Noch während er durch die Tür trat, suchte Rands Blick seinen Vater — seinen Vater, ganz gleich, was irgend jemand behauptete. Tam hatte sich keine Handbreit bewegt. Seine Augen waren immer noch geschlossen, und sein Atem ging unregelmäßig, stoßweise und röchelnd. Der weißhaarige Gaukler brach seine Unterhaltung mit dem Bürgermeister ab, der sich gerade über das Bett beugte und nach Tam sah, und blickte Moiraine unsicher an. Die Aes Sedai achtete nicht auf ihn. Sie blickte nur auf Tam und sah ihn mit gerunzelter Stirn eindringlich an.
Thom steckte sich die kalte Pfeife zwischen die Zähne, zog sie aber schnell wieder heraus und sah sie böse an. »Der Mensch kann nicht einmal in Frieden rauchen«, murmelte er. »Ich werde mich mal vergewissern, ob nicht irgendein Bauer meinen Umhang stiehlt, um seine Kuh zu wärmen. Dort draußen kann ich wenigstens meine Pfeife rauchen.« Damit eilte er aus dem Zimmer.
Lan sah ihm nach, das kantige Gesicht so ausdruckslos wie ein Fels. »Ich mag diesen Mann nicht. Er hat etwas an sich, das mich mißtrauisch macht. Letzte Nacht habe ich ihn nirgends gesehen.«
»Er war da«, sagte Bran, der Moiraine ebenfalls unsicher beobachtete. »Er muß dagewesen sein. Sein Umhang ist nicht vom Kaminfeuer versengt worden.«
Rand war es gleich, wenn der Gaukler sich die Nacht über im Stall versteckt hatte. »Mein Vater?« wandte er sich bittend an Moiraine.
Bran öffnete den Mund, doch bevor er sprechen konnte, sagte Moiraine: »Laßt mich mit ihm allein, Meister al'Vere! Ihr könnt hier nichts tun, außer mir im Weg zu stehen.«
Bran zögerte ein Weilchen. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Protest, sich in der eigenen Schenke herumkommandieren zu lassen, und der Angst, einer Aes Sedai den Gehorsam zu verweigern. Schließlich richtete er sich auf und schlug Rand auf die Schulter. »Komm mit, Junge! Lassen wir Moiraine Sedai ihre... äh... ihre... Du kannst mir unten bei einer Menge Sachen behilflich sein. Bevor du dich versiehst, ruft Tam nach seiner Pfeife und einem Krug Bier.«
»Kann ich bleiben?« fragte Rand, obwohl Moiraine nur Tam zu bemerken schien. Brans Hände verkrampften sich, doch Rand gab nicht auf. »Bitte! Ich werde Euch nicht im Weg stehen. Ihr werdet nicht einmal merken, daß ich da bin. Er ist mein Vater«, fügte er so flehentlich hinzu, daß es ihn selbst überraschte und sich die Augen des Bürgermeisters erstaunt weiteten.
»Ja, ja«, sagte Moiraine ungeduldig. Sie hatte ihren Umhang und Stock nachlässig auf den einzigen Stuhl im Zimmer geworfen und krempelte gerade die Ärmel ihres Kleids bis zu den Ellbogen hoch. Auch während sie mit anderen sprach, galt ihre ganze Aufmerksamkeit Tam. »Setz dich dort drüben hin. Du auch, Lan.« Sie zeigte fahrig in Richtung einer langen Bank, die an einer Wand stand. Sie musterte Tam langsam von Kopf bis Fuß, aber Rand hatte das eigenartige Gefühl, daß sie auf irgendeine Art durch ihn hindurchblickte. »Ihr könnt miteinander sprechen, wenn ihr wollt«, fuhr sie abwesend fort, »aber bitte leise. Jetzt geht bitte, Meister al'Vere. Dies ist ein Krankenzimmer und kein Versammlungsraum. Sorgt dafür, daß ich nicht gestört werde.«
Der Bürgermeister brummte ein wenig, allerdings nicht sonderlich laut, drückte nochmals Rands Schulter und schloß dann folgsam, wenn auch zögernd die Tür hinter sich. Die Aes Sedai murmelte leise vor sich hin, kniete sich vor das Bett und legte die Hände leicht auf Tams Brust. Sie schloß die Augen, bewegte sich längere Zeit nicht und gab auch keinen Laut von sich. In den Geschichten wurden die Taten der Aes Sedai immer von Blitzen und Donnerhall begleitet oder von anderen Anzeichen großer Tatkraft und Macht. Der Macht. Der Einen Macht aus der Wahren Quelle, die das Rad der Zeit antrieb. Das war kein Thema, über das Rand gern nachdachte — Tam im Einfluß der Einen Macht und er im gleichen Raum, wo sie angewandt wurde. Es war schon schlimm genug, sich im gleichen Dorf zu befinden. Soweit er es allerdings beurteilen konnte, konnte Moiraine durchaus eingeschlafen sein. Und doch glaubte er, daß Tams Atmung leichter klang. Sie mußte irgend etwas getan haben. Er konzentrierte sich ganz aufs Beobachten. Als Lan ihn leise ansprach, fuhr er zusammen. »Das ist eine schöne Waffe, die du da trägst. Könnte es sein, daß auf der Klinge ein Reiher zu sehen ist?«
Einen Augenblick lang starrte er den Behüter an und begriff nicht, wovon der sprach. Er hatte Tams Schwert in der Aufregung ganz vergessen. Es schien auch nicht mehr so schwer zu sein. »Ja, stimmt. Was tut sie?«
»Ich hätte nicht geglaubt, an einem Ort wie diesem ein mit dem Reiher gekennzeichnetes Schwert anzutreffen«, sagte Lan.
»Es gehört meinem Vater.« Er sah Lans Schwert an. Der Griff war gerade noch unter dem Umhang sichtbar. Die beiden Schwerter sahen sich recht ähnlich, auch wenn auf dem des Behüters kein Reiher sichtbar war. Er blickte wieder zum Bett hinüber. Tams Atmung klang wirklich leichter, und das Röcheln war nicht mehr zu hören. Da war er ganz sicher. »Er hat es vor langer Zeit gekauft.«
»Seltsam, daß ein Schäfer ein solches Schwert kauft.«
Rand erlaubte sich einen Seitenblick auf Lan. Wenn ein Fremder an einem Schwert solches Interesse zeigte, war das für ihn Schnüffelei. Wenn es aber ein Behüter war... Trotzdem fühlte er die Notwendigkeit einer Rechtfertigung. »Soviel ich weiß, hat er es niemals benutzt. Er sagte, es sei nutzlos. Jedenfalls bis letzte Nacht. Ich wußte bis dahin nicht einmal, daß er es besaß.«
»So, er nannte es also nutzlos. Er muß nicht immer dieser Meinung gewesen sein.« Lan berührte die Scheide an Rands Seite kurz mit einem Finger. »Es gibt Orte, wo der Reiher als Kennzeichen des herausragenden Schwertkämpfers gilt. Diese Klinge muß seltsame Wege gegangen sein, bis sie bei einem Schäfer von den Zwei Flüssen landete.«
Rand überhörte die unausgesprochene Frage. Moiraine hatte sich immer noch nicht bewegt. Tat die Aes Sedai wirklich etwas? Er schauderte und rieb sich die Arme, unschlüssig, ob er überhaupt wissen wollte, was sie tat. Eine Aes Sedai.
Eine Frage kam ihm in den Sinn, die er eigentlich nicht stellen wollte, doch eine Antwort wollte er schon haben. »Der Bürgermeister... « Er räusperte sich und atmete tief ein. »Der Bürgermeister sagte, der einzige Grund, warum vom Dorf noch etwas übriggeblieben ist, wärt Ihr und sie.« Er schaffte es, den Behüter anzusehen. »Wenn man Euch etwas über einen Mann im Wald gesagt hätte... einen Mann, der den Leuten Angst einjagt, wenn er sie nur ansieht... hätte Euch das gewarnt? Ein Mann, dessen Pferd lautlos einhergeht? Und der Wind berührt seinen Mantel nicht? Hättet Ihr dann gewußt, was geschehen würde? Hättet Ihr und Moiraine Sedai das Unglück verhindern können, wenn Ihr von ihm gewußt hättet?«
»Nicht ohne ein halbes Dutzend meiner Schwestern«, sagte Moiraine, und Rand fuhr hoch. Sie kniete immer noch am Bett, aber sie hatte die Hände von Tam genommen und sich halb umgedreht, um die beiden auf der Bank anzusehen. Ihre Stimme blieb leise, doch ihre Augen nagelten Rand an die Wand. »Wenn ich bei der Abreise von Tar Valon gewußt hätte, daß ich hier Trollocs und einen Myrddraal finden würde, hätte ich ein halbes Dutzend von ihnen mitgebracht — oder auch ein Dutzend, und wenn ich sie an den Haaren hätte herschleifen müssen. Was mich betrifft, hätte auch eine Warnung einen Monat vorher keinen Unterschied gemacht. Vielleicht. Ein einzelner Mensch kann eben nur soviel tun, selbst wenn man die Eine Macht zur Verfügung hat, und letzte Nacht haben sich in diesem Gebiet vielleicht mehr als hundert Trollocs herumgetrieben. Eine ganze Faust.«
»Es wäre trotzdem gut gewesen, es im voraus zu wissen«, sagte Lan scharf. Die Schärfe in seiner Stimme galt Rand. »Wo genau hast du ihn gesehen und wann?«
»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Moiraine. »Ich möchte nicht, daß der Junge glaubt, er trage an etwas die Schuld, wenn das nicht der Fall ist. Es ist genausogut meine Schuld. Dieser verfluchte Rabe gestern mit seinem eigenartigen Verhalten hätte mich warnen sollen. Genau wie du, mein alter Freund.« Sie schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Ich war überheblich bis zum Hochmut und sicher, daß der Einfluß des Dunklen Königs nicht so weit reichen könne. Und auch nicht in diesem Maße. Noch nicht. So sicher war ich.«
Rand zwinkerte. »Der Rabe? Ich verstehe nicht.«
»Aasfresser.« Lans Mund verzog sich angeekelt. »Die Lakaien des Dunklen Königs finden oft Spione unter den Kreaturen, die sich vom Tod ernähren. Raben und Krähen zu meist. In den Städten sind es manchmal Ratten.«
Ein Schauer lief Rand den Rücken hinunter. Raben und Krähen als Spione des Dunklen Königs? Überall sah man zur Zeit Raben und Krähen. Der Einfluß des Dunklen Königs, hatte Moiraine gesagt. Der Dunkle König war immer da — das wußte er -, doch wenn man im Licht ging, sich bemühte, ein gutes Leben zu führen und ihn nicht beim Namen nannte, dann konnte er einem nichts tun. Das glaubten jedenfalls alle; jeder sog diese Lehre schon mit der Muttermilch ein. Aber Moiraine schien sagen zu wollen...
Sein Blick fiel auf Tam, und alle anderen Gedanken verschwanden aus seinem Kopf. Das Gesicht seines Vaters war viel weniger stark gerötet als zuvor, und die Atmung hörte sich beinahe normal an. Rand wäre aufgesprungen, hätte ihn Lan nicht am Arm festgehalten. »Ihr habt es geschafft!«
Moiraine schüttelte den Kopf und seufzte. »Noch nicht. So hoffe ich zumindest. Die Waffen der Trollocs werden in einem Tal namens Thakan'dar geschmiedet, am Hang des Shayol Ghul. Einige Waffen werden vom Bösen dieses Orts erfaßt; das Metall enthält etwas vom Bösen. Diese vergifteten Klingen schlagen Wunden, die ohne Hilfe nicht heilen, oder sie verursachen ein tödliches Fieber, fremdartige Krankheiten, die unsere Medizin nicht heilen kann. Ich habe die Schmerzen deines Vaters gestillt, aber das Gift des Bösen steckt immer noch in ihm. Wenn man sich nicht mehr um ihn kümmert, wird es schwellen und ihn verzehren.«
»Aber Ihr verlaßt ihn nicht!« Rands Worte waren halb Bitte und halb Befehl. Er war erschrocken, als er erkannte, daß er so zu einer Aes Sedai gesprochen hatte, doch sie schien seinen Tonfall nicht zu bemerken.
»Nein, das tue ich nicht«, stimmte sie zu. »Ich bin sehr müde, Rand, und ich hatte seit letzter Nacht keine Möglichkeit, mich auszuruhen. Normalerweise würde das keine Rolle spielen, doch bei einer solchen Verletzung... Dies hier«, — sie nahm ein kleines in weiße Seide gehülltes Bündel aus ihrer Tasche — »ist ein Angreal.« Sie sah seinen Gesichtsausdruck. »Du hast schon vom Angreal gehört. Gut.«
Unbewußt lehnte er sich zurück, weiter weg von ihr und dem Gegenstand, den sie in der Hand hielt. In ein paar der Geschichten kam ein Angreal vor, ein Überbleibsel aus dem Zeitalter der Legenden, das von den Aes Sedai benutzt wurde, um ihre größten Taten zu vollbringen. Er war überrascht, als sie eine glatte Elfenbeinfigur auspackte, vom Alter dunklem Braun verfärbt. Sie war nicht länger als ihre Hand und stellte eine Frau in wehenden Gewändern dar, der langes Haar über die Schultern fiel.
»Wir haben vergessen, wie man sie herstellt«, sagte sie. »Soviel ist verlorengegangen und wird vielleicht nie wiedergefunden. Es gibt nur noch so wenige. Beinahe hätte der Amyrlin-Sitz mir nicht gestattet, dieses Stück mitzunehmen. Es war gut für Emondsfeld und für deinen Vater, daß man mir die Erlaubnis gegeben hat. Aber du darfst dich nicht von deiner Hoffnung beherrschen lassen. Heute kann ich damit nicht viel mehr erreichen, als ich gestern noch ohne Angreal erreicht hätte. Der Einfluß des Dunklen ist stark. Er hat Zeit gehabt, sich zu festigen.«
»Ihr könnt ihm helfen«, sagte Rand leidenschaftlich. »Ich weiß, daß Ihr es könnt.«
Moiraine lächelte. Nur ihre Lippen verzogen sich dabei ein wenig. »Wir werden sehen.« Dann wandte sie sich wieder Tam zu. Sie legte eine Hand auf seine Stirn, und in der anderen hielt sie die Elfenbeinfigur. Ihre Augen schlossen sich, und das Gesicht spannte sich in Konzentration. Sie schien kaum zu atmen.
»Der Reiter, von dem du erzählt hast«, sagte Lan leise, »der dir Angst eingejagt hat, das war sicher ein Myrddraal.«
»Ein Myrddraal!« rief Rand. »Aber die Blassen sind zwanzig Fuß groß und...« Die Worte erstarben unter dem erbarmungslosen Grinsen des Behüters.
»Manchmal, Schäfer, werden die Dinge in den Geschichten größer als in der Wirklichkeit. Glaub mir, die Wahrheit über die Halbmenschen ist groß genug. Halbmensch, Lurk, Blasser, Schattenmann — der Name hängt davon ab, in welchem Land man sich befindet, aber alle bedeuten Myrddraal. Die Blassen sind Abkömmlinge von Trollocs, die fast wieder wie die ursprünglichen Menschen wirken, die von den Schattenlords benützt wurden, um Trollocs zu züchten. Beinahe. Aber wenn auch die menschlichen Merkmale in ihnen stärker ausgeprägt sind, so ist es doch der Einfluß des Bösen, der die Trollocs zu Zerrbildern macht. Halbmenschen haben gewisse Kräfte, und zwar von der Art, wie sie vom Dunklen König ausgeht. Nur die schwächsten Aes Sedai unterlägen einem Blassen im Einzelkampf; doch mancher gute und treue Mann ist ihnen zum Opfer gefallen. Seit den Kriegen, die das Zeitalter der Legenden beendeten, seit die Verlorenen gebunden wurden, sind die Halbmenschen das Gehirn, das einer Trolloc-Faust sagt, wo sie zuschlagen soll. In den Tagen der Trolloc-Kriege haben Halbmenschen die Trollocs in die Schlacht geführt, unter dem Kommando der Schattenlords.«
»Er hat mir Angst eingejagt«, sagte Rand sehr leise. »Er hat mich nur angesehen, und... « Ihn schauderte.
»Du mußt dich deshalb nicht schämen, Schäfer. Mir jagen sie auch Angst ein. Ich habe Männer gesehen, die ihr ganzes Leben lang als Soldaten kämpften, und wenn sie einem Halbmensch gegenüberstanden, dann erstarrten sie wie ein Kaninchen vor der Schlange. Im Norden, im Grenzgebiet der Großen Fäule, gibt es ein Sprichwort: ›Der Blick der Augenlosen bedeutet Angst.‹«
»Die Augenlosen?« fragte Rand, und Lan nickte.
»Myrddraal sehen wie die Adler, im Dunklen so gut wie am Tag, aber sie haben keine Augen. Ich kann mir kaum etwas vorstellen, was noch gefährlicher wäre, als einem Myrddraal gegenüberzustehen. Moiraine Sedai und ich versuchten, den Myrddraal, der gestern abend hier war, zu töten, und wir versagten jedesmal. Halbmenschen haben das typische Glück, das vom Dunklen König ausgeht.«
Rand schluckte. »Ein Trolloc sagte, der Myrddraal wolle mit mir sprechen. Ich wußte nicht, was das bedeutete.«
Lans Kopf fuhr hoch; seine Augen wirkten wie blaue Edelsteine. »Du hast mit einem Trolloc gesprochen?«
»Nicht direkt«, stammelte Rand. Der Blick des Behüters hielt ihn fest wie eine Falle. »Er hat zu mir gesprochen. Er hat gesagt, er würde mir nicht weh tun, und der Myrddraal wolle mit mir reden. Dann hat er versucht, mich zu töten.« Er leckte sich die Lippen und rieb die Hände am genoppten Leder des Schwertgriffs. In kurzen abgehackten Sätzen beschrieb er seine Rückkehr zum Haus. »Statt dessen habe ich ihn getötet«, endete er. »Mehr durch Zufall. Er ist auf mich losgesprungen, und ich hatte das Schwert in der Hand.«
Lans Gesichtsausdruck wurde etwas weicher, sofern ein Felsen überhaupt erweichen konnte. »Trotzdem ist das etwas Erwähnenswertes, Schäfer. Bis letzte Nacht gab es wenige Männer südlich der Grenzgebiete, die von sich behaupten konnten, sie hätten einen Trolloc gesehen, geschweige denn getötet.«
»Und noch weniger, die einen Trolloc allein und ohne Hilfe getötet haben«, sagte Moiraine müde. »Es ist vollbracht, Rand. Lan, hilf mir auf!«
Der Behüter sprang zu ihr hin, aber er war langsamer als Rand, der zum Bett eilte. Tams Haut fühlte sich kühl an, obwohl sein Gesicht noch einen fahlen, erschöpften Eindruck machte, als habe er schon lange keine Sonne mehr gesehen. Seine Augen waren noch geschlossen, aber er atmete tief und normal im Schlaf.
»Wird er jetzt wieder ganz gesund?« fragte Rand besorgt.
»Wenn er viel ruht, dann ja«, sagte Moiraine. »Ein paar Wochen im Bett, und er ist wieder so gesund wie vorher.« Sie ging unsicher, obwohl sie sich bei Lan eingehakt hatte. Er warf ihren Umhang und Stock mit einer Handbewegung vom Stuhl, so daß sie sich auf das Kissen setzen konnte. Mit einem Seufzer ließ sie sich nieder. Dann umwickelte sie langsam und vorsichtig das Angreal und steckte es wieder in ihre Tasche.
Rands Oberkörper zitterte; er biß sich auf die Unterlippe, damit er nicht laut loslachte. Gleichzeitig mußte er sich mit einer Hand Tränen aus den Augen wischen. »Ich danke Euch.«
»Im Zeitalter der Legenden«, fuhr Moiraine fort, »konnten einige Aes Sedai ein Leben wiederherstellen, wenn nur der kleinste Funke davon übrig war. Aber diese Tage sind lang vorbei — vielleicht für immer. Soviel ist verlorengegangen; nicht nur das Geheimnis, wie man ein Angreal anfertigt. So vieles könnte vollbracht werden, doch wir wagen es nicht einmal, davon zu träumen, falls wir uns überhaupt daran erinnern. Heute gibt es viel weniger von uns. Einige Talente sind fast verschwunden und viele von denen, die es immer noch gibt, scheinen schwächer ausgeprägt zu sein. Wir benötigen heutzutage sowohl den Willen als auch die Kraft, von denen der Körper zehren kann, sonst können auch die stärksten von uns keine Heilung mehr vollbringen. Es ist ein Glück, daß dein Vater ein starker Mann ist, körperlich wie geistig. So verbrauchte er wohl viel Kraft in seinem Kampf ums Überleben, aber alles, was noch übrig ist, kann er nun zu seiner Erholung gebrauchen. Das wird einige Zeit dauern, doch der Einfluß des Bösen ist verschwunden.«
»Ich kann das niemals wiedergutmachen«, sagte er, ohne die Augen von Tam zu nehmen, »aber ich werde alles für Euch tun, was in meiner Macht steht. Alles!« Er dachte an das Gespräch über Preise und an sein Versprechen. Als er so neben Tam kniete, meinte er es mit diesem Versprechen sogar noch ernster als zuvor, doch es fiel ihm immer noch nicht leicht, sie anzusehen. »Alles. Solang es dem Dorf und meinen Freunden nicht schadet.«
Moiraine tat die Worte mit einer Handbewegung ab. »Wenn du es für nötig hältst. Ich möchte sowieso mit dir sprechen. Du wirst zweifellos zur gleichen Zeit wie wir das Dorf verlassen, und dann können wir uns ausführlich unterhalten.«
»Verlassen!« rief er und stand schnell auf. »Ist es wirklich so schlimm? Für mich sahen alle so aus, als wollten sie gleich mit dem Wiederaufbau beginnen. Wir sind ziemlich bodenständige Leute hier bei den Zwei Flüssen. Keiner verläßt jemals das Dorf.« »Rand... «
»Und wo sollten wir auch hin? Padan Fain sagte, das Wetter sei anderswo genauso schlecht. Er ist... Er war... der fahrende Händler. Die Trollocs... « Rand schluckte und wünschte sich, Thom Merrilin hätte ihm nicht erzählt, was Trollocs aßen. »Meiner Meinung nach ist es das beste, wir bleiben hier, wo wir hingehören, zwischen den Zwei Flüssen, und bauen alles wieder auf. Die Saat ist im Boden, und bald ist es warm genug für die Schafschur. Ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, daß wir das Dorf verlassen — ich wette, einer der Coplins -, aber wer es auch war... «
»Schäfer«, unterbrach ihn Lan, »du redest, während du zuhören solltest.«
Er sah beide groß an. Er hatte ziemlich dummes Zeug geredet, das wurde ihm jetzt klar, und einfach weitergesprochen, als sie versuchte, ihm etwas zu erklären. Während eine Aes Sedai zu sprechen versuchte. Er fragte sich, was er sagen sollte, wie er sich entschuldigen konnte, aber Moiraine lächelte in seine Gedanken hinein.
»Ich verstehe dich, Rand«, sagte sie und er hatte das unangenehme Gefühl, daß sie das wirklich tat. »Denk dir nichts dabei.« Ihr Mund spannte sich, und sie schüttelte den Kopf. »Ich habe das, wie ich sehe, schlecht angepackt. Wahrscheinlich hätte ich mich zuerst ausruhen sollen. Du bist es, der das Dorf verlassen wird, Rand. Du mußt gehen, um deines Dorfes willen.«
»Ich?« Er räusperte sich und versuchte es nochmals. »Ich?« Diesmal klang es ein wenig besser. »Warum muß ich gehen? Ich verstehe das alles nicht. Ich will gar nicht weg.«
Moiraine blickte Lan an, und der Behüter löste die verschränkten Arme. Er sah Rand unter seinem ledernen Stirnband hervor an, und Rand fühlte sich wieder, als werde er auf einer unsichtbaren Waage gewogen. »Hast du gewußt«, fragte Lan plötzlich, »daß einige Häuser nicht angegriffen wurden?«
»Das halbe Dorf liegt in Schutt und Asche«, protestierte er, aber der Behüter wischte den Einwand mit der Hand beiseite.
»Einige Häuser wurden nur angezündet, um Verwirrung zu stiften. Hinterher wurden sie von den Trollocs übersehen, genau wie die Leute, die daraus flohen, sofern sie nicht tatsächlich dem eigentlichen Angriff im Weg standen. Die meisten Leute, die von den entfernteren Höfen hereinkamen, sahen nicht einmal ein Trolloc-Haar und wenn, dann auch nur aus einiger Entfernung. Die meisten wußten nicht einmal, daß etwas los war, bis sie das Zerstörungswerk sahen.«
»Ich habe etwas über Darl Coplin gehört«, sagte Rand langsam. »Ich schätze, er hat es einfach nicht begriffen.«
»Zwei Bauernhöfe wurden angegriffen«, fuhr Lan fort. »Eurer und noch einer. Wegen Bel Tine waren alle, die auf dem anderen Hof wohnen, schon im Dorf. Viele Menschen wurden gerettet, weil der Myrddraal die Bräuche im Gebiet der Zwei Flüsse nicht kannte. Das Fest und die Winternacht machten es ihm fast unmöglich, seine Aufgabe zu erfüllen, aber das wußte er nicht.«
Rand sah Moiraine an, die sich in ihren Stuhl hineinkuschelte, doch sie schwieg und beobachtete ihn nur und hatte einen Finger an die Lippen gelegt. »Unser Hof und wessen Hof noch?« fragte er schließlich.
»Der Aybara-Hof«, antwortete Lan. »Hier in Emondsfeld griffen sie zuerst die Schmiede an, dann das Haus des Schmieds und dann Meister Cauthons Haus.«
Rands Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Das ist doch verrückt«, brachte er gerade noch heraus. Dann fuhr er zusammen, als Moiraine sich aufrichtete. »Nicht verrückt, Rand«, sagte sie. »Zielbewußt. Die Trollocs kamen nicht aus Zufall nach Emondsfeld, und was sie taten, das taten sie nicht aus Mordlust und Freude am Niederbrennen, auch wenn sie ihren Spaß daran hatten. Sie wußten, was — oder besser: wen — sie suchten. Die Trollocs kamen, um junge Männer eines bestimmten Alters zu fangen oder zu töten, die in der Nähe von Emondsfeld wohnen.«
»Mein Alter?« Rands Stimme zitterte, und es kümmerte ihn nicht einmal. »Licht! Mat. Was ist mit Perrin?«
»Sie leben und sind wohlauf«, versicherte ihm Moiraine, »wenn auch ein bißchen schmutziger.«
»Ban Crawe und Lem Thane?«
»Waren niemals in Gefahr«, sagte Lan. »Zumindest nicht mehr als alle anderen.«
»Aber sie haben den Reiter, den Blassen, auch gesehen, und sie sind im gleichen Alter wie ich.«
»Meister Crawes Haus wurde nicht einmal beschädigt«, sagte Moiraine, »und der Müller mit seiner Familie verschlief den Angriff, bis sie von dem Lärm geweckt wurden. Ban ist zehn Monate älter als du und Lem acht Monate jünger.« Sie lächelte trocken angesichts seiner Überraschung. »Ich habe dir gesagt, daß ich Fragen stellte. Und ich habe auch gesagt, junge Männer eines bestimmten Alters. Du und deine beiden Freunde, ihr seid altersmäßig nur ein paar Wochen auseinander. Euch drei suchte der Myrddraal und niemanden sonst!«
Rand trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Es war ihm höchst unangenehm, daß sie ihn so ansahen, als könnten ihre Augen in seinem Hirn lesen und alles wahrnehmen, was darin verborgen lag. »Was können sie von uns wollen? Wir sind nur Bauern, Schäfer.«
»Diese Frage kann in der Gegend der Zwei Flüsse nicht beantwortet werden«, sagte Moiraine ruhig, »doch die Antwort ist wichtig. Das zeigt uns das Auftauchen von Trollocs, wo sie zweitausend Jahre lang nicht mehr gesehen worden waren.«
»Es gibt eine Menge Berichte über Trolloc-Überfälle«, sagte Rand stur. »Wir hatten eben hier noch nie einen. Behüter kämpfen die ganze Zeit über gegen Trollocs.«
Lan schnaubte. »Junge, ich rechne damit, am Rand der Großen Fäule auf Trollocs zu treffen, aber nicht hier, fast sechshundert Tagesmärsche weiter südlich. Das war ein Überfall letzte Nacht, wie ich ihn in Shienar erwarte oder in einem der Grenzlande.«
»In einem von euch«, erklärte Moiraine, »oder in allen dreien sieht der Dunkle König eine Gefahr.«
»Das... Das ist unmöglich.« Rand stolperte zum Fenster und blickte hinaus auf das Dorf und auf die Menschen, die inmitten der Ruinen arbeiteten. »Es ist mir gleich, was geschehen ist, aber das ist unmöglich.« Etwas auf dem Grün zog seinen Blick an. Er sah genauer hin und erkannte dann, daß es der angekohlte Stumpf des Frühlingsbaums war. Ein schönes Bel Tine mit einem Krämer, einem Gaukler und Fremden. Er fror bei dem Gedanken und schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Nein, ich bin Schäfer. Der Dunkle König kann mich nicht meinen.«
»Es machte große Mühe«, sagte Lan ernst, »so viele Trollocs so weit entfernt einzusetzen, ohne von den Grenzlanden bis Caemlyn und noch weiter Aufsehen zu erregen. Ich wüßte gern, wie sie das fertiggebracht haben. Glaubst du wirklich, sie haben das alles angestellt, nur um ein paar Häuser niederzubrennen?«
»Sie kommen zurück«, fügte Moiraine hinzu.
Rand hatte schon den Mund geöffnet, um Lan zu widersprechen, aber dieser Satz erstickte seine Worte im Ansatz. Er fuhr zu ihr herum. »Zurück? Könnt Ihr sie nicht aufhalten? Ihr habt das doch letzte Nacht auch geschafft, und dabei wurdet Ihr überrascht. Jetzt wißt Ihr, daß sie da sind.«
»Vielleicht«, antwortete Moiraine. »Ich könnte Tar Valon benachrichtigen, um einige meiner Schwestern anzufordern. Sie könnten möglicherweise hier ankommen, bevor wir sie brauchen. Auch der Myrddraal weiß, daß ich hier bin, und wird vielleicht deshalb nicht angreifen, zumindest nicht offen, solange er keine Verstärkung bekommt — Myrddraal und Trollocs. Genügend Aes Sedai und Behüter könnten die Trollocs zurückschlagen, obwohl ich nicht sagen kann, wie viele Schlachten wir dazu benötigen würden.«
Eine Vision tanzte ihm durch den Kopf: Emondsfeld völlig niedergebrannt. Alle Bauernhöfe in Schutt und Asche. Und Wachhügel und Devenritt und Taren-Fähre dazu. Nur Asche und Blut. »Nein«, sagte er, und er fühlte, wie etwas in seinem Innern zerbrach, wie etwas seinem Zugriff entglitt. »Deshalb muß ich fort, nicht wahr? Die Trollocs kommen nicht zurück, wenn ich nicht mehr hier bin.« Eine letzte Spur von Sturheit ließ ihn hinzufügen: »Wenn sie wirklich hinter mir her sind.«
Moiraines Augenbrauen hoben sich, als sei sie überrascht, daß er immer noch nicht überzeugt war, aber Lan sagte: »Möchtest du die Existenz deines Dorfes dafür riskieren, Schäfer? Der ganzen Zwei Flüsse?«
Rands Sturheit verflog. »Nein«, sagte er wieder und fühlte diese Leere in seinem Innern erneut. »Perrin und Mat müssen auch fort, ja?« Die Zwei Flüsse verlassen. Sein Heim und seinen Vater verlassen. Wenigstens würde es Tam besser gehen. Wenigstens könnte er sich von ihm bestätigen lassen, daß alles, was er auf der Haldenstraße gesagt hatte, Unsinn war. »Wir könnten nach Baerlon gehen, denke ich, oder vielleicht sogar nach Caemlyn. Ich habe gehört, daß in Caemlyn mehr Menschen wohnen als im ganzen Gebiet der Zwei Flüsse. Dort wären wir sicher.« Er versuchte zu lachen, doch es klang hohl. »Ich habe früher davon geträumt, Caemlyn zu sehen. Ich hätte nie geglaubt, daß mein Wunsch auf diese Weise erfüllt würde.«
Nach langem Schweigen sagte Lan schließlich: »Ich würde nicht damit rechnen, in Caemlyn wirklich in Sicherheit zu sein. Wenn die Myrddraal dich unbedingt fangen wollen, werden sie auch dort eine Möglichkeit finden. Mauern können einen Halbmenschen nicht lange aufhalten. Und du wärst ein Narr, begriffest du nicht endlich, daß sie wirklich unbedingt deiner habhaft werden wollen.«
Rand hatte geglaubt, die tiefsten Tiefen der Niedergeschlagenheit bereits erreicht zu haben, doch nun wurde es noch ein wenig schlimmer.
»Es gibt einen sicheren Ort«, sagte Moiraine sanft, und Rand spitzte die Ohren. »In Tar Valon wärst du bei den Aes Sedai und den Behütern geborgen. Selbst während der Trolloc-Kriege wagten die Mächte des Dunklen Königs nicht, die Leuchtenden Mauern anzugreifen. Und als sie es dennoch taten, führte dieser eine Versuch zu ihrer größten Niederlage überhaupt. In Tar Valon ist alles Wissen zusammengetragen, das wir Aes Sedai seit der Zeit des Wahns erwarben. Einige Fragmente gehen sogar auf das Zeitalter der Legenden zurück. Wenn überhaupt, dann wirst du in Tar Valon erfahren, warum die Myrddraal nach dir suchen. Warum der Vater der Lügen nach dir verlangt. Das kann ich dir versprechen.«
Eine Reise bis zum fernen Tar Valon war fast unvorstellbar. Eine Reise an einen Ort, an dem er von Aes Sedai umgeben wäre. Natürlich hatte Moiraine Tam geheilt — oder es sah wenigstens so aus -, aber es gab ja noch alle diese Geschichten... Es war schon unangenehm genug, sich im gleichen Raum mit einer Aes Sedai zu befinden, aber in einer Stadt voll von ihnen? Und immer noch hatte sie ihren Preis nicht genannt. Man mußte immer bezahlen, hieß es in den Geschichten.
»Wie lange wird mein Vater schlafen?« fragte er schließlich. »Ich... Ich muß es ihm sagen. Er soll nicht aufwachen und erfahren, daß ich weg bin.« Er glaubte, von Lan einen Seufzer der Erleichterung zu hören. Er sah den Behüter neugierig an, doch Lans Gesicht war so ausdruckslos wie immer.
»Es ist unwahrscheinlich, daß er aufwacht, bevor wir abreisen«, sagte Moiraine. »Ich will bald nach dem völligen Einbruch der Dunkelheit aufbrechen. Selbst ein einziger Tag Aufenthalt könnte sich als tödlich erweisen. Es ist am besten, du hinterläßt ihm eine Botschaft.«
»In der Nacht?« meinte Rand zweifelnd, und Lan nickte.
»Der Halbmensch wird früh genug herausfinden, daß wir weg sind. Wir sollten ihm seine Aufgabe nicht noch erleichtern.«
Rand machte sich an den Decken seines Vaters zu schaffen. Der Weg nach Tar Valon war sehr weit. »In diesem Fall... In diesem Fall werde ich nun besser gehen und Mat und Perrin suchen.«
»Darum kümmere ich mich.« Moiraine stand energisch auf und legte sich den Umhang mit plötzlich wiederhergestellter Lebhaftigkeit um. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er bemühte sich sehr, nicht zusammenzuzucken. Sie drückte nicht fest zu, doch es war ein eiserner Griff, der ihn so sicher hielt wie der gegabelte Stock die Schlange. »Es ist am besten, wenn wir all das für uns behalten. Verstehst du? Die gleichen Leute, die den Drachenzahn auf die Tür der Schenke kritzelten, könnten uns Schwierigkeiten bereiten, wenn sie Bescheid wüßten.«
»Ich verstehe.« Er atmete erleichtert auf, als sie ihre Hand wegnahm. »Ich lasse dir von Frau al'Vere etwas zu essen bringen«, fuhr sie fort, als habe sie seine Reaktion gar nicht bemerkt. »Dann mußt du schlafen. Es wird eine anstrengende Reise heute nacht, selbst wenn du ausgeruht bist.«
Die Tür schloß sich hinter ihnen, und Rand stand da und blickte auf seinen Vater hinunter. Er sah ihn an und sah doch nichts. Bis zu dieser Minute war ihm nie bewußt gewesen, daß Emondsfeld ebenso ein Teil von ihm war wie er ein Teil von Emondsfeld. Jetzt wurde es ihm klar, weil er spürte, daß es dieses Gefühl gewesen war, das gerade in ihm zerbrochen war. Nun war er irgendwie vom Dorf getrennt. Der Schäfer der Nacht suchte ihn. Es war unmöglich — er war nur ein Bauer -, aber die Trollocs waren gekommen, und Lan hatte in einer Hinsicht recht: Er durfte nicht die Existenz des Dorfes gefährden, nur aus dem Gefühl heraus, Moiraine könne sich irren. Er konnte es nicht einmal jemandem erzählen; die Coplins würden deswegen bestimmt einen ganz schönen Wirbel veranstalten. Er mußte einer Aes Sedai vertrauen.
»Weck ihn jetzt nicht auf!« sagte Frau al'Vere, als der Bürgermeister die Tür hinter sich und seiner Frau schloß. Unter dem Tuch, das über dem Tablett in ihren Händen lag, duftete es köstlich und warm. Sie stellte es auf der Truhe an der Wand ab und schob Rand energisch vom Bett weg.
»Frau Moiraine hat mir gesagt, was er braucht«, sagte sie sanft, »und dazu gehört nicht, daß du ihm vor Erschöpfung auf den Kopf fällst. Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht. Laß es nicht kalt werden.«
»Ich möchte nicht, daß Ihr sie so nennt«, sagte Bran verdrießlich. »Moiraine Sedai ist die korrekte Anrede. Sie könnte böse werden.«
Frau al'Vere tätschelte ihm die Wange. »Überlaß das ruhig mir. Sie und ich, wir haben uns lange unterhalten. Und sprich leise. Wenn du Tam aufweckst, werde ich genauso wild wie Moiraine Sedai.« Sie legte die Betonung auf Moiraines Titel und zog Brans Beharrlichkeit auf diese Art ins Lächerliche. »Ihr beiden steht mir bitte nicht im Weg herum.« Mit einem liebevollen Lächeln in Richtung ihres Mannes wandte sie sich dem Bett und Tam zu.
Meister al'Vere sah Rand verdrossen an. »Sie ist eine Aes Sedai. Die Hälfte der Frauen im Dorf benimmt sich, als hätte sie einen Sitz im Frauenzirkel, und die andere Hälfte, als wäre sie ein Trolloc. Keine von ihnen scheint zu merken, daß man bei einer Aes Sedai vorsichtig sein muß. Die Männer schauen sie von der Seite her an, aber wenigstens tun sie nichts, um sie herauszufordern.«
Vorsicht! dachte Rand. Es war nicht zu spät dafür, vorsichtig zu werden. »Meister al'Vere«, sagte er langsam, »wißt Ihr, wie viele Bauernhöfe angegriffen wurden?«
»Ich habe nur von zweien gehört, darunter Eurer.« Der Bürgermeister hielt inne, zog die Stirn kraus und zuckte schließlich mit den Achseln. »Wenn man betrachtet, was hier geschehen ist, dann sind das nicht viele. Es sollte mich ja froh stimmen, aber... Na ja, vielleicht hören wir bis heute abend von weiteren.«
Rand seufzte. Nicht nötig, danach zu fragen, welcher andere Hof es war. »Hier im Dorf, haben sie da... Ich meine, konnte man an irgendwas erkennen, was sie eigentlich wollten?«
»Wollten, Junge? Ich weiß nicht, ob sie irgendwas Bestimmtes wollten es sei denn, uns alle zu töten. Es war so, wie ich schon sagte. Die Hunde bellten, und Moiraine Sedai und Lan rannten auf die Straße, und dann schrie jemand, Meister Luhhans Haus und die Schmiede stünden in Flammen. Abell Cauthons Haus loderte auf — eigentlich seltsam, es steht ja in der Dorfmitte. Jedenfalls waren dann die Trollocs überall. Nein, ich glaube nicht, daß sie etwas Bestimmtes wollten.« Er lachte kurz und hart, hörte aber nach einem wachsamen Blick auf seine Frau damit auf. Sie drehte sich nicht um. »Um die Wahrheit zu sagen«, fuhr er leiser fort, »schienen sie fast genauso verwirrt wie wir. Ich bezweifle, daß sie erwartet hatten, hier eine Aes Sedai oder einen Behüter zu finden.«
»Das nehme ich auch an«, sagte Rand mit einer Grimasse.
Wenn Moiraine in dieser Hinsicht also die Wahrheit gesagt hatte, dann stimmte wohl auch der Rest. Ein Augenblick lang überlegte er, ob er den Bürgermeister um Rat bitten solle, aber offensichtlich wußte Meister al'Vere nicht mehr über die Aes Sedai als jeder andere im Dorf. Außerdem traute er sich nicht einmal dem Bürgermeister zu erzählen, was sich wirklich abspielte -was Moiraine behauptete. Er wußte nicht, wovor er sich mehr fürchtete: ausgelacht zu werden oder daß ihm geglaubt wurde. Er rieb seinen Daumen am Griff von Tams Schwert. Sein Vater war draußen in der Welt gewesen; er mußte mehr über die Aes Sedai wissen als der Bürgermeister. Aber wenn Tam tatsächlich außerhalb der Zwei Flüsse gewesen war, konnte dann nicht auch das, was er im Westwald gesagt hatte... Er strich sich mit beiden Händen durchs Haar und ließ den Gedankengang unvollendet.
»Du brauchst Schlaf, Junge«, sagte der Bürgermeister.
»Das stimmt«, fügte Frau al'Vere hinzu. »Du fällst ja beinahe von den Füßen.«
Rand blinzelte sie erstaunt an. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß sie sich von seinem Vater abgewandt hatte. Er brauchte wirklich Schlaf; schon der bloße Gedanke ließ ihn gähnen.
»Du kannst das Bett im Nebenzimmer haben«, sagte der Bürgermeister. »Das Feuer ist schon angezündet.«
Rand sah seinen Vater an. Tam schlief noch fest. Er mußte daraufhin wieder gähnen. »Ich bleibe lieber hier drinnen, wenn es Euch nichts ausmacht. Falls er aufwacht.«
Was Krankenzimmer betraf, hatte Frau al'Vere das Sagen, und der Bürgermeister überließ ihr die Entscheidung. Sie zögerte nur einen Moment, bevor sie nickte. »Aber laß ihn von allein aufwachen. Wenn du ihn im Schlaf störst...« Er versuchte, ihr zu sagen, er werde ihn nicht stören, aber die Worte wurden von einem erneuten Gähnen erstickt. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Du wirst selbst im Nu einschlafen. Wenn du schon hierbleiben willst, dann roll dich dort am Feuer ein. Und trink ein wenig von der Rindfleischbrühe, bevor du die Augen schließt.«
»Werde ich«, sagte Rand. Er hätte alles getan, um in diesem Zimmer zu bleiben. »Und ich werde ihn nicht wecken.«
»Das will ich hoffen«, sagte Frau al'Vere fest, aber nicht unfreundlich. »Ich bringe dir ein Kopfkissen und ein paar Decken.«
Als sich die Tür endlich hinter ihnen schloß, zog Rand den einzigen Stuhl des Zimmers hinüber zu Tams Bett und setzte sich so hin, daß er Tam beobachten konnte. Es war ja schön und gut, wenn Frau al'Vere von Schlafen sprach — sein Kiefer knackte, als er ein weiteres Gähnen unterdrückte -, aber jetzt konnte er noch nicht einschlafen. Tam wachte vielleicht jeden Moment auf und würde dann möglicherweise nur ganz kurz wach bleiben. Wenn das geschah, mußte Rand für ihn da sein.
Er verzog das Gesicht und drehte sich auf dem Stuhl ein wenig herum. Er drückte den Schwertgriff von den Rippen weg. Er hatte ein schlechtes Gewissen, unbedingt jemandem erzählen zu wollen, was Moiraine ihm erzählt hatte, aber dies war schließlich Tam. Dies war... Ohne es zu bemerken, schob sich sein Kinn entschlossen vor. Mein Vater. Ich kann meinem Vater erzählen, was ich will.
Er verdrehte sich noch ein bißchen mehr auf dem Stuhl und legte den Kopf zurück auf die Lehne. Tam war sein Vater, und niemand konnte ihm befehlen, was er seinem Vater zu erzählen oder nicht zu erzählen hatte. Er mußte nur wach bleiben, bis Tam erwachte. Er mußte nur...