Bevor sie einschliefen, kniete Moiraine neben jedem von ihnen nieder und legte ihnen die Hände auf den Kopf. Lan schimpfte, er brauche das nicht, und sie solle ihre Kraft nicht verschwenden, doch er versuchte nicht ernsthaft, sie daran zu hindern. Egwene drängte sich beinahe nach dieser Erfahrung, während Mat und Perrin eindeutig Angst hatten, sich aber auch davor fürchteten, nein zu sagen. Thom zuckte unter den Händen der Aes Sedai zusammen, aber sie ergriff energisch seinen grauen Kopf, mit einem Blick, der keinen Widerspruch erlaubte. Der Gaukler machte die ganze Prozedur hindurch ein saures Gesicht. Sie lächelte spöttisch, als sie die Hände wieder wegnahm. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, aber er sah erfrischt aus. Sie alle wirkten erholt.
Rand hatte sich in eine Nische in der unregelmäßig verlaufenden Wand zurückgezogen und hoffte, übersehen zu werden. Seine Augen schlossen sich beinahe von selbst, als er sich gegen das Gewirr von Stämmen und Gestrüpp lehnte, doch er zwang sich zum Zuschauen. Er hielt die Hand vor den Mund und versuchte, das Gähnen zu unterdrücken. Ein wenig Schlaf, ein oder zwei Stunden, und er würde sich wieder wohler fühlen. Aber Moiraine übersah ihn nicht.
Er zuckte ebenfalls ein wenig zusammen, als er ihre kühlen Finger auf seinem Gesicht fühlte, und sagte: »Ich glaube nicht... « Seine Augen weiteten sich erstaunt. Die Müdigkeit rann aus ihm heraus wie Wasser den Berg hinunter; Schmerzen und Muskelkater wurden zu schwachen Erinnerungen und verschwanden ganz. Er sah sie mit offenem Mund an. Sie lächelte nur und zog die Hände zurück.
»Es ist vollbracht«, sagte sie und stand mit einem müden Seufzer auf, der ihn daran erinnerte, daß sie für sich selbst nichts tun konnte. Sie trank nur ein wenig Tee und lehnte Brot und Käse ab, die Lan ihr aufzudrängen versuchte, bevor sie sich am Feuer zusammenrollte. Sie schien im gleichen Moment einzuschlafen, nachdem sie ihren Umhang um sich gewickelt hatte.
Die anderen, alle außer Lan jedenfalls, schliefen ein, wo immer sie ein Plätzchen zum Ausstrecken fanden, obwohl sich Rand nicht vorstellen konnte, warum. Er fühlte sich, als habe er bereits eine ganze Nacht in einem guten Bett hinter sich. Doch kaum hatte er sich bequem gegen die grüne Wand gelehnt, da schlief er auch schon ein. Als Lan ihn eine Stunde später wachrüttelte, fühlte er sich, als habe er drei Tage lang geruht.
Der Behüter weckte alle bis auf Moiraine und unterdrückte auf ernste Art jeden Laut, der ihren Schlaf stören konnte. Trotzdem gestattete er ihnen nur einen kurzen Aufenthalt in der gemütlichen Baumhöhle. Kaum hatte die Sonne sich über dem Horizont erhoben, waren alle Spuren verwischt, und saßen alle auf ihren Pferden und waren unterwegs nach Norden, in Richtung Baerlon. Sie ritten langsam, damit die Pferde ihre Kräfte schonen konnten. Unter den Augen der Aes Sedai lagen tiefe Schatten, aber sie saß aufrecht und ruhig im Sattel.
Über dem Fluß lag immer noch dichter Nebel, eine graue Mauer, die den kraftlosen Sonnenstrahlen erfolgreich widerstand. Die Zwei Flüsse lagen verborgen dahinter. Rand blickte beim Reiten öfter über die Schulter zurück und hoffte auf einen letzten Blick, wenigstens auf Taren-Fähre, bis schließlich die Nebelbank dem Blick entschwand.
»Ich hätte nie geglaubt, daß ich mich einmal so weit weg von zu Hause befände«, sagte er, als die Bäume schließlich den Nebel wie auch den Fluß verbargen. »Erinnert ihr euch noch daran, als Wachhügel so weit weg schien?« Das war vor zwei Tagen. Es erscheint mir wie eine Ewigkeit.
»In spätestens zwei Monaten sind wir zurück«, sagte Perrin in angespanntem Tonfall. »Denkt mal, was wir dann alles zu erzählen haben!«
»Selbst die Trollocs können uns nicht ewig jagen«, meinte Mat. »Versengen soll mich das Licht, aber das können sie doch nicht.« Er richtete sich mit einem tiefen Seufzer im Sattel auf und sackte wieder zusammen, als glaube er kein Wort von dem Gesagten.
»Männer!« schnaubte Egwene. »Da bekommt ihr endlich die Abenteuer, über die ihr immer geschwatzt habt, und schon redet ihr wieder über zu Hause.« Sie hielt den Kopf hoch erhoben, und doch bemerkte Rand ein leises Zittern in ihrer Stimme, jetzt, da man nichts mehr von den Zwei Flüssen sah.
Weder Moiraine noch Lan unternahmen einen Versuch, sie zu beruhigen. Kein Wort, um ihnen zu sagen, daß sie zurückkehren würden. Er versuchte, nicht daran zu denken, was das bedeuten mochte. Sogar in ausgeruhtem Zustand wurde er von Zweifeln geplagt, so daß er nicht noch mehr davon gebrauchen konnte. Im Sattel zusammengesunken flüchtete er sich in einen Tagtraum. Er hütete neben Tam Schafe auf einer Weide mit dichtem üppigen Gras. Die Lerchen sangen von einem Frühlingsmorgen. Und eine Fahrt nach Emondsfeld zum Bel Tine, so wie es gewesen war. Er tanzte auf dem Grün, und seine einzige Sorge war, nicht beim nächsten Tanzschritt zu stolpern. Er brachte es fertig, sich lange Zeit in diesen Traum zu versenken.
Der Ritt nach Baerlon dauerte fast eine Woche. Lan beschwerte sich zwar über ihre Bummelei, aber er war es, der die Geschwindigkeit bestimmte und die anderen zwang, sie einzuhalten. Mit sich und seinem Hengst Mandarb — er sagte, das heiße ›Klinge‹ in der Alten Sprache — ging er nicht so rücksichtsvoll um. Der Behüter legte die doppelte Strecke der anderen zurück. Er galoppierte mit im Wind flatterndem Umhang voraus, um zu sehen, was vor ihnen lag, oder er ließ sich zurückfallen und suchte den Weg hinter ihnen nach Verfolgern ab. Jeder andere jedoch, der sich schneller als im Schrittempo zu bewegen versuchte, wurde ausgescholten, weil er keine Rücksicht auf die Tiere nahm, und mußte sich ein paar beißende Sätze anhören, was er wohl zu Fuß unternehmen würde, wenn die Trollocs erst erschienen. Nicht einmal Moiraine war vor seiner scharfen Zunge sicher, wenn sie ihre weiße Stute in Trab setzte. Aldieb war der Name der Stute; in der Alten Sprache hieß das ›Westwind‹ — der Wind, der den Frühlingsregen brachte.
Der Spürsinn des Behüters erbrachte kein Zeichen einer Verfolgung oder eines Hinterhalts. Er erzählte nur Moiraine, was er sah, und das so leise, daß niemand sonst es verstehen konnte, und dann berichtete die Aes Sedai den anderen, was sie für berichtenswert hielt. Anfangs blickte Rand genauso oft nach hinten wie nach vorn. Er war nicht der einzige. Perrin griff oft nach seiner Axt, und Mat ritt mit einem Pfeil auf der Sehne, jedenfalls anfangs. Aber das Land hinter ihnen blieb leer von Trollocs oder Gestalten in schwarzen Mänteln, und am Himmel zeigte sich kein Draghkar. Allmählich glaubte Rand daran, daß sie wirklich und wahrhaftig entkommen waren.
Selbst die dichtesten Stellen des Waldes boten keine ausreichende Deckung. Der Winter hielt sich hier, nördlich des Taren, genauso zäh wie bei den Zwei Flüssen. Gruppen von Kiefern, Tannen oder Lederblattbäumen und hier und da ein paar Gewürzsträucher oder Lorbeerbäumchen hoben sich von den kahlen grauen Bäumen ab. Nicht einmal beim Holunder zeigten sich Blätter. Nur vereinzelt sprießten die grünen Spitzen von neuem Gras aus den braunen, vom Schnee niedergedrückten Wiesen hervor. Auch hier wuchsen vor allem Brennesseln, Disteln und Stinkkraut. Auf dem nackten Waldboden hielten sich letzte Schneereste, wo schattige Stellen die Sonne abhielten, oder in kleinen Mulden unter den niedrigen Ästen der Tannen. Die Gefährten zogen die Umhänge fester um die Schultern, denn das blasse Sonnenlicht verströmte keine Wärme, und die nächtliche Kälte war beißend. Genauso wie bei den Zwei Flüssen flogen auch hier keine Vögel, nicht einmal Raben umher.
Wenn sie sich auch langsam vorwärtsbewegten, so konnten sie sich doch keineswegs entspannen. Die Nordstraße — Rand nannte sie immer noch so, obwohl er vermutete, daß sie hier, nördlich des Taren, einen anderen Namen hatte — verlief noch immer fast direkt Richtung Norden, aber Lan bestand darauf, daß ihr Weg so oft wie möglich in dieser oder jener Richtung abwich und durch den Wald führte, fast genauso oft, wie sie der festen Lehmspur der Straße folgten. Ein Dorf, ein Bauernhof oder irgendein Anzeichen von Menschen oder von menschlicher Besiedelung veranlaßte sie zu meilenweiten Umwegen. Sie begegneten aber nicht vielen solcher Spuren. Den ganzen ersten Tag über sah Rand, abgesehen von der Straße, überhaupt kein Anzeichen dafür, daß sich Menschen je in diesem Wald aufgehalten hatten. Ein Gedanke kam ihm, daß er selbst zu jener Zeit, als er zum Fuß der Verschleierten Berge gewandert war, menschlichen Siedlungen näher gewesen war als heute.
Der erste Bauernhof, den er sah — ein großes Holzhaus mit einer hohen Scheune und spitzen strohgedeckten Giebeldächern (aus einem gemauerten Schornstein drang eine Rauchwolke) -, erschreckte ihn deshalb einigermaßen.
»Es ist nicht anders als zu Hause«, sagte Perrin, der finster zu den fernen Gebäuden hinüberblickte. Menschen bewegten sich im Hof. Sie hatten die Reisenden noch nicht entdeckt.
»Natürlich ist es anders«, sagte Mat. »Wir sind einfach noch nicht nahe genug.«
»Ich sage euch, es ist nicht anders«, beharrte Perrin.
»Doch! Wir sind schließlich nördlich des Taren.«
»Ruhig, ihr beiden!« grollte Lan. »Wir wollen nicht gesehen werden, ja? Hier entlang!« Er wandte sich Richtung Westen, um den Hof durch die Bäume herum zu umgehen.
Beim Zurückschauen dachte Rand, daß er Perrin recht geben mußte. Der Hof sah ziemlich gleich aus wie alle in der Gegend um Emondsfeld. Da war ein kleiner Junge, der Wasser aus dem Brunnen schöpfte, und ältere Jungen hüteten Schafe hinter einem Lattenzaun. Es gab sogar einen Trockenschuppen für Tabak. Aber Mat hatte auch recht. Wir befinden uns nördlich des Taren. Es muß einfach anders sein.
Sie machten immer Rast, wenn es noch hell war, um einen Platz auszusuchen, der einen leichten Abhang aufwies, damit das Wasser abfließen konnte, und sie vor dem Wind schützte, der nur selten ganz einschlief. Meist änderte er lediglich die Richtung. Ihr Lagerfeuer war immer klein und so geschickt versteckt, daß man es auf wenige Schritte Entfernung nicht mehr sehen konnte. Sobald der Tee gekocht war, wurden die Flammen gelöscht und die Kohlen vergraben.
Beim ersten Halt, bevor die Sonne sank, begann Lan damit, die Jungen im Umgang mit ihren Waffen zu unterweisen. Er nahm als erstes den Bogen. Nachdem er beobachtet hatte, wie Mat drei Pfeile in einem männerkopfgroßen Ziel auf dem gespaltenen Stumpf eines toten Lederblattbaums landete — auf hundert Schritt Entfernung -, nahm er die anderen an die Reihe. Perrin wiederholte Mats Leistung, und Rand, der die Flamme und das Nichts in sich beschwor und damit die leere Ruhe, die den Bogen zu einem Teil seiner selbst werden ließ, brachte seine drei Pfeile so eng nebeneinander ins Ziel, daß sich die Spitzen beinahe berührten. Mat schlug ihm gratulierend auf die Schulter.
»Wenn ihr jetzt alle einen Bogen hättet«, sagte der Behüter trocken, als er ihr Grinsen sah, »und wenn die Trollocs so nett wären, euch so weit vom Leib zu bleiben, daß ihr den Pfeil abschießen könntet... « Das Grinsen verging den Freunden sogleich. »Wir werden sehen, was ich euch beibringen kann, falls sie einmal zu nahe kommen.«
Er zeigte Perrin den Gebrauch einer Streitaxt mit großer Schneide; wenn man eine Axt gegen jemanden erhob, der selbst bewaffnet war, war das nicht mit Holzhacken oder einem probeweisen Axtschwingen zu vergleichen. Er ließ den großen Schmiedlehrling eine Reihe von Übungen durchführen — blockieren, parieren und zuschlagen -, und dann wiederholte er diese Prozedur mit Rand und seinem Schwert. Nicht das wilde Herumspringen und Zuschlagen, das Rand im Sinn hatte, wenn er über den Gebrauch der Waffe nachdachte, sondern flüssige Bewegung, bei der eine in die andere überging wie bei einem Tanz.
»Es genügt nicht, die Klinge zu bewegen«, erklärte Lan, »auch wenn einige das glauben. Der Verstand ist ein Teil des Ganzen, ein wesentlicher Teil. Leere deinen Verstand, Schafhirte, leere ihn von Haß oder Angst, von allem. Brenne alles weg. Ihr anderen, hört mir auch zu. Ihr könnt das genauso mit der Axt oder dem Bogen, mit einem Speer oder Stock oder sogar mit euren leeren Händen anwenden.«
Rand starrte ihn an. »Die Flamme und das Nichts«, sagte er erstaunt. »Das meint Ihr doch, nicht wahr? Mein Vater hat mich das gelehrt.«
Der Behüter blickte ihn undurchdringlich an. »Halte das Schwert, wie ich es dir gezeigt habe, Schafhirte. Ich kann in einer Stunde aus einem plattfüßigen Dorfbewohner keinen Schwertmeister machen, aber vielleicht kann ich dich davor bewahren, dir den eigenen Fuß abzuschneiden.«
Rand seufzte und hielt das Schwert aufrecht mit beiden Händen vor sich. Moiraine beobachtete alles ohne äußere Gefühlsregung, aber am nächsten Abend bat sie Lan, er solle den Unterricht fortsetzen.
Zum Abendbrot gab es stets das gleiche wie am Mittag oder zum Frühstück: Fladenbrot, Käse und Trockenfleisch, nur daß sie am Abend heißen Tee statt Wasser tranken, um das Essen hinunterzuspülen. Am Abend unterhielt Thom die Gesellschaft. Lan verbot dem Gaukler zwar nicht Harfe oder Flöte zu spielen — nicht nötig, das ganze Land aufzuwecken, meinte er -, aber Thom jonglierte und erzählte Geschichten. ›Mara und die drei närrischen Könige‹ oder eine der vielen hundert Erzählungen über Anla, die weise Ratgeberin, oder mit Ruhm und Abenteuern erfüllte Geschichten wie ›Die Wilde Jagd nach dem Horn‹, doch immer mit einem glücklichen Ausgang und einer freudigen Heimkehr.
Wenn das Land um sie herum auch friedlich war, keine Trollocs zwischen den Bäumen erschienen, kein Draghkar unter den Wolken, so brachten sie es doch fertig, ihre Angst immer dann wieder zu schüren, wenn sie gerade am Erlöschen war.
Da war beispielsweise jener Morgen, an dem Egwene aufwachte und anfing, ihren Zopf zu lösen. Rand beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während er seine Decken einrollte. Jeden Abend, wenn das Feuer gelöscht wurde, zogen sich alle in ihre Decken zurück, bis auf Egwene und die Aes Sedai. Immer setzten sich die beiden Frauen abseits von den anderen hin und unterhielten sich ein oder zwei Stunden lang. Sie legten sich hin, wenn die anderen längst schliefen. Egwene kämmte ihr Haar aus -hundertmal zog sie den Kamm durch, zählte Rand -, während er Wolke sattelte und seine Satteltaschen und Bettrolle hinter dem Sattel festschnallte. Dann steckte sie den Kamm weg, schob ihr loses Haar über die Schulter nach hinten und zog die Kapuze des Umhangs darüber.
Überrascht fragte er: »Was tust du da?« Sie blickte ihn von der Seite an, ohne zu antworten. Ihm wurde klar, daß er sie zum ersten Mal seit zwei Tagen angesprochen hatte, seit dem Abend in der Baumhöhle am Ufer des Taren, aber er ließ sich davon nicht aufhalten. »Dein ganzes Leben lang hast du darauf gewartet, dein Haar endlich als Zopf tragen zu dürfen, und jetzt gibst du ihn auf?
Warum? Weil sie auch keinen Zopf trägt?«
»Aes Sedai tragen ihr Haar nicht als Zopf«, sagte sie einfach. »Jedenfalls nicht, solange sie das nicht wollen.«
»Du bist keine Aes Sedai. Du bist Egwene al'Vere aus Emondsfeld, und die Frauen dort bekäme jetzt einen Anfall, wenn sie dich so sähen.«
»Der Frauenzirkel geht dich nichts an, Rand al'Thor. Und ich werde eine Aes Sedai, sobald wir Tar Valon erreichen.«
Er schnaubte. »Sobald wir Tar Valon erreichen. Warum? Licht, sag mir warum! Du bist doch keine Schattenfreundin.«
»Denkst du, daß Moiraine zu den Schattenfreunden gehört? Glaubst du das wirklich?« Sie drehte sich mit geballten Fäusten zu ihm um, und es sah so aus, als wolle sie ihn schlagen. »Nachdem sie das Dorf gerettet hat? Nachdem sie deinen Vater gerettet hat?«
»Ich weiß nicht, wie sie ist, aber wie auch immer — das sagt nichts über die anderen Aes Sedai aus. Die Geschichten... «
»Werde erwachsen, Rand! Vergiß die Geschichten, und gebrauch deine Augen!«
»Mit meinen Augen habe ich gesehen, wie sie die Fähre versenkte. Oder willst du das leugnen? Wenn du erst mal Flausen im Kopf hast, gibst du nicht mehr nach, selbst wenn dir jemand beweist, daß du auf dem Wasser zu gehen versuchst. Wenn du keine so vom Licht geblendete Närrin wärst, würdest du bemerken...!«
»Versucht ihr zwei, alle Leute innerhalb von zehn Meilen aufzuwecken?« fragte der Behüter.
Rand stand mit offenem Mund da und wollte noch etwas hinzuzufügen, da fiel ihm auf, daß er geschrien hatte. Sie hatten beide geschrien.
Egwenes Gesicht lief bis zu den Augenbrauen scharlachrot an. Sie drehte sich mit einem halblauten »Männer!« ab, das sowohl dem Behüter wie auch ihm zu gelten schien. Ahnungsvoll sah sich Rand im Lager um. Alle sahen ihn an, nicht nur der Behüter. Mat und Perrin waren ganz blaß. Thom wirkte so angespannt, als wolle er gleich wegrennen oder kämpfen. Moiraine. Das Gesicht der Aes Sedai war ausdruckslos, doch ihr Blick schien sich in seinen Kopf zu bohren. Verzweifelt versuchte er, sich daran zu erinnern, was er über Aes Sedai und Schattenfreunde gesagt hatte.
»Es ist Zeit zum Aufbruch«, sagte Moiraine. Sie wandte sich Aldieb zu, und Rand schauderte erleichtert, als sei er einer Falle entkommen. Er fragte sich, ob er wirklich entkommen war.
Zwei Nächte später, als das Feuer schon verglimmte, leckte sich Mat die letzten Krümel Käse von den Fingern und sagte:
»Wißt ihr, ich glaube, wir haben sie endgültig abgeschüttelt.« Lan war in die Nacht hinausgegangen, um sich ein letztes Mal umzusehen. Moiraine und Egwene hatten sich zu einer ihrer Unterhaltungen zurückgezogen. Thom döste mit der Pfeife im Mund vor sich hin, und die jungen Männer hatten das Feuer ganz für sich allein.
Perrin stocherte gelangweilt mit einem Stock in der Glut herum und antwortete: »Wenn wir sie los sind, warum sucht Lan dann immer noch die Gegend ab?« Rand fielen schon fast die Augen zu. Er lag am Boden und drehte sich um, den Rücken dem Feuer zugewandt. »Wir haben sie an der Taren-Fähre abgehängt.« Mat legte sich zurück, verschränkte die Finger hinter dem Kopf und blickte zum monderhellten Himmel auf. »Falls sie wirklich uns gesucht haben.«
»Glaubst du, der Draghkar hat uns gejagt, weil wir ihm gefielen?« fragte Perrin.
»Wenn ihr mich fragt, hört auf, euch über Trollocs und ähnliches Gelichter Gedanken zu machen«, fuhr Mat fort, als habe Perrin nichts gesagt, »und fangt an, euch darauf zu freuen, die Welt sehen zu können. Wir sind jetzt dort draußen, wo die Geschichten herkommen. Was glaubt ihr — wie sieht eine richtige Stadt aus?«
»Wir reiten nach Baerlon«, sagte Rand schläfrig, aber Mat schnaubte nur.
»Baerlon ist schön und gut, aber ich habe die alte Karte von Meister al'Vere gesehen. Wenn wir Caemlyn erreichen und uns dann nach Süden wenden, führt uns die Straße nach Illian und noch weiter.«
»Was ist so besonders an Illian?« fragte Perrin gähnend.
»Zum einen«, antwortete Mat, »ist Illian nicht voll von Aes Se... «
Er schwieg, und Rand war plötzlich hellwach. Moiraine war zu früh zurückgekehrt. Egwene war bei ihr, aber alle Aufmerksamkeit galt der Aes Sedai, die am Rande des Feuerscheins zu sehen war. Mat lag auf dem Rücken, den Mund noch geöffnet, und glotzte sie an. Moiraines Augen spiegelten das Licht wie zwei dunkle glattpolierte Steine wider. Plötzlich fragte sich Rand, wie lange sie wohl schon dagestanden hatte.
»Die Jungen haben gerade...«, begann Thom, doch Moiraine fiel ihm ins Wort.
»Ein paar Tage Pause, und ihr seid bereit aufzugeben.« Ihre ruhige, gleichmäßige Stimme stand im scharfen Widerspruch zu ihren Augen. »Ein, zwei Tage Ruhe, und schon habt ihr die Winternacht vergessen.«
»Wir haben sie nicht vergessen«, sagte Perrin. »Es ist nur... « Sie erhob die Stimme immer noch nicht, verfuhr mit ihm aber wie mit dem Gaukler.
»Seid ihr alle dieser Meinung? Ihr wollt alle am liebsten nach Illian rennen und die Trollocs, Halbmenschen und Draghkar vergessen?« Sie musterte sie — dieser Steinglanz ihrer Augen und dazu der alltägliche Tonfall ihrer Stimme machten Rand nervös -, aber sie gab niemandem eine Gelegenheit, sich zu äußern. »Der Dunkle König ist hinter euch dreien her, hinter einem oder allen, und wenn ich euch wegrennen lasse, wie ihr wollt, dann bekommt er euch. Was auch immer der Dunkle König will, dem leiste ich Widerstand. Also hört mich an und erkennt die Wahrheit. Bevor ich euch dem Dunklen König überlasse, töte ich euch lieber.«
Es war ihre so beiläufig klingende Stimme, die Rand überzeugte. Die Aes Sedai würde genau das tun, was sie sagte, falls es sich als notwendig erwiese. Diese Nacht hatte er Schwierigkeiten, überhaupt zu schlafen, und er war nicht der einzige. Selbst der Gaukler begann erst zu schnarchen, als die letzten Kohlen schon lange verglüht waren. Ausnahmsweise bot ihnen Moiraine keine Hilfe an.
Diese abendlichen Gespräche Egwenes mit der Aes Sedai waren Rand ein Dorn im Auge. Immer wenn sie in der Dunkelheit verschwanden, sich von den anderen wegbegaben, um Ruhe vor ihnen zu haben, fragte er sich, worüber sie wohl sprachen und was sie taten. Was tat die Aes Sedai Egwene an?
Eines Nachts wartete er, bis sich die anderen alle zur Ruhe begeben hatten. Thom schnarchte, als wolle er eine Eiche fällen. Dann schlüpfte Rand davon, die Decke um sich gewickelt. Er wandte alle seine Erfahrungen im Auflauern von Kaninchen an. Er bewegte sich mit den Mondschatten, bis er am Fuß eines großen Lederblattbaums kauerte, der viele zähe, breite Blätter aufwies. Er war nah genug, um Moiraine und Egwene zu verstehen, die mit einer kleinen Laterne auf einem umgestürzten Baumstamm saßen.
»Frag«, sagte Moiraine gerade, »und wenn ich dir darauf antworten kann, werde ich es tun. Begreif aber, daß vieles für dich noch zu früh kommt, Dinge, die du nicht lernen kannst, bevor du nicht andere Dinge gelernt hast, die wiederum weitere Vorkenntnisse erfordern. Aber frag, was du willst.«
»Die Fünf Mächte«, sagte Egwene langsam, »Erde, Wind, Feuer, Wasser und Geist. Es scheint mir nicht gerecht, daß Männer Erde und Feuer am besten beherrschten. Warum sollten gerade sie die stärksten der Mächte für sich haben?«
Moiraine lachte. »Glaubst du das, Kind? Gibt es einen Felsen, der so hart ist, daß Wind und Wasser ihn nicht abtragen können, ein so starkes Feuer, daß es nicht mit Wasser gelöscht oder vom Wind ausgeblasen werden kann?«
Egwene schwieg eine Weile und bohrte mit dem Zeh im Waldboden. »Sie... sie waren diejenigen, welche... die versuchten, den Dunklen König und die Verlorenen zu befreien, nicht wahr? Die männlichen Aes Sedai?« Sie holte tief Luft und sprach schneller. »Die Frauen hatten nichts damit zu tun. Die Männer wurden wahnsinnig und zerstörten die Welt.«
»Du hast Angst«, sagte Moiraine ernst. »Wenn du in Emondsfeld geblieben wärst, wärst du nach einer Weile Seherin. Das war Nynaeves Plan, nicht wahr? Oder du hättest im Frauenzirkel gesessen und die Geschicke von Emondsfeld gelenkt, während der Gemeinderat dächte, er leite das Ganze. Und doch hast du das Unglaubliche getan.
Du hast Emondsfeld und die Zwei Flüsse verlassen auf der Suche nach Abenteuern. Du wolltest es, und gleichzeitig hast du Angst davor. Und du weigerst dich ganz entschieden, deiner Angst nachzugeben. Sonst hättest du mich nicht gefragt, wie eine Frau eine Aes Sedai werden kann. Du hättest eure Sitten und Gebräuche sonst nicht über Bord geworfen.«
»Nein«, protestierte Egwene, »ich habe keine Angst. Ich will eine Aes Sedai werden.«
»Besser für dich, wenn du Angst hättest, aber ich hoffe, du bleibst bei deiner Überzeugung. Wenige Frauen nur haben heutzutage die Fähigkeiten, Geweihte zu werden, und noch viel weniger wollen es.« Moiraines Stimme klang, als führe sie ein gedankenverlorenes Selbstgespräch. »Sicher waren es noch nie zuvor gleich zwei in einem Dorf. Das alte Blut fließt tatsächlich noch sehr stark im Land der Zwei Flüsse.«
Rand verlagerte sein Gewicht im Schatten, wo er kauerte. Ein Ästchen zerbrach unter seinem Fuß. Er erstarrte und hielt die Luft an. Er schwitzte, doch keine der beiden Frauen sah sich um.
»Zwei?« rief Egwene. »Wer denn noch? Ist es Kari? Kari Thane? Lara Ayellan?«
Moiraine schnalzte verärgert mit der Zunge und sagte dann ernst: »Du mußt vergessen, daß ich das gesagt habe. Ich fürchte, ihre Straße verläuft in einer anderen Richtung. Konzentrier dich auf deine eigenen Angelegenheiten. Es ist kein leichter Weg, den du erwählt hast.«
»Ich werde nicht umkehren«, sagte Egwene.
»Wie du meinst. Aber du suchst immer noch Rückendeckung, und die kann ich dir nicht geben, jedenfalls nicht so, wie du es willst.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du willst darin bestärkt werden, daß die Aes Sedai gut und rein sind und daß es diese gemeinen Männer aus den Legenden waren, die die Zerstörung der Welt verursachten, und nicht die Frauen. Nun, es waren zwar die Männer, doch sie waren keineswegs schlimmer als alle anderen Männer. Sie waren wahnsinnig, nicht böse. Die Aes Sedai, die du in Tar Valon antreffen wirst, sind menschlich und unterscheiden sich nicht von anderen Frauen, außer eben durch die Fähigkeiten, die uns von ihnen trennen. Sie sind tapfer und feige, stark und schwach, freundlich und grausam, warmherzig und kalt. Wenn du eine Aes Sedai wirst, dann bleibst du trotzdem diejenige, die du immer warst.«
Egwene atmete schwer. »Ich glaube, gerade davor hatte ich Angst: daß die Macht mich verändern würde. Das und die Trollocs. Und der Blasse. Und... Moiraine Sedai, im Namen des Lichts: Warum kamen die Trollocs nach Emondsfeld?«
Der Kopf der Aes Sedai drehte sich, und sie blickte in die Richtung von Rands Versteck. Die Luft blieb ihm weg. Ihre Augen waren genauso hart wie zu der Zeit, als sie sie bedroht hatte, und er hatte das Gefühl, ihr Blick könne die starken Äste des Lederblatts durchdringen. Licht, was wird sie tun, wenn sie mich hier als Lauscher findet?
Er bemühte sich, mit den tieferen Schatten hinter sich zu verschmelzen. Seine Augen waren auf die Frauen gerichtet, und so blieb er mit dem Fuß an einer Wurzel hängen. Er fing sich gerade noch, sonst wäre er in totes Unterholz getaumelt, und das hätte ihn mit einem Feuerwerk zerbrechender Zweige sofort verraten. Nach Luft schnappend kroch er auf allen vieren davon. Wie immer war es vor allem Glück, das es ihm ermöglichte, sich lautlos zu bewegen. Sein Herz schlug so stark, daß er fürchtete, es könne ihn verraten. Narr! Eine Aes Sedai belauschen!
Als er wieder dort war, wo die anderen schliefen, schlich er leise an seinen Platz zurück. Lan bewegte sich, als er sich auf den Boden legte. Der Behüter riß die Decke hoch, ließ sich dann aber mit einem Seufzer wieder zurückfallen. Er hatte sich im Schlaf nur umgedreht. Rand stieß einen Stoßseufzer aus.
Einen Augenblick später tauchte Moiraine aus der Nacht auf. Sie blieb stehen, als sie die schlummernden Gestalten sah. Das Mondlicht webte einen Strahlenkranz um sie. Rand schloß die Augen und atmete ganz gleichmäßig, während er angestrengt lauschte, ob sich Schritte näherten. Er hörte nichts. Als er die Augen wieder öffnete, war sie weg.
Als der Schlaf endlich kam, schwitzte er und hatte Träume, in denen alle Männer von Emondsfeld behaupteten, sie seien der Wiedergeborene Drache, und alle Frauen trugen blaue Edelsteine im Haar, die so aussahen wie der von Moiraine. Er versuchte danach nie mehr, Moiraine und Egwene zu belauschen.
Der sechste Tag ihrer quälend langsamen Reise brach an. Die blasse, kalte Sonne glitt auf die Baumwipfel zu, während eine Handvoll dünner Wolken hoch droben in Richtung Norden trieb. Der Wind erhob sich zu einer Bö, und Rand zog den Umhang wieder einmal leise schimpfend über die Schultern. Er fragte sich, ob sie wohl jemals Baerlon erreichen würden. Die Entfernung, die sie seit ihrer Flußüberquerung zurückgelegt hatten, war größer als von Taren-Fähre bis zum Weißen Fluß, doch Lan behauptete stets, es sei eine kurze Reise, kaum wert, eine solche genannt zu werden. Er fühlte sich verloren.
Lan erschien im Wald vor ihnen. Er kehrte von einem seiner Erkundungsritte zurück. Er straffte die Zügel und ließ sein Pferd langsam neben Moiraines Pferd herschreiten, während er den Kopf zu Moiraine hinüberneigte.
Rand schnitt eine Grimasse, aber er stellte keine Frage. Lan weigerte sich gewöhnlich, Fragen, die man ihm stellte, zu beantworten.
Von den anderen schien nur Egwene Lans Rückkehr bemerkt zu haben, und sie hielt sich mit Fragen ebenfalls zurück. Die Aes Sedai verhielt sich Egwene gegenüber vielleicht so, als sei das Mädchen für die Emondsfelder verantwortlich, doch wenn der Behüter seine Berichte ablieferte, hatte Egwene nichts zu sagen. Perrin trug Mats Bogen. Auch ihn umgab dieses gedankenschwere Schweigen, das sie alle mehr und mehr packte, je weiter sie sich von den Zwei Flüssen entfernten. Die langsame Gangart der Pferde gestattete es Mat, vor den kritischen Augen Thom Merrilins mit drei kleinen Steinen zu jonglieren. Denn der Gaukler hatte sie jeden Abend unterrichtet, genau wie Lan.
Lan beendete seinen Bericht, und Moiraine drehte sich im Sattel um und sah die hinter ihr Reitenden an. Rand bemühte sich, sich nicht zu verkrampfen, als ihr Blick über ihn glitt. Sah sie ihn einen Moment länger an als die anderen? Er wurde das unangenehme Gefühl nicht los, daß sie wußte, wer sie in der Dunkelheit jener Nacht belauscht hatte.
»He, Rand!« rief Mat. »Ich kann mit vieren jonglieren!« Rand winkte ihm zur Antwort zu, ohne sich umzudrehen. »Ich habe dir gesagt, daß ich noch vor dir vier schaffe. Ich — schau!«
Sie hatten die Spitze eines niedrigen Hügels erreicht, und unter ihnen, kaum eine Meile weit entfernt, hinter kahlen Bäumen und länger werdenden Schatten, lag Baerlon. Rand schnappte nach Luft, als er versuchte, zur gleichen Zeit zu lächeln und mit offenem Mund zu starren.
Eine Palisadenwand, beinahe drei Spannen hoch, umgab die Stadt. Hölzerne Wachtürme waren entlang der Palisade verteilt. Drinnen glitzerten mit Ziegeln und Platten gedeckte Dächer im Licht der sinkenden Sonne, und aus den Schornsteinen trieben federleichte Rauchwölkchen empor. Es waren Hunderte von Schornsteinen. Kein strohgedecktes Dach war zu sehen. Eine breite Straße führte nach Osten aus der Stadt hinaus und eine zweite nach Westen. Auf jeder waren zumindest ein Dutzend Wagen und doppelt so viele Ochsenkarren zu sehen, die auf die Palisade zu rollten. Um die Stadt herum verstreut lagen Bauernhöfe; die meisten im Norden, während nur wenige im Süden den Wald unterbrachen. Es ist größer als Emondsfeld und Wachhügel und Devenritt zusammen! Und vielleicht auch noch Taren-Fähre dazu.
»Das ist also eine Stadt«, hauchte Mat und beugte sich über den Hals seines Pferdes nach vorn, um genauer hinsehen zu können.
Perrin konnte nur den Kopf schütteln. »Wie können so viele Leute in einem Ort wohnen?«
Egwene blickte stumm hinüber. Thom Merrilin sah Mat an, rollte mit den Augen und pustete seine Schnurrbartenden hoch. »Stadt!« schnaubte er.
»Und du, Rand?« fragte Moiraine. »Was hältst du auf den ersten Blick von Baerlon?«
»Ich glaube, es ist ziemlich weit von zu Hause entfernt«, sagte er langsam, was ihm ein hartes Lachen von Mat einbrachte.
»Ihr müßt noch viel weiter gehen«, sagte Moiraine. »Viel weiter. Aber ihr habt keine andere Wahl, außer ihr wollt wegrennen und euch verstecken und wieder wegrennen, und das für den Rest eures Lebens. Und es würde ein kurzes Leben sein. Daran müßt ihr euch erinnern, wenn die Reise beschwerlich wird. Ihr habt keine andere Wahl.«
Rand, Mat und Perrin sahen sich an. Den Gesichtern der anderen nach zu schließen, dachten sie dasselbe wie Rand. Wie konnte sie so tun, als hätten sie je eine Wahl gehabt, nach allem, was sie vorher schon gesagt hatte? Die Aes Sedai hatte für sie entschieden.
Moiraine fuhr fort, als sei ihr nicht klar, was sie dachten. »Die Gefahr beginnt hier erneut. Seid vorsichtig, was ihr innerhalb dieser Mauern sagt. Und was am wichtigsten ist: Erwähnt keine Trollocs oder Halbmenschen und ähnliches. Ihr dürft nicht einmal an den Dunklen König denken. Einige Leute in Baerlon mögen die Aes Sedai noch weniger als die Emondsfelder, und es könnte dort sogar Schattenfreunde geben.« Egwene schnappte nach Luft, und Perrin fluchte vor sich hin. Mats Gesicht wurde blaß, doch Moiraine fuhr ganz ruhig fort. »Wir dürfen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen.« Lan tauschte seinen zwischen Grau und Grüntönen wechselnden Umhang gegen einen normalen braunen aus, der allerdings ebenfalls sehr fein geschnitten und gewebt war. Sein farbverändernder Umhang verursachte eine dicke Beule in eine seiner Satteltaschen. »Hier verwenden wir unsere eigenen Namen nicht«, eröffnete ihnen Moiraine. »Man kennt mich hier als Alys, und Lan ist Andra. Merkt euch das. Gut. Wir sollten uns noch vor Anbruch der Nacht zwischen diesen Mauern befinden. Die Tore von Baerlon werden von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang geschlossen.«
Lan führte sie den Hügel hinunter und durch den Wald auf die Palisaden zu. Die Straße führte an einem halben Dutzend Bauernhöfen vorbei — keiner sehr nahe, und die Menschen, die dort ihre letzten Arbeiten verrichteten, schienen die Reisenden nicht zu bemerken — und endete an einem schweren Holztor, das mit breiten schwarzen Eisenriegeln verschlossen war, fest verschlossen, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war.
Lan ritt ganz nahe an die Palisade heran und zog an dem ausgefransten Seil, das neben dem Tor herunterhing. Auf der anderen Seite erklang eine Glocke. Unmittelbar darauf blickte ein verschrumpeltes Gesicht unter einer zerknautschten Stoffmütze mißtrauisch von oben auf sie herab. Es befand sich zwischen den abgesägten Enden zweier Pfähle, gute drei Spannen über ihren Köpfen.
»Was soll das heißen, eh? Es ist zu spät am Tag, um dieses Tor zu öffnen. Zu spät, sage ich. Reitet zum Weißbrückentor, wenn ihr... «
Moiraines Stute schritt ein Stück vor, so daß der Mann auf der Mauer sie klar erkennen konnte. Plötzlich verzogen sich seine Runzeln zu einem zahnlosen Lächeln, und er schien zwischen seiner Pflicht und dem, was er sagen wollte, zu schwanken. »Ich wußte nicht, daß Ihr es seid, Herrin. Wartet. Ich komme sofort hinunter. Ich komme, ich komme!«
Der Kopf verschwand nach unten, und Rand hörte gedämpfte Rufe, sie sollten bleiben, wo sie seien, er käme ja schon. Mit schrillem Quietschen, der vom geringen Gebrauch zeugte, schwang der rechte Torflügel langsam auf. Er verhielt in seiner Lage, als die Lücke gerade groß genug war, um ein Pferd durchzulassen, und dann steckte der Torwächter seinen Kopf durch, lächelte sie wieder zahnlos an und sprang flink aus dem Weg. Moiraine folgte Lan durch das Tor. Egwene kam gleich dahinter.
Rand ließ Wolke hinter Bela hertraben und fand sich in einer engen Straße wieder, die von hohen Holzzäunen und großen fensterlosen Lagerhäusern eingerahmt wurde, deren breite Türen schon zur Nacht geschlossen waren. Moiraine und Lan standen bereits bei dem Torwächter mit dem runzligen Gesicht und unterhielten sich mit ihm. Also stieg Rand auch ab.
Der kleine Mann, der einen oftmals geflickten Umhang und Mantel trug, hielt seine Stoffmütze zerknüllt in einer Hand und verbeugte sich jedesmal, wenn er sprach. Er betrachtete die anderen, die hinter Moiraine und Lan von den Pferden stiegen, und schüttelte den Kopf.
»Landpomeranzen.« Er grinste. »Aber, Frau Alys, sammelt Ihr jetzt Landpomeranzen mit Heu im Haar?« Dann erfaßte sein Blick Thom Merrilin. »Ihr seid kein Schafzüchter. Ich erinnere mich, daß ich Euch vor ein paar Tagen durchgelassen habe, tatsächlich. Haben denen da unten Eure Kunststückchen nicht gefallen, Gaukler?«
»Ich hoffe, Ihr erinnert Euch daran, daß Ihr vergessen sollt, uns jemals durchgelassen zu haben, Meister Avin«, sagte Lan und drückte dem Mann eine Münze in die freie Hand. »Und auch daß ihr uns wieder hereingelassen habt.«
»Das ist nicht nötig, Meister Andra. Nicht nötig. Ihr habt mir genug gegeben, als Ihr weggeritten seid. Genug.« Trotzdem ließ Avin die Münze so schnell verschwinden, als sei er auch ein Gaukler. »Ich hab niemanden nix erzählt und werd's auch nicht tun. Ganz besonders nicht den Weißmänteln«, endete er mit finsterem Blick. Er spitzte die Lippen, um auszuspucken, doch nach einem Blick auf Moiraine schluckte er statt dessen.
Rand riß die Augen auf, behielt aber den Mund geschlossen. Die anderen brachten das auch fertig, obwohl es Mat sehr schwer zu fallen schien. Kinder des Lichts, dachte Rand staunend. Die Geschichten, die Händler und Kaufleute und ihre Leibwächter über die Kinder erzählten, wechselten im Ausdruck von Bewunderung bis zum Haß, aber alle waren sich einig, daß die Kinder die Aes Sedai genauso haßten wie Schattenfreunde. Er fragte sich, ob dies bereits weitere Schwierigkeiten bedeutete.
»Die Kinder sind in Baerlon?« wollte Lan wissen.
»Aber sicher.« Der Torwächter nickte. »Kamen am gleichen Tag, als Ihr weggeritten seid, wenn ich mich richtig erinnere. Ist keiner hier, der sie leiden kann. Die meisten zeigen's natürlich nicht.«
»Haben sie gesagt, warum sie hier sind?« fragte Moiraine eindringlich.
»Warum sie hier sind?« Avin war so verblüfft, daß er seine Verbeugung diesmal vergaß. »Klar haben sie gesagt, warum... Oh, ich hab's vergessen. Ihr wart ja auf dem Land. Habt wahrscheinlich nur Schafgeblöke gehört. Sie sagen, sie sind wegen der Vorgänge in Ghealdan hier. Der Drache, wißt Ihr... Also, der halt, der sich Drache nennt. Sie sagen, der Bursche löst eine Menge Böses aus -schätze, das stimmt auch -, und sie sind hier, um das Feuer auszutreten, bloß daß er ja in Ghealdan ist und nicht hier. Bloß 'ne Ausrede, um sich in anderer Leute Sachen einzumischen, denke ich. Man hat schon den Drachenzahn auf ein paar Türen gesehen.« Diesmal spuckte er aus.
»Haben sie Euch viele Schwierigkeiten bereitet?« fragte Lan, und Avin schüttelte lebhaft den Kopf.
»Nicht, daß sie's nicht wollen, schätze ich, aber der Statthalter traut denen genausowenig wie ich. Er läßt nicht mehr als zehn oder so gleichzeitig in die Stadt, und sie sind mächtig sauer deswegen. Der Rest hat ein Lager ein Stück nördlich, hab ich gehört Wette, daß sich die Bauern dort umgucken müssen. Die paar, die reinkommen, stolzieren nur in diesen weißen Mänteln rum und gucken auf die ehrlichen Leute runter. Geh im Licht, sagen sie, und das ist ein Befehl. Hätte fast schon Schlägereien gegeben mit den Wagenfahrern und den Bergleuten und den Schmelzern und so, ja, und sogar mit der Wache, aber der Statthalter will Frieden, und deshalb ist nix passiert. Wenn sie das Böse jagen, meine ich, warum sind sie dann nicht oben in Saldaea? Ich hab gehört, daß dort oben was los ist. Oder unten in Ghealdan? Es hat drunten eine große Schlacht gegeben, sagt man. Eine richtig große.«
Moiraine atmete leise und betont ein. »Ich hatte gehört, daß Aes Sedai nach Ghealdan gingen.«
»Ja, sind sie.« Avin nickte wieder heftig. »Sie sind wirklich nach Ghealdan gegangen, und das hat die Schlacht ausgelöst, hab ich gehört. Man sagt, einige der Aes Sedai sind tot. Vielleicht auch alle. Ich weiß, daß manche Leute die Aes Sedai nicht mögen, aber ich frag Euch, wer sonst soll 'nen falschen Drachen aufhalten, eh? Und die verdammten Narren, die glauben, sie wären männliche Aes Sedai oder so was. Was ist mit denen? Klar sagen ein paar — aber nicht die Weißmäntel und ich auch nicht, aber eben manche Leute -, daß dieser Bursche wirklich der Wiedergeborene Drache ist. Ich hab gehört, daß er ein paar Sachen kann. Die Eine Macht benutzen. Tausende folgen ihm schon.«
»Sei kein Narr!« fauchte Lan, und Avins Gesicht nahm einen verletzten Ausdruck an.
»Ich sag nur, was ich gehört hab, oder? Nur was ich gehört hab, Meister Andra. Sie sagen — ein paar halt -, daß er mit seiner Armee nach Osten und Süden marschiert, auf Tear zu.« Seine Stimme klang bedeutungsschwanger. »Man sagt, er nennt sie das Drachenvolk.«
»Namen bedeuten wenig«, sagte Moiraine ruhig. Falls sie das Gehörte beunruhigte, ließ sie es sich nach außen hin nicht anmerken. »Du könntest deinen Maulesel Drachenvolk nennen, wenn es dir Spaß macht.«
»Unwahrscheinlich, Herrin.« Avin schmunzelte. »Nicht, wenn die Weißmäntel in der Gegend sind, sicherheitshalber. Ich glaube auch nicht, daß irgend jemand sonst den Namen gern hören würde. Ich weiß schon, was Ihr meint, aber... O nein, Herrin, nicht meinen Maulesel!«
»Zweifellos eine weise Entscheidung«, kommentierte Moiraine. »Jetzt müssen wir weiter.«
»Und macht Euch keine Sorgen, Herrin«, sagte Avin mit einer tiefen Verbeugung. »Ich hab niemanden gesehn.« Er lief zum Tor und schloß es mit schnellen ruckartigen Bewegungen. »Hab niemanden und nichts gesehn.« Das Tor schlug zu, und mit einem Seil zog er den Riegel herunter. »In Wirklichkeit, Herrin, ist dieses Tor schon tagelang nicht mehr geöffnet worden.«
»Das Licht leuchte dir, Avin«, sagte Moiraine.
Dann führte sie sie vom Tor weg. Rand sah sich einmal um, und da stand Avin immer noch vor dem Torflügel. Er schien mit einem Zipfel seines Umhangs eine Münze zu polieren und dabei vor sich hin zu lachen.
Der Weg führte sie durch ungepflasterte Straßen, die kaum zwei Wagenstärken breit waren, eingerahmt von Lagerhäusern und hohen Holzzäunen. Rand ging eine Weile neben dem Gaukler her. »Thom, was bedeutet das ganze Gerede über Tear und das Drachenvolk? Tear ist doch eine Stadt ganz unten am Meer der Stürme, nicht wahr?«
»Der Karaethon-Zyklus«, erwiderte Thom kurzangebunden.
Rands Augen weiteten sich. Die Prophezeiungen des Drachen. »Keiner erzählt die... solche Geschichten im Gebiet der Zwei Flüsse. Jedenfalls nicht in Emondsfeld. Die Seherin zöge ihnen die Haut bei lebendigem Leib ab, wenn sie es täten.«
»Ja, ich glaube, das täte sie«, sagte Thom trocken. Er sah nach Moiraine, die vorn neben Lan einherschritt, sah, daß sie nichts hören konnte, und fuhr fort. »Tear ist der größte Hafen am Meer der Stürme, und der Stein von Tear ist die Festung, die ihn bewacht. Man sagt, der Stein sei die erste Festung, die nach der Zerstörung der Welt gebaut wurde, und in dieser langen Zeit ist sie niemals gefallen, obwohl mehr als eine Armee sie angegriffen hat. Eine der Prophezeiungen behauptet, der Stein von Tear werde niemals fallen, bis das Drachenvolk kommt. In einer anderen Weissagung wird behauptet, der Stein werde nicht fallen, bis der Drache das Schwert, das-nicht-berührt-werden-kann, in seiner Hand führt.« Thom verzog das Gesicht. »Der Fall des Steins wird einer der wichtigsten Beweise dafür sein, daß der Drache wiedergeboren wurde. Möge der Stein stehen, bis ich zu Staub geworden bin.«
»Das Schwert, das-nicht-berührt-werden-kann?«
»So heißt es. Ich weiß nicht, ob es wirklich ein Schwert ist. Was auch immer: Es liegt im Herzen des Steins, der inneren Zitadelle dieser Festung. Keiner außer den Großherren von Tear kann diesen Teil betreten, und sie verraten nicht, was dort drinnen liegt. Zumindest verraten sie es den Gauklern nicht.«
Rand runzelte die Stirn. »Der Stein kann nicht fallen, bis der Drache das Schwert führt, aber wie kann er das, ohne daß die Festung bereits gefallen ist? Erwartet man, daß der Drache ein Großherr von Tear ist?«
»Kaum zu erwarten«, sagte der Gaukler trocken. »In Tear haßt man alles, was mit der Macht zu tun hat, sogar noch mehr als in Amador, und Amador ist die Hochburg der Kinder des Lichts.«
»Wie kann dann die Prophezeiung erfüllt werden?« fragte Rand. »Mir wäre es ja auch recht, wenn der Drache niemals wiedergeboren würde, aber eine Prophezeiung, die nicht erfüllt werden kann, ergibt nicht viel Sinn. Es klingt nach einer Geschichte, die man den Leuten erzählt, damit sie glauben, daß der Drache niemals wiedergeboren wird. Stimmt das?«
»Junge, du stellst eine Unmenge von Fragen«, sagte Thom. »Eine Prophezeiung, die ganz leicht erfüllt werden kann, wäre doch nicht viel wert, oder?« Plötzlich wurde seine Stimme fröhlicher. »Jetzt sind wir da.«
Lan war an einem kopfhohen Holzzaun stehengeblieben. Er steckte die Klinge seines Dolchs zwischen zwei der Bretter. Plötzlich brummte er zufrieden, zog, und eine Tür im Zaun schwang wie ein Tor auf. Es war tatsächlich ein Tor, das so gebaut war, daß man es eigentlich nur von der anderen Seite öffnen konnte. Moiraine trat sogleich ein und zog Aldieb hinter sich her. Lan bedeutete den anderen, daß sie folgen sollten, und machte dann den Abschluß, wobei er das Tor hinter sich schloß.
Auf der anderen Seite des Zauns befand sich Rand im Stallhof einer Schenke. Aus der Küche erklang lautes Treiben und Klappern. Was ihn verblüffte, war die Größe der Schenke: Sie bedeckte eine Fläche, mehr als doppelt so groß wie die Weinquellenschenke, und war vier Stockwerke hoch. Weit mehr als die Hälfte der Fenster war in der zunehmenden Dämmerung bereits erleuchtet.
Er staunte über diese Stadt und daß sie so viele Fremde beherbergte.
Kaum befanden sie sich mitten in dem Stallhof, da erschienen auch schon drei Männer mit schmutzigen Segeltuchschürzen unter dem breiten Torbogen des riesigen Stalls. Einer, ein drahtiger Bursche und der einzige, der eine Mistgabel bei sich hatte, kam mit fuchtelnden Armen auf sie zu.
»Hier! Hier! Ihr könnt nicht von dort hereinkommen! Ihr müßt nach vorn gehen!«
Lans Hand bewegte sich wieder auf seinen Geldbeutel zu, aber in diesem Augenblick kam ein weiterer Mann, genauso dick wie Meister al'Vere, aus der Schenke geeilt. Haarbüschel standen hinter seinen Ohren hervor, und seine blendend weiße Schürze wies ihn als den Wirt dieser Schenke aus. »Ist schon gut, Mutch«, sagte der Neuankömmling. »Es ist in Ordnung. Diese Leute sind Gäste, die ich erwartet habe. Kümmere dich nur um ihre Pferde. Pfleg sie gut!«.
Mutch fuhr sich mürrisch über die Stirn und bedeutete seinen zwei Begleitern, ihm zu Hilfe zu kommen. Rand und die anderen holten hastig ihre Satteltaschen und Bettrollen herunter, während sich der Wirt Moiraine zuwandte. Er verbeugte sich tief vor ihr und sprach mit ehrlich erfreutem Lächeln: »Willkommen, Frau Alys, willkommen! Es ist gut, Euch und Meister Andra wiederzusehen. Sehr gut sogar. Ich habe die feinen Gespräche mit Euch vermißt. Ja, wirklich. Ich muß sagen, ich habe mir Sorgen gemacht, weil Ihr dort draußen auf dem Lande wart. Ich meine, in einer solchen Zeit, da das Wetter verrückt spielt und die Wölfe in der Nacht schon vor der Mauer heulen.« Plötzlich klatschte er sich mit beiden Händen auf den Bauch und schüttelte den Kopf.
»Hier stehe ich und quatsche, statt Euch hineinzubringen. Kommt! Kommt! Eine heiße Mahlzeit und ein warmes Bett, das braucht Ihr jetzt. Und Ihr findet in Baerlon nichts Besseres. Nichts Besseres!«
»Und auch ein heißes Bad, darf ich hoffen, Meister Fitch?« fragte Moiraine.
»Aber natürlich — nur das beste und heißeste in ganz Baerlon!« sagte der Wirt. »Kommt. Willkommen im ›Hirsch und Löwen‹. Willkommen in Baerlon!«