Es war eine niedergeschlagene Gruppe, die Rand wieder die Treppe hinunterführte. Jetzt wollte keiner mehr mit ihm oder einem der anderen reden. Auch er hatte keine große Lust, sich zu unterhalten.
Die Sonne stand nun so tief am Himmel, daß es düster auf der Hintertreppe war, aber man hatte die Lampen noch nicht entzündet. Streifen von Sonnenschein und Schatten lagen über den Stufen. Perrins Gesicht war genauso verschlossen wie die der anderen, aber wo die anderen Sorgenfalten auf der Stirn trugen, war Perrins Stirn glatt. Rand glaubte, Perrins Gesichtsausdruck zeige Resignation. Er fragte sich, warum, und er wollte ihn danach fragen, doch wann immer Perrin durch ein Stück tieferen Schattens kam, schien sich alles Licht in seinen Augen zu sammeln, und sie glühten sanft wie polierter Bernstein. Rand schauderte und versuchte, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren, auf die mit Walnußholz getäfelten Wände und das Treppengeländer aus Eichenholz, auf die handfesten Dinge des Alltags. Er wischte sich mehrmals die Hände an seinem Mantel ab, aber jedesmal schwitzten seine Handflächen gleich wieder. Jetzt wird schon alles gut werden. Wir sind wieder beisammen und... Licht, Mat!
Er brachte sie hinten an der Küche vorbei zur Bibliothek. Den Schankraum mied er. Nicht viele Reisende benutzten die Bibliothek — die meisten derer, die lesen konnten, wohnten in eleganteren Schenken in der Innenstadt. Meister Gill behielt sie eher zum eigenen Vergnügen als für die Handvoll von Gästen, die von Zeit zu Zeit ein Buch wollten. Rand wollte nicht darüber nachdenken, warum Moiraine wünschte, daß sie sich verbargen, aber er mußte immer wieder daran denken, daß der Weißmantel-Unteroffizier gesagt hatte, er werde wiederkommen, und er erinnerte sich an Elaidas Blick, als sie fragte, wo er wohne. Das war schon Grund genug, gleich, was Moiraine wollte.
Er machte fünf Schritte in die Bibliothek hinein, bevor ihm auffiel, daß alle anderen stehengeblieben waren, sich in der Tür zusammendrängten, die Münder offen, und mit großen Augen starrten. Im Kamin prasselte ein helles Feuer, und Loial lag lesend auf der Couch. Eine kleine schwarze Katze mit weißen Füßen lag zusammengerollt und halb schlafend auf seinem Bauch. Als sie eintraten, schloß er das Buch, wobei er einen riesigen Finger als Buchzeichen drinnenließ, und setzte die Katze sanft am Boden ab. Dann stand er auf und verbeugte sich höflich.
Rand war so an den Ogier gewöhnt, daß er eine Weile brauchte, um zu begreifen, daß er das Ziel der Blicke der anderen war. »Das sind die Freunde, auf die ich gewartet habe, Loial«, sagte er. »Das hier ist Nynaeve, die Seherin meines Dorfes. Und Perrin. Und hier ist Egwene.«
»Ah, ja«, dröhnte Loials Stimme. »Egwene. Rand hat eine Menge von dir erzählt. Ja. Ich bin Loial.«
»Er ist ein Ogier«, erklärte Rand und beobachtete, wie sich der Ausdruck des Erstaunens auf ihren Gesichtern änderte. Auch nachdem sie Trollocs und Blasse höchstpersönlich kennengelernt hatten, erstaunte es sie immer noch, eine lebende Legende anzutreffen. Er erinnerte sich an seine erste Reaktion auf den Anblick Loials und grinste verlegen. Sie hielten sich besser als er.
Loial ging über ihr neugieriges Starren ohne weiteres hinweg. Rand glaubte, daß er es kaum bemerkte, verglichen mit einem Mob, der ›Trolloc‹ schrie. »Und die Aes Sedai, Rand?« fragte Loial. »Ist oben bei Mat.«
Der Ogier hob gedankenschwer eine buschige Augenbraue. »Dann ist er wirklich krank. Ich wurde vorschlagen, daß wir uns alle setzen. Wird sie auch noch herkommen? Ja. Dann bleibt nichts anderes übrig, als zu warten.«
Das Hinsetzen schien in den Emondsfeldern eine Sperre zu lösen, als fühlten sie sich wie zu Hause, nun, da sie auf gut gepolsterten Stühlen saßen, da im Kamin ein Feuer brannte und eine Katze sich auf dem Sims zusammengerollt hatte. Sobald sie sich niedergelassen hatten, begannen alle, aufgeregt dem Ogier Fragen zu stellen. Zu Rands Überraschung war Perrin der erste, der sprach.
»Die Steddings, Loial. Sind sie wirklich solche Zufluchtsstätten, wie es in den Geschichten heißt?« Seine Stimme klang eindringlich, als habe er einen besonderen Grund zu fragen.
Loial freute sich, daß er von den Steddings erzählen konnte und wie er in Der Königin Segen aufgetaucht war und was er auf seinen Reisen alles gesehen hatte. Rand lehnte sich bald zurück und hörte nur noch teilweise zu. Er hatte das alles bereits ausführlich gehört. Loial erzählte gern und lang, wenn er nur die geringste Möglichkeit dazu sah, und außerdem schien er zu glauben, daß eine Geschichte wenigstens zwei- oder dreihundert Jahre der Vorgeschichte benötigte, damit man sie auch verstand. Sein Zeitverständnis war ganz eigenartig; für ihn waren dreihundert Jahre eine ganz normale Zeitspanne für den Verlauf einer Geschichte oder eine Erklärung. Er erzählte immer davon, wie er sein Stedding verlassen hatte, als sei das nur ein paar Monate zuvor gewesen, aber es war ihm schließlich entschlüpft, daß er schon mehr als drei Jahre von zu Hause fort war.
Rands Gedanken waren bei Mat. Ein Dolch. Ein verdammtes Messer, das ihn vielleicht umbringt, nur, wen er es trägt. Licht, ich habe genug von allen Abenteuern. Falls sie ihn heilen kann, sollten wir alle... nicht heimgehen, aber... wir können nicht heim... irgendwohin. Wir gehen alle irgendwohin, wo man niemals etwas von Aes Sedai oder dem Dunklen König gehört hat. Irgendwo.
Die Tür ging auf, und einen Augenblick lang glaubte Rand, der Anblick sei noch seinen Gedanken entsprungen. Da stand Mat, blinzelte unter dem um seine Stirn gewickelten Schal ins Licht und trug seinen Mantel bis oben hin zugeknöpft. Dann erblickte Rand Moiraine, die ihre Hand auf Mats Schulter gelegt hatte, und Lan kam hinter ihnen her. Die Aes Sedai beobachtete Mat genau, wie man jemanden beobachtet, der sich gerade von seinem Krankenbett erhoben hat. Wie immer beobachtete Lan alles, gab sich aber den Anschein, als gehe ihn das alles nichts an.
Mat sah aus, als sei er noch nicht einmal einen Tag lang krank gewesen. Sein erstes zögerndes Lächeln beim Eintreten umfaßte alle. Allerdings blieb ihm dann vor Überraschung der Mund beim Anblick Loials offen stehen, als sehe er den Ogier zum ersten Mal. Er schüttelte sich, zuckte die Achseln und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinen Freunden zu. »Ich... äh... das heißt... « Er holte tief Luft. »Es... äh... es scheint, als habe ich mich... äh... ein bißchen eigenartig benommen. Ich kann mich aber wirklich kaum an etwas erinnern.« Er sah Moiraine unsicher an. Sie lächelte ihm Mut zu, und er fuhr fort: »Alles nach Weißbrücke ist verschwommen. Thom und der... « Er schauderte und sprach hastig weiter:
»Je weiter weg von Weißbrücke, desto verschwommener wird es. Ich erinnere mich überhaupt nicht mehr daran, in Caemlyn angekommen zu sein.« Er beäugte Loial mißtrauisch. »Wirklich nicht. Moiraine Sedai sagt, daß ich oben... daß ich... äh... « Er grinste, und plötzlich war er wirklich wieder ganz der alte Mat. »Man kann doch einen Menschen nicht für das verantwortlich machen, was er tut, wenn er verrückt ist, oder?«
»Du warst doch schon immer verrückt«, sagte Perrin, und in diesem Moment klang auch er wieder ganz wie früher.
»Nein«, sagte Nynaeve. Tränen ließen ihre Augen glänzen, aber sie lächelte. »Keiner von uns macht dich verantwortlich.«
Rand und Egwene begannen dann gleichzeitig zu sprechen und sagten Mat, wie glücklich sie seien, daß er sich so erholt habe und wie gut er aussehe, und sie streuten lachend ein paar Kommentare ein, wie: Sie hofften, daß er jetzt keine Streiche mehr spielen werde, nachdem ihm ein so häßlicher gespielt worden war. Mat blieb ihnen nichts schuldig, nachdem er sich einen Stuhl gesucht und sich mit seiner alten Großspurigkeit draufgesetzt hatte. Doch beim Hinsetzen, wobei er immer noch grinste, berührte er unbewußt seinen Mantel, als wolle er sichergehen, daß etwas immer noch am richtigen Fleck war, wo er es in seinen Gürtel gesteckt hatte. Rand stockte der Atem.
»Ja«, sagte Moiraine leise, »er hat den Dolch immer noch.« Das Gelächter und Geschwätz der anderen Emondsfelder ging weiter, doch sie hatte sein plötzliches hastiges Einatmen bemerkt und auch den Grund dafür. Sie trat näher an seinen Stuhl heran, damit sie nicht lauter sprechen mußte und er sie doch deutlich verstand. »Ich kann ihn ihm nicht wegnehmen, ohne ihn zu töten. Die Verbindung besteht schon zu lange und ist zu stark geworden. Das muß in Tar Valon getrennt werden; ich kann es nicht und auch keine andere einzelne Aes Sedai, selbst mit Hilfe eines Angreals.«
»Aber er sieht gar nicht mehr krank aus.« Er mußte an etwas denken und sah zu ihr auf. »Solange er den Dolch hat, wissen die Blassen, wo wir sind. Auch ein paar der Schattenfreunde. Das hast du selbst gesagt.«
»Ich habe das auf gewisse Art abgeblockt. Wenn sie jetzt nahe genug kommen, um ihn zu spüren, dann stehen sie praktisch schon vor uns. Ich habe ihn von der Befleckung gereinigt, Rand, und alles getan, was in meiner Macht steht, daß sie so langsam wie möglich zurückkehrt, aber mit der Zeit wird es wieder so wie zuvor, es sei denn, ihm wird in Tar Valon geholfen.«
»Gut, daß wir gerade dorthin ziehen, nicht wahr?« Er glaubte, es sei vielleicht der resignierende Tonfall seiner Stimme und die Hoffnung auf eine andere Lösung, daß sie ihm einen so scharfen Blick zuwarf, bevor sie sich abwandte.
Loial stand vor ihr und verbeugte sich. »Ich heiße Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halan, Aes Sedai. Das Stedding bietet den Dienerinnen des Lichts seinen Schutz.«
»Ich danke dir, Loial, Sohn des Arent«, antwortete Moiraine trocken, »doch ich wäre mit diesem Gruß nicht so freigiebig, falls ich an deiner Stelle wäre. In diesem Augenblick befinden sich vielleicht zwanzig Aes Sedai in Caemlyn, und jede außer mir gehört zu den Roten Ajah.« Loial nickte weise, als verstehe er. Rand konnte nur verwirrt den Kopf schütteln. Er wäre vom Licht geblendet, wenn er verstünde, was sie meinte. »Es ist seltsam, dich hier anzutreffen«, fuhr die Aes Sedai fort. »Nur wenige Ogier haben in den letzten Jahren die Steddings verlassen.«
»Die alten Geschichten haben mich gepackt, Aes Sedai. Die alten Bücher füllten meinen unwürdigen Kopf mit Bildern. Ich will die Haine sehen. Und auch die Städte, die wir bauten. Es scheinen von beiden nicht mehr viele zu existieren, aber auch wenn Gebäude ein schlechter Ersatz für Bäume sind, so sind sie doch wert, gesehen zu werden. Die Ältesten glauben, ich sei wunderlich, da ich reisen will. Ich wollte das immer schon, und sie glaubten das immer schon. Keiner von ihnen glaubt, daß es außerhalb des Stedding etwas Sehenswertes gibt. Vielleicht werden sie ihre Meinung ändern, wenn ich zurückkomme und ihnen erzähle, was ich gesehen habe. Ich hoffe. Mit der Zeit.«
»Vielleicht sehen sie es ein«, sagte Moiraine verbindlich. »Nun, Loial, du mußt mir vergeben, daß ich so kurz angebunden bin. Es ist ein typischer Fehler der Menschen, das weiß ich. Meine Begleiter und ich müssen unbedingt und schnell unsere Weiterreise planen. Wenn du uns entschuldigen würdest?«
Nun war es an Loial, verwirrt dreinzublicken. Rand rettete ihn. »Er kommt mit uns. Ich habe es ihm versprochen.«
Moiraine stand da und sah den Ogier an, als habe sie nicht richtig verstanden, doch schließlich nickte sie. »Das Rad webt, wie das Rad will«, murmelte sie. »Lan, paß auf, daß wir nicht überrascht werden.« Der Behüter verschwand lautlos, bis auf das Klicken der sich schließenden Tür, aus dem Raum.
Lans Verschwinden wirkte wie ein Signal: Alle Gespräche erstarben. Moiraine ging zum Kamin, und als sie sich wieder dem Raum zuwandte, ruhten alle Blicke auf ihr. Obwohl sie so zierlich war, beherrschte sie den Raum. »Wir können nicht lang in Caemlyn bleiben und sind selbst hier in Der Königin Segen nicht sicher. Die Augen des Dunklen Königs sind bereits in der Stadt. Sie haben bisher nicht gefunden, wonach sie suchen, sonst würden sie nicht mehr weitersuchen. Das ist unser Vorteil. Ich habe Amulette ausgelegt, um sie fernzuhalten, und wenn der Dunkle König schließlich bemerkt, daß es einen Teil der Stadt gibt, den die Ratten nicht mehr betreten, sind wir schon weg. Stärkere Amulette jedoch, die auch einen Menschen abschrecken könnten, würden sich einem Myrddraal wie ein Leuchtfeuer zeigen, und dann sind ja auch noch Kinder des Lichts in Caemlyn, die nach Perrin und Egwene suchen.« Rand stieß einen Laut aus, und Moiraine hob eine Augenbraue in seiner Richtung.
»Ich glaubte, sie suchen nach Mat und mir«, sagte er.
Diese Erklärung ließ die Aes Sedai nun beide Augenbrauen heben. »Wie kommst du auf die Idee, daß die Weißmäntel nach euch suchen?«
»Ich hörte, wie einer sagte, sie suchten nach jemandem von den Zwei Flüssen. Schattenfreunde, sagte er. Was konnte ich denn sonst glauben? Bei all dem, was geschehen ist, bin ich froh, überhaupt denken zu können.«
»Es war sehr verwirrend, das weiß ich, Rand«, warf Loial ein, »aber du kannst schon klarer denken, als du jetzt tust. Die Kinder hassen die Aes Sedai. Elaida würde nicht... «
»Elaida?« mischte sich Moiraine mit harter Stimme ein. »Was hat Elaida Sedai mit alledem zu tun?«
Sie blickte Rand so scharf an, daß er sich beinahe zurückgelehnt hätte. »Sie wollte mich ins Gefängnis werfen«, sagte er bedächtig. »Alles, was ich wollte, war lediglich, einen Blick auf Logain zu werfen, aber sie wollte nicht glauben, daß ich nur durch einen Zufall in den Palastgarten zu Elayne und Gawyn geraten war.« Alle starrten ihn an, als sei ihm plötzlich ein drittes Auge gewachsen — alle außer Loial. »Königin Morgase hat mich laufen lassen. Sie sagte, es gäbe keinen Beweis dafür, daß ich Böses im Schild führe, und daß sie sich an das Gesetz halten wolle, gleich, was Elaida vermuten mochte.« Er schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an Morgase in all ihrer Pracht ließ ihn für kurze Zeit vergessen, daß ihn alle ansahen. »Könnt ihr euch vorstellen, daß ich die Königin kennengelernt habe? Sie ist so schön wie die Königinnen in Märchen. Und genauso Elayne. Und Gawyn... dir würde Gawyn gefallen, Perrin. Perrin? Mat?« Sie stierten ihn immer noch an. »Blut und Asche, ich bin doch nur auf die Mauer geklettert, um den falschen Drachen zu sehen. Ich habe nichts Böses getan.«
»Das sage ich auch immer«, meinte Mat nüchtern, obwohl er plötzlich breit grinste, und Egwene fragte in betont neutralem Tonfall: »Wer ist Elayne?«
Moiraine fluchte leise vor sich hin. »Eine Königin«, sagte Perrin kopfschüttelnd. »Du hast ja wirklich Abenteuer erlebt. Alles, was wir trafen, waren Kesselflicker und ein paar Weißmäntel.« Er vermied es so offensichtlich, Moiraine anzusehen, daß Rand es ganz deutlich bemerkte. Perrin berührte die Blutergüsse auf seinem Gesicht. »Insgesamt betrachtet hat es mehr Spaß gemacht, mit den Kesselflickern zu singen als mit den Weißmänteln.«
»Das Fahrende Volk lebt für seine Lieder«, sagte Loial. »Für alle Lieder, muß man sagen. Zumindest für die Suche nach ihnen. Ich traf vor einigen Jahren einige Tuatha'an, und sie wollten die Lieder erlernen, die wir den Bäumen singen. Tatsächlich hören die Bäume nicht mehr auf sehr viele von ihnen, und nicht viele Ogier lernen die Lieder. Ich habe ein wenig dieses Talents, und so bestand der Älteste Arent darauf, daß ich sie lerne. Ich brachte den Tuatha'an bei, was sie erfassen konnten, aber die Bäume hören niemals auf Menschen. Für das Fahrende Volk waren es eben nur Lieder, und sie kamen als solche auch gut bei ihnen an, doch keines war das Lied, nach dem sie suchen. So nennen sie auch den Anführer jedes Stammes: den Sucher. Manchmal besuchen sie das Stedding Schangtai. Sehr wenige Menschen kommen dorthin.«
»Darf ich dich unterbrechen, Loial«, sagte Moiraine, aber er räusperte sich und fuhr in einem so schnellen Grollton fort, als fürchte er, sie werde ihn zum Schweigen bringen.
»Mir ist gerade etwas eingefallen, Aes Sedai, etwas, das ich immer schon eine Aes Sedai fragen wollte, falls ich eine treffe, da ihr so viele Dinge kennt und in Tar Valon große Bibliotheken habt, und nun habe ich halt dich getroffen, und... Darf ich?«
»Wenn du dich kurz faßt«, bemerkte sie knapp.
»Kurz«, sagte er, als frage er sich, was dieses Wort bedeute. »Ja. Nun gut. Kurz. Vor kurzer Zeit kam ein Mann ins Stedding Schangtai. Das war zu der Zeit an sich nichts Außergewöhnliches, da eine große Zahl von Flüchtlingen zum Rückgrat der Welt gekommen war. Sie flohen vor dem, was ihr Menschen den Aiel-Krieg nennt.« Rand grinste. Vor kurzer Zeit — das war etwa zwanzig Jahre her. »Er war dem Tod nah, obwohl keine Wunde, kein äußeres Zeichen an ihm zu entdecken war. Die Ältesten glaubten, es könne von Aes Sedai getan worden sein« — Loial warf Moiraine einen entschuldigenden Blick zu -, »da er sich sofort erholte, nachdem er das Stedding betreten hatte. Nur ein paar Monate. Eines Nachts schlich er sich einfach davon, ohne ein Wort zu sagen, als der Mond gesunken war.« Er sah Moiraine ins Gesicht und räusperte sich wieder. »Ja. Kurz. Bevor er ging, erzählte er eine seltsame Geschichte. Er sagte, diese Nachricht wolle er nach Tar Valon bringen. Er sagte, der Dunkle König habe vor, das Auge der Welt zu blenden und die Große Schlange zu töten, also die Zeit selbst. Die Ältesten meinten, er sei geistig genauso gesund wie körperlich, aber er behauptete solche Dinge. Die Zeit selbst töten? Und das Auge der Welt? Kann er das Auge der Großen Schlange blenden? Was bedeutet das?«
Rand erwartete jede mögliche Reaktion von Moiraine, aber nicht das, was er sah. Anstatt Loial zu antworten oder ihm zu sagen, daß sie im Moment dafür keine Zeit habe, stand sie einfach da, blickte durch den Ogier hindurch und runzelte gedankenverloren die Stirn.
»Das haben uns die Kesselflicker auch erzählt«, sagte Perrin.
»Ja«, sagte Egwene. »Die Aiel-Geschichte.«
Moiraine drehte langsam den Kopf. Kein anderer Körperteil bewegte sich. »Welche Geschichte?«
Ihr Blick war ausdruckslos, aber er brachte Perrin dazu, tief einzuatmen. Als er dann sprach, klang er so bedächtig wie immer. »Einige Kesselflicker, die die Wüste durchquerten — sie sagten, das könnten sie tun, ohne etwas befürchten zu müssen — fanden Aiel, die nach einem Kampf mit Trollocs im Sterben lagen. Bevor die letzte Aiel starb — es waren offensichtlich alles Frauen — erzählte sie den Kesselflickern genau dasselbe wie Loial gerade eben. Der Dunkle König — sie nannten ihn Sichtblender -habe vor, das Auge der Welt zu blenden. Und das war vor nur drei Jahren und nicht vor zwanzig. Bedeutet es etwas?«
»Vielleicht alles«, sagte Moiraine. Ihr Gesicht verriet nichts, doch Rand hatte das Gefühl, daß der Verstand hinter diesen dunklen Augen rasend arbeitete. »Ba'alzamon«, sagte Perrin plötzlich. Der Name brachte jeden Laut im Zimmer zum Ersterben. Keiner schien auch nur zu atmen. Perrin sah Rand an und dann Mat. Seine Augen blickten eigenartig ruhig drein und waren gelber als je zuvor. »Zu der Zeit fragte ich mich, wo ich den Namen schon einmal gehört hatte... das Auge der Welt. Jetzt erinnere ich mich. Ihr auch?«
»Ich will mich an gar nichts erinnern«, sagte Mat angespannt. »Wir müssen es ihr erzählen«, fuhr Perrin fort. »Jetzt ist es wichtig. Wir können es nicht länger geheimhalten. Das siehst du doch ein, nicht wahr, Rand?«
»Was müßt ihr mir erzählen?« Moiraines Stimme klang rauh, und sie schien sich auf einen Schlag gefaßt zu machen. Ihr Blick ruhte auf Rand. Er wollte nicht antworten. Genau wie Mat wollte er sich an nichts erinnern, aber er erinnerte sich halt doch — und er wußte, daß Perrin recht hatte. »Ich habe... « Er sah seine Freunde an. Mat nickte zögernd, Perrin entschlossen, doch zumindest hatten beide zugestimmt. Er mußte ihr nicht allein gegenüberstehen. »Wir haben... Träume gehabt.« Er rieb sich den Fleck an seinem Finger, wo ihn der Dorn einst gestochen hatte, und dachte an das Blut beim Aufwachen. Mit flauem Gefühl im Magen dachte er an jenes andere Mal und das Gefühl, sein Gesicht sei von der Glut aus Ba'alzamons Augen verbrannt worden. »Allerdings waren es vielleicht doch nicht nur Träume. Ba'alzamon kam darin vor.« Er wußte, warum Perrin diesen Namen benutzt hatte: Es fiel leichter als zu sagen, der Dunkle König sei in deinen Träumen gewesen, im Inneren deines Kopfes. »Er sagte... er sagte eine ganze Menge, aber einmal sagte er eben, das Auge der Welt werde mir nie dienen.« Eine Minute lang war sein Mund staubtrocken.
»Er sagte mir dasselbe«, stellte Perrin fest, und Mat seufzte erst schwer und nickte dann. Rand merkte, daß er wieder Speichel im Mund hatte. »Du bist uns nicht böse?« fragte Perrin, und es klang überrascht. Rand sah, daß Moiraine wirklich nicht böse zu sein schien. Sie betrachtete sie, und ihre Augen blickten klar und ruhig, wenn auch eindringlich, drein.
»Mehr auf mich selbst als auf euch. Aber ich habe euch doch gefragt, ob ihr eigenartige Träume hattet. Gleich zu Beginn habe ich euch danach gefragt.« Obwohl ihre Stimme gleichmäßig blieb, zeigten ihre Augen einen Moment lang Zorn, der aber gleich wieder verschwand. »Hätte ich es gleich nach dem ersten gewußt, wäre ich vielleicht in der Lage gewesen... Es hat seit beinahe tausend Jahren in Tar Valon keine Traumwandlerin mehr gegeben, aber ich hätte es wenigstens versuchen können. Jetzt ist es zu spät. Jedesmal, wenn euch der Dunkle König berührt, macht es ihm die nächste Berührung leichter. Vielleicht kann euch meine Gegenwart immer noch ein wenig schützen, aber selbst dann... Erinnert ihr euch an die Geschichten über die Verlorenen, die Menschen an sich binden? Auch starke Männer, Männer, die von Beginn an gegen den Dunklen König gekämpft hatten. Diese Geschichten sind wahr, und dabei hatte keiner der Verlorenen die Kraft seines Herrn, weder Aginor noch Lanfear, weder Balthamel noch Demandred und noch nicht einmal Ishamael, der Verräter aller Hoffnung selbst.«
Nynaeve und Egwene sahen ihn an, ihn und Mat und Perrin, wie Rand jetzt bemerkte. Die Gesichter der Frauen waren ein blutleeres Gemisch aus Angst und Entsetzen. Haben sie Angst um uns oder vor uns?
»Was können wir tun?«, fragte er. »Es muß doch etwas geben.«
»Ganz nahe bei mir blieben«, antwortete Moiraine, »das wird helfen. Jedenfalls ein bißchen. Der Schutz durch die Berührung der Wahren Quelle umgibt mich ein Stück weit — denkt daran. Aber ihr könnt nicht immer nah bei mir bleiben. Ihr könnt euch selbst verteidigen, falls ihr stark genug seid, aber diese Kraft und diesen Willen müßt ihr in euch selbst finden. Ich kann sie euch nicht geben.«
»Ich glaube, ich habe meinen eigenen Schutz bereits gefunden«, sagte Perrin, und es klang eher resignierend als froh.
»Ja«, sagte Moiraine, »das hast du wohl.« Sie sah ihn an, und er senkte den Blick, und selbst dann noch stand sie nachdenklich da. Schließlich wandte sie sich den anderen zu. »Die Macht des Dunklen Königs in euch hat ihre Grenzen. Gebt nur einen Augenblick nach, und er hat schon euer Herz an einem Faden, einem Band, das ihr vielleicht nie wieder zertrennen könnt. Gebt nach, und ihr gehört ihm. Widersteht ihm, und seine Macht versagt. Es ist nicht leicht, wenn er in eure Träume eindringt, aber es ist zu schaffen. Er kann immer noch Halbmenschen gegen euch aussenden und Trollocs und Draghkar und andere, aber ihr gehört ihm nicht, solange ihr nicht nachgebt.«
»Blasse sind schlimm genug«, sagte Perrin.
»Ich will ihn nicht mehr in meinem Kopf spüren«, grollte Mat. »Gibt es keinen Weg, um ihn auszusperren?«
Moiraine schüttelte den Kopf. »Loial hat nichts zu befürchten, und auch Egwene und Nynaeve nicht. In der Masse der Menschheit kann der Dunkle König ein Individuum nur durch Zufall finden, es sei denn, diese Person sucht ihn. Aber zumindest für eine gewisse Zeit seid ihr drei ein Herzstück des Musters. Ein Schicksalsgewebe entsteht, und jeder Faden führt geradewegs zu euch. Was hat der Dunkle König noch zu euch gesagt?«
»Ich kann mich nicht so gut daran erinnern«, sagte Perrin. »Da war etwas, daß einer von uns auserwählt sei oder so ähnlich. Ich erinnere mich, daß er darüber lachte«, endete er düster, »durch wen wir ausgewählt würden. Er sagte, ich — wir könnten ihm entweder dienen oder sterben. Und dann würden wir ihm immer noch dienen.«
»Er behauptete, der Amyrlin-Sitz werde versuchen, uns zu benützen«, fügte Mat hinzu, und seine Stimme versagte, als ihm klar wurde, wem er das sagte. Er schluckte und fuhr fort: »Er sagte, genau wie Tar Valon andere benützte — er nannte ein paar Namen. Davian, glaube ich. Ich kann mich auch daran nicht gut erinnern.«
»Raolin Dunkelbann«, sagte Perrin.
»Ja«, sagte Rand mit gerunzelter Stirn. Er hatte sich bemüht, diese Träume zu vergessen. Es war unangenehm, sie zurückzuholen. »Yurian Steinbogen war ein anderer und ebenso Guaire Amalasan.« Er hielt plötzlich inne, hoffte aber, Moiraine werde nicht bemerken, wie plötzlich. »Ich erkenne keinen davon.«
Aber er hatte einen erkannt, jetzt, da er sie aus den Tiefen seiner Erinnerungen hervorzerrte. Er hatte sich gerade noch bremsen können, um den Namen nicht auszusprechen: Logain. Der falsche Drache. Licht! Thom sagte, das seien gefährliche Namen. Ist es das, was Ba'alzamon meinte? Daß Moiraine einen von uns als falschen Drachen benützen will? Aes Sedai jagen falsche Drachen und benützen sie nicht. Oder doch? Licht, hilf mir, benützen sie die falschen Drachen?
Moiraine sah ihn an, aber aus ihrem Gesicht konnte er nichts ablesen. »Kennst du sie?« fragte er. »Bedeuten sie etwas?«
»Vater der Lügen ist ein guter Name für den Dunklen König«, antwortete Moiraine. »Er bemüht sich immer, den Wurm des Zweifels zu pflanzen, wo er nur kann. Das nagt am Verstand eines Menschen wie ein Krebsgeschwür. Wenn du dem Vater der Lügen glaubst, ist das der erste Schritt zur Kapitulation. Denkt daran, wenn ihr euch dem Dunklen König ergebt, gehört ihr ihm.«
Eine Aes Sedai lügt nie, aber die Wahrheit, die sie ausspricht, ist vielleicht nicht die Wahrheit, die du zu hören glaubst! Das hatte Tam gesagt, und sie hatte seine Frage nicht richtig beantwortet. Er behielt seine ausdruckslose Miene bei und ließ die Hände ruhig auf den Knien liegen, ohne den Schweiß an seiner Hose abzuwischen.
Egwene weinte leise. Nynaeve hatte die Arme um sie gelegt, aber auch sie sah so aus, als wolle sie weinen. Rand wünschte beinahe, er könne das auch.
»Sie sind alle ta'veren«, sagte Loial plötzlich. Die Aussicht schien ihn froh zu stimmen. Er freute sich wohl darauf, aus der Nähe zusehen zu können, wie das Muster um sie herum gewebt wurde. Rand sah ihn entgeistert an, und der Ogier zuckte beschämt die Achseln. Es reichte jedenfalls, um seinen Eifer zu dämpfen.
»Das sind sie«, sagte Moiraine. »Gleich drei, wo ich einen erwartete. Eine große Zahl von Dingen hat sich ereignet, mit denen ich nicht rechnete. Diese Nachricht in bezug auf das Auge der Welt ändert viel.« Sie schwieg einen Moment lang und runzelte die Stirn. »Eine Weile lang scheint sich das Muster um euch drei herum zu formen, so wie Loial sagt, und der Wirbel wird noch stärker werden, bevor er sich beruhigt. Manchmal bedeutet ta'veren sein, daß das Muster gezwungen ist, sich euch zu beugen, und manchmal zwingt euch das Muster auf den notwendigen Weg. Das Gewebe kann immer noch auf vielerlei Art gewebt werden, und einige dieser Muster könnten katastrophale Auswirkungen haben — für euch und für die Welt.
Wir können nicht in Caemlyn bleiben, aber welche Straße wir auch benützen: Die Myrddraal und die Trollocs werden uns erreichen, bevor wir auch nur zehn Meilen weg sind. Und gerade zu diesem Zeitpunkt erfahren wir von einer Bedrohung des Auges der Welt, und nicht nur aus einer Quelle, sondern aus dreien, und jede anscheinend unabhängig von den anderen. Das Muster zwingt uns auf einen Weg. Das Muster bildet sich immer noch weiter um euch herum, doch welche Hand schert nun die Kette an, und welche Hand führt das Schiffchen? Sind die Gefängnismauern um den Dunklen König so brüchig geworden, daß er eine solche Kontrolle ausüben kann?«
»Es ist nicht nötig, so etwas auszusprechen!« sagte Nynaeve in scharfem Ton. »Du jagst ihnen damit nur Angst ein.«
»Dir nicht?« fragte Moiraine. »Ich habe Angst. Na ja, vielleicht hast du recht. Wir dürfen unseren Weg nicht durch Angst beeinflussen lassen. Ob dies nun eine Falle ist oder eine rechtzeitige Warnung, wir müssen tun, was notwendig ist, und das bedeutet: Wir müssen das Auge der Welt schnell erreichen. Der Grüne Mann muß von dieser Bedrohung erfahren.«
Rand fuhr hoch. Der Grüne Mann? Die anderen sahen sie ebenfalls überrascht an, nur Loial nicht, dessen breites Gesicht sorgenvoll dreinblickte.
»Ich kann noch nicht einmal riskieren, nach Tar Valon zu kommen, um Hilfe zu holen«, fuhr Moiraine fort. »Die Zeit ist zu knapp. Selbst wenn wir ungehindert aus der Stadt reiten könnten, würden wir viele Wochen brauchen, um die Fäule zu erreichen, und ich fürchte, wir haben nicht mehr wochenlang Zeit.«
»Die Fäule!« Rand hörte, wie die anderen im Chor zu seinem Echo wurden, aber Moiraine beachtete sie nicht.
»Das Muster wirft uns in eine Krise und zeigt uns gleichzeitig einen Weg, sie zu überwinden. Wenn ich nicht wüßte, daß es unmöglich ist, würde ich beinahe glauben, der Schöpfer selbst habe eingegriffen. Es gibt einen Weg.« Sie lächelte, als habe sie einen ihr ganz eigenen Scherz gemacht, und wandte sich Loial zu. »Es gab einen Ogier-Hain hier in Caemlyn und auch ein Wegetor. Heute breitet sich die Neustadt dort aus, wo einst der Hain wuchs, also muß sich das Wegetor innerhalb der Mauern befinden. Ich weiß, daß heutzutage nicht mehr viele Ogier lernen, wie man die Kurzen Wege benützt, aber einer, der ein Talent besitzt und die alten Wachstumslieder lernt, muß sich doch von solchem Wissen angezogen fühlen, selbst wenn er glaubt, sie würden nie mehr benützt. Kennst du die Kurzen Wege, Loial?«
Der Ogier trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Ja, ich kenne sie, Aes Sedai, aber... «
»Kannst du dich mit Hilfe der Kurzen Wege nach Fal Dara durchfinden?«
»Ich habe noch nie von Fal Dara gehört«, sagte Loial, und es klang erleichtert.
»In den Tagen der Trolloc-Kriege war es auch als Mafal Dadaranell bekannt. Kennst du diesen Namen?«
»Den kenne ich«, sagte Loial zögernd. »Aber... «
»Dann kannst du unseren Weg auch finden«, sagte Moiraine. »Das ist schon wirklich eine seltsame Wendung des Schicksals. Wenn wir weder bleiben noch uns auf irgendeinem normalen Weg fortstehlen können, höre ich von einer Bedrohung des Auges, und es befindet sich auch noch jemand bei uns, der uns in wenigen Tagen dorthin bringen kann. Ob es nun der Schöpfer selbst ist oder nur das Schicksal oder selbst der Dunkle König: Das Muster hat unseren Weg bestimmt.«
»Nein!« sagte Loial. Es klang wie ein aus dem tiefsten Inneren stammendes Donnergrollen. Jeder wandte sich ihm zu, und er blinzelte unter all der Aufmerksamkeit, doch in seinen Worten lag kein Zögern. »Wenn wir die Kurzen Wege betreten, werden wir alle sterben — oder vom Schatten verschlungen.«