andere Leute. Erheblich weniger als einige, die ich kenne.«

»Es wird bald dunkel, Elyas«, sagte Perrin. »Wir müssen irgendwo lagern. Warum nicht bei ihnen, wenn sie es uns erlauben?« Frau Luhhan besaß einen von den Kesselflickern reparierten Topf, von dem sie behauptete, er sei besser als je zuvor. Meister Luhhan war nicht sehr angetan davon, daß seine Frau die Kesselflicker lobte, aber Perrin wollte zusehen, wie sie arbeiteten. Und doch zögerte Elyas, was Perrin nicht verstand. »Gibt es einen Grund, warum wir uns von ihnen fernhalten sollten?«

Elyas schüttelte den Kopf, doch das Zögern war immer noch in der Haltung seiner Schultern und der schmalen Linie seines Mundes fühlbar. »Na ja, wir können schon hin. Achtet einfach nicht auf das, was sie sagen. Eine Menge Quatsch. Meistens benimmt sich das Fahrende Volk ziemlich frei, aber manchmal legen sie auch Wert auf Formalitäten. Also macht einfach nach, was ich mache. Und behaltet eure Geheimnisse für euch. Kein Grund, alles auszuplaudern.«

Die Hunde liefen schwanzwedelnd neben ihnen her, als Elyas sie zwischen die Bäume führte. Perrin fühlte, wie die Wölfe ihren Schritt verlangsamten, und wußte, daß sie nicht mit hineinkommen würden. Sie hatten keine Angst vor den Hunden — sie verachteten die Hunde, die für einen Platz am Lagerfeuer ihre Freiheit aufgegeben hatten -, aber sie mieden Menschen.

Elyas schritt gezielt voran, als kenne er den Weg, und beinahe in der Mitte des Waldstücks tauchten denn auch die Wagen der Kesselflicker auf, zwischen den Eichen und Eschen verteilt.

Wie alle in Emondsfeld hatte Perrin eine Menge von den Kesselflickern gehört, sie aber noch nie gesehen, und ihr Lager war genauso, wie er es sich vorgestellt hatte. Ihre Wagen waren kleine Häuser auf Rädern, hohe Holzkästen, lackiert und bunt bemalt in Rot und Blau und Gelb und Grün und einigen Farbtönen, für die er keinen Namen wußte. Das Fahrende Volk ging enttäuschend alltäglichen Arbeiten nach. Sie kochten, nähten, beaufsichtigten Kinder, flickten Zaumzeug, doch ihre Kleidung war noch bunter als ihre Wagen und anscheinend völlig planlos gewählt; einige trugen Mantel und Hose oder Kleid und Schal in Farbkombinationen, die in den Augen weh taten. Sie wirkten wie Schmetterlinge auf einer Blumenwiese.

Vier oder fünf Männer an verschiedenen Flecken des Lagers spielten Geige und Flöte, und ein paar Leute tanzten wie regenbogenfarbene Kolibris. Kinder und Hunde rannten spielend zwischen den Lagerfeuern herum. Die Hunde waren Mastiffs wie jene, die die Reisenden empfangen hatten, aber die Kinder zogen sie an den Ohren und Schwänzen und kletterten ihnen auf den Rücken, und die kräftigen Hunde ertrugen alles gelassen. Die drei neben Elyas blickten mit heraushängenden Zungen zu dem bärtigen Mann auf, als sei er ihr bester Freund. Perrin schüttelte den Kopf. Sie waren immer noch groß genug, um die Kehle eines Mannes zu erreichen, praktisch ohne die Vorderpfoten vom Boden zu heben.

Plötzlich hörte die Musik auf, und er merkte, daß alle Kesselflicker ihn und seine Begleiter anblickten. Selbst die Kinder und die Hunde waren stehengeblieben und beobachteten sie mißtrauisch, beinahe fluchtbereit wirkend.

Einen Augenblick lang war es totenstill, und dann trat ein kleiner, drahtiger und grauhaariger Mann vor und verbeugte sich mit ernster Miene vor Elyas. Er trug einen roten Mantel mit hohem Kragen und eine ausgebeulte, hellgrüne Hose, die er in kniehohe Stiefel gesteckt hatte. »Seid willkommen an unseren Feuern. Kennt Ihr das Lied?«

Elyas verbeugte sich auf die gleiche Art, beide Hände an die Brust gedrückt. »Euer Willkommensgruß erwärmt meinen Geist, Mahdi, so wie Eure Feuer das Fleisch erwärmen, aber ich kenne das Lied nicht.«

»Dann suchen wir weiter«, intonierte der grauhaarige Mann. »Wie es war, so soll es sein, wenn wir uns nur erinnern, suchen und finden.« Er schwang einen Arm lächelnd in Richtung auf die Feuer, und seine Stimme nahm einen fröhlichleichten Tonfall an. »Das Mahl ist fast fertig. Bitte gesellt Euch zu uns.«

Als sei das ein Signal gewesen, begann die Musik aufs neue, und die Kinder lachten wieder und rannten mit den Hunden herum. Alle im Lager kehrten zu den vorherigen Beschäftigungen zurück, als seien die Neuankömmlinge langerwartete Freunde.

Der grauhaarige Mann zögerte allerdings und sah Elyas an. »Eure... anderen Freunde? Sie werden draußen bleiben. Sie jagen den Hunden solche Angst ein.«

»Sie werden bleiben, wo sie sind, Raen.« Elyas Kopfschütteln enthielt ein wenig Verachtung. »Das solltet Ihr allmählich wissen.«

Der grauhaarige Man spreizte die Hände, als wolle er sagen, daß nichts jemals gewiß sei. Als er sich umdrehte, um sie ins Lager zu führen, stieg Egwene ab und näherte sich Elyas. »Ihr beiden seid Freunde?« Ein lächelnder Kesselflicker erschien, um Bela wegzuführen; Egwene reichte ihm widerstrebend die Zügel, nachdem Elyas trocken geschnaubt hatte. »Wir kennen uns«, antwortete der in Felle gekleidete Mann.

»Er heißt Mahdi?« fragte Perrin.

Elyas knurrte etwas in seinen Bart hinein. »Er heißt Raen. Mahdi ist sein Titel. Sucher. Er ist der Anführer dieses Stammes. Ihr könnt ihn Sucher nennen, wenn euch das andere Wort komisch vorkommt. Er hat nichts dagegen.«

»Wie war das mit diesem Lied?« fragte Egwene. »Deswegen ziehen sie herum«, sagte Elyas, »oder jedenfalls behaupten sie das. Sie suchen nach einem Lied.

Das ist es, wonach der Mahdi sucht. Sie behaupten, sie hätten es bei der Zerstörung der Welt verloren, und wenn sie es wiederfinden, dann wird das Paradies des Zeitalters der Legenden zurückkehren.« Er sah sich im Lager um und schnaubte wieder. »Sie wissen noch nicht einmal, um welche Art von Lied es sich handelt. Sie behaupten, sie würden es erkennen, wenn sie es fänden. Sie wissen auch nicht, wie es das Paradies wiederbringen kann, und doch haben sie fast dreitausend Jahre lang danach gesucht — seit der Zerstörung. Ich schätze, sie werden weitersuchen, bis das Rad aufhört, sich zu drehen.«

Dann erreichten sie Raens Feuer im Zentrum des Lagers. Der Wagen des Suchers war gelb mit roten Rändern, und die Speichen der hohen, rot gestrichenen Räder waren abwechselnd gelb und rot. Eine mollige Frau, so grau wie Raen, doch ohne Falten im Gesicht, kam aus dem Wagen und blieb auf den Stufen am hinteren Ende einen Moment lang stehen, um eine Stola mit blauen Fransen auf ihren Schultern zurechtzurücken. Ihre Bluse war gelb und ihr Rock rot — leuchtende Farben. Die Kombination brachte Perrin zum Blinzeln, und Egwene gab einen Laut von sich, als erwürge man sie.

Als sie die Leute sah, die Raen folgten, kam die Frau mit einem warmen Lächeln herunter. Das war Ila, Raens Frau, einen Kopf größer als ihr Mann, und sie brachte es fertig, daß Perrin schnell die Farben ihrer Kleidung vergaß. Sie erinnerte ihn in ihrer Mütterlichkeit an Frau al'Vere, und von ihrem ersten Lächeln an fühlte er sich herzlich aufgenommen.

Ila begrüßte Elyas als alten Bekannten, doch hielt sie einen für Raen schmerzlichen Abstand. Elyas grinste sie trocken an und nickte. Perrin und Egwene stellten sich vor, und sie nahm ihre Hände in ihre beiden und zeigte dabei viel mehr Wärme als bei Elyas. Sie nahm Egwene sogar in die Arme.

»Du bist ja süß, mein Kind«, sagte sie, nahm Egwenes Kinn in die Hand und lächelte. »Und halb erfroren, denke ich. Setz dich nahe ans Feuer, Egwene. Setzt euch alle hin. Das Essen ist fast fertig.«

Teile umgestürzter Baumstämme waren als Sitze um das Feuer herum gruppiert. Elyas weigerte sich, der Zivilisation auch nur soweit entgegenzukommen, und setzte sich statt dessen auf den blanken Boden. Zwei kleine Kessel hingen an dreibeinigen Eisenhaltern über den Flammen, und am Rand der Kohleschicht stand ein Ofen. Ila kümmerte sich um alles.

Als Perrin und die anderen Platz nahmen, schlenderte ein schlanker junger Mann in grüngestreifter Kleidung zum Feuer herüber. Er umarmte Raen, küßte Ila und musterte Elyas und die Emondsfelder kühl. Er war ungefähr genauso alt wie Perrin und bewegte sich, als werde er mit dem nächsten Schritt zu tanzen beginnen.

»Na, Aram« — Ila lächelte liebevoll — »hast du dich entschlossen, zur Abwechslung einmal mit deinen alten Großeltern zu speisen?« Ihr Lächeln erfaßte Egwene, als sie sich bückte, um in einem Kessel über dem Feuer herumzurühren. »Ich frage mich, aus welchem Grund.«

Aram kauerte sich bequem, die Arme über den Knien verschränkt, gegenüber von Egwene am Feuer nieder. »Ich bin Aram«, sagte er mit leiser, selbstbewußter Stimme zu ihr. Er schien nicht mehr zu bemerken, daß außer ihr noch jemand zugegen war. »Ich habe auf die erste Rose des Frühlings gewartet, und nun finde ich sie an meines Großvaters Feuer.«

Perrin wartete darauf, Egwene kichern zu hören, sah aber dann, daß auch sie Aram ansah. Also blickte er den jungen Kesselflicker erneut an. Er mußte zugeben, Aram sah mehr als nur einfach gut aus. Nach einer Minute fiel Perrin ein, an wen ihn dieser Bursche erinnerte: Wil al'Seen. Alle Mädchen sahen ihm nach und flüsterten hinter seinem Rücken, wenn er von Devenritt nach Emondsfeld kam. Wil stellte jedem Mädchen nach, das er sah, und er brachte es fertig, jede davon zu überzeugen, daß er eben nur höflich zu den anderen sein wollte.

»Eure Hunde dort«, sagte Perrin so laut, daß Egwene zusammenfuhr, »sehen so groß wie Baren aus. Ich bin ganz überrascht, daß ihr die Kinder mit ihnen spielen laßt.«

Arams Lächeln verschwand, aber als er Perrin ansah, tauchte es wieder auf, noch selbstbewußter als zuvor. »Sie werden euch nichts tun. Sie spielen wild, um mögliche Gefahren abzuschrecken und uns zu warnen, aber sie wurden nach dem Gesetz des Blattes dressiert.«

»Das Gesetz des Blattes?« sagte Egwene: »Was ist das?«

Aram deutete auf die Bäume, sah ihr aber dabei ganz fest in die Augen. »Das Blatt lebt die ihm zugeteilte Zeit und kämpft nicht gegen den Wind an, der es fortträgt. Das Blatt schadet niemandem, und wenn es schließlich fällt, nährt es neue Blätter. So sollte es auch bei den Menschen sein. Und besonders bei den Frauen.« Egwene beantwortete seinen Blick, und eine leichte Röte stieg in ihre Wangen.

»Aber was bedeutet das?« fragte Perrin. Aram warf ihm einen verständnislosen Blick zu, und es war Raen, der die Frage beantwortete. »Es bedeutet, daß kein Mensch einem anderen aus irgendeinem Grund Schaden zufügen sollte.« Der Blick des Suchers huschte hinüber zu Elyas. »Es gibt keine Entschuldigung für die Anwendung von Gewalt. Keine einzige. Niemals.«

»Und wenn Euch jemand angreift?« beharrte Perrin. »Wenn euch jemand schlägt oder versucht, Euch zu berauben oder zu töten?«

Raen seufzte — ein geduldiges Seufzen -, als sehe Perrin einfach nicht, was doch für ihn so klar war. »Wenn mich ein Mann schlüge, dann würde ich ihn fragen, warum er das macht. Und wenn er mich immer noch schlagen wollte, würde ich wegrennen; genauso, wenn er mich berauben oder töten wollte. Viel besser, daß ich ihn nehmen lasse, was er will, sogar mein Leben, als daß ich Gewalt anwende. Und ich würde hoffen, daß ihm nicht zuviel Leid zugefügt würde.«

»Aber Ihr habt gesagt, Ihr würdet ihn nicht verletzen«, sagte Perrin.

»Das würde ich auch nicht, aber Gewalt gefährdet denjenigen, der sie anwendet, genauso wie den, der sie empfängt.« Perrin blickte zweifelnd drein. »Ihr könntet mit Eurer Axt einen Baum fällen«, sagte Raen. »Die Axt tut dem Baum Gewalt an und kommt ungeschoren davon. Seht Ihr das so? Holz ist weich, verglichen mit Stahl, aber der scharfe Stahl wird stumpf, wenn er draufloshackt, und der Saft des Baumes wird ihn verrosten und zerfallen lassen. Die mächtige Axt tut dem hilflosen Baum Gewalt an und wird selbst dabei zu Schaden kommen. So ist es auch bei den Menschen, auch wenn der Schaden die Seele betrifft.«

»Aber... «

»Genug«, knurrte Elyas und schnitt Perrin das Wort ab. »Raen, es ist schon schlimm genug, daß du versuchst, Dorfjungen zu diesem Unsinn zu überreden — das bringt euch überall in Schwierigkeiten, nicht wahr? -, aber die hier habe ich nicht zu euch gebracht, damit du sie zu bequatschen versuchst. Laß das.«

»Um sie dir zu überlassen?« sagte Ila, die zwischen den Handflächen Kräuter verrieb und sie in einen der Kessel rieseln ließ. »Wirst du sie dein Gesetz lehren, zu töten oder zu sterben? Wirst du sie dem Schicksal zuführen, das du suchst, allein bis auf die Raben und deine... deine Freunde zu sterben, die sich dann um deinen Körper streiten können?«

»Halte Frieden, Ila«, sagte Raen sanft, als habe er das alles und noch mehr schon hundertmal gehört. »Er wurde an unserem Feuer willkommen geheißen, Frau.«

Ila gab nach, aber Perrin bemerkte wohl, daß sie sich nicht entschuldigte. Statt dessen sah sie Elyas an und schüttelte traurig den Kopf. Dann klopfte sie sich die Kräuterreste von den Händen und nahm, aus einer roten Truhe an der Seite des Wagens Löffel und Tonschüsseln heraus.

Raen wandte sich wieder Elyas zu. »Mein alter Freund, wie oft noch muß ich dir noch sagen, daß wir nicht versuchen, irgend jemanden zu bekehren. Wenn die Dorfleute neugierige Fragen über unsere Lebensweise stellen, beantworten wir sie. Sicher, es sind meistens die jungen Leute, die solche Fragen stellen, und manchmal kommt einer davon mit uns, wenn wir weiterziehen, doch es ist ihre freie Entscheidung.«

»Versuch das mal einer Bauersfrau zu erklären, die gerade herausgefunden hat, daß ihr Sohn oder ihre Tochter mit den Kesselflickern weggelaufen ist«, sagte Elyas trocken. »Deshalb lassen euch die größeren Städte noch nicht einmal in der Nähe lagern. Die Dörfer dulden euch, weil ihr alles so gut repariert, aber in den Städten werdet ihr nicht gebraucht, und sie wollen nicht, daß ihr die jungen Leute zum Weglaufen überredet.«

»Ich weiß nicht, was die Städte alles erlauben.« Raens Geduld schien unerschöpflich. Auf jeden Fall machte er nicht den Eindruck, als werde er wütend. »Es gibt immer gewalttätige Menschen in den Städten. Ich glaube außerdem auch nicht, daß wir das Lied in einer Stadt finden könnten.«

»Ich will euch nicht zu nahe treten, Sucher«, sagte Perrin bedächtig, »aber... Na ja, ich suche nicht gerade nach Gewalt. Ich habe, glaube ich, jahrelang noch nicht einmal mit irgend jemandem gerungen, außer bei Wettbewerben an Festtagen. Doch wenn mich jemand schlägt, schlage ich zurück. Wenn nicht, würde ich ihn nur in dem Glauben ermutigen, er könne mich schlagen, wann immer er will. Einige Leute denken, sie könnten andere ausnützen, und wenn man ihnen nicht klarmacht, daß das nicht geht, dann laufen sie eben herum und peinigen jeden, der schwächer ist als sie selbst.«

»Einige Leute«, sagte Aram mit einer schwerfälligen Traurigkeit in der Stimme, »können einfach ihre niedrigen Instinkte nicht überwinden.« Er sagte es mit einem Blick auf Perrin, der deutlich machte, daß er nicht von den Schlägern sprach, die Perrin meinte.

»Ich wette, du mußt ganz schön oft wegrennen«, sagte Perrin, und das Gesicht des jungen Kesselflickers straffte sich auf eine Weise, die wohl kaum dem Gesetz des Blattes entsprechen konnte.

»Ich finde es interessant«, sagte Egwene mit einem bösen Blick in Perrins Richtung, »jemanden kennenzulernen, der nicht der Meinung ist, jedes Problem mit den Muskeln lösen zu können.«

Arams gute Laune kehrte zurück, und er stand auf und bot ihr lächelnd die Hand. »Laß mich dir unser Lager zeigen. Es wird getanzt.«

»Das würde ich auch gern.« Sie lächelte zurück.

Ila richtete sich von ihrer Tätigkeit auf, Brotlaibe aus dem kleinen eisernen Ofen zu nehmen. »Aber das Essen ist fertig, Aram.«

»Ich werde bei Mutter essen«, sagte Aram über die Schulter hinweg, als er Egwene an der Hand vom Wagen wegzog. »Wir werden beide bei Mutter essen.« Er warf Perrin ein triumphierendes Lächeln zu. Egwene lachte, als sie wegrannten.

Perrin sprang auf und hielt dann doch inne. Es war ja nicht so, daß ihr irgend etwas Schlimmes geschehen könne, nicht, wenn das Lager diesem Gesetz des Blattes gehorchte, wie Raen gesagt hatte. Er sah Raen und Ila an, die beide ihrem Enkel niedergeschlagen hinterherblickten, und sagte: »Es tut mir leid. Ich bin hier Gast und hätte nicht... «

»Sei kein Narr«, sagte Ila beruhigend. »Es war seine Schuld, nicht deine. Setz dich und iß.«

»Aram ist ein junger Mann mit Problemen«, sagte Raen traurig. »Er ist ein guter Junge, aber manchmal glaube ich, er findet das Gesetz des Blattes schwer einzuhalten. Ich fürchte, das geht einigen so. Bitte. Mein Feuer ist dein.«

Perrin setzte sich langsam wieder hin. Es war ihm immer noch peinlich. »Was geschieht mit jemandem, der dem Gesetz nicht folgen kann?« fragte er. »Ich meine, wenn es sich dabei um einen Kesselflicker handelt.«

Raen und Ila tauschten einen besorgten Blick, und Raen sagte: »Sie verlassen uns. Die Verlorenen gehen in die Dörfer, um dort weiterzuleben.«

Ila blickte in die Richtung, in die ihr Enkel gegangen war. »Die Verlorenen können nicht glücklich sein.« Sie seufzte, doch ihr Gesicht erschien wieder ruhig, als sie ihnen die Schüsseln und Löffel reichte.

Perrin blickte zu Boden und wünschte, er hätte nicht gefragt. Es kam kein Gespräch mehr auf, während Ila ihre Schüsseln mit einer dicken Gemüsesuppe füllte und gewaltige Scheiben ihres knusprigen Brotes austeilte, und auch nicht beim Essen. Die Suppe schmeckte köstlich, und Perrin aß drei Schüsseln leer, bevor er aufhörte. Elyas, so stellte er grinsend fest, leerte vier davon.

Nach dem Essen stopfte Raen seine Pfeife. Elyas holte die seine hervor und stopfte sie mit Tabak aus Raens Ölzeugbeutel. Als sie mit dem Entzünden und Nachstopfen und Wiederentzünden fertig waren, lehnten sie sich schweigend zurück. Ila holte sich ein Bündel Wolle zum Stricken.

Die Sonne war nur noch ein roter Fleck über den Baumwipfeln im Westen. Das Lager hatte sich auf die Nacht vorbereitet, aber die Betriebsamkeit wurde nicht geringer; sie änderte sich nur. Die Musikanten, die bei ihrer Ankunft im Lager gespielt hatten, waren durch andere ersetzt worden, und noch mehr Menschen als zuvor tanzten im Feuerschein. Ihre Schatten tanzten an den Wänden der Wagen mit. Irgendwo im Lager erhob sich ein Chor männlicher Stimmen. Perrin rutschte von dem Stamm, auf dem er gesessen hatte, auf den Boden und döste bald vor sich hin.

Nach einer Weile sagte Raen: »Hast du andere Tuatha'an besucht, seit du im letzten Frühling bei uns warst, Elyas?«

Perrins Augen öffneten sich und schlossen sich wieder halb. »Nein«, antwortete Elyas, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Ich halte mich nicht gern bei zu vielen Menschen gleichzeitig auf.«

Raen lachte leise. »Besonders, wenn es Menschen sind, deren Lebensart gerade das Gegenteil deiner eigenen darstellt, eh? Nein, mein alter Freund, mach dir keine Gedanken. Ich habe schon vor Jahren die Hoffnung aufgegeben, du könntest eines Tages nach dem Gesetz leben. Aber seit unserem letzten Treffen habe ich eine Geschichte gehört, und falls du sie noch nicht kennst, könnte sie dich wohl interessieren. Für mich ist sie aufschlußreich, und ich habe sie immer wieder gehört, jedesmal wenn wir andere Stämme des Volkes getroffen haben.« »Ich höre.«

»Die Sache begann im Frühjahr vor zwei Jahren bei einem Stamm unseres Volkes, der die Wüste auf der Nordroute durchquerte.«

Perrin riß die Augen auf. »Die Wüste? Die Aiel-Wüste? Sie durchquerten die Aiel-Wüste?«

»Einige Menschen können die Wüste betreten, ohne belästigt zu werden«, sagte Elyas. »Gaukler. Händler, falls sie ehrlich sind. Die Tuatha'an ziehen die ganze Zeit durch die Wüste. Vor dem Baum und dem Aiel-Krieg kamen auch Kaufleute aus Cairhien.«

»Die Aielmänner meiden uns«, sagte Raen traurig, »obwohl sich viele von uns bemüht haben, mit ihnen zu sprechen. Sie beobachten uns aus der Ferne, aber sie kommen uns nicht nahe, und sie lassen uns nicht nahe an sich herankommen. Manchmal grüble ich darüber nach, ob sie wohl das Lied kennen, aber ich denke doch, das ist unwahrscheinlich. Bei den Aiel singen die Männer nicht, wußtet ihr das? Ist das nicht eigenartig? Von der Zeit an, da ein Aieljunge zum Mann wird, singt er nichts anderes mehr als Schlachtgesänge oder die Totenklage für die Gefallenen. Ich habe gehört, wie sie für ihre Toten gesungen haben und für diejenigen, die sie getötet hatten. Dieses Lied kann selbst die Steine zum Weinen bringen.« Ila, die zuhörte, nickte zustimmend über ihrem Stricken. Perrin sah sich gezwungen, seine Meinung schnell zu revidieren. Er hatte geglaubt, die Kesselflicker müßten die ganze Zeit über in Angst leben, weil sie ständig vom Weglaufen sprachen, aber niemand, der Angst hatte, würde auch nur daran denken, die Aiel-Wüste zu durchqueren. Nach dem zu urteilen, was er gehört hatte, würde überhaupt niemand im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten versuchen, durch diese Wüste zu ziehen.

»Falls das eine Geschichte über ein Lied werden soll«, begann Elyas, aber Raen schüttelte den Kopf.

»Nein, mein alter Freund, kein Lied. Ich bin nicht sicher, worum es eigentlich geht.« Er wandte seine Aufmerksamkeit Perrin zu. »Junge Aiel wagen sich oftmals in die Fäule. Einige dieser jungen Männer gehen allein, weil sie aus irgendeinem Grund glauben, sie seien dazu berufen, den Dunklen König zu töten. Die meisten gehen in kleinen Gruppen, um Trollocs zu jagen.« Raen schüttelte traurig den Kopf, und als er fortfuhr, klang seine Stimme bedrückt. »Vor zwei Jahren fand ein Stamm unseres Volkes, der durch die Wüste zog, ungefähr hundert Meilen südlich der Fäule eine dieser Gruppen.«

»Junge Frauen«, warf Ila genauso traurig wie ihr Mann ein, »kaum dem Mädchenalter entwachsen.«

Perrin gab einen Laut der Überraschung von sich, und Elyas grinste ihn ungerührt an. »Aielmädchen müssen sich nicht um das Haus kümmern und kochen, wenn sie nicht wollen, Junge. Diejenigen, die statt dessen Kriegerinnen werden wollen, werden Mitglieder in einer der Kriegergemeinschaften, Far Dareis Mai, die Töchter des Speers, und kämpfen Seite an Seite mit den Männern.«

Perrin schüttelte den Kopf. Elyas lachte über seinen Gesichtsausdruck.

Raen begann wieder mit der Geschichte, wobei in seiner Stimme sowohl Abscheu wie auch Unverständnis mitschwangen. »Die jungen Frauen waren alle tot bis auf eine, und sie lag im Sterben. Sie kroch zu den Wagen hin. Es war klar, daß sie sie als Tuatha'an erkannte. Ihre Abscheu war größer als ihre Schmerzen, doch sie hatte eine Botschaft, die ihr so wichtig war, daß sie unbedingt an jemanden weitergegeben werden mußte, selbst an uns, bevor sie starb. Es gingen auch Männer hin zu den anderen, um zu sehen, ob man ihnen helfen konnte — sie konnten ihrer Blutspur leicht folgen -, aber sie waren alle tot, genauso wie die dreifache Anzahl von Trollocs.«

Elyas fuhr hoch, so daß ihm beinahe die Pfeife aus dem Mund gefallen wäre. »Hundert Meilen weit in der Wüste? Unmöglich! Djevik KSchar wird die Wüste von den Trollocs genannt. Die Sterbestätte. Sie würden nicht einmal hundert Meilen weit in die Wüste hinausgehen, wenn alle Myrddraal der Fäule sie dorthin trieben!«

»Ihr wißt eine ziemliche Menge über Trollocs, Elyas«, sagte Perrin.

»Fahr fort mit deiner Geschichte«, forderte Elyas Raen grob auf.

»Den Trophäen nach zu schließen, die von den Aiel mitgebracht worden waren, war es klar, daß sie aus der Fäule kamen. Die Trollocs waren ihnen gefolgt, aber den Spuren nach überlebten nur wenige und konnten zurückkehren, nachdem sie die Aiel getötet hatten. Was das Mädchen betrifft, so ließ sie sich von niemandem berühren, nicht einmal, um ihre Wunden zu versorgen. Doch sie packte den Sucher dieses Stammes am Mantel, und nun gebe ich euch wörtlich wieder, was sie sagte: ›Der Blattverderber will das Auge der Welt blenden, Verlorener. Er will die Große Schlange töten. Warne die Menschen, Verlorener. Der Sichtblender kommt. Sag ihnen, sie sollen sich bereithalten für den, Der Mit der Dämmerung Kommt. Sag ihnen...‹ Und dann starb sie. Blattverderber und Sichtblender«, fügte Raen für Perrin hinzu, »sind Aielnamen für den Dunklen König, aber sonst verstehe ich kein Wort. Und doch hielt sie es für wichtig genug, um sich an die zu wenden, die sie offensichtlich verachtete, damit sie es mit ihrem letzten Atemzug weitergeben konnte. Aber für wen? Wir sind wir, das Volk, aber ich glaube kaum, daß es für uns bestimmt war. Die Aiel? Sie würden uns nicht dazu kommen lassen, es ihnen zu erzählen, auch wenn wir es versuchten.« Er seufzte schwer. »Sie nannte uns die Verlorenen. Ich hatte nicht gewußt, wie sehr sie uns verachten.« Ila legte ihr Strickzeug in den Schoß und berührte sanft seinen Kopf.

»Etwas, das sie in der Fäule erfahren haben«, überlegte Elyas laut. »Aber nichts ergibt einen Sinn. Die Große Schlange töten? Die Zeit selbst ermorden? Und das Auge der Welt blenden? Da kann man genausogut behaupten, er wolle einen Felsen aushungern. Vielleicht hat sie nur phantasiert, Raen? Verwundet, im Sterben — sie könnte den Kontakt mit der Wirklichkeit bereits verloren haben. Vielleicht wußte sie nicht einmal, wer diese Tuatha'an waren?«

»Sie wußte, was sie sagte und zu wem sie es sagte. Es war für sie wichtiger als ihr eigenes Leben, und wir verstehen es noch nicht einmal. Als ich dich in unser Lager kommen sah, dachte ich, wir könnten endlich die Antwort auf dieses Rätsel finden, denn du bist« — Elyas machte eine schnelle Handbewegung, und Raen sagte offensichtlich etwas anderes, als er vorgehabt hatte — »ein Freund und kennst viele seltsame Dinge.«

»Aber nichts darüber«, sagte Elyas in einem Ton, der eindeutig das Gespräch abschloß. Die Stille am Lagerfeuer wurde nur noch von Musik und Gelächter unterbrochen, die von anderen Teilen des nachtverhüllten Lagers herübertrieben.

Als er dann mit der Schulter an einen der Baumklötze am Lagerfeuer gelehnt dalag, bemühte sich Perrin, die Botschaft der Aielfrau zu enträtseln, aber sie ergab für ihn auch nicht mehr Sinn als für Raen oder Elyas. Das Auge der Welt. Das hatte er mehr als einmal in seinen Träumen gesehen, aber über diese Träume wollte er nicht nachdenken. Aber wie stand es mit Elyas? Da gab es eine Frage, auf die er gern eine Antwort gehabt hätte. Was hatte Raen über den bärtigen Mann sagen wollen, und warum hatte Elyas ihn dabei unterbrochen? Auch da hatte er kein Glück. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Aielmädchen sein mochten — in die Fäule gehen, wo sich seines Wissens nur Behüter hineinwagten, um gegen Trollocs zu kämpfen -, als er hörte, daß Egwene vor sich hinsingend zurückkam.

Er rappelte sich hoch und empfing sie am Rand des Feuerscheins. Sie blieb stehen und sah ihn mit schräg gehaltenem Kopf an. Im Dunklen konnte er ihren Gesichtsausdruck nicht sehen.

»Du warst lange weg«, sagte er. »Hast du dich amüsiert?«

»Wir haben bei seiner Mutter gegessen«, antwortete sie. »Und dann tanzten wir... und lachten. Es ist eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal tanzte.«

»Er erinnert mich an Wil al'Seen. Du warst immer klug genug, um dich nicht von Wil einfangen zu lassen.«

»Aram ist ein lieber Junge, und es macht Spaß, mit ihm zusammenzusein«, sagte sie mit angespannter Stimme. »Er bringt mich zum Lachen.«

Perrin seufzte. »Es tut mir leid. Ich freue mich, wenn du dich beim Tanzen amüsiert hast.«

Plötzlich lag sie in seinen Armen und weinte an seiner Brust. Ungeschickt streichelte er ihr Haar. Rand wüßte, was man da am besten tut, dachte er. Rand hatte es leicht bei den Mädchen. Nicht so wie er, der niemals wußte, was er machen oder sagen sollte. »Ich habe ja gesagt, es tut mir leid, Egwene. Ich freue mich wirklich, daß du dich beim Tanzen amüsiert hast. Wirklich!«

»Sag mir, daß sie noch am Leben sind«, murmelte sie an seiner Brust. »Was?«

Sie drückte sich auf eine Armlänge von ihm weg, die Hände auf seinen Armen, und blickte in der Dunkelheit zu ihm auf. »Rand und Mat. Die anderen. Sag mir, daß sie noch leben.«

Er atmete tief ein und sah sich unsicher um. »Sie leben«, sagte er schließlich.

»Gut.« Sie rieb sich mit geschickten Fingern die Wangen. »Das war es, was ich hören wollte. Gute Nacht, Perrin. Schlaf gut.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, hauchte ihm einen Kuß auf die Wange und eilte an ihm vorbei, bevor er etwas sagen konnte. Er drehte sich um und beobachtete sie. Ila erhob sich, um sie zu empfangen, und die beiden Frauen gingen, sich leise unterhaltend, in den Wagen. Rand würde es verstehen, dachte er, aber ich nicht.

In der fernen Nacht heulten die Wölfe die erste dünne Sichel des neuen Mondes am Horizont an, und er schauderte. Morgen wurde er sich wieder der Wölfe wegen Gedanken machen müssen. Er irrte sich. Sie warteten schon auf ihn und begrüßten ihn in seinen Träumen.

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