31 Verdiene dir dein Essen!

Rand kniff die Augen zusammen und beobachtete die Staubspur, die sich vorn, vielleicht drei oder vier Kurven voraus, auf der Straße erhob. Mat war schon auf dem Weg in die wild neben der Straße wuchernden Hecken. Die immergrünen Blätter und dicht verwobenen Äste wurden sie genausogut verbergen wie eine Steinmauer, falls sie sich einen Weg hindurch zur anderen Seite bahnen konnten. Neben der gegenüberliegenden Straßenseite sah man nur spärliche braune Überreste kopfhoher Büsche und dahinter eine halbe Meile freies Feld bis hin zum Waldrand. Es könnte Teil eines noch nicht allzu lange aufgegebenen Ackers gewesen sein, aber dort bot sich kein schnell erreichbares Versteck. Er versuchte, die Geschwindigkeit der Staubfahne und die des Windes einzuschätzen.

Ein plötzlicher Windstoß wirbelte Straßenstaub um ihn auf und nahm ihm die Sicht. Er blinzelte und verschob den einfachen, dunklen Schal, den er um Nase und Mund gebunden hatte. Er war mittlerweile nicht mehr ganz sauber — sein Gesicht juckte -, doch er verhinderte, daß er mit jedem Atemzug Staub einatmete. Ein Bauer hatte ihm den gegeben, ein Mann mit langem Gesicht und Sorgenfalten in den Wangen.

»Ich weiß nicht, wovor ihr weglauft«, hatte er mit bedenklicher Miene gesagt, »und ich will es auch nicht wissen. Versteht ihr? Meine Familie.« Plötzlich hatte der Bauer zwei lange Schals aus seiner Tasche gezogen und ihnen das wollige Bündel hingehalten. »Es ist nicht viel, aber hier habt ihr etwas. Gehören meinen Jungen. Sie haben noch mehr davon. Ihr kennt mich nicht, verstanden? Es sind schwere Zeiten.«

Für Rand war der Schal viel wert. Sie hatten in den Tagen seit Weißbrücke nicht viel Freundlichkeit erlebt, und er glaubte auch nicht daran, daß sie noch mehr solcher Beispiele finden würden.

Mat, dessen Gesicht bis auf die Augen von dem Schal um seinen Kopf verdeckt wurde, rannte schnell an der hohen Hecke entlang und zog immer wieder an den dicht mit Blättern bewachsenen Zweigen. Rand berührte den Knauf mit dem Reiherzeichen an seinem Gürtel, ließ aber die Hand wieder fallen. Schon einmal hatten sie sich fast selbst verraten, weil sie ein Loch in eine Hecke gehauen hatten. Die Staubfahne bewegte sich auf sie zu und blieb immer dicht geschlossen. Es war nicht der Wind. Wenigstens regnete es nicht. Regen hielt den Staub am Boden. Wie stark es auch regnen mochte, die festgefahrene Straßendecke wurde niemals zu Schlamm verwandelt, aber wenn es regnete, gab es keinen Staub. Staub war das einzige Warnsignal, daß sich irgend jemand näherte. Wenn sie den Ankömmling erst einmal hören konnten, war es manchmal schon zu spät.

»Hier«, rief Mat mit gedämpfter Stimme. Er schien geradewegs durch die Hecke zu gehen.

Rand eilte zu dieser Stelle. Irgendwann einmal hatte dort jemand ein Loch hineingeschnitten. Es war teilweise zugewachsen, und bereits aus drei Fuß Entfernung wirkte es genauso geschlossen wie die übrige Hecke, aber aus der Nähe sah man, daß es nur von einigen wenigen Ästen verschlossen war. Als er sich hindurchschob, hörte er das Getrappel von Pferdehufen. Es war nicht der Wind gewesen.

Er kauerte hinter der kaum bedeckten Öffnung und hielt den Knauf seines Schwertes in der Hand, als die Reiter vorbeikamen. Fünf... sechs... sieben Reiter. Einfach gekleidete Männer, doch an Schwertern und Speeren konnte man sehen, daß es keine Dorfbewohner waren. Ein paar trugen Lederwämse mit Metallbeschlägen, und zwei hatten runde Stahlkappen. Vielleicht Leibwächter von Kaufleuten, die sich gerade einen neuen Dienstherren suchten. Vielleicht.

Einer von ihnen sah im Vorbeireiten die Hecke ohne großes Interesse an, und Rand zog sein Schwert ein Stück aus der Scheide. Mat fauchte leise wie ein in die Enge getriebener Dachs, während er über seinen Schal hinwegschielte. Seine Hand hatte er unter dem Mantel; wenn Gefahr im Verzug war, ergriff er immer den Dolch aus Shadar Logoth. Rand war nicht sicher, ob er das tat, um sich zu schützen oder um den Dolch mit dem Rubingriff zu schützen. In letzter Zeit vergaß Mat manchmal, daß er einen Bogen besaß.

Die Reiter passierten sie in langsamem Trab, zielbewußt wohl, aber ohne zu große Eile. Staub trieb durch die Hecke.

Rand wartete, bis das Hufegeklapper verstummt war, bevor er den Kopf vorsichtig aus dem Loch hinaussteckte. Die Staubfahne befand sich ein gutes Stück die Straße hinunter in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Im Osten war der Himmel klar. Er kletterte hinaus auf die Straße und beobachtete, wie sich die Staubsäule nach Westen bewegte.

»Nicht hinter uns her«, sagte er. Es war Feststellung und Frage zugleich. Mat kletterte ihm nach und sah sich mißtrauisch nach allen Seiten um. »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht.«

Rand wußte nicht, wie er das meinte, nickte aber.

Vielleicht. So hatte ihre Reise die Caemlyn-Straße hinunter nicht angefangen.

Noch lange Zeit, nachdem sie Weißbrücke verlassen hatten, wurde Rand immer wieder bewußt, daß er sich umblickte und die Straße hinter ihnen beobachtete. Manchmal erblickte er jemanden, der ihm den Atem stocken ließ — einen großen, hageren Mann, der die Straße entlangeilte, oder einen schlacksigen, weißhaarigen Burschen oben auf dem Bock eines Wagens neben dem Fahrer -, aber immer war es ein Hausierer oder es waren Bauern auf dem Weg zum Markt; niemals Thom Merrilin. Als die Tage vergingen, verging auch die Hoffnung.

Auf der Straße herrschte beachtlicher Verkehr: Wagen und Karren, Reiter und Fußgänger. Sie kamen einzeln und in Gruppen, ein Wagenzug von Kaufleuten oder ein Dutzend Berittene. Sie verstopften die Straße nicht gerade, und oft sah man nichts außer kahlen Bäumen, die die festgetretene Straßendecke einrahmten, aber sie wurde immerhin von mehr Leuten benützt, als Rand jemals in den Zwei Flüssen gesehen hatte.

Die meisten reisten in der gleichen Richtung wie sie -nach Osten, auf Caemlyn zu. Manchmal wurden sie ein kurzes Stück auf einem Bauernwagen mitgenommen, eine Meile weit oder fünf, aber meistens liefen sie zu Fuß. Sie mieden Reiter; wenn sie in der Entfernung auch nur einen Reiter erspähten, rannten sie von der Straße weg und versteckten sich, bis er vorbei war. Keiner trug jemals einen schwarzen Umhang, und Rand glaubte auch nicht wirklich, daß ein Blasser ihnen gestattet hätte, ihn rechtzeitig auszumachen, aber sie wollten kein Risiko eingehen. Zu Anfang fürchteten sie nur die Halbmenschen.

Das erste Dorf nach Weißbrücke sah Emondsfeld so ähnlich, daß Rand kaum noch weitergehen mochte, als er es sah. Strohgedeckte Häuser mit hohen Giebeln, Hausfrauen in ihren Schürzen, die zwischen den Häusern über den Zaun hinweg mit der Nachbarin klatschten, und Kinder, die auf dem Dorfgrün spielten. Das Haar der Frauen hing offen auf die Schultern herunter, und das Dorf unterschied sich auch in anderen Dingen, aber alles in allem war es wie zu Hause. Kühe weideten auf dem Grün, und Gänse watschelten mit überheblichem Getue über die Straße. Die Kinder tollten lachend im Staub umher, wo das Gras gänzlich verschwunden war. Sie schauten sich noch nicht einmal um, wenn Rand und Mat vorbeikamen. Da lag ein weiterer Unterschied: Fremde waren hier nichts Ungewöhnliches — auch sie beide waren den Leuten keinen zweiten Blick wert. Die Dorfhunde hoben lediglich die Köpfe und nahmen ihre Witterung auf, als sie vorbeikamen, doch ansonsten rührten sie sich nicht.

Es war beinahe schon Abend, als sie durch das Dorf kamen, und ihn packte gewaltiges Heimweh, wenn er so die Lichter in den Fenstern aufleuchten sah. Gleich wie es aussieht, flüsterte eine kleine Stimme in seinem Verstand, es ist nicht wirklich deine Heimat. Auch wenn du in eines der Häuser gehst, wird dort kein Tam auf dich warten. Und wenn, könntest du ihm dann in die Augen sehen? Du weißt doch mittlerweile Bescheid, oder nicht? Außer über solche Kleinigkeiten, wo du herkommst und wer du eigentlich bist. Keine Fieberträume. Er zog die Schultern vor dem spöttischen Gelächter in seinem Kopf ein. Du kannst genausogut hierbleiben, höhnte die Stimme. Ein Ort ist so gut wie der andere, wenn du aus dem Nirgendwo kommst und dich der Dunkle König gezeichnet hat.

Mat zupfte ihn am Ärmel, aber er riß sich los und betrachtete die Häuser. Er wollte nicht dableiben, aber er wollte sie ansehen, um sich später daran erinnern zu können. So ähnlich wie zu Hause, aber so was wirst du wohl nicht mehr wieder zu sehen bekommen, oder?

Mat zupfte noch mal. Sein Gesicht war angespannt; die Haut um seinen Mund und die Augen herum weiß. »Komm weiter«, murmelte Mat. »Komm schon!« Er sah das Dorf an, als befürchte er, daß sich etwas darin verstecke. »Komm jetzt! Wir können noch nicht ausruhen.«

Rand drehte sich um die eigene Achse, um den Anblick des ganzen Dorfes in sich aufzunehmen, und dann seufzte er. Sie waren noch nicht weit von Weißbrücke entfernt. Wenn der Myrddraal schon die Mauern von Weißbrücke passieren konnte, ohne gesehen zu werden, dann hätte er auch keinerlei Schwierigkeiten, dieses kleine Dorf zu durchsuchen. Er ließ sich ins freie Land hinauszerren, bis die strohgedeckten Häuser weit hinter ihnen lagen.

Die Nacht brach herein, und endlich fanden sie im Mondschein einen Schlafplatz unter einigen Büschen, an denen noch die abgestorbenen Blätter hingen. Sie schlugen sich die Bäuche mit kaltem Wasser aus einem kleinen Rinnsal in der Nähe voll und rollten sich am Boden zusammen, ohne Lagerfeuer und nur in ihre Umhänge gewickelt. Ein Feuer könnte gesehen werden — besser, frierend zu schlafen.

Rand wurde von Erinnerungen geplagt und wachte öfters auf. Jedesmal hörte er, wie Mat im Schlaf redete und sich herumwälzte. Er träumte nichts, woran er sich später erinnern konnte, aber er schlief auch nicht gerade gut. Du wirst die Heimat nie wiedersehen.

Es war nicht die einzige Nacht, in der nur ihre Umhänge sie gegen Wind und manchmal auch kalten, durchdringenden Regen schützten. Es war nicht ihre einzige Mahlzeit, die nur aus kaltem Wasser bestand. Zusammen besaßen sie wohl genug Münzen, um damit ein paar Mahlzeiten in einer Schenke zu bezahlen, aber ein Bett für die Nacht war denn doch zu teuer. Außerhalb der Zwei Flüsse war alles teurer, und auf dieser Seite des Arinelle noch mehr als in Baerlon. Das übriggebliebene Geld mußten sie für einen Notfall sparen.

Eines Nachmittags erwähnte Rand den Dolch mit dem Rubingriff, während sie mit schweren Beinen die Straße entlangliefen, die Mägen zu leer, um auch nur Energie zum Knurren aufzubringen. Die blasse Sonne stand tief am Himmel, und ihre einzige Aussicht auf die kommende Nacht waren weitere Büsche. Dunkle Wolken türmten sich über ihnen und versprachen nächtlichen Regen. Er hoffte auf ein wenig Glück: vielleicht nur ein eisiger Nieselregen. Er ging noch ein paar Schritte weiter, bevor ihm klar wurde, daß Mat stehengeblieben war. Also blieb er auch stehen und bewegte die Zehen in den Stiefeln. Wenigstens hatte er warme Füße. Er lockerte die Schulterriemen. Seine Deckenrolle und Thoms gebündelter Umhang waren nicht schwer, aber nach so vielen Meilen mit leerem Magen schienen auch ein paar Pfund schon wie ein schweres Gewicht. »Was ist los, Mat?« fragte er.

»Warum bist du so erpicht darauf, ihn zu verkaufen?« wollte Mat zornig wissen. »Ich habe ihn schließlich gefunden. Hast du je daran gedacht, daß ich ihn vielleicht behalten möchte? Jedenfalls eine Weile lang. Wenn du etwas verkaufen willst, dann verkauf doch dieses verdammte Schwert!«

Rand strich mit der Hand über den Knauf mit dem Reiherzeichen. »Mein Vater hat mir dieses Schwert gegeben. Es gehörte ihm. Ich würde dir nie vorschlagen, etwas zu verkaufen, das dir dein Vater geschenkt hat. Blut und Asche, Mat, gefällt dir vielleicht dieser Hunger? Und außerdem, selbst wenn ich jemanden fände, der es kaufen würde — wieviel würde ein Schwert schon bringen? Was kann ein Bauer mit einem Schwert anfangen? Dieser Rubin würde uns genug einbringen, um mit einer Kutsche bis nach Caemlyn zu fahren! Vielleicht sogar bis Tar Valon. Und wir würden jedesmal in einer Schenke essen und jede Nacht in einem Bett schlafen. Aber vielleicht macht es dir auch Spaß, über die halbe Welt zu marschieren und auf dem Boden zu schlafen?« Er funkelte Mat an, und sein Freund funkelte zurück.

So standen sie mitten auf der Straße, bis Mat plötzlich unsicher die Achseln zuckte und zu Boden sah. »Wem könnte ich ihn schon verkaufen, Rand? Ein Bauer würde uns mit Hühnern bezahlen müssen, und damit können wir keine Kutsche kaufen. Und selbst wenn ich ihn in irgendeinem Dorf herumzeigen würde, durch das wir gekommen sind, dächten sie doch wahrscheinlich, wir hätten ihn gestohlen. Das Licht mag wissen, was dann geschähe.«

Nach einer Weile nickte Rand zögernd. »Du hast recht. Ich weiß. Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anfahren. Es ist halt nur, daß ich Hunger habe und mir die Füße weh tun.«

»Meine auch.« Sie gingen wieder los, die Straße hinunter, aber nun womöglich noch müder als vorher. Der Wind frischte auf und blies ihnen Staub ins Gesicht. »Meine auch«, keuchte Mat.

Ein paar Mahlzeiten und einige Nächte im Warmen bekamen sie schon auf Bauernhöfen. Ein Heustadel war fast genauso warm wie ein Zimmer mit einem Feuer im Kamin, jedenfalls wenn man ihn mit einem Lager unter Büschen verglich, und ein Heustadel, sogar eine ohne eine schützende Abdeckung, hielt den schlimmsten Regen ab, wenn man sich tief genug hineingrub. Manchmal versuchte sich Mat darin, Eier zu stehlen, und einmal unternahm er einen Versuch, eine Kuh zu melken, die herrenlos herumstand, lediglich an einer langen Leine angebunden, um auf einem Feld zu weiden. Die meisten Bauern hielten allerdings Hunde, und die Hofhunde waren wachsam. Wie Rand die Sache sah, war ein Zwei-Meilen-Wettlauf mit kläffenden Hunden auf den Fersen ein zu hoher Preis für zwei oder drei Eier, besonders wenn es manchmal Stunden dauerte, bis sie die Hunde wieder los waren und sie aus dem Baum herabsteigen konnten, auf dem sie Zuflucht gesucht hatten. Die vergeudeten Stunden reuten ihn.

Es gefiel ihm wohl nicht, aber Rand zog es vor, sich einem Bauernhaus offen und im hellen Tageslicht zu nähern. Gelegentlich hetzte man trotzdem die Hunde auf sie, ohne überhaupt ein Wort mit ihnen zu reden, denn die umlaufenden Gerüchte und die schlechten Zeiten machten jedermann, der allein und von anderen ein Stück entfernt wohnte, Fremden gegenüber mißtrauisch. Aber oft genügte auch eine Stunde Holzhacken oder Wasserschleppen, um ihnen eine Mahlzeit und ein Bett einzubringen, selbst wenn es nur ein Strohsack in der Scheune war. Andererseits bedeuteten ein oder zwei Stunden solcher Arbeiten auch ein oder zwei Stunden Stillstand bei Tageslicht, also ein oder zwei Stunden, in denen der Myrddraal aufholen konnte. Manchmal fragte er sich, wie viele Meilen in der Stunde ein Blasser zurücklegen konnte. Jede versäumte Minute reute ihn -aber zugegebenermaßen nicht so sehr, wenn er dabei die heiße Suppe einer Bauersfrau hinunterlöffeln konnte. Und wenn sie nichts zu beißen hatten, war das Wissen, daß sie sich mit jeder Minute Caemlyn ein bißchen näherten, ein schwacher Trost für einen leeren Magen. Rand konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer war: ein leerer Magen oder verlorene Zeit. Nur Mat ging noch ein Stückchen weiter, als sich nur über seinen Bauch oder die Verfolger Gedanken zu machen.

»Was wissen wir denn schon von ihnen?« fragte Mat eines Nachmittags, als sie auf einem kleinen Hof den Stall ausmisteten. »Licht, Mat, was wissen sie denn über uns?« ächzte Rand. Sie arbeiteten mit nacktem Oberkörper und waren beide mit Schweiß und Stroh bedeckt. Die Luft war voll von Strohstaub. »Jedenfalls weiß ich, daß sie uns Lammbraten und ein richtiges Bett zum Schlafen geben.«

Mat stieß seine Mistgabel in den Haufen aus Stroh und Dung und sah den Bauer von der Seite her an. Der war aus dem hinteren Teil des Stalles gekommen, trug einen Eimer in der einen Hand und in der anderen seinen Melkhocker. Es war ein gebeugter alter Mann mit einer Haut wie Leder und dünnem grauen Haar. Der Bauer verlangsamte seinen Schritt, als er bemerkte, daß Mat ihn ansah, blickte dann aber schnell zur Seite und eilte aus der Scheune, wobei Milch über den Eimerrand hinausschwappte.

»Ich sage dir, er führt etwas im Schilde«, sagte Mat. »Hast du gemerkt, daß er mir nicht in die Augen sehen konnte? Warum sind sie so freundlich zu ein paar Wanderern, die sie zuvor noch nie gesehen haben? Sag's mir!«

»Seine Frau sagt, wir erinnern sie an ihre Enkel. Hör schon auf, dir darüber Gedanken zu machen. Was uns Sorgen bereitet, kommt hinter uns nach. Hoffe ich jedenfalls.«

»Er plant irgendwas«, murmelte Mat.

Als sie fertig waren, wuschen sie sich an dem Trog vor der Scheune. Ihre Schatten erstreckten sich lang unter der sinkenden Sonne. Rand trocknete sich mit seinem Hemd ab, während sie zum Haus gingen. Der Bauer erwartete sie an der Tür. Er lehnte sich etwas zu beiläufig auf seinen Stock. Hinter ihm verkrampfte seine Frau die Hände um den Schürzenrand und schaute ihm über die Schulter. Sie kaute unentschlossen auf der Unterlippe. Rand seufzte. Er glaubte nicht, daß Mat und er sie jetzt noch an ihre Enkel erinnerte.

»Unsere Söhne kommen heute abend zu Besuch«, sagte der alte Mann. »Alle vier. Ich hatte es vergessen. Sie kommen alle vier. Große Burschen. Stark. Können jede Minute ankommen. Ich fürchte, wir haben kein Bett mehr frei, auch wenn wir es euch versprochen haben.«

Seine Frau schob ein kleines, in eine Stoffserviette gehülltes Bündel an ihm vorbei. »Hier. Da ist Brot und Käse und Gurke und Lammfleisch. Genug für zwei Mahlzeiten. Hier!« Ihr runzliges Gesicht flehte sie stumm an, es doch bitte anzunehmen und zu verschwinden.

Rand nahm das Bündel. »Danke. Ich verstehe schon. Komm, los, Mat.«

Mat folgte ihm. Er murrte vor sich hin, während er sich das Hemd überzog. Rand hielt es für das Beste, so viele Meilen wie möglich zurückzulegen, bevor sie anhielten und aßen. Der alte Bauer hatte einen Hund.

Es hätte schlimmer kommen können, dachte er. Vor drei Tagen hatte man die Hunde auf sie gehetzt, als sie noch an der Arbeit waren. Die Hunde und der Bauer mit seinen beiden Söhnen hatten sie knüppelschwingend hinaus zur Straße nach Caemlyn und noch eine halbe Meile weiter gejagt, bevor sie aufgaben. Sie hatten kaum Zeit genug gehabt, ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen und loszurennen. Der Bauer hatte einen Bogen getragen und einen Pfeil mit breiter Spitze aufgelegt gehabt.

»Kommt ja nicht zurück!« hatte er ihnen nachgeschrien. »Ich weiß nicht, was ihr wollt, aber ich will eure Wieselaugen nicht mehr sehen!«

Mat hatte sich umdrehen wollen, fummelte bereits an seinem Köcher herum, aber Rand zog ihn weiter. »Bist du verrückt?« Mat warf ihm einen mürrischen Blick zu, aber wenigstens rannte er weiter.

Rand fragte sich manchmal, ob es sich wirklich lohnte, zu Bauernhöfen zu gehen. Je weiter sie kamen, desto mißtrauischer wurde Mat Fremden gegenüber und desto weniger konnte er es verbergen. Er gab sich auch kaum Mühe dabei. Die Mahlzeiten wurden immer kleiner, bei gleicher Arbeit, versteht sich, und manchmal bot man ihnen noch nicht einmal die Scheune zum Schlafen an. Doch dann fiel Rand eine Lösung für all ihre Probleme ein — zumindest schien es eine zu sein -, und das geschah an Grinwells Hof.

Meister Grinwell und seine Frau hatten neun Kinder. Das älteste davon war eine Tochter, die kaum mehr als ein Jahr jünger war als Rand und Mat. Meister Grinwell war ein kräftiger Mann, und bei all den Kindern brauchte er wahrscheinlich keine weitere Hilfe, aber er musterte sie von oben bis unten, betrachtete ihre verschmutzten Kleider und staubigen Stiefel und gab zu, daß er immer noch Arbeit für weitere Hände finden könne. Frau Grinwell meinte, wenn sie an ihrem Tisch essen sollten, dann nicht in diesen dreckigen Sachen. Sie sei gerade bei der Wäsche, und bei der Arbeit würden ihnen auch ein paar alte Sachen ihres Mannes genügen. Sie lächelte, als sie das sagte, und in dem Augenblick sah sie für Rand genauso aus wie Frau al'Vere, obwohl ihr Haar gelb war. Diese Farbe hatte er noch nie zuvor gesehen. Selbst aus Mat schien etwas von der Anspannung zu weichen, als ihr Lächeln ihn berührte. Mit der ältesten Tochter war das auch so eine Sache.

Else hatte dunkle Haare, große Augen und war hübsch. Wenn ihre Eltern gerade nicht hersahen, grinste sie frech herüber. Während sie arbeiteten — sie wuchteten Fässer und Getreidesäcke in der Scheune herum -, lehnte sie sich über eine niedrige Stalltüre, summte vor sich hin, kaute auf dem Ende eines langen Pferdeschwanzes herum und beobachtete sie. Besonders oft sah sie Rand an. Er bemühte sich, sie nicht zu beachten, aber nach ein paar Minuten zog er sich dann doch das von Meister Grinwell ausgeliehene Hemd an. Es war zu kurz und an den Schultern zu eng, aber besser als gar nichts. Else lachte laut auf, als er es überzog. Ihm kam der Gedanke, daß es diesmal wohl nicht Mats Schuld sein würde, wenn man sie fortjagte.

Perrin wüßte, wie man das macht, dachte er. Er würde ein paar Witze reißen, und bald würde sie sich schieflachen, anstatt ihn anzuhimmeln, wenn ihr Vater zuschaute. Nur fielen ihm halt gerade keine lustigen Geschichten oder gar Witze ein. Wann immer er in ihre Richtung blickte, lächelte sie ihn auf eine Weise an, daß ihr Vater bestimmt die Hunde loslassen würde, wenn er es bemerkte. Einmal sagte sie ihm, daß ihr große Männer gefielen. Alle Burschen auf den Höfen in der Gegend seien klein. Mat grinste schelmisch. Rand wünschte, ihm fiele ein Witz ein, und er versuchte, sich ganz auf die Heugabel zu konzentrieren.

Wenigstens waren die jüngeren Kinder in Rands Augen ein Segen. Mats Mißtrauen ließ immer etwas nach, wenn Kinder in der Nähe waren. Nach dem Abendessen setzten sie sich alle vor den Kamin. Meister Grinwell saß auf seinem Lieblingsplatz, stopfte seine Pfeife, und Frau Grinwell kramte in ihrem Nähkästchen und stopfte Löcher in den Hemden, die sie für ihn und Mat gewaschen hatte. Mat holte Thoms farbige Bälle hervor und begann zu jonglieren. Er tat das nur, wenn Kinder zusahen. Die Kinder lachten, als er so tat, als ließe er die Bälle fallen und sie dann in letzter Sekunde doch auffing, und sie beklatschten die Springbrunnen und Achter und einen Ring mit sechs Bällen, die er wirklich beinahe fallen ließ. Aber es machte ihnen mächtig Spaß, und auch Meister Grinwell und seine Frau klatschten so laut wie ihre Kinder. Als Mat fertig war und sich mit genauso weitschweifigen Verbeugungen wie Thom für den Beifall bedankt hatte, holte Rand Thoms Flöte aus dem Kasten. Er war nie in der Lage, das Instrument zu spielen, ohne dabei traurig zu werden. Wenn er die Gold- und Silberverzierungen berührte, war es ihm, als berühre er Thoms Andenken. Er nahm niemals die Harfe in die Hand, außer um nachzusehen, ob sie sicher und trocken aufbewahrt sei — Thom hatte immer gesagt, die Harfe sei nichts für die ungeschickten Hände eines Bauernjungen -, aber wenn ihnen ein Bauer das Übernachten gestattete, spielte er immer nach dem Essen ein oder zwei Lieder auf der Flöte. Das war immer eine kleine Extrazahlung an den Bauer und vielleicht auch ein Weg, um das Andenken an Thom frischzuhalten.

Aus der lustigen Stimmung heraus, die Mat mit seinem Jonglieren heraufbeschworen hatte, spielte er ›Drei Mädchen auf der Wiese‹. Meister Grinwell und seine Frau klatschten mit, und die kleineren Kinder tanzten durch das Zimmer. Selbst der kleinste Junge, der kaum laufen konnte, stampfte im Rhythmus mit den Füßen. Er wußte, daß er beim Bel Tine noch keinen Preis gewinnen würde, aber nach der guten Lehre bei Thom müßte er sich auch nicht schämen, an einem Wettbewerb teilzunehmen. Else saß mit übergeschlagenen Beinen vor dem Kamin, und als er nach dem letzten Ton die Flöte senkte, beugte sie sich mit einem langen Seufzer vor und lächelte ihn an. »Du spielst so schön! Ich habe noch nie etwas so Schönes gehört.«

Frau Grinwell unterbrach plötzlich ihr Nähen, hob eine Augenbraue in Richtung ihrer Tochter und sah Rand lang und abschätzend an. Er hatte den Lederbehälter schon in der Hand, um die Flöte wieder einzupacken, aber bei dem Blick ließ er den Behälter fallen und beinahe auch die Flöte. Wenn sie ihn bezichtigte, ihrer Tochter schönzutun... Verzweifelt hob er die Flöte wieder an die Lippen und spielte ein weiteres Lied, und dann noch eines und noch eines. Frau Grinwell beobachtete ihn weiterhin. Er spielte ›Der Wind, der die Weide beugt‹, ›Heimkehr vom Tarwin-Paß‹, ›Frau Aynoras Hahn‹ und ›Der alte Schwarzbär‹. Er spielte alle Lieder, die ihm einfielen, aber sie sah ihn unverwandt an. Sie sagte nichts dabei, aber sie musterte ihn und überlegte.

Es war schon spät, als Meister Grinwell schließlich aufstand. Er lachte und rieb sich die Hände. »Also, das war schon ein seltenes Vergnügen, aber es ist schon viel später, als wir normalerweise zu Bett gehen. Ihr Wanderburschen teilt euch die Zeit anders ein, aber auf einem Bauernhof kommt der Morgen schnell. Ich sage euch, ich habe in der Schenke schon mehr Geld bezahlt und mich schlechter amüsiert als heute abend. Viel schlechter.«

»Ich glaube, sie sollten eine Belohnung dafür bekommen, Vater«, sagte Frau Grinwell, während sie ihren Jüngsten auf die Arme nahm, nachdem er schon lange vor dem Feuer eingeschlafen war. »Die Scheune ist kein guter Schlafplatz. Sie können in Elses Zimmer schlafen, und Else schläft heute nacht bei mir.«

Else verzog das Gesicht. Sie hütete sich aufzublicken, aber Rand bemerkte es. Er glaubte zu sehen, daß auch ihre Mutter es bemerkte.

Meister Grinwell nickte. »Ja, ja, viel besser als in der Scheune. Wenn ihr nichts dagegen habt, zu zweit in einem Bett zu schlafen.« Rand errötete; Frau Grinwell sah ihn immer noch an. »Ich wünschte, ich könnte mehr von dieser Flöte hören. Und von euerem Jonglieren sehen! Wißt ihr, morgen hätte ich eine kleine Arbeit, bei der ihr mir helfen könntet, und... «

»Sie werden früh aufbrechen wollen, Vater«, warf Frau Grinwell ein. »Arien ist das nächste Dorf auf ihrem Weg, und wenn sie dort ihr Glück in der Schenke versuchen wollen, müssen sie den ganzen Tag wandern, damit sie vor Einbruch der Dunkelheit dort ankommen.«

»Ja«, sagte Rand, »das müssen wir. Und ich danke Euch!«

Sie lächelte ihn mit aufeinandergepreßten Lippen an, als wisse sie recht gut, daß sein Dankeschön mehr galt als nur dem guten Rat, dem Essen und einem warmen Bett.

Den ganzen nächsten Tag über neckte ihn Mat wegen Else, während sie die Straße entlangmarschierten. Er bemühte sich, das Thema zu wechseln, und was Grinwell in bezug auf ihr Auftreten in Schenken vorgeschlagen hatte, lieferte ihm einen guten Vorwand. Am Morgen schmollte Else, als sie aufbrachen, und Frau Grinwell sah sie mit einem Blick an, der ihnen sagte: ›Besser so, und sie wird schnell darüber hinwegkommen‹, und Meister Grinwells Vorschlag hielt Mat eine Weile vom Spötteln ab. Als sie schließlich das nächste Dorf erreichten, hatten sie an anderes zu denken.

Als sich die Abenddämmerung herabsenkte, betraten sie die einzige Schenke in Arien, und Rand sprach mit dem Wirt. Er spielte ›Fähr übern Fluß‹ — was der mollige Wirt ›Liebling Sara‹ nannte — und einen Teil von ›Die Straße nach Dun Aren‹, und Mat jonglierte ein wenig, und das Ergebnis war, daß sie diese Nacht in einem Bett schliefen und Bratkartoffeln mit Rindfleisch aßen. Sicher, es war das kleinste Zimmer der Schenke, ganz hinten unter dem Dach, und das Essen kam erst mitten am Abend nach langem Spielen und Jonglieren, aber es war immerhin doch ein Bett unter einem richtigen Dach. Und was daran nach Rands Ansicht noch besser war: Sie hatten jeden Moment des Tageslichts zum Vorwärtskommen ausgenützt. Und die Gäste in der Schenke schienen Mats mißtrauische Blicke nicht zu stören. Einige von ihnen beäugten sogar ihrerseits die anderen mißtrauisch. Mißtrauen Fremden gegenüber war in solchen Zeiten normal, und in einer Schenke traf man eben immer auf Fremde.

Rand schlief besser als je zuvor, seit sie Weißbrücke verlassen hatten, obwohl er das Bett mit Mat teilen mußte, der immer noch im Schlaf redete. Am Morgen versuchte der Wirt, sie zu überreden, noch ein oder zwei Tage zu bleiben, aber als sie nicht darauf eingingen, holte er einen Bauern mit verschlafenen Augen herbei, der am Abend zu viel getrunken hatte, um noch mit seinem Karren heimzufahren. Eine Stunde später befanden sie sich fünf Meilen weiter östlich und lagen gemütlich auf dem Rücken im Stroh auf Eazil Forneys Karren. So reisten sie von nun an weiter. Mit ein wenig Glück und manchmal einer Mitfahrgelegenheit konnten sie bis Einbruch der Dunkelheit fast immer das nächste Dorf erreichen. Wenn es im Ort mehr als eine Schenke gab, dann überboten sich für gewöhnlich die Wirte gegenseitig, nachdem sie Rands Flöte gehört und Mat jonglieren gesehen hatten. Auch zusammen konnten sie noch keinem Gaukler das Wasser reichen, aber sie boten immer noch mehr, als die Dorfbewohner sonst im ganzen Jahr zu sehen und zu hören bekamen. Zwei oder drei Schenken im gleichen Ort bedeuteten ein schöneres Zimmer mit zwei Betten und größere Portionen eines besseren Bratens und manchmal sogar ein paar Kupfermünzen in der Tasche, wenn sie weiterzogen. Am Morgen fanden sie fast immer jemanden, der sie mitfahren ließ, einen weiteren Bauern, der zu lange geblieben war und zuviel getrunken hatte, oder einen Händler, der ihre Art von Unterhaltung gut genug gefunden hatte, um nichts dagegen zu haben, wenn sie hinten auf einem seiner Wagen aufsprangen. Rand begann zu glauben, daß ihre Probleme vorbei seien, jedenfalls bis sie Caemlyn erreichten. Aber dann kamen sie nach Vier Könige.

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